Читать книгу Chefarzt Dr. Norden Staffel 5 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 9

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»Ich bewundere dein Engagement.« Dr. Felicitas Norden saß an einem Tisch unter Palmen, vor sich ein halbes Stück Birnen-Nusskuchen, und sah zu ihrem Mann hinauf. Ihr Gesichtsausdruck strafte ihre Worte Lügen. »Trotzdem bin ich mir nicht sicher, ob ein Klinikchef unbedingt noch den Rettungsarzt spielen muss.«

Daniel steckte das Telefon weg. Im Stehen leerte er seine Tasse. Beugte sich über seine Frau und küsste sie auf den Mund.

»Gerade als ärztlicher Direktor einer Klinik ist es wichtig, sich auf dem Laufenden zu halten. In jedem Bereich. Bis später, mein Schatz.« Ehe Fee etwas erwidern konnte, war er schon auf dem Weg.

Minuten später kletterte Dr. Norden in den Notarztwagen. Der Rettungsassistent Cornelius Hahn gab Gas. In den Fenstern des Innenhofs flackerte blaues Licht.

»Na, wo habe ich dich hergeholt?«, erkundigte sich der Rettungsarzt Dr. Erwin Huber, ein alter Bekannter, mit dem Daniel Norden seit Jahren gut und gern zusammenarbeitete.

»Von der Kaffeepause mit meiner Frau. Sie war nicht gerade begeistert.«

»Dann hoffen wir mal, dass das heute unser einziger schwieriger Patient ist.«

Daniel lachte. Sein Blick fiel auf das Navi. Ziel war ein Friedhof.

»Was ist passiert?«

»Ein Verkehrsunfall. Lieferwagen gegen Brückenpfeiler. Eine Schwer- und ein Leichtverletzter.« Der Verkehr vor ihnen drohte dichter zu werden. Erwin hob die Hand und legte den Kippschalter um. Das Martinshorn. An diesen Ton würde sich Daniel Norden nie gewöhnen. Damit war er nicht allein. Zwei Frauen am Straßenrand machten einen Schritt zurück. Autofahrer setzten Blinker und wichen nach rechts aus. Erschreckten Passanten, die zur Seite sprangen.

Daniel Norden rieb die Handflächen an der Hose. Eine weise Entscheidung, sich hin und wieder diesen Situationen auszusetzen! Sicher, als Klinikchef stand er durchaus immer noch oft am OP-Tisch. Doch diese Termine waren geplant wie fast alles in seinem Arbeitsalltag. Für Notfälle, die überraschend in die Klinik kamen, waren seine Mitarbeiter zuständig. Deshalb war die Herausforderung im Rettungswagen so wichtig wie das regelmäßige Sportpensum.

Vorsichtshalber rief sich Dr. Norden noch einmal ins Gedächtnis, was bei einem schwer verletzten Unfallopfer auf ihn zukommen könnte. Dachte an die wichtigsten Medikamente und Maßnahmen bei Polytraumen – gleichzeitig erlittene, mitunter lebensbedrohliche Verletzungen verschiedener Körperregionen –, wie es bei einem Autounfall so oft der Fall war.

Der Verkehr wurde dichter, als die Unfallstelle in Sicht kam. Das Blaulicht der ersten Einsatzfahrzeuge wirkte grell gegen den grauen Winterhimmel. Und dann sahen sie es.

»Ein Gärtner, der sich als Rennfahrer versucht.« Erwin schüttelte den Kopf und griff nach dem Defibrillator.

»Ein klarer Fall von Selbstüberschätzung«, erwiderte Daniel Norden und schulterte den Rucksack, auf dem in leuchtenden Buchstaben ›Trauma‹ geschrieben stand.

»Oder falscher Berufswahl.«

Unter den Füßen der Ärzte knirschte das Pulver, das die Feuerwehr zum Binden des auslaufenden Benzins gestreut hatte. Sie näherten sich dem Lieferwagen, der so deformiert war, dass man die Aufschrift der Gärtnerei kaum noch ­lesen konnte. Die Motorhaube umarmte den Brückenpfeiler. Schläuche, Metall und Plastik hingen heraus wie Eingeweide. Glasscherben glitzerten, als die Sonne durch ein Loch in den Wolken fiel.

»Ein Wunder, dass diese Rostlaube noch so ein Tempo drauf bekommen hat«, bemerkte Dr. Huber. Die Jahre als Rettungsarzt waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Es gab nur noch wenig, was ihn schocken konnte. In aller Seelenruhe ging er auf einen Ersthelfer zu, der eine Infusion hochhielt. »Na, was habt ihr für uns?«

»Eine leicht verletzte Person. Sie wird ambulant versorgt. Schlimmer erwischt hat es die Frau. Sie ist eingeklemmt, aber ansprechbar. Blutdruck 110 zu 70. Herzfrequenz 90. Zum Glück war das Fenster kaputt. Wir haben eine Zervikalstütze angelegt und einen Zugang gelegt. Aber keine Angst. Für euch bleibt noch genug Arbeit.«

Die Erleichterung darüber, dass nun andere für die medizinische Versorgung verantwortlich waren, stand dem Helfer ins Gesicht geschrieben.

»Dann wollen wir mal.« Erwin sah zu Daniel hinüber.

Der Klinikchef stand neben dem Wagen. Der Anblick des linken Armes, der schlaff aus dem Autofenster hing, raubte ihm den Atem.

*

»Einen wunderschönen guten Morgen allerseits«, rief Dr. Milan Aydin, während er den Rollstuhl durch die Tür des Aufenthaltsraums bugsierte.

Schwester Elena sprang auf, um ihrem Kollegen zu Hilfe zu eilen. Ihr Apfel kullerte über den Tisch, fiel über die Kante und hüpfte über den Boden, bis er unter einem der Spinde verschwand.

»Das hast du nun davon, dass du einem Krüppel behilflich bist«, scherzte Dr. Matthias Weigand, seines Zeichens Leiter der Notaufnahme.

»Stimmt. Ich hätte es wissen müssen«, erwiderte Elena und zwinkerte Milan zu. »Und nur zu deiner Information: Diese Tageszeit nennt man üblicherweise Mittag.«

»Dann bin ich schuld, dass jetzt dein Mittagessen unter dem Schrank liegt?« Vergeblich bemühte sich Milan um eine zerknirschte Miene.

»Könnte man so sagen. Wo kommst du um diese Uhrzeit her?« Elena kniete auf dem Boden und streckte sich nach dem Apfel.

»Ich habe verschlafen.«

»Ein Wunder, dass du in dieser Räucherkammer überhaupt ein Auge zutun kannst.« Mit Schaudern erinnerte sie sich an den Schmorbrand in der Wohnung des Kollegen.

Ein überlasteter Mehrfachstecker war ihm zum Verhängnis geworden.

»Egal. Wenn ich meinen Dienstplan so ansehe, könnte ich eigentlich gleich auf dem Sofa hier schlafen.« Milan Aydin fuhr hinüber zum Spind und tauschte den Anorak gegen einen Kittel.

Mit dem staubigen Apfel in der Hand tauchte Elena neben seinem Rollstuhl auf.

»Das ist nicht dein Ernst.«

»Warum nicht?« Milan legte den Kopf schief. Sah ihr tief in die Augen. »Hast du eine bessere Idee?«, fragte er mit diesem gewissen Timbre in der Stimme, dem die Frauen selten widerstehen konnten. »Ich meine, jetzt, nachdem dein Mann dich verlassen ha …«

Eine Akte landete klatschend in seinem Schoß. Dr. Aydin zuckte zusammen. Sah hoch und direkt in Matthias Weigands breites Grinsen.

»Kleiner Tipp. Statt dich an unseren Mädels zu vergreifen, solltest du dich lieber um den Patienten in der Eins kümmern.«

»Kannst du das nicht übernehmen? Ich hatte noch nicht einmal einen Kaffee heute.

»Tut mir leid. Ich habe gleich Feierabend.«

»Aber es ist doch erst fünf vor eins.«

»Eben. Komm, ich bring dich hin.«

Milan Aydin blieb nichts anderes übrig, als der einladenden Geste des Kollegen zu folgen. Am Ende des Flurs verabschiedeten sie sich voneinander. Dr. Aydin fuhr bis zur Tür mit der großen, schwarzen Eins darauf. Er drückte die Klinke herunter. Und schnappte nach Luft.

»Und das ausgerechnet mir!« Fassungslos starrte er auf die drei Männer in schwarzen Kutten. Er, der Lebemann und Frauenliebhaber, sollte ausgerechnet Mönche behandeln? »Manchmal hat das Schicksal wirklich Humor.«

»Ist Ihnen nicht gut?«, fragte einer der Brüder sichtlich besorgt.

»Alles bestens.« Milan rang sich ein Lächeln ab. »Mein Name ist Dr. Aydin. Was kann ich für Sie tun?«

»Zeig ihm deine Hände, Pirmin«, forderte Bruder Augustinus seinen Mitbruder auf.

Pirmin tat, wie ihm geheißen. Unterarme und Handrücken waren übersät mit roten Quaddeln und Pusteln. In den Handflächen waren sie aufgeplatzt und bluteten.

»Bitte werfen Sie einen Blick auf diese Wundmale, Dr. Aydin«, bat der dritte Bruder, der sich als Bruder Basilius vorgestellt hatte. »Wir denken, das könnten Stigmata sein, und erbitten Ihre Meinung dazu.«

Milan riss die Augen auf.

»Sie meinen, jemand hat Ihren Kollegen an ein Kreuz genagelt?«

»Aber nein«, beeilte sich Basilius zu versichern. »So etwas tun wir nicht. Diese göttlichen Zeichen sind ganz von selbst erschienen.«

»Für mich sieht das nach einer sehr weltlichen Allergie aus.« Aydin drehte die Hände des Fraters hin und her. »Hatten Sie in letzter Zeit viel Kontakt mit Wasser?«

»Momentan helfe ich in der Waschküche aus. Wir haben neulich eine Spende von einer Firma bekommen. Waschpulver in großen Mengen. Das habe ich verwendet.«

»Sie hätten lieber verlorenen Seelen die Beichte abnehmen sollen«, platzte Milan heraus. »Das wäre gesünder.«

»Aber diese Aufgabe obliegt Bruder Basilius«, erwiderte Pirmin verwirrt.

»Schon gut!« Milan Aydin winkte ab. Humor war offenbar keine herausragende Eigenschaft dieser Glaubensgemeinschaft. »Ich denke, bei Ihrem Ausschlag handelt es sich um eine Kontaktdermatitis. Sie sind allergisch gegen einen oder mehrere Inhaltsstoffe des Spülmittels.« Er zog das Tablet aus der Kitteltasche, um seine Erkenntnisse in der elektronischen Patientenakte festzuhalten, die eine Schwester bereits angelegt hatte.

Pirmin lächelte erleichtert. Ganz im Gegensatz zu Bruder Augustinus.

»Unsinn«, brummte er in seinen Bart. »In diesen Waschmitteln ist doch überall das gleiche drin.«

Milan sah hoch. Eine steile Falte krauste seine Nasenwurzel.

»Warum kommen Sie zu mir, wenn Sie an meinen Fähigkeiten zweifeln?«

Schweigen. Blicke flogen zwischen den Mönchen hin und her.

»Es ist nicht ungewöhnlich, wenn man eine Allergie auf Stoffe entwickelt, mit denen man wiederholt und gehäuft in Kontakt kommt«, fuhr Milan etwas sanfter fort. »Aber ich habe auch eine gute Nachricht für Sie: Ich bin Ihnen nicht böse und schenke Ihnen eine Gratisprobe eines Antihistaminikums. Es stoppt die allergische Reaktion.«

Aydin öffnete einen Schrank und nahm eine Tablettenpackung heraus, die er Bruder Pirmin reichte. »Nehmen Sie drei Mal täglich eine Tablette. Davon werden Sie wahrscheinlich etwas müde. Das ist aber kein Grund zur Sorge. Für die Haut verschreibe ich Ihnen eine Salbe.« Er verabschiedete sich und verließ das Behandlungszimmer. Am Tresen traf er wieder auf Schwester Elena.

»Das ging ja schnell.«

»Selbst für einen Neurochirurg ist es kein Hexenwerk, eine Dermatitis zu diagnostizieren.«

»Herr Dr. Aydin?«

Milan drehte sich um. Bruder Augustinus stand mit gefalteten Händen vor ihm.

»Ja bitte?«

»Ich möchte Ihnen für Ihre Geduld danken.«

Um ein Haar hätte Elena laut gelacht. Augustinus bemerkte es nicht. »Es tut sehr gut, eine weltliche Diagnose zu hören«, fuhr er fort. »Meine Mitbrüder neigen öfter dazu, solche Zeichen als Botschaft Gottes zu interpretieren.«

»Und Sie nicht?«

»Ich glaube, dass alles aus einem Grund passiert. Nicht mehr und nicht weniger.«

Ein Alarm schrillte durch die Luft. Ein Notfall. Dr. Aydin wurde zu einem Patienten gerufen. Hin und wieder war er regelrecht dankbar für diese Zufälle.

»Das glaube ich allerdings auch«, sagte er zu Bruder Augustinus und fuhr davon, als wäre nicht der liebe Gott, sondern der Teufel persönlich hinter ihm her.

*

Bei der Ankunft des Notarztwagens stand in der Behnisch-Klinik alles bereit, was die Tagschicht im Traumazentrum zu bieten hatte. Anästhesie, Radiologie, Unfallchirurgie, der Neurochirurg Dr. Amir Merizani, Pflegepersonal, ein Medizinisch-Technischer Assistent.

Mehr als ein halbes Dutzend Menschen in ihren blauen, grünen und weißen Kleidern, die einer geheimen Choreographie folgten.

Die Patientin wurde von der Trage auf einen Untersuchungstisch gehoben. Ein Pfleger schnitt die Kleidung auf. Der Radiologe drückte den Schallkopf des Ultraschallgeräts auf ihren Bauch, um nach inneren Blutungen zu suchen. Währenddessen legte eine Krankenschwester den Blasenkatheter.

Unwillkürlich dachte Dr. Norden an einen Schwarm Piranhas, der sich auf seine Beute stürzte.

»Initial bewusstlos. Kreislauf instabil. Verdacht auf schweres SHT. Thoraxtrauma mit Rippenserienfraktur, stumpfes Bauchtrauma und Oberschenkelfraktur links.« Die Diagnose des Kollegen Huber hallte durch den Schockraum.

Erst jetzt bemerkte Daniel den Mann, der sich über die Patientin beugte.

»Mach dir keine Sorgen, mein Schatz. Der Wagen hatte eh nur noch Schrottwert.« Der Verband auf seiner Stirn war blutdurchtränkt. »Und das Grab von Frau Pfleger mache ich heute noch fertig. Die Angehörigen werden keinen Grund zur Klage haben. Du wirst mit mir zufrieden sein. Ganz bestimmt.«

Daniel gab sich einen Ruck. Ging auf den Mann zu und fasste ihn an den Schultern.

»Sie sind der Ehemann?«

Uwe drehte sich um. Starrte den Arzt an, als hätte er nie zuvor im Leben einen anderen Menschen gesehen.

»Ich bin Uwe Ruhland. Wie geht es meiner Frau?«

»Die Kollegen kümmern sich um sie. Kommen Sie! Sie sind verletzt.« Er führte den verstörten Mann nach nebenan. Drückte ihn auf einen Hocker und desinfizierte die Wunde, die sich als eine von vielen herausstellte. Splitter der Windschutzscheibe hatten sich in die Haut gebohrt. Zum Glück nicht tief. Aber entfernt werden mussten sie trotzdem. Dr. Norden komplimentierte seinen Patienten auf die Behandlungsliege.

»Wie ist der Unfall eigentlich passiert?«, erkundigte er sich, während er mit Pinzette und Lupe Splitter für Splitter aus der Haut pflückte.

»Ach, Inga hatte es mal wieder eilig. Deshalb ist sie ja so schusselig und vergisst immer die Hälfe der bestellten Waren in der Gärtnerei.«

»Heute auch?« Mit leisem Klirren landete eine weitere Scherbe in der Nierenschale aus Chrom.

»Morgen früh ist die Beerdigung einer ehemaligen Stadträtin. Sehr bekannt und beliebt. Eine Menge Gäste wird erwartet. Da muss unsere Arbeit natürlich perfekt sein.« Als Dr. Norden einen besonders tief sitzenden Splitter entfernte, stöhnte Uwe auf. »Aber natürlich hatte Inga wieder mal Kränze in der Gärtnerei vergessen. Gleich drei Stück auf einmal. Stellen Sie sich das mal vor! Und das nur, weil sie immer in Eile ist.«

Um sich den Rest der Geschichte vorzustellen, brauchte Daniel Norden nicht viel Fantasie.

»Weil es so furchtbar eilig war, hat Ihre Frau nicht auf den Verkehr geachtet?«

»Sie hat nur kurz geschaut und dann Gas gegeben. Ich habe noch geschrien. Aber da war es schon zu spät.«

Der letzte Splitter landete in der Schale. Dr. Norden desinfizierte die Wunden. Den Rest würde wie immer die Zeit erledigen.

»Kann ich jetzt zu meiner Frau?«

»Nicht, solange sie operiert wird.« Die Handschuhe landeten im Müll.

»Und wie lange wird das dauern?«

»Ich werde mich erkundigen«, versprach Daniel Norden. Er bat eine Schwester, sich um Uwe zu kümmern. Dann machte er sich auf den Weg in den Operationssaal. Aber nicht etwa, um Erkundigungen einzuholen. Nach dem Schweregrad der Verletzungen zu urteilen, konnten die Kollegen im OP jede helfende Hand brauchen. Aber das musste Uwe Ruhland nicht unbedingt wissen.

*

»Wie lange dauert es eigentlich, bis du deine Wohnung wieder bewohnen kannst?«, erkundigte sich Schwester Elena. Sie saß hinter dem Tresen und arbeitete an Therapieplänen. Eigentlich sollte sie in ihrem Büro am Schreibtisch sitzen. Doch seit ihr Mann sie nach monatelangen Streitigkeiten wegen ihrer Arbeitszeiten verlassen hatte, zog sie die Gesellschaft der Kollegen vor.

Sie lehnte sich zurück und sah zu Milan hinüber.

»Ich fürchte, der Ärger fängt erst an«, erwiderte er, während er die Post in seinem Schoß durchsah.

Elena zog eine Augenbraue hoch.

»Wie das?«

»Ich muss die Wohnung komplett sanieren lassen. Alle Möbel rauswerfen. Vielleicht sogar die Einbauküche. Wegen der beim Brand entstandenen Schadstoffe. Weißt du, was das kostet?«

»Aber solche Sachen zahlt doch die Hausratversicherung.«

Milan grinste schief.

»Welche Hausratversicherung?«

Elena ließ den Kugelschreiber fallen.

»Das glaube ich jetzt nicht. Willst du damit sagen, dass du nicht abgesichert bist?«

»Versicherungen sind was für Weicheier.« Milan machte eine wegwerfende Geste. »Und bis jetzt hat mich der liebe Gott ja auch noch nicht im Stich gelassen.«

»Dummerweise hat alles ein Ende …« Elenas Blick war über Milans Schulter gefallen. Sie deutete auf den Mann im schwarzen Habit, der schnaufend um die Ecke bog.

»Schnell, Herr Doktor. Bruder Pirmin.« Milan packte die Greifräder und wendete den Rollstuhl.

»Ist er geheilt? Dann hat wahrlich der liebe Gott seine Hände im Spiel.«

Antonius blieb vor dem Arzt stehen. Seine Brust hob und senkte sich geräuschvoll.

»Leider nein. Er bekommt keine Luft mehr. Schnell!«

*

Der Geräuschteppich im Operationssaal untermalte die Arbeit des Operationsteams. Instrumente klapperten. Ab und zu hustete ein Arzt, räusperte sich eine Schwester. Die Überwachungsgeräte piepten gleichmäßig. Dazwischen schnaufte das Beatmungsgerät wie ein Blasebalg.

Von der Patientin war kaum etwas zu sehen. Ein Meer von grünen Tüchern bedeckte ihren Körper. Nur das Operationsfeld war frei. Die OP-Leuchten tauchten es in gleißendes Licht.

»So. Die Milzblutung ist unter Kontrolle.« Dr. Sophie Petzold atmete auf. »Spülen!«

Ein Gurgeln und Schlürfen.

»Ein Wunder, dass die Frau überhaupt noch lebt.« Dr. Norden hatte einen Kollegen abgelöst, der dringend in einem anderen Operationssaal gebraucht wurde. Er sah hinüber zur Anästhesistin. »Wie sieht es aus?«

»Nach der siebten Konserve ist sie jetzt halbwegs stabil«, gab Dr. Räther die gewünschte Auskunft.

»Dann machen wir mit der Leber weiter«, teilte Sophie ihrem Team mit. »Bauchtücher gehen raus. Schweiß!« Sie wandte sich der Schwester zu ihrer Linken zu. Die betupfte die Stirn der Chirurgin. Dann ging es auch schon weiter. »So, wie das hier aussieht, ist die Frau mit dem Bauch gegen etwas Hartes geprallt«, murmelte sie.

»Der Wagen war ein uraltes Modell. Der Airbag hat nicht ausgelöst.« Daniel und Sophie tauschten besorgte Blicke. Ihr zweiter Blick galt Dr. Merizani, der mit seinem Team am Kopfende der Patientin stand.

»Können Sie schon eine Prognose abgeben?«

Der Neurochirurg sah hinüber zum Bildschirm.

»Laut CT haben wir es mit einer intrakraniellen Blutung zu tun. Ein ausgedehntes, raumforderndes Hämatom im Bereich des Frontallappens. Ich werde jetzt die Schädeldecke öffnen. Bohrer!«

*

Zum Glück konnte Uwe Ruhland draußen vor dem OP das Surren nicht hören. Es hätte ihm das Blut in den Adern gefrieren lassen. So setzte er seine Wanderung fort und stürzte sich auf jede Schwester, die den Operationsbereich verließ.

»Gibt es etwas Neues von meiner Frau?«

»Tut mir leid. Dazu kann ich keine Auskunft geben.« Schwester Astrid eilte weiter.

Schritte hinter ihr verrieten, dass sie verfolgt wurde.

»Aber wie lange dauert es denn noch?«

Astrid blieb stehen, holte tief Luft und drehte sich um.

»Das kann noch Stunden dauern, Herr Ruhland. Warum gehen Sie nicht in den Aufenthaltsraum? Dort gibt es Erfrischungen und Gebäck …«

»Nein, nein, nicht nötig. Wissen Sie, wenn ich hier nichts tun kann, mache ich mich lieber wieder an die Arbeit. Die Beerdigung morgen.« Seine Hand verschwand in der Hosentasche. »Hier ist meine Karte. Bitte rufen Sie mich an, wenn Inga fertig ist.«

Verwirrt starrte Astrid auf die Visitenkarte. »Gärtnerei Ruhland – Trauerschmuck, Grabpflege« stand dort in geschwungenen Buchstaben geschrieben. Der zweite Blick der Schwester gehörte Uwe Ruhland.

»Sie wollen wirklich fahren?«

»Ja, ja natürlich. Die Beerdigung morgen … Die Leute erwarten doch, dass alles perfekt ist. Aber da liegen ja noch die Kränze im Geschäft. Inga hat sie vergessen. Sie ist ja so schusselig … Na ja, egal. Jedenfalls muss ich jetzt los. Sie wissen ja Bescheid.« Ein letztes Nicken, dann eilte Uwe Ruhland davon.

Schwester Astrid sah ihm nach. Wenn das mal gutging!

*

»Die Schädeldecke ist jetzt eröffnet. Wie geht es ihr?« Merizanis Frage galt Ramona Räther.

»Zur Zeit stabil.«

Der Neurochirurg nickte und beugte sich wieder über seine Arbeit.

»Großes subdurales Hämatom.« Hochkonzentriert blickte er durch die Gläser der Spezialbrille. »Ich räume es jetzt aus.« Ein Alarm ließ ihn innehalten. Wieder ein Blick hinüber zur Anästhesistin.

»Der Druck fällt«, beantwortete sie seine stumme Frage. »Die Beatmung wird schwieriger. Sauerstoffsättigung bei 82, Tendenz fallen.«

»Überprüfen Sie die Thorax-Drainage«, wies Dr. Norden die Kollegin an.

Ramona beugte sich hinunter zum Beutel, der an der Liege hing. Der Inhalt schimmerte rötlich.

»Fast voll.«

»Hämatothorax. Das müssen wir sofort machen.« Die Blutansammlung im Brustfellbereich war lebensbedrohlich. »Sophie?«

»Ich bin dabei, ein temporäres Leberpacking zu machen. Danach kann ich dir assistieren.«

Dr. Räthers Augen sprachen Bände.

»Wie auch immer sollten wir es sofort tun«, bemerkte sie.

»Not-Thorakotomie vorbereiten«, befahl Dr. Norden.

Wieder ertönte ein Alarm. Die Bewegungen wurden fahrig. Pflegepersonal eilte hin und her.

»Ich muss umintubieren«, teilte Dr. Räther den Kollegen mit. »Dr. Merizani, Sie müssen den Schädel stabilisieren. Schwester Alva, Doppellungentubus vorbereiten.« Ihre Stimme übertönte den Alarm.

»Das wird eine Herausforderung«, murmelte Dr. Daniel Norden, ehe er sich über die Patientin beugte.

*

Inzwischen hatte Dr. Aydin dafür gesorgt, dass Bruder Pirmin von der Straße zurück auf die Station gebracht worden war. Er lag auf der Liege und rang verzweifelt nach Luft.

Aydin klemmte das Stethoskop in die Ohren und setzte es auf die Brust des Patienten.

»Der Kehlkopf ist zugeschwollen.«

Mit fliegenden Fingern öffnete er eine Schublade. »Machen Sie den Arm frei!«, befahl er den beiden Männern, die neben ihrem Mitbruder standen und bangten. Er griff nach einer Injektion. »Ich gebe Ihnen ein Gegenmittel. Das entkrampft die Lungen und erleichtert das Atmen.« Kurzentschlossen versenkte er die Nadel unter der Haut.

Die beiden Mönche flankierten die Behandlungsliege. Mit angehaltenem Atem warteten sie darauf, dass sich Pirmin beruhigte. Endlich geschah das Wunder. Das Keuchen ließ nach. Der Patient entspannte sich.

»Was war denn das?«, fragte Bruder Basilius endlich.

Milan Aydin stand im Rollstuhl neben der Liege und wachte mit Argusaugen über das Geschehen.

»Hat er die Tablette genommen?«

»Ja, unten in der Lobby.«

Milans Augen ruhten auf seinem Patienten.

»Das sah aus wie ein allergischer Schock.«

»Ein allergischer Schock auf ein Antiallergikum?« Bruder Augustinus konnte es nicht glauben.

In Ermangelung einer Erklärung wandte sich Dr. Aydin an Pirmin.

»Wie fühlen Sie sich?«

»Ich bekomme besser Luft. Aber ist es normal, dass sich das Herz so komisch anfühlt?«

»Das hat mit dem Adrenalin zu tun, das ich Ihnen gespritzt habe.« Aydin griff nach dem Handgelenk seines Patienten. Fühlte den Puls. »Es lässt Ihr Herz schneller schlagen.« Er runzelte die Stirn. »Aber nicht so schnell! Rufen Sie eine Schwester!«, rief er Augustinus zu. »Schnell!« Er hatte kaum ausgesprochen, als Pirmin die Augen verdrehte.

Ein Handgriff, ein Ruck und die Kutte zerriss.

»Defibrillator!«, befahl Milan und deutete auf das Gerät an der Wand. Unverzüglich begann er mit der Herzdruckmassage.

Schritte eilten herbei. Schwester Elena tauchte in der Tür auf.

»Was ist passiert?« Mit einem Blick erkannte sie die Situation. Kurzerhand nahm sie Augustinus das Gerät aus der Hand und bereitete es auf den Einsatz vor.

»Er hat keinen Puls mehr.« Dr. Aydin machte seiner Kollegin Platz. Sah zu, wie Elena die Elektroden aufsetzte.

»Und weg!«, befahl sie.

Der Stromstoß jagte durch den Körper des bewusstlosen Mannes und ließ ihn zusammenzucken. Noch zwei Mal musste sie die Prozedur wiederholen, bis sie von Erfolg gekrönt war. Pirmin drehte stöhnend den Kopf hin und her. Blinzelte in die erleichterten Gesichter, die sich über ihn beugten.

»Gelobt sei Jesus Christus …« Bruder Basilius faltete die Hände und murmelte ein Gebet, während Elena dem Patienten eine Sauerstoffbrille anlegte.

Milan Aydin hörte ihm kurz zu.

»Das ist eine gute Idee«, zog er endlich seinen ganz eigenen Schluss. »Ihr Kollege wird Ihre Gebete brauchen können.«

*

Eine Melodie tanzte durch die Aussegnungshalle. Während er das Mobiltelefon aus der Tasche nestelte, warf Uwe Ruhland einen letzten Blick auf sein Werk, zupfte an einer Schleife, rückte eine Blüte gerade.

»Ja, bitte?«

Leise klickend fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. Schließlich wusste er, was sich gehörte. Die Luft kühlte sein erhitztes Gesicht. Er drückte den Apparat ans Ohr. Während er telefonierte, wanderte er vor dem Gebäude auf und ab.

»Ach, Herr Dr. Hilpertz, ja, ja, natürlich erinnere ich mich an Ihren Auftrag … Selbstverständlich können Sie sich auf uns verlassen. Ja, morgen pünktlich um acht Uhr. Auf Wiederhören, Herr Doktor.« Uwe hatte kaum aufgelegt, als das Telefon erneut klingelte. Die Klinik? Nein, seine Tochter Annabel. »Bella, meine Süße«, begrüßte er sie. »Nein, tut mir leid. Ich habe noch keine Neuigkeiten. Aber ich melde mich, sobald ich etwas Neues weiß … ja, ich hab dich auch lieb, mein Schatz.« Er drückte auf die Taste mit dem roten Hörer. Ein kleines Lächeln tanzte um seine Lippen, als er sich endlich auf den Weg in die Klinik machte.

Seine einzige Tochter war sein ganzer Stolz. Besonders, seit sie ihren Sinn für Gerechtigkeit zu ihrem Beruf erkoren hatte. Eine gute Wahl, wie sich inzwischen herausgestellt hatte. Nach ihrem Studium hatte Annabel eine Stelle in einer angesehenen Berliner Kanzlei ergattert und bastelte mit Feuereifer an ihrer Karriere. Sehr zum Missfallen ihrer Mutter Inga. Die Enttäuschung darüber, dass Annabel diesen Weg eingeschlagen hatte, statt sich für Natur und Umwelt und die Gärtnerei zu interessieren, wog noch immer schwer. Seitdem war das ohnehin schlechte Verhältnis zwischen Mutter und Tochter noch weiter abgekühlt. Selbst Uwes Vermittlungsversuche waren gescheitert. Umso dankbarer war er, dass sie zumindest in dieser Situation Anteil nahm.

Gestärkt von dieser Unterstützung eilte er über die Klinikflure.

Schwester Astrid erkannte ihn schon von Weitem an den Pflastern im Gesicht.

»Hallo, Herr Ruhland.« Sie stoppte den Wäschewagen.

»Können Sie mir sagen, wo meine Frau ist?«, bat Uwe und drehte den mitgebrachten Zweig in der Hand.

Irene sah sich um. Ihre Freundin Josepha stand hinter dem Tresen und tuschelte mit einer Kollegin. Astrid konnte sich denken, worum es ging. Nicht umsonst wurden sie und Josepha nur ›die Lästerschwestern‹ genannt. Kaum ein Geheimnis blieb ihnen verborgen. Kaum ein Gerücht, das sie nicht fleißig weitertrugen, bis auch noch der letzte Angestellte der Klinik wusste, dass Milan Aydin heftig mit der verlassenen Schwester Elena flirtete. Doch auch dieses Vergnügen hatte seine Grenzen. Wenn Astrid und Josepha ihren gut bezahlten Job in der Privatklinik Dr. Behnisch nicht verlieren wollten, durften sie es nicht übertreiben.

»Inga Ruhland«, rief Astrid ihrer Freundin zu. »Patientin von Dr. Petzold.«

»Ich frage mal nach.« Josepha griff nach dem Hörer.

Astrid wandte sich wieder dem Ehemann zu.

»Konnten Sie Ihre Arbeit beenden?«

Uwe nickte.

»Zum Glück haben wir noch einen privaten Wagen. Damit habe ich die restlichen Kränze zum Friedhof gebracht. Jetzt steht einer stimmungsvollen Feier nichts mehr im Wege.« Er drehte einen Zweig in den Händen.

Astrid betrachtete ihn verwundert.

»Dass die jetzt schon blühen …«

Uwe sah hinab auf die gelben Sterne und lächelte.

»Inga hat die Angewohnheit, im Winter immer alle möglichen Zweige zu schneiden und in Vasen zum Blühen zu bringen. So geht bei uns der Sommer nie zu Ende.«

»Ein schöner Gedanke. Vielleicht sollte ich das auch mal ausprobieren.«

»Tun Sie das.« Uwes Blick fiel auf Josepha. Sie hatte gerade aufgelegt.

»Ihre Frau ist immer noch im Operationssaal.«

»Was denn? Immer noch?« Uwe sah auf die Uhr. »Aber ich war mehr als drei Stunden weg.«

»Sie hat viele schwere Verletzungen, die versorgt werden müssen«, beeilte sich Astrid zu versichern. »OP-Zeiten von sechs, sieben Stunden sind bei Polytraumata keine Seltenheit«

»Oh, ja, na ja, wenn Sie das sagen­ …« Uwe betrachtete den Zweig in seinen Händen.

»Wollen Sie trotzdem warten?«

»Natürlich. Der Aufenthaltsraum, ich weiß.« Er lächelte Astrid zu und machte sich auf den Weg.

Unterwegs zog er das Handy aus der Tasche. Wählte die Nummer seiner Tochter. Normalerweise telefonierten sie nur ein, zwei Mal pro Woche. Doch in diesen schweren Stunden wollte er nicht allein sein.

*

»Das sieht hier aus wie ein Schlachtfeld«, seufzte Dr. Sophie Petzold und wandte den Kopf. »Schweiß!«

»Wir kommen um eine Mittellappenresektion nicht herum«, bestätigte Dr. Norden diesen Eindruck. Die weißen Latexhandschuhe waren rot von Blut. Zum wohl hundertsten Mal an diesem Nachmittag sah er hinüber zu Dr. Räther. »Wie geht’s ihr?«

»Die Sauerstoffsättigung ist etwas gestiegen. Könnte aber immer noch besser sein.«

»Ich arbeite daran«, versprach Daniel und beugte sich wieder über das Operationsfeld.

Die Minuten zerrannen ihm zwischen den Fingern und wurden zu Stunden. Trotzdem hatte er das Gefühl, auf der Stelle zu treten. Es war wie verhext. Kaum war ein Problem behoben, tauchte schon das nächste auf. Plötzlich verschwanden die Instrumente in einem roten See.

»Was ist das? Saugen!«, bellte er. »Eine erneute Blutung. Wo kommt die denn jetzt auf einmal her?« Er griff nach der Lampe. Drehte sie hin und her. »Ich kann es nicht erkennen.«

»Ich aber!«, rief Dr. Petzold. »Ich übernehme. Klemme! Saugen!«

Ein Alarm piepte. Ausgerechnet jetzt!

»Der Druck fällt«, warnte Dr. Räther.

»Noch eine Klemme!«, verlangte Sophie.

Wie immer, wenn Daniel Norden aufgeregt war, holte er Luft und zählte bis drei. Manchmal auch bis sechs. Diesmal hörte er bei zehn auf, ohne dass sich sein aufgeregtes Herz beruhigen wollte.

»Vier Konserven nachkreuzen!« Er musste die Stimme heben, um den Geräuschteppich zu übertönen.

Eine Weile arbeitete das Operationsteam verbissen vor sich hin.

»Gut, ich hab’s« stöhnte Sophie Petzold endlich. »Ligatur!« Sie nahm das Instrument, das ihr die Schwester reichte. Es fühlte sich ­angenehm kühl an. Beruhigend. »Nochmal saugen!«

Die allgemeine Anspannung löste sich ein wenig.

»Das ist gerade nochmal gut gegangen.« Daniel blinzelte. Nach Stunden angestrengten Schauens ließen ihn seine Augen allmählich im Stich.

Sophie bemerkte es.

»Ich denke, jetzt schaffen wir es auch ohne dich.«

In ihre Worte hinein klingelte das Telefon. Ramona Räther nahm das Gespräch an.

»Der Ehemann lässt fragen, wie lange es noch dauert. Er wartet vor dem OP.«

»Thorax schließen. Schädel. Leber«, zählte Daniel die Arbeiten auf, die noch gemacht werden mussten. »Und dann ist da noch die Oberschenkelfraktur.«

»Die würde ich verschieben. Auch ohne sind wir hier noch zwei bis drei Stunden beschäftigt«, tat Sophie ihre Meinung kund.

»Gut.« Daniel Norden trat vom Operationstisch zurück und nickte den Kollegen zu. »Ich sage dem Mann Bescheid. Gute Arbeit bisher. Weiterhin viel Glück!« Mit diesen Worten verließ der Klinikchef den OP und machte sich auf die Suche nach Uwe Ruhland.

*

Eine Stunde später saß Dr. Daniel Norden am Schreibtisch in seinem Büro, das ihm nach der Zeit im OP wie ein Paralleluniversum erschien. Er studierte Bruder Pirmins Fall, als aus dem Vorzimmer ein Lachen herüberwehte. Kurz darauf klopfte es.

»Dr. Aydin ist hier«, kündigte die Assistentin Andrea Sander den Besucher an.

Milans Charme hatte deutliche Spuren auf ihren Wangen hinterlassen. Bei Daniel würde er nicht so viel Erfolg haben. In der Tat fackelte Dr. Norden nicht lange.

»Danke, dass Sie gleich kommen konnten. Es geht um Bruder Pirmin.«

Milan Aydin hatte es geahnt und sich gewappnet.

»Der Herzstillstand.«

Daniel nickte.

»Sie haben bei unserem Patienten Allergien diagnostiziert und ein Antihistaminikum verordnet«, las er aus der Patientenakte vor. Daraufhin bekam er Atemnot. Sie verabreichten Adrenalin.« Dr. Norden runzelte die Stirn. »Von der Dosierung steht hier nichts.«

»Es waren 0,1 Milliliter. Soviel ich weiß, ist das die Standarddosis. Die habe ich Bruder Pirmin injiziert.«

»Man bekommt keinen Herzstillstand von 0,1 Milliliter Adrenalin.«

Milan Aydin zuckte mit den Schultern. »Ich tippe auf ein bestehendes Herzleiden, das sich erst durch das Adrenalin bemerkbar gemacht hat.«

Daniel legte das Tablet auf den Schreibtisch. Lehnte sich zurück und verschränkte die Hände vor dem Bauch.

»Davon steht aber nichts in der Akte.«

»Das muss ich wohl vergessen haben.«

Es war zum Haareraufen. Daniel Norden war Klinikchef mit Leib und Seele. Neben vielen anderen Aspekten liebte er die Abwechslung, die diese Aufgabe mit sich brachte. Aber manchmal waren die Szenenwechsel selbst ihm zu abrupt. Noch stand er unter dem Eindruck des Geschehens im Operationssaal und musste trotzdem mit einem Mitarbeiter herumstreiten.

»Ich habe mich im Behandlungsraum umgesehen. In besagter Schublade liegen zwei Sorten dieser Injektionen nebeneinander. Eine niedrig dosierte Variante und eine höher dosierte. Da greift man schnell mal daneben.«

»Ich nicht. Und schon gar nicht heute«, behauptete Milan Aydin selbstbewusst.

Dr. Norden beugte sich vor.

»Jeder macht mal einen Fehler. Was glauben Sie, warum sich Ärzte nicht davor scheuen, einen Haufen Geld für eine Haftpflichtversicherung auszugeben?«

Milans rechter Mundwinkel zog sich hoch.

»Ich gehöre jedenfalls nicht dazu.«

Daniel verschluckte sich an seinem nächsten Satz. Er hustete.

»Ein Glück, dass Sie über die Klinik abgesichert sind. Aber Ihnen ist hoffentlich klar, dass Sie im Schadensfall auch persönlich zur Rechenschaft gezogen werden können.«

»Schon gut, schon gut!« Milan hielt die Hände hoch. »Das hat mir heute schon mal jemand gesagt.«

»Ein kluger Mensch.«

»Ich habe trotzdem keine Angst vor einer Klage. Immerhin handelt es sich um christliche Menschen im Dienste Gottes.«

»Auf der einen Seite, da haben Sie recht«, räumte Dr. Norden ein. »Auf der anderen Seite ist da unsere geschätzte Verwaltungsdirektorin Frau Blume. Wenn ich ihr keinen anständigen Grund für Bruder Pirmins Aufenthalt in unserer Klinik nennen kann, wird sie unsere Juristen verständigen.« Er machte eine kunstvolle Pause. »Was das bedeutet, muss ich Ihnen doch sicher nicht erklären.«

Betreten starrte Dr. Aydin auf den Fußboden. Mist! Daran hatte er nicht gedacht!

»Wie viel Zeit habe ich?«, fragte er schließlich heiser.

»Eine Einweisung zur Beobachtung kann ich 24 Stunden lang rechtfertigen. Innerhalb dieser Zeit müssen Sie herausfinden, was Bruder Pirmin fehlt. Also beeilen Sie sich!«

*

»Ein Jammer.« Schwester Josepha stand im Schwesternzimmer und knabberte an einem Keks. »Der schöne Milan steckt ganz schön in Schwierigkeiten.«

»Sag bloß, er hat was mit der Pflegedienstleitung angefangen?«, platzte ihre Freundin Astrid heraus.

Der Pfleger Henri stand in der Ecke und räumte Verbandmaterial aus einer Schachtel in den Schrank. Mit dieser Unterhaltung war die Arbeit nicht halb so langweilig wie gedacht.

Er spitzte die Ohren, um nur ja nichts zu verpassen.

Die beiden Schwestern nahmen indes keine Notiz von ihrem Kollegen.

»Dafür hat er im Augenblick wohl keinen Kopf«, erwiderte Josepha geheimnisvoll.

»Jetzt spann mich nicht so auf die Folter!«

»Ich habe gehört, wie er vorhin mit seinem Vermieter telefoniert hat. Rein zufällig versteht sich.«

»Natürlich.«

Die beiden Freundinnen sahen sich in die Augen und glucksten vor Vergnügen.

»Und?«, hakte Astrid nach. »Was hat er gesagt?«

»Sein Vermieter will ihn auf Schadensersatz verklagen, weil er den Schmorbrand fahrlässig verursacht hat.«

»Der Ärmste. Wir könnten für ihn sammeln.«

Schritte näherten sich. Schwester Elena kam herein.

»Sammeln? Für wen?« Sie nahm einen Keks vom Teller in Josephas Hand.

»Für Dr. Aydin. Warum schauen Sie denn so? Natürlich können wir keine neue Wohnungseinrichtung bezahlen. Aber ein kleines Geschenk wenigstens.«

»Zum Beispiel einen Mehrfachstecker«, platzte Henri in seiner Ecke heraus.

»Ich glaube kaum, dass Milan das sehr witzig fände.« Elena bemühte sich um einen strengen Tonfall. Doch das Lächeln um ihre Lippen verriet sie. »Mal abgesehen davon könnte er bestimmt ein paar Haushaltsgegenstände gebrauchen.«

»Er hat nämlich keine Haftpflichtversicherung«, verriet Josepha und mied den Blick der Pflegedienstleitung.

»Waaaaas?« Schwester Astrid riss die Augen auf. »Ich kenne mich ja wirklich nicht gut aus. Aber dass Kranken-, Haftpflicht- und Berufsunfähigkeitsversicherungen die wichtigsten Versicherungen überhaupt sind, weiß sogar ich.«

»Hoffentlich ist es ihm nicht peinlich, dass wir alle wissen, dass er in Schwierigkeiten steckt«, bemerkte Josepha.

Elena stemmte die Hände in die Hüften und funkelte die Lästerschwestern an.

»Darüber nachzudenken ist ja wohl ein bisschen zu spät, nachdem Sie es ja schon allen erzählt haben.«

Sie hatte kaum ausgesprochen, als ein Quietschen vom Gang herüberwehte.

Jeder im Raum wusste, was das bedeutete. Das Geräusch kam näher. Gleich darauf bog Dr. Aydin um die Kurve. Er war sichtlich in Eile.

»Sind die Befunde von Bruder Pirmin schon da?«, fragte er und durchwühlte die Patientenakten auf dem Tisch.

Elena, Astrid, Josepha und Henri standen nebeneinander und sahen ihn an.

»Ähm, nein, noch nicht«, antwortete Josepha.

»Zu dumm. Machen Sie den Kollegen …« Milans Blick fiel auf seine Mitarbeiter. »Sagt bloß, ihr habt gerade über mich geredet.« Seine Züge glätteten sich. »Wie schmeichelhaft. Aber über wen solltet ihr auch sonst reden als über euren Lieblingdoc?«

Verlegene Blicke, scharrende Füße.

»Es hat sich leider herumgesprochen, dass Sie in finanziellen Schwierigkeiten stecken«, antwortete Josepha.

»Ach ja?« Milans Augen wurden schmal. Sein Blick fiel auf Elena.

»Ich kann nichts dafür.« Wie um sich zu schützen hielt sie die Hände vor den Oberkörper.

Aydin atmete durch.

»Was soll’s. Es stimmt ja. Sicher wissen Sie auch schon, dass mein Vermieter mich verklagen will.« Offenbar hatte er gefunden, wonach er suchte, und zog die Patientenakte aus dem Stapel.

»Keine Sorge, das bleibt unter uns«, versicherte Schwester Astrid schnell.

»Kein Problem. Ich wollte die Neuigkeit sowieso ans Schwarze Brett hängen.« Er zwinkerte den Damen in der Runde zu, grinste Henri an, nahm einen Keks von Josephas Teller und rollte davon, ehe einer der vier eine passende Bemerkung gefunden hatte.

*

Langsam kehrte Ruhe ein auf den Fluren der Behnisch-Klinik. Dort, wo tagsüber ein Betrieb wie in einer Bahnhofshalle war, herrschte fast gespenstische Ruhe. Die Rollwagen mit Medikamenten oder Wäsche standen verwaist in dunklen Ecken. Im gedimmten Licht huschten helle Schatten fast lautlos hin und her. Gerade so, als wollten sie Rücksicht nehmen auf den Mann, der auf der Bank vor der Intensivstation lag und schnarchte. Der Forsythienzweig welkte auf seinem Bauch vor sich hin.

Beim Anblick ihres Vaters zog sich Annabels Herz zusammen. Sie stürzte sich nicht sofort auf ihn, um Schutz und Sicherheit bei ihm zu suchen. Wie damals, als sie sich als Kind vor der Dunkelheit gefürchtet hatte. Doch inzwischen war sie kein Kind mehr. Deshalb besiegte sie den ersten Impuls und ging auf ihn zu.

»Papa!«

Annabel streckte die Hand aus. Leicht wie ein Schmetterling landete sie auf seinem Arm.

Plötzlich war da ein Lächeln auf Uwes Lippen. Ihre Stimme mischte sich in seine Träume.

»Papa, fang mich auf!« Er stand bis zur Hüfte in einer Blumenwiese. Von Annabel war nicht viel mehr als der blonde Haarschopf zu sehen. Und ihre Ärmchen, die in die Höhe ragten wie die jungen Äste eines Apfelbaumes. »Papaaaaaa!«

Uwe fuhr hoch. Die Forsythie landete auf dem Boden. Es dauerte einen Moment, bis er wusste, wo er war. Wer vor ihm stand.

»Annabel, was machst du denn hier?« Er starrte seine Tochter an wie eine Erscheinung. »Ich dachte, du bist in Berlin.«

»War ich auch. Aber du hast so schrecklich geklungen am Telefon. Und später konnte ich dich nicht mehr erreichen.« Sie sank neben ihren Vater auf die Bank. Wandte ihm den Oberkörper zu. »Deshalb habe ich mich ins Auto gesetzt und bin losgefahren.« Sie nahm seine Hand zwischen die ihren. Fühlte die Schwielen. Die raue Haut. Wenn er ihr früher übers Haar gestrichen hatte, waren sie immer hängen geblieben.

Das Adrenalin in Uwes Blut ebbte ab. Er rieb den schmerzenden Rücken. Nur ein Fakir hätte auf der harten Bank gut geschlafen.

»Wie spät ist es?«

Annabel sah auf die Uhr.

»Elf durch.« Sie sah hinüber zur Tür mit der Aufschrift ›Intensivstation‹. Licht fiel durch die Ritzen und verriet, dass hier kaum ein Unterschied gemacht wurde zwischen Tag und Nacht. »Wie geht es Ma… Inga?«

»Sie ist da drinnen. Aber die ­Ärzte wollen mich nicht zu ihr lassen.« Uwe gähnte. »Kannst du mir einen Gefallen tun und Kaffee holen?« Er musterte sie aus Augen, die in dunklen Höhlen lagen. »Nach der langen Fahrt kannst du bestimmt auch einen brauchen. Mit zwei Löffeln Zucker und einem Schuss Milch?«

»Stimmt auffallend.« Annabel lachte leise. »Wie gut du mich kennst.«

»Du bist doch meine Tochter.«

»Inga weiß das nie. Sie muss jedes Mal wieder fragen. Und sie ist meine Mutter.« Plötzlich klang Annabels Stimme spitz. Schnell stand sie auf und machte sich auf die Suche nach einem Kaffeeautomaten.

In der Lobby wurde sie fündig. Ein Mann im Rollstuhl stand davor. Zu ihrer Überraschung trug er einen weißen Kittel. Der Automat zischte und spuckte wie ein Drachen.

»Keine Angst. Ich verteidige Sie vor dem wilden Monster«, sagte der Mann im Rollstuhl.

Annabel legte den Kopf schief. Sie klemmte sich eine Strähne hinters Ohr.

»Können Sie Gedanken lesen?«

Milan lachte heiser.

»Vielleicht.« Er nahm den Becher aus dem Halter. Warf einen Blick hinein und dachte kurz nach. »Bitteschön. Mit Milch und Zucker.«

»Sie können wirklich Gedanken lesen.«

»Leider nicht. Aber vielleicht erzählen Sie mir ja etwas von dem, was in Ihrem hübschen Kopf vor sich geht.« Wieder fauchte der Automat und spuckte einen weiteren dampfenden Becher aus.

Annabel überlegte kurz. Durfte sie sich eine kleine Auszeit gönnen, ehe sie endgültig ins Reich des Grauens eintauchte?

»Was wollen Sie hören?«

Milan grinste zufrieden und winkte sie mit sich zur Sitzgruppe.

*

Daniel Norden schloss die Tür hinter sich. Mit der kühlen Nachtluft sperrte er die Gedanken an die Arbeit aus. Das gelang ihm nicht immer. Doch nach so einem Tag musste es einfach sein. Er machte Licht im Flur. Stellte die Tasche an ihren Platz unter der Garderobe. Hängte den Mantel auf. Er lauschte auf die Geräusche im Haus. Bis auf die Stimmen aus dem Wohnzimmer war nichts zu hören. Seltsam, wie sich die Zeiten änderten. Wie man selbst sich änderte. Wenn er vor fünfzehn, zwanzig Jahre nach Hause gekommen war, hatten sich die Kinder regelrecht auf ihn gestürzt. Sich an seine Arme und Beine gehängt. Ihn mit Fragen, Anekdoten und Wünschen bestürmt, dass er um seine Trommelfelle fürchtete, während seine Frau Felicitas lauernd dahinter stand, die Liste mit den Aufträgen schon in der Hand. Natürlich hatte er sich über die Aufmerksamkeit gefreut. Ein bisschen weniger davon wäre ihm aber auch recht gewesen. Ein bisschen Verschnaufpause nach dem anstrengenden Alltag als Allgemeinmediziner mit eigener Praxis.

Die hatte inzwischen sein ältester Sohn Danny übernommen, während sein jüngerer Bruder Felix als Pilot durch die Welt jettete und sich nur noch alle Jubeljahre zu Hause blicken ließ. Anneka studierte Soziale Arbeit und wohnte bei ihrem Freund, dem Medizinstudenten Sascha. Nur die Zwillinge Jan und Dési, inzwischen ebenfalls Studenten, lebten noch zu Hause. Doch sie hatten Besseres zu tun, als sich johlend auf ihren Vater zu stürzen. Ja, sie bemerkten noch nicht einmal mehr, wenn er nach Hause kam. Übelnehmen konnte Daniel es ihnen nicht. Schließlich ging es auf Mitternacht zu.

»Träumst du mit offenen Augen?«

Fees Stimme riss ihn aus den Gedanken. Daniel lächelte. Schloss seine Frau in die Arme und wiegte sie wie ein Kind.

»Feelein, wie schön, dass wenigstens du mich begrüßt.«

Sie lachte leise an seiner Brust.

»Lass mich raten! Du hast gerade an früher gedacht.«

Manchmal war sie ihm unheimlich.

»Es gefällt mir nicht, dass du immer weißt, was ich denke.«

Wieder dieses leise Lachen, das wohlig auf seiner Haut prickelte.

»Oh, nicht immer. Aber diesmal war es nicht schwer zu erraten.« Sie schob ihn von sich und sah ihm in die Augen. »Kennst du das Geheimnis schöner Erinnerungen?«

»Du wirst es mir bestimmt gleich verraten.«

»Schöne Erinnerungen haben oft damit zu tun, dass man gemeinsam Schwierigkeiten überwunden hat. Auch wenn die Erinnerung uns anderes vorgaukelt: Die Zeiten damals waren alles andere als leicht. Nicht für dich und nicht für mich. Kein Grund also, ihnen nachzutrauern. Freu dich lieber, dass wir überlebt und heute ein schönes Verhältnis zu unseren Kindern haben. Und genügend Abstand«, fügte sie augenzwinkernd hinzu.

»Nana, was sind denn das für Töne?«

Statt einer Antwort nahm Fee ihren Mann an der Hand und zog ihn mit sich ins Wohnzimmer. Sie drückte ihn auf die Lümmelcouch und reichte ihm ein Glas Wein, dunkelrot und samtig weich. Sie setzte sich neben ihn und sah zu, wie er trank.

»Du sollst heiter Raum um Raum durchschreiten. An keinem wie an einer Heimat hängen«, zitierte sie aus ihrem Lieblingsgedicht von Hermann Hesse. »Alles hat seine Zeit. Und ich bin sehr froh, dass ich dich inzwischen abends ganz für mich allein habe.« Ihre Stimme vibrierte.

Genau wie die Härchen auf seinen Armen, als sie sanft darüberstrich.

Daniel streckte sich und stellte das Glas auf dem Tisch.

»So betrachtet hast du natürlich recht.« Er zog Fee an sich. Vergrub seine Nase an ihrem Hals. Atmete ihren Duft nach langen Tagen am Meer und lauen Sommernächten. Wie stellte sie das nur an mitten im Winter?

»Und was die schönen Erinnerungen angeht: Besonders wichtig ist es, aus dem Alltag auszubrechen. Gewöhnliche Dinge mal anders zu tun.« Einen nach dem anderen öffnete Fee die Knöpfe seines Hemdes. Küsste jedes Stück Haut, das sichtbar wurde.

»Jetzt verstehe ich.« Daniel lachte leise und zog sie an sich. »Dann werde ich jetzt für ein paar Erinnerungen sorgen, die du dein Leben lang nicht mehr vergisst.«

*

Es kam selten vor, dass es Milan Aydin nicht gelang, seine Gesprächspartnerin in seinen Bann zu ziehen. Doch heute war einfach nicht sein Tag! Immer wieder versickerte das Gespräch wie Wasser im trockenen Wüstensand. Er beschloss, es zu beenden, bevor es unangenehm wurde.

»Dann werde ich mal in mein Bett gehen.«

Ein gezielter Wurf. Der Becher landete im Abfall. Doch Annabels Aufmerksamkeit gehörte Milan.

»Ich dachte, Sie hätten Nachtschicht.«

»Nein. In meiner Wohnung hat es gebrannt. Deshalb habe ich mein Quartier vorübergehend hier aufgeschlagen.«

»Oh, das tut mir leid.«

»Selbst schuld.« Milan lächelte schief. »Ich bin wahrscheinlich der beste Neurochirurg weit und breit. Aber mit Technik habe ich es nicht so. Na ja, so hat eben jeder seine speziellen Begabungen.«

»Da haben Sie recht.«

Keine Fragen. Keine Bemerkung, an die er anknüpfen konnte.

»Oh, ich fürchte, ich habe Sie schon viel zu lange aufgehalten. Sie wollten ja Ihre Mutter besuchen.«

Zu seinem Erstaunen machte Annabel keine Anstalten aufzustehen. Stattdessen starrte sie auf den leeren Becher in ihren Händen.

»Ach, ehrlich gesagt bin ich wegen meines Vaters hier«, gestand sie. »Zu meiner Mutter hatte ich noch nie so einen guten Draht. Wir sind einfach zu verschieden.«

Hoppla! Das klang nach Gesprächsbedarf!

Vielleicht war ja doch noch nicht alles verloren.

»Ich kenne Ihre Mutter ja nicht. Aber wer so eine Tochter großzieht, kann nicht so verkehrt sein.«

Annabel lachte pflichtschuldig.

»Netter Versuch. Trotzdem verstehen wir uns nicht. Inga war schon immer so eine Ökotante. Während andere Mütter in schicken Kostümen zu Schulfeiern kamen, trat sie im Schlabberlook und Jesuslatschen auf.«

»Das lassen Sie mal nicht den Mönch hören, der seit gestern in der Klinik liegt«, scherzte Milan. »Er könnte es missverstehen.«

Diesmal lachte Annabel nicht.

»Können Sie sich vorstellen, wie peinlich das für einen Teenager ist? Das Gespött der ganzen Schule war mir sicher. Wildfremde Kinder zeigten mit dem Finger auf mich und lachten mich aus.« Sie blickte hoch. Sah dem Patienten nach, der auf der Suche nach etwas Essbarem durch die Lobby schlich und in einem der Flure verschwand. »Vielleicht wäre es nicht so schlimm gewesen, wenn wir vorher einen Draht zueinander gehabt hätten. Aber so …« Ihr Blick fiel wieder auf den leeren Becher in ihren Händen. »Es gibt einen Grund, warum ich früh ausgezogen und möglichst weit weggegangen bin.«

»Verstehe.« Milan nickte gewichtig. »Ich bin auch früh von zu Hause weg. Das lag aber eher an meinem Bruder Deniz denn an meinen Eltern.«

»Manchmal ist Flucht eben doch der einzige Ausweg.« Annabel lächelte schwermütig.

Schritte waren zu hören. Sie näherten sich schnell.

»Ach, Dr. Aydin, gut, dass ich Sie treffe. Kennen Sie zufällig eine Annabel Ruhland?«, fragte die Nachtschwester.

Mit einem Satz war Annabel auf den Beinen.

»Das bin ich.«

»Oh!« Ein erleichtertes Lächeln. »Ihr Vater ist bei Ihrer Mutter auf der Intensivstation. Sie können jetzt auch zu ihr.«

»Perfekt. Vielen Dank.« Annabel drehte sich zu Milan um. »Es war nett, mit Ihnen zu plaudern. Gute Nacht.«

*

Beim Anblick seiner Frau schlug Uwe Ruhland die Hand vor den Mund. Ein ganzer Turm von Geräten stand neben Ingas Bett. Nur mit Mühe konnte er ihr Gesicht zwischen Kabeln, Schläuchen und Verbänden ausmachen. Sie hatte mehr Ähnlichkeit mit einem Roboter als mit einem lebenden Menschen.

»Wie geht es ihr?«

Dr. Sophie Petzold stand am Monitor und notierte die Werte im Krankenblatt. Uwes Frage lenkte sie ab. Sie hielt inne.

»Sie hat die Operation überstanden.«

»Mehr nicht?«

»Das ist schon sehr viel nach einem subduralen Hämatom, einer Leberruptur, einer Mittellappenresektion und anderen Kleinigkeiten.« Dr. Petzold beugte sich wieder über das Blatt.

Uwes Hals wurde eng.

»Wird Inga wieder gesund werden?«

»Das müssen die nächsten Tage zeigen.« Sophie legte das Klemmbrett zur Seite und drehte sich endlich um. »An Ihrer Stelle wäre ich nicht zu optimistisch. Die Verletzungen waren gravierend.«

Uwe ballte die Hände zu Fäusten. Gespräche mit Inga kamen ihm in den Sinn. Die Arbeit auf dem Friedhof hatte ihre Spuren hinterlassen. Die Geschichten der Menschen, deren Gräber sie schmückten und pflegten. Lieber umfallen und weg sein, als behindert oder gar ein Pflegefall, hatte Inga immer gesagt. Darüber waren sie regelmäßig in Streit geraten. Uwe kannte genug Menschen mit Handicap, die ihr Leben dennoch in vollen Zügen genossen. Mit Einschränkungen zwar, die aber meist der feindlichen Umwelt geschuldet waren, die selten auf die Bedürfnisse dieser Menschen eingestellt war.

»Für meine Frau wäre es das Schlimmste, behindert zu sein«, sagte er heiser.

»Das sagen Sie mal unserem Kollegen Dr. Aydin.« Beim Gedanken an den Herzensbrecher lächelte ­Sophie. »Er ist nach einem Unfall mit dem Paraglider querschnittgelähmt. Was ihn nicht daran gehindert hat, den Facharzt in Chirurgie und Neurochirurgie zu machen und wie jeder andere Arzt hier auch seine Patienten zu behandeln und zu operieren.« Dass er obendrein ein ausgemachter Frauenheld war, behielt sie lieber für sich.

Uwe nickte mehrmals.

»Ich sehe das genauso wie Sie. Meine Frau allerdings nicht.«

»Dann sollten Sie hoffen und beten.« Einen anderen Rat hatte Dr. Petzold nicht für den Ehemann ihrer Patientin. Glücklicherweise gesellte sich in diesem Moment die Tochter der Familie zu ihnen. »Ich lasse Sie jetzt allein.« Sie nickte Annabel zu und verließ das Intensivzimmer.

Uwe streckte die Hand nach ihr aus. Annabel nahm und drückte sie.

»Danke, dass du hier bist«, raunte er ihr zu und setzte sich auf den Stuhl, den sie ihm hinschob.

Eine lange Nacht mit ungewissem Ausgang lag vor ihnen.

*

Am nächsten Morgen wehte ein Wind, so eisig, dass Dr. Daniel Norden trotz der inneren Hitze noch einmal umkehrte. Er holte Mütze und Schal aus dem Haus, auch wenn der Weg zum Wagen nicht weit war.

Mit diesen Problemen musste sich sein Mitarbeiter Milan Aydin nicht herumschlagen. Während sich sein Chef durch den morgendlichen Verkehr kämpfte, stand er in aller Ruhe auf. Er saß auf der Lehne des Rollstuhls und rasierte sich im Bad des Ruheraums, als es klopfte.

»Immer herein in die gute Stube. Ich bin vollständig bekleidet.«

Daniel Norden warf einen Blick um die Ecke.

»Da habe ich ja Glück gehabt.« Die Nacht in den Armen seiner Frau hatte ihn gnädig gestimmt. Er schloss die Tür und wartete, bis Milan den weißen Schaum aus dem Gesicht gekratzt hatte.

»Was verschafft mir die Ehre?« Aydin rutschte von der Lehne auf die Sitzfläche zurück und rollte hinüber zum Chef. Sein Blick blieb an dem Papier in Dr. Nordens Händen hängen. Sofort dachte er an Bruder Pirmin und die Frist. »Die 24 Stunden sind noch nicht um.«

»Das hier ist auch nicht Ihre Kündigung.« Ein Lächeln zuckte in Daniels Mundwinkel. »Sondern die Telefonnummer von Dr. Martin Sassen. Anwalt und ein guter Freund von mir.« Er reichte Aydin das Blatt, auf dem er Martins Anschrift und Telefonnummer notiert hatte. »Er erwartet Ihren Anruf und hat mir überdies versprochen, Ihnen mit dem Honorar entgegenzukommen.«

»Vielen Dank.« Das Papier zitterte leise in Milans Händen. »Was verschafft mir die Ehre?«

»Danken Sie meiner Frau.« Der Gedanke an Fee genügte, um Daniels Augen leuchten zu lassen. »Ich habe Felicitas gestern von Ihrem Fall erzählt. Sie bat mich, mit Martin zu sprechen. Ich habe ihr diesen Wunsch erfüllt, weil mir das Wohl meiner Mitarbeiter am Herzen liegt.«

»Nur sorgenfreie Mitarbeiter sind gute Mitarbeiter«, scherzte Milan.

»Und sorgenfreie Chefs gute Chefs.« Dr. Norden erwiderte sein Lächeln. »Deshalb müssen Sie mir im Gegenzug versprechen, auch noch diese Versicherungsmaklerin anzurufen.« Er tippte auf den zweiten Namen auf dem Blatt. »Sie ist auf hoffnungslose Fälle wie den Ihren spezialisiert.«

Milan lachte. »Wenn ich dann heute noch herausfinde, was Bruder Pirmin fehlt, bin ich gerettet.«

Fünf Minuten später machte er sich Seite an Seite mit Dr. Norden an die Arbeit.

»Welche Erkenntnisse haben Sie bisher gesammelt?«, erkundigte sich Daniel und grüßte ein paar Ärzte, die ihnen, in ein angeregtes Gespräch vertieft, auf dem Flur entgegenkamen.

»Die Hände waren rot und geschwollen. Es könnte sich um eine Zellentzündung handeln.«

»Ich habe mir die Blutwerte noch einmal genau angesehen. Es gibt keinen Hinweis auf eine Infektion.«

»So ein Zufall. Ich habe heute Nacht auch über den Werten gebrütet und festgestellt, dass die Eosinophilien geringfügig erhöht sind. Möglich, dass wir es doch mit einer Allergie zu tun haben.«

Ein Klinikbett stand auf dem Flur. Dr. Norden machte Halt, um Milan im Rollstuhl die Vorfahrt zu lassen. Mit wenigen Schritten holte er ihn wieder ein.

»Ausgeschlossen. Eine Allergie ist niemals für einen Herzstillstand verantwortlich.«

»Wie wäre es dann mit dem Churg-Strauss-Syndrom?«, machte Milan einen weiteren Vorschlag. »Die Blutgefäße des Herzens, der Lunge und der Haut entzünden sich und verursachen Asthma, Haut- und Herzprobleme. Das passt zu allen Symptomen.«

Dr. Norden staunte nicht schlecht. »Alle Achtung. Sie haben Ihre Hausaufgaben gemacht.«

»Was sollte ich auch sonst nachts allein in einem engen Stockbett machen, wo mich keine schöne Frau auf andere Gedanken bringen darf.«

»Wie wäre es mit schlafen?« Daniel lachte ein bisschen zu laut.

Bevor Milan Aydin eine anzügliche Bemerkung machen konnte, blieb Dr. Norden am Aufzug stehen. Hier trennten sich ihre Wege.

»Bleiben Sie dran und halten Sie mich auf dem Laufenden!«, nahm er Milan ein Versprechen ab, ehe sich die silberfarbenen Türen leise surrend vor ihm schlossen.

*

»Du wirst sehen. Alles wird wieder gut. Ich mache es gut für dich.« Uwe Ruhland saß am Bett seiner Frau. Um dem nervtötenden Piepen und Tuten nach einer durchwachten Nacht zu entgehen, hatte er angefangen zu reden. »Wenn ich ehrlich bin, bin ich froh, dass die alte Rostlaube jetzt Schrott ist. Dann können wir endlich den schicken Pick-up kaufen, den du schon so lange im Auge hast. So gut, wie die Gärtnerei jetzt läuft, ist das gar kein Problem. Weißt du schon, in welcher Farbe du ihn haben willst? Ich finde ja dieses dunkle Rot ganz schick. Aber in Anthrazit ist er auch gut. Was meinst du?«

Annabel saß in der Ecke und gähnte.

»Papa, findest du nicht, dass du übertreibst? Da, wo Inga jetzt ist, hört sie dich bestimmt nicht.«

Uwe fuhr herum.

»Was macht dich da so sicher?«, fauchte er mit funkelndem Blick. »Fachleute haben mit Wachkomapatienten kommuniziert. Sie …«

»Tut mir ja leid, wenn ich deine Illusionen zerstören muss. Aber die Versuche, die den Berichten zu Grunde liegen, waren fehlerhaft.« Annabel erhob sich. Reckte und streckte die schmerzenden Glieder und trat schließlich ans Bett ihrer Mutter. Kein Blinzeln, kein Zucken verriet, dass Inga etwas von dem mitbekam, was um sie herum passierte. »Komm, Papa. Lass uns irgendwo was frühstücken gehen. Ich habe gehört, dass es hier einen sensationellen Kiosk mit einem Café unter Palmen geben soll.«

»Ich kann jetzt nicht weg hier. Was, wenn Inga aufwacht?«

»Dann sind jede Menge Schwestern und Pfleger hier, die sich um sie kümmern. Komm schon!« Annabel nahm ihren Vater an der Hand und zog ihn mit sich. »Sie wird schon nicht gleich weglaufen.«

Uwe lachte pflichtschuldig und gab schließlich seinen Widerstand auf. Legte den Arm um die Schultern seiner Tochter und schlenderte Arm in Arm mit ihr den Flur entlang.

»Schön, dass du in diesen schweren Stunden für mich da bist.«

»Aber das ist doch selbstverständlich«, erwiderte Annabel.

»Mag sein. Trotzdem hätte ich nie von dir verlangt zu kommen. Es gab ja einen Grund, warum du so früh von zu Hause ausgezogen bist.«

»Der Grund warst aber nicht du.«

Uwe nickte langsam. Er war froh, dass Inga dieses Gespräch nicht mit anhörte.

»Hättest du dasselbe für deine Mutter getan?« Er wusste selbst nicht, warum er in der Wunde bohrte, kannte er doch die Antwort.

»Natürlich wäre ich gekommen. Wegen dir. Nicht wegen ihr. Nicht nach allem, was sie mir angetan hat.« Annabels Stimme hallte über den Flur.

Zwei Patienten, die dort spazierengingen, drehten sich nach Vater und Tochter um.

Uwe bemerkte die neugierigen Blicke nicht.

»Schade, dass alles so kommen musste«, murmelte er.

»Schade, dass ich nie die Tochter war, die Inga sich gewünscht hat. Sie ist selbst schuld.« Mehr konnte Annabel nicht dazu zu sagen.

*

»Ich habe mich mit einem der Pfleger hier unterhalten«, erzählte Bruder Pirmin auf dem Weg in die Radiologie.

Eine Schwester schob seinen Rollstuhl. Milan Aydin fuhr neben ihm.

Eigentlich hätte er sich freuen können. Endlich ein Patient, mit dem er sich auf Augenhöhe unterhalten konnte! Doch seine Sorgen dämpften jede Euphorie.

»Welchen der zwanzig bis dreißig Pfleger, die hier arbeiten, meinen Sie? Luis oder Jakob, Sascha oder Nepomuk?«

Pirmin lachte. »Meiner hieß Henri. Er arbeitet nebenbei als Diskjockey in einem Club. Als Ausgleich.«

»Haben Sie sich ein Autogramm geben lassen? Vielleicht wird er ja mal berühmt.«

»Als Diskjockey? Das wusste ich nicht.« Pirmin kratzte sich an der Hand. »Die Krankenschwester, die heute Morgen Blut abgenommen hat, war auch interessant. Sie hat Astrophysik studiert, bevor sie sich für einen anderen Weg entschieden hat.«

Milan staunte nicht schlecht.

»Alle Achtung. Noch ein paar Tage und Sie kennen das Personal besser als ich.«

»Ich interessiere mich einfach für Menschen und ihre Schicksale.«

»Dann wären Sie besser Psychologe oder Streetworker geworden. Warum ausgerechnet das Kloster?« Dr. Aydin lächelte der Ärztin zu, die am Eingang der Radiologie hinter einem Tresen saß. »Das würde mir im Traum nicht einfallen.«

»Ich habe meine gesamte Schulzeit in einem Internat der Benediktiner verbracht und konnte mir gar nichts anderes vorstellen, als Mönch zu werden.«

»Vielleicht überlegen Sie es sich ja noch einmal anders, wenn Sie all die Schnecken hier sehen«, platzte Milan heraus. Diesmal galt seine Aufmerksamkeit einer der Schwestern in der Radiologie.

Bruder Pirmin warf einen erschrockenen Blick auf den Boden.

»Schnecken? Welche Schnecken?«

Seufzend winkte Milan Aydin ab und übergab seinen Patienten an den Kollegen Witt. Wenig später fand sich Bruder Pirmin auf der Liege vor einer Röhre wieder.

»Sie müssen so still liegen wie nur möglich. Wenn Sie Angst bekommen, sagen Sie bitte Bescheid. Dann brechen wir die Untersuchung ab«, sagte Reinhart Witt sein Sprüchlein auf.

»Wie sagte Jona im Bauch des Wals: Als ich all meine Hoffnung verloren hatte, gedachte ich des Herrn.«

Pirmin lächelte zu Reinhart hinauf. »Genauso werde ich es halten. Dann kann mir kein Leid geschehen.«

Milan saß neben Schwester Josepha auf der anderen Seite der Glasscheibe. Ein Mikrofon übertrug das Gespräch der beiden.

»Dieses Gottvertrauen ist bewundernswert.«

»Sie glauben nicht an Gott?«, erkundigte sich Josepha.

»Ich glaube an eine höhere Ordnung, aus der das alles hier entstanden ist. Aber ein alter Mann mit Rauschebart, der sich für mich und meine Hühneraugen interessiert? Nein. Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.«

Die Tür ging auf. Dr. Witt gesellte sich zu seinen Kollegen.

»Bruder Pirmin hat den Geruch in der Röhre beanstandet.«

»Schon möglich. Wir haben ein neues Desinfektionsmittel«, erwiderte Josepha. »Das riecht ein bisschen streng.«

»Nichts für ungut, Kollege Witt«, meldete sich Aydin zu Wort. »Aber Sie haben gerade unsere tiefschürfende Diskussion über die Existenz von Gott unterbrochen. An was glauben Sie?«

Reinhart starrte konzentriert auf die Bilder, die live auf einen Bildschirm übertragen wurden.

»Ich glaube, dass Ihre Theorie ­bezüglich des Churg-Strauss-Syndroms falsch ist.« Er deutete auf die Aufnahmen. »Der Patient zeigt keine vaskuläre Pathologie.«

»Was denn? Keine Probleme mit den Blutgefäßen? Dann muss es etwas anderes sein.« Milan Aydin wusste selbst, dass diese Bemerkung nicht besonders intelligent war.

Bruder Pirmin bewahrte ihn höchstpersönlich vor einem anzüglichen Kommentar.

»Bitte, dieser Geruch hier drin ist schrecklich!«, stöhnte er ins Mikrofon.

Sofort gehörte ihm die Aufmerksamkeit.

»Holen wir ihn raus!«, befahl Dr. Witt und stürzte in den Raum neben.

Milan folgte ihm, so schnell es seine Räder erlaubten.

»Ich bin schon da!«, rief Reinhart dem röchelnden Patienten zu. Er drückte einen Knopf. Die Liege schob sich vor.

Bruder Pirmin konnte es kaum erwarten. Ruckartig setzte er sich auf. Schnappte nach Luft, als hätte sein letztes Stündlein geschlagen.

»Dieser Gestank da drin … mir ist schlecht!«

»Ganz ruhig. Atmen Sie tief ein und aus. Ein und aus!«

»O Gott«, japste Pirmin, den Blick starr an die Decke gerichtet. Plötzlich hielt er die Luft an. »Jesus! Da ist Jesus. Er ist gekommen, um mir zu helfen.« Der Schrecken in seinem Gesicht war wie ausradiert. Keuchend und lächelnd streckte er die Arme aus. Sein ganzer Körper bebte.

Schwester Josepha rollte mit den Augen.

»An Gott glauben ist ja schön und gut. Aber das geht dann doch zu weit.«

Milan Aydin hatte eine andere Meinung dazu.

»Geruchsempfindungen und religiöse Wahnvorstellungen sind symptomatisch für ein Anschwellen der Temporallappen im Gehirn«, rief er und starrte auf seinen Patienten. Pirmins Gesicht verzog sich zu einer Fratze. Sein Atem ging stoßweise. Sein Körper verkrampfte sich.

»Er krampft! Kiefersperre!« Dr. Witt packte den Bruder mit beiden Händen. Steckte ihm den erstbesten Gegenstand in den Mund, den er zu fassen bekam. »Schwester, helfen Sie mir, ihn auf die Seite zu legen«, befahl er Josepha.

Sie packte mit an. Mit vereinten Kräften gelang es ihnen, Pirmin herumzurollen und auf der Liege festzuhalten. Sein Schlafanzug rutschte hoch. Milan Aydin erschrak. Ungläubig starrte er auf die roten Pusteln, mit denen die Flanke des Patienten bedeckt war. Sie waren vorher nicht dagewesen.

*

Während sich Vater und Tochter bei einem Frühstück unter Palmen stärkten, betrat Schwester Astrid das Intensivzimmer, um die Morgenwäsche zu übernehmen. Bei jedem Patienten war es das Gleiche und doch immer wieder anders.

Kabel und Schläuche, wohin Astrid auch sah! Von der Patientin zum Überwachungsmonitor, von der Beatmungsmaschine zur Patientin. Ganz zu schweigen von den vielen Kathetern, die aus und in die Frau führten, mit entsprechenden Schläuchen und Gefäßen. Schwester Astrid schob den Wagen ans Bett, auf dem sie alle Pflegeutensilien bereitgelegt hatte.

»So, Frau Ruhland, dann wollen wir mal«, sagte sie zu ihrer schlafenden Patientin. Wasser plätscherte, als sie den Waschlappen in die Schüssel eintauchte. Lauwarm tropfte es von ihren Händen. »Bei der Grundpflege auf einer Intensivstation könnte man meinen, man versorge ein Neugeborenes. Oder einen Mann mit Männerschnupfen.« Sie kicherte. »Bei jeder Berührung kann etwas kaputt gehen. Dabei sind Menschen sehr robust und halten einiges aus, wie man an Ihnen sieht.« Sorgfältig fuhr sie mit dem Waschlappen durch das Gesicht, bedacht darauf, die Beatmungsmaske nicht zu verschieben. »Nicht erschrecken, jetzt sind die Augen dran. Das ist wichtig, damit sich nichts entzündet. Das gilt übrigens auch für die Nase, die Sie ja nicht selbst putzen können.« Astrid tupfte um die Magensonde herum. Legte den Waschlappen zur Seite und trocknete das Gesicht mit einem weichen Tuch. »Und da sind wir auch schon bei der Zahnpflege.« Astrid legte das Tuch weg und griff nach einem langen Wattestäbchen und ein spezielles Serum. »Wussten Sie, dass bei der Mundpflege die Versorgung so individuell ist wie jeder Mensch? Zum Beispiel muss ich auf die Erkrankung des Patienten achten und darauf, welche Medikamente er bekommt.« Behutsam fuhr sie mit dem Wattestäbchen über jeden einzelnen Zahn.

Beendet wurde das Gesichtspflegeprogramm mit einer leichten Massage. Als Astrid eine Dose aufschraubte, mischte sich ein zarter Duft nach Maiglöckchen in den Krankenhausgeruch. »Hoffentlich gefällt Ihnen unsere Gesichtspflege«, setzte sie ihren Monolog fort. Mit Fingerspitzen tupfte sie die Creme auf und massierte sie in Ingas Haut. Wahrscheinlich eine Wohltat, auch wenn die Patientin kein Lebenszeichen von sich gab. Anita stellte die Dose weg. Schon jetzt graute ihr vor dem nächsten Akt, dem Waschen des restlichen Körpers. Diese Aktion stand einem Besuch im Fitnessstudio in nichts nach. »Ein einzelner Arm wiegt im Durchschnitt 4,5 Kilogramm. Und ein Bein sogar 14.« Astrid wrang den Waschlappen aus und wollte sich ans Werk machen, als der Alarm erklang. Vier aufsteigende Töne nacheinander. Dazu blinkte ein rotes Licht. Einen Atemzug lang war sie wie versteinert. Sie stand da und starrte auf die blinkende Null auf dem Monitor gegenüber.

»Was ist los?«

Dr. Petzolds schrille Stimme riss Schwester Astrid zurück in die Wirklichkeit.

»Ich habe Frau Ruhland gewaschen. Da ist plötzlich …«

»Schon gut.« Sophie steckte die Taschenlampe weg. »Verdacht auf postoperative Hirnblutung. Sagen Sie sofort Bescheid. Frau Ruhland kommt vom CT sofort in den OP.«

»Ja, natürlich.« Schwester Astrid stürzte davon, vorbei an Uwe und Annabel, die eben vom Frühstück zurückkehrten.

»Inga?« Eine eiskalte Hand griff nach Uwes Herz. Seine Augen klebten auf der Ärztin. »Was ist mit ihr? Was machen Sie mit meiner Frau?« Mit jedem Wort wurde seine Stimme lauter, panischer.

Mit fliegenden Fingern steckte Sophie Petzold die Geräte ab.

»Behindern Sie unsere Arbeit nicht!«, herrschte sie den Ehemann an. Sie löste die Bremse am Bett und lehnte sich mit aller Kraft dagegen. Mit einem Ruck setzte es sich in Bewegung.

Annabel zog ihren Vater aus der Schusslinie.

»Lass sie vorbei! Du kannst sowieso nichts machen.«

*

»Reicht es nicht, dass unser Kandidat an dieser Allergie leidet? Muss jetzt auch noch eine Gehirnentzündung dazukommen?« Dr. Aydin saß im Rollstuhl vor seinem Chef und dachte laut nach.

Dr. Norden hielt in seinem rastlosen Marsch inne und sah hinüber zu Milan.

»Falsche Frage. Sie müsste vielmehr lauten: Was sagt uns das über den Zustand des Patienten?«

»Bruder Pirmins Immunsystem ist massiv geschwächt.«

Daniel nahm seinen Mitarbeiter ins Visier.

»Und was könnte diese Schwäche hervorgerufen haben?«

Milan warf die Arme in die Luft.

»Oh Chef, ich bitte Sie! Nein, ich habe Pirmin nicht die falsche Dosis verabreicht. Ich war bei vollem Bewusstsein, als ich in die Schublade gegriffen und die Injektion herausgeholt habe. Sie glauben doch nicht im Ernst, ich würde ein Medikament verabreichen, ohne mich zu versichern, ob es das richtige ist.«

»Ehrlich gesagt weiß ich langsam nicht mehr, was ich noch glauben soll und was nicht«, seufzte Dr. Norden und setzte sich wieder an den Schreibtisch. Zum wiederholten Male nahm er sich die Patientenakte vor. »Noch einmal von vorn: Bruder Pirmin ist wegen eines Hautausschlags zu uns gekommen. Er hat einen Herzstillstand erlitten und leidet inzwischen auch noch an Fieber, Kopf- und Gliederschmerzen und einer Gehirnentzündung.«

»Das spricht eindeutig gegen eine Allergie. Aber auch gegen Ihre Vermutung, ich hätte das Adrenalin falsch dosiert.«

Daniel las Zeile für Zeile der Akte. Studierte das Ergebnis jeder Untersuchung, die gemacht worden war.

»Aber mit welchem Feind haben wir es dann zu tun?« Er lehnte sich zurück und fuhr sich mit der Hand über die Augen.

Das war einer dieser Momente, in denen Milan Aydin gern aufgesprungen und auf und ab gelaufen wäre. Einen Moment lang überlegte er, ob er im Rollstuhl vor dem Schreibtisch hin und her fahren sollte, entschied sich dann aber dagegen. Es wäre nicht dasselbe gewesen.

»Wenn ich Bruder Pirmin jetzt zu Gesicht bekäme, würde ich eine Tropenkrankheit diagnostizieren. Fleckfieber zum Beispiel.«

»Nette Idee. Aber erstens ist Pirmin laut eigenen Angaben nie über die Grenzen Bayerns hinausgekommen. Und zweitens passt der Herzstillstand nicht dazu«, gab Dr. Norden zu bedenken. Von draußen wehten Stimmen herein. »Wie verfahren wir also weiter?«

Es klopfte.

»Bruder Augustinus möchte Sie sprechen«, verkündete Andrea Sander.

»Bitte sehr.« Daniel machte eine einladende Geste und erhob sich, um seinen Besucher zu begrüßen. »Was kann ich für Sie tun, Bruder?«

»Ich bin gekommen, um mich nach dem Gesundheitszustand von Bruder Pirmin zu erkundigen.« Nach einem Handschlag steckte der Bruder die Hände zurück in die Ärmel der weiten Kutte. »Die Schwestern wollten mich nicht zu ihm lassen.«

Dr. Norden und Milan Aydin tauschten einen schnellen Blick. Wer würde die Botschaft überbringen?

»Leider hat Ihr Mitbruder einen Krampfanfall erlitten, der auf eine Gehirnentzündung zurückzuführen ist.« Es war Milan, der die undankbare Aufgabe übernahm. Schuld daran war auch sein schlechtes Gewissen. Der Verdacht, einen Fehler gemacht zu haben, lastete schwer auf seinem Gewissen.

Bruder Augustinus machte große Augen.

»Das klingt schrecklich.«

»Das klingt nicht nur schrecklich. Das ist es auch«, musste Dr. Aydin zugeben. »Gibt es irgendetwas, das wir wissen sollten? Irgendeine Vorerkrankung? Nimmt Bruder Pirmin …«

In seine Worte hinein lachte Augustinus auf. Es klang nicht fröhlich.

»Nun ja …«

Er senkte den Blick. Kratzte mit der Schuhspitze auf dem Boden. »Ehrlich gesagt habe ich den Verdacht, dass Pirmin ein Hypochonder ist.«

Wieder tauschten die beiden Ärzte einen Blick.

»Ist das eine Warnung, dass wir eine gar nicht existierende Krankheit behandeln?«, hakte Milan vorsichtig nach.

Augustinus zuckte mit den Schultern.

»Angeblich leidet er unter Migräne. Seit Jahren schon. Ausgerechnet Kopfschmerzen, die man nicht beweisen kann. Zu allen möglichen Gelegenheiten und besonders dann, wenn eine wichtige Aufgabe zu erledigen ist.« Ein schüchterner Augenaufschlag hinüber zu den Ärzten. »Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, aber …«

»Ist Bruder Pirmin wegen dieser Migräne in ärztlicher Behandlung?«, unterbrach Daniel Norden ihn.

»Ja. Wieso fragen Sie?«

Milan ahnte, worauf sein Chef hinaus wollte.

»Bekommt er Medikamente?«, stellte er die nächste Frage.

»Ich weiß es nicht. Aber das könnte ich herausfinden«, versprach der Bruder und verabschiedete sich wenig später.

Auch Dr. Norden wollte sich wieder an die Arbeit machen. Beugte sich über die Unterlagen. Nach einem Moment sah er wieder hoch.

Aydin saß im Rollstuhl und starrte vor sich hin. Seine Lippen bewegten sich lautlos.

»Ist noch etwas?«

»Womit wird Migräne normalerweise behandelt?«

»Da gibt es unzählige Möglichkeiten.«

»Aber eine besonders hartnäckige Migräne?«, beharrte Aydin.

Daniel neigte den Kopf. Im Geiste ging er alles durch, was ihm zu diesem Thema einfiel. Endlich ging ihm ein Licht auf.

»Sie meinen Betablocker?«

Milan grinste.

»Vor allem die Gabe von nicht gezielt herzwirksamen Betablockern kann in Kombination mit Adrenalin eine Blutdruck-Krise mit Verlangsamung der Herztätigkeit bis hin zum Stillstand auslösen.« Milan Aydin reckte die Faust in die Luft wie ein Sieger. »Meine Unschuld ist bewiesen. Gott ist gnädig mit mir. Diese Chance muss ich nutzen!« Er packte die Greifräder und fuhr zur Tür. »Ach, und herzliche Grüße an die Verwaltungsdirektorin Frau Blume«, fügte er noch hinzu, ehe er das Büro des Klinikchefs verließ.

*

Dr. Arnold Klaiber schaltete den Überwachungsmonitor ab. Nach der Hektik und dem Lärm wirkte die plötzliche Stille im Operationssaal gespenstisch. Mit hängenden Schultern und versteinerten Gesichtern unter den Masken standen Ärzte und Schwestern da. Sahen Dr. Merizani zu, wie er ein Tuch über das Gesicht der Patientin zog.

Von Berufs wegen war der Tod der größte Feind des Arztes. Und doch ließ sich der Sensenmann nicht immer überlisten. Das zu akzeptieren war eine Herausforderung für jeden im Raum.

Sophie Petzold und Dr. Merizani tauschten einen tiefen Blick.

»Wenn Sie möchten, sage ich es dem Ehemann.«

»Nein. Ich habe operiert.« Ein Surren. Die Türen schoben sich auf.

Auch im Vorraum zum OP schien das Leben stillzustehen. In Windeseile hatte sich die traurige Nachricht herumgesprochen. Mitfühlende Blicke begleiteten Sophie und Amir nach draußen.

Beim Anblick der Ärzte wurde Uwe blass im Gesicht. Er ballte die Hände zu Fäusten und starrte Dr. Merizani wortlos an. Wenn er geschrien hätte oder um sich geschlagen, wäre alles leichter gewesen. Doch das stumme Starren war unerträglich.

»Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihre Frau den Eingriff nicht überlebt hat.«

Tausend Mal hatte Amir Merizani diesen Satz vor dem Spiegel geübt. Und doch klang er falsch. So furchtbar falsch.

Annabel trat von hinten an ihren Vater heran. Legte ihm die Hand auf die Schulter. Uwe nahm keine Notiz davon. Er sah von einem zum anderen.

»Dann möchte ich jetzt bitte mit meiner Frau sprechen.« Er machte Anstalten, sich an den Ärzten vorbei zu drängen.

Dr. Petzold vertrat ihm den Weg.

»Wir haben alles versucht, Herr Ruhland. Leider war das nicht genug. Ihre Frau ist tot.«

Uwe öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Ein letzter ungläubiger Blick, ehe er die Augen verdrehte und lautlos in sich zusammen sackte.

Von dem, was danach geschah, bekam er nichts mit. Spürte nicht, wie er von starken Armen aufgefangen und mit vereinten Kräften auf eine eilig herbeigeholte Liege gehoben wurde. Hörte nicht das leise Knirschen der Räder auf dem Vinylboden.

Die Liege stand längst am Fenster des Behandlungszimmers, als er stöhnte. Den Kopf hin und her drehte und ins Licht des Tages blinzelte. Uwes Blick fiel auf Bäume, die ihre kahlen Äste in den Himmel streckten.

Im nächsten Moment beugte sich ein Gesicht über ihn.

»Hallo, Papa. Wie geht es dir?«

Uwe antwortete nicht sofort. Er sah durch seine Tochter hindurch.

»Inga … Sie hat noch nicht einmal mehr mit mir geredet.« Eine Falte grub sich zwischen seine Augen. »Hat sich einfach aus dem Staub gemacht und mich im Stich gelassen.« Er klang wütend.

Dr. Sophie Petzold trat an die Liege. Bemerkte Annabels Gesichtsausdruck.

»Keine Sorge. Aggression kann bei Trauer eine ganz natürliche und für den Trauernden durchaus hilfreiche Reaktion sein«, erklärte sie in ihrer nüchternen Art. »Sie richtet sich nicht gegen den Verstorbenen persönlich. Viel mehr handelt es sich bei dieser irrationalen Reaktion um einen urzeitlichen Verteidigungsmechanismus gegen die seelische Erschütterung.«

»Aha!« Mehr fiel Annabel nicht ein.

Sophie sah auf Uwe hinab. Faltete die Hände vor dem Schoß.

»Ich möchte Ihnen mein aufrichtiges Beileid aussprechen.

Uwe drehte den Kopf weg.

*

»Dachte ich es mir doch!« Milan Aydins Siegeszug hielt an. Er stand neben Bruder Pirmins Bett und machte einen sehr zufriedenen Eindruck. »Diese Pillen sind für den Herzstillstand verantwortlich.«

Der Blister knisterte, als er ihn zurück auf den Nachttisch legte.

Verkabelt und verdrahtet mit allen möglichen Geräten, angeschlossen an verschiedene Infusionen, lag der Mönch erschöpft im Bett. Zum Glück taten die Medikamente ihre Arbeit. Sein Geist war wieder klar.

»Das heißt aber nicht, dass Sie jetzt wissen, was mir fehlt, oder?« Jedes Wort bedeutete eine Anstrengung.

Aydins Mundwinkel wanderten nach unten.

»Hat Ihnen schon einmal jemand gesagt, dass Sie ein Spielverderber sind?«

»Das höre ich fast jeden Tag«, krächzte Pirmin und kratzte die mit Pusteln übersäten Hände. »Ich bin ja fast froh über diesen Ausschlag. Dann können mir meine Mitbrüder nicht wieder vorwerfen, ich würde mich nur vor der Arbeit drücken.«

»Ich dachte immer, so ein Kloster ist eine zwischenmenschliche Insel der Glückseligkeit«, platzte Milan heraus und griff nach Pirmins Handgelenk.

»Schön wäre es«, seufzte der Mönch. »Aber leider sind wir alle doch nicht so gottähnlich, wie wir es gern wären.« Er sah hinüber zu Aydin. »Und? Wie sieht es aus?«

»104. Gar nicht so schlecht.« Dr. Aydin griff nach dem Tablet in seinem Schoß und tippte den Wert in die elektronische Krankenakte ein.

»Hoffentlich sind Sie ein besserer Arzt als ein Lügner.«

Seufzend legte Milan das Tablet weg.

»Ehrlich gesagt tappen wir immer noch völlig im Dunkeln, was Ihre Erkrankung angeht.«

»Sind meine Symptome so ungewöhnlich?«

»Wenn Sie im tropischen Ausland gewesen wären, läge die Sache auf der Hand.«

»Ich weiß, gerade in Zeiten wie den unseren klingt es seltsam.« Jedes Wort fiel ihm schwer. Keuchend holte er Luft. »Aber ich habe Deutschland noch nie verlassen«, gestand Bruder Pirmin. Seine Wangen leuchteten nicht nur vom Fieber. »Ich bin mir noch nicht einmal sicher, ob ich überhaupt schon einmal außerhalb Bayerns war.«

»In diesem Fall werden wir wohl weitersuchen müssen.« Milan rollte hinüber zur Infusion. Kontrollierte die Tropfgeschwindigkeit und regulierte sie am roten Rädchen. Er überprüfte den Sitz der Sauerstoffdusche, die Bruder Pirmin beim Atmen unterstützte. »Bitte sagen Sie Bescheid, falls Ihnen noch etwas einfällt, was uns weiterhelfen könnte. Egal, was es ist«, bat er an der Tür.

Der Mönch sah ihm nach wie ein trauriger Clown.

»Ich fürchte, da müssen Sie jemand anderen fragen«, murmelte er.

Milan war schon halb zur Tür hinaus, als er noch einmal anhielt.

»Gar keine schlechte Idee!«

*

Draußen auf dem Flur kamen Schritte näher. Nicht das dumpfe Tappen von Herrenschuhen, sondern klappernde Absätze. Statt sich wieder zu entfernen, verhallten sie. Die Tür wurde geöffnet und ebenso leise wieder geschlossen. Dann wieder Schritte. Ein zarter Geruch nach Leder und Holz stieg Dr. Amir Merizani in die Nase. Er kannte nur eine Frau, die einen derart männlichen Duft trug. Trotzdem drehte er sich nicht um. Starrte weiter aus dem Fenster, hinab in den verwaisten Klinikpark.

Obwohl die frühere Klinikchefin Jenny Behnisch versucht hatte, ein Vier-Jahreszeiten-Paradies zu schaffen, trugen auch Bäume und Sträucher, Gräser und Ranken an diesem Nachmittag Trauer. Die sonst so bevölkerten Kieswege waren verwaist. Nur ein Paar wanderte Seite an Seite über die verschlungenen Pfade. Die Gesichter konnte er nicht erkennen.

»Manche sagen, man gewöhnt sich daran«, murmelte er, als sich Dr. Sophie Petzold zu ihm gesellte. Er drehte kurz den Kopf. »Ich nicht.«

»Ich auch nicht«, erwiderte sie. Eine Krähe war auf einem kahlen Ast gelandet. Er bog sich unter dem Gewicht, brach aber nicht. »Ich will mich auch gar nicht daran gewöhnen.«

»Unser größter Ruhm ist nicht, niemals zu fallen, sondern jedes Mal wieder aufzustehen.« Amir bemerkte den Seitenblick. »Sagte Nelson Mandela.«

»Leichter gesagt als getan.« Sophie seufzte. »Ich war mir sicher, dass Inga Ruhland es schafft. Ein Glück, dass ich das ihrem Mann nicht gesagt habe. Wie stünde ich jetzt da?«

»Sie sind eine großartige Ärztin. Das ist alles, was zählt.«

Sophie Petzold atmete tief durch.

»Ich weiß. Trotzdem fällt es mir schwer zu akzeptieren, dass es eine Macht gibt, die über uns steht. Größer und mächtiger als alle ärztliche Kunst der Welt. Eine Macht, die unsere Arbeit gnadenlos zerstört. Jede Anstrengung mit einem Handstreich zunichtemacht.«

Krächzend erhob sich die Krähe in die Lüfte. Merizani sah ihr nach, bis sie sich im Grau des Himmels auflöste.

»Vielleicht muss das so sein, damit wir nicht überheblich werden«, erwiderte er endlich. »Demütig bleiben und uns immer daran erinnern, dass auch wir sterblich sind.«

Überrascht sah Sophie zu ihrem Kollegen auf.

»Sie sind tatsächlich so weise, wie die anderen immer behaupten.«

Amir lachte leise. Gleichzeitig schüttelte er den Kopf.

»Ein paar Sprichwörter, ein bisschen Küchenphilosophie machen noch lange keinen weisen Mann.«

Sophie legte den Kopf schief.

»Aber der ganze Rest«, widersprach sie, ehe sie sich verabschiedete, um nach der kurzen Pause wieder einzutauchen in den Klinik­alltag, der kaum Zeit für Trauer ließ. Aber vielleicht war das ja auch ganz gut so. Arbeit lenkte nicht nur ab. Sie schützte einen Arzt auch davor, sich zu sehr mit seinen Patienten und ihrem Leid zu identifizieren. Eine gesunde emotionale Distanz war überlebenswichtig.

Sonst hätten sowohl Dr. Sophie Petzold als auch Amir Merizani ihren Beruf an diesem Nachmittag an den Nagel gehängt.

*

Im Gegensatz zu den Ärzten, die sich nach kurzem Innehalten wieder dem Kampf um Leben und Tod stellten, stand Uwe Ruhland noch ganz am Anfang seiner Trauerzeit.

»Ich verstehe das einfach nicht! Inga kann doch nicht einfach so weg sein! Sie hat doch gleich nach dem Unfall im Auto noch mit mir geredet.« Der Kies knirschte unter seinen und den Füßen seiner Tochter. »Hat gesagt, dass ich mir keine Sorgen machen soll. Dass alles nicht so schlimm ist.« Er blieb stehen und sah seine Tochter an. »Und jetzt ist sie plötzlich tot.« Eine Falte krauste seine Nase. Seine Augenbrauen schoben sich zusammen. »Das ist doch nicht mit rechten Dingen zugegangen. Den Ärzten muss ein Fehler unterlaufen sein.« Uwe machte einen Schritt auf Annabel zu. »Hast du gesehen, wie schuldbewusst die Ärztin ausgesehen hat? Diese Dr. Petzold? Sie hat es ja kaum geschafft, mir in die Augen zu sehen.« Seine Stimme wurde immer lauter. »Hat sich stattdessen in ihre überflüssigen Erklärungen geflüchtet. Ich gehe jede Wette ein, dass im OP etwas passiert ist. Und sie weiß es ganz genau.«

»Unsinn, Papa. Das glaube ich nicht.«

»Dochdochdoch. Da stimmt was nicht.« Er musterte Annabel. Plötzlich blitzten seine Augen auf. »Und du musst das für mich herausfinden.«

»Ich? Wieso denn ich?« Annabel machte große Augen. »Ich bin keine Ärztin.«

»Aber du bist Anwältin. Lass dir alle Unterlagen geben! Wir haben ein Recht darauf zu erfahren, was schief gegangen ist.« Uwes Atem ging schneller. Rauchwölkchen stiegen in die Luft. »Du musst es für mich tun. Bitte!« Trotz der Kälte glänzten Schweißperlen auf seiner Stirn.

»Also schön. Ich werde sehen, was ich tun kann.« Annabel wandte sich ab.

»Wo willst du hin?«, rief Uwe Ruhland seiner Tochter nach.

»Na, mit dem Klinikchef sprechen. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Schließlich müssen wir auch noch eine Beerdigung organisieren. Und irgendwann muss ich nach Berlin zurück.« Damit wandte sie sich endgültig ab und kehrte in die Klinik zurück, um sich bis ins Vorzimmer von Dr. Norden durchzufragen. Sie hatte Glück. Andrea Sander konnte ihr einen Termin am selben Nachmittag verschaffen. Nur eine Stunde später saß Annabel Ruhland am runden Tisch im Besprechungsraum.

Dr. Daniel Norden war nicht allein gekommen. Die Kollegen Dr. Petzold und Dr. Merizani begleiteten ihn.

Hände wurden geschüttelt und Höflichkeitsfloskeln ausgetauscht.

»Zuerst einmal möchte ich Ihnen danken, dass Sie sich so schnell Zeit genommen haben für dieses Gespräch«, bedankte sich Annabel und warf einen Blick in die Runde.

Unschwer zu erkennen, dass die Tochter in die Rolle der Anwältin geschlüpft war.

»Das ist selbstverständlich«, versicherte Dr. Merizani. »Der Tod Ihrer Mutter macht uns alle sehr betroffen. Wir möchten Ihnen und Ihrem Vater unser tiefempfundenes Beileid aussprechen.«

»Danke.« Annabel nickte huldvoll. »Ich fürchte, der Verlust wiegt schwer für meinen Vater. Schwerer als für mich«, fügte sie hinzu und senkte kurz die Augen. Ein Luftholen. Dann fuhr sie fort. »Die beiden hatten es nicht immer leicht, bis es ihnen gelang, die Gärtnerei in den Erfolg zu führen. Jetzt könnten sie endlich die Früchte ihrer Arbeit genießen. Umso schwerer trifft meinen Vater dieser Verlust.«

»Verständlich.« Dr. Norden nickte.

Aller Augen ruhten auf Annabel. Worauf wollte sie hinaus?

»Vor diesem Hintergrund bitte ich auch um Verständnis dafür, dass er mich in meiner Eigenschaft als Anwältin gebeten hat, Einsicht in die Patientenakte zu verlangen. Mein Vater fürchtet, dass den Kollegen ein Fehler bei der Behandlung unterlaufen ist.«

Darum ging es also! Daniel hatte es bereits vermutet.

»Vor unserem Gespräch habe ich sämtliche verfügbaren Unterlagen und Aufzeichnungen zu dem Fall gründlich studiert.« Daniel Norden zögerte nicht, seine Mitarbeiter in Schutz zu nehmen. »Außerdem war ich bei der ersten Operation selbst eine Weile im OP anwesend. Ich kann Ihnen mit bestem Wissen und Gewissen versichern, dass es keinen Grund für diese Annahme gibt.«

Annabel lächelte, wie nur ein Anwalt lächeln konnte. »Sie kennen doch das Sprichwort: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.«

Die Stimmung im Raum veränderte sich.

»Sie wollen gerichtlich gegen Naturgesetze vorgehen?« Sophies Stimme klirrte vor unterdrücktem Ärger. »Ihre Mutter ist an einer unbeherrschbaren Blutung nach einem schweren Schädel-Hirn-Trauma mit subduralem Hämatom gestorben. Außerdem hatte sie ein Thoraxtrauma mit Lungenbeteiligung, eine Rippenserienfraktur und einen Leberriss. Jede einzelne dieser Verletzungen hätte für sich schon zum Tod führen können.«

Annabel Ruhland lauschte mit versteinerter Miene. Dr. Norden wollte ihr nicht im Gerichtssaal gegenübersitzen. Aber er verstand auch Sophie Petzold. Sie hatte um ein Leben gekämpft und verloren. Das musste man erst einmal verkraften. Auf der anderen Seite stand der trauernde Ehemann. Auch er hatte ein Recht darauf, gehört und respektiert zu werden. Es war eine Gratwanderung.

Er schickte Sophie einen Blick in der Hoffnung, sie möge auch seine Seite verstehen. Bei Dr. Merizani war er dagegen ganz sicher. Seine Miene verriet es.

»Natürlich werden wir Sie bei der Recherche voll und ganz unterstützen«, sagte er zu Annabel. »Sie erhalten von uns umgehend den OP-Bericht, das Narkoseprotokoll sowie alle prä- und postoperativen Befunde. Wünschen Sie eine Obduktion?«

Annabel stutzte. Darüber hatte sie noch nicht nachgedacht. »Ja. Ja, ich denke, das ist eine gute Idee.«

»Sehr gut. Ich werde alles Nötige veranlassen.«

»Vielen Dank.« Annabel Ruhland zog eine Visitenkarte aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. »Bitte melden Sie sich, sobald Sie die Unterlagen beisammen haben.«

*

Nur ein paar Minuten von der Stadtmitte entfernt lag das Benediktinerkloster. Dr. Aydin musterte die Steinsäulen und Bögen unter rot gestrichenem Mauerwerk. Doch der schöne Schein der nach frühchristlichem Vorbild erbauten Basilika trog. Das hatte er aus dem Internet erfahren. Das bestätigte der Abt kurz darauf.

»Ora et labora, bete und arbeite …« Abt Anselm lachte. »Das Motto der Benediktiner bekommt hier zurzeit noch einmal eine ganz andere Bedeutung.« Er raffte sein Habit, winkte Milan Aydin mit sich Richtung Abtei und stapfte los. »Vorsicht. Bleiben Sie nicht im Sandhaufen stecken.«

»Ich gebe mir Mühe.« Der Rollstuhl holperte über Steine und Kabel der Großbaustelle. »Bekommt Gott eine Luxusvilla?«

Anselm lachte.

»Schön wäre es. Seitdem das Kloster nach dem zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut wurde, gab es nur notdürftige Sanierungen. Höchste Zeit, dass endlich mit den Umbauarbeiten begonnen wird«, rief er über die Schulter. »Die Dächer und Kanalisation waren undicht, der Brandschutz eine einzige Katastrophe. Das Gewerbeaufsichtsamt saß uns wegen der Hygienevorschriften in der Küche im Nacken. Im Winter fiel häufig die Heizung aus. Und das sind nur ein paar Beispiele.« Er hielt eine Holztür auf.

Milan Aydin bog in den Raum ab. Von einem Augenblick zum anderen fühlte er sich in eine andere Welt versetzt. Im Gegensatz zum Baustellenflair vor der Tür herrschte hier eine himmlische Ruhe. Die Holzmöbel verströmten einen Geruch nach Wachs. Weihrauch lag in der Luft. Alles wirkte wie frisch geputzt.

Abt Anselm bemerkte die Verwunderung des Arztes.

»Eigentlich bin ich nicht besonders pingelig. Aber in Zeiten wie diesen brauche ich einen Rückzugsort, der besonders ordentlich und sauber ist.« Er stellte einen Stuhl beiseite, damit Milan an den Tisch fahren konnte. »Einen Tee?«

»Sehr gern.« Milan Aydin sah ihm nach, wie er in einem Kämmerlein neben dem Schreibtisch verschwand.

Wasser rauschte. Eine Schranktür wurde geöffnet und wieder geschlossen. Kurze Zeit später kehrte der Abt mit einer Kanne und zwei Tassen zurück.

»Aber genug von meinen Geschichten. Was kann ich für Sie tun?« Die flinken Augen funkelten hellwach hinter den Brillengläsern.

Milan staunte. Im Gegensatz zu seinen Mitbrüdern machte Anselm einen sehr weltlichen Eindruck.

»Ich komme wegen Bruder Pirmin.«

»Eine schlimme Geschichte.« Abt Anselm schenkte Tee ein. Der Dampf schlug sich auf den Brillengläsern nieder. »Wissen Sie inzwischen, was ihm fehlt?«

Milan schüttelte den Kopf.

»Bisher nicht. Aber wenn ich das hier so sehe, könnte sein Zustand etwas mit der Renovierung zu tun haben. Die ganzen Baustoffe draußen …?«

»Alles baubiologisch einwandfrei. Das sind wir schon unseren Gästen schuldig.«

»Sie meinen die Obdachlosen«, korrigierte Milan Aydin sein Gegenüber.

»Die auch.« Der Abt lächelte. »Aber wir beherbergen auch andere Gäste hier. Sie leben in Klausur hier, nehmen mit den Mönchen Mittag- und Abendessen ein und wohnen in einem Zimmer ohne Nasszelle und Fernseher.«

»Klingt luxuriös«, platzte Dr. Aydin heraus.

»Sie haben recht. In Zeiten wie diesen ist Ruhe und Einfachheit in der Tat ein Luxusgut.« Wieder dieses vergnügte Blitzen hinter den Brillengläsern.

»Was sind das für Menschen, die ihren Urlaub in Ihren Räumen verbringen?«

»Oh, wir dürfen die unterschiedlichsten Gäste begrüßen. Manager, die eine Auszeit vom stressigen Berufsalltag brauchen. Menschen, die das Klosterleben einmal hautnah kennenlernen wollen. Und neulich war eine sehr interessante Gruppe da. Leute, die für eine Hilfsorganisation in Südamerika gearbeitet haben.«

Milan Aydin verschluckte sich an seinem Tee. Er hustete.

»Südamerika?«, krächzte er.

Der Abt sprang auf und klopfte seinem Besucher den Rücken.

»Ja. Warum? Was ist plötzlich mit Ihnen?«

»Danke, danke, es geht schon wieder«, wehrte Milan die Bemühungen ab. »Diese Gäste … hatte Bruder Pirmin mit ihnen zu tun?«

Abt Anselm kehrte auf seinen Platz zurück.

»Nicht, dass ich wüsste. Er hat höchstens ihre Wäsche gewaschen.«

Milan stellte die Tasse so hart auf den Tisch, dass der Tee überschwappte.

»Also doch Fleckfieber.«

»Wie bitte?«

Dr. Aydin lehnte sich zurück und holte tief Luft.

»Sämtliche Symptome von Bruder Pirmin passen zu einer Krankheit mit dem schönen Namen Fleckfieber. Auslöser dieser Infektion ist das Bakterium Rickettsia prowazekii. Die Übertragung auf den Menschen ist nur durch infizierte Läuse möglich.«

Abt Anselm konnte den Ausführungen des Arztes nicht folgen.

»Und was haben diese Läuse mit Bruder Pirmin zu tun?«

»Das Bakterium kommt in Deutschland nicht mehr vor. Anders ist das in Ostafrika. Oder eben in den Andentälern Südamerikas. Durch schlechte hygienische Bedingungen vermehren sich die Kleiderläuse schnell.« Plötzlich hatte es Milan eilig.

Er packte die Greifräder und rollte zurück. »Es ist also denkbar, dass Bruder Pirmin beim Wäschewaschen mit dem Ungeziefer in Kontakt gekommen ist.«

Auf dem Weg zur Tür schnitt Dr. Aydin eine Grimasse. »Man muss Deutschland nicht unbedingt verlassen, um sich eine Tropenkrankheit einzufangen.«

»Die Wege Gottes sind unergründlich.« Mehr wusste auch Abt Anselm nicht dazu zu sagen.

*

Ein tiefes Seufzen. Annabel Ruhland legte das Handy weg. Lehnte sich zurück und rieb die Augen. Doch damit machte sie es nur schlimmer.

»Nach eingehender Prüfung ist auch unser Sachverständiger in Berlin zu dem Ergebnis gekommen, dass den Ärzten nichts vorzuwerfen ist.« Sie zupfte ein Taschentuch aus der Box am Tisch und betupfte die tränenden Augenwinkel. »Keine Behandlungsfehler. Keine Versäumnisse. Nichts.«

Nach rastlosem Marsch durch das Wohnzimmer hatte sich Uwe gerade erst auf einen Stuhl am Esstisch gesetzt. Insgeheim hatte Annabel aufgeatmet. Das Tappen der Schritte war alles andere als beruhigend gewesen. Doch das Glück der Ruhe war nicht von Dauer. Uwe sprang wieder auf und setzte seinen Weg fort.

»Das war doch klar, dass sie das nicht in die Unterlagen schreiben. Dieser Dr. Norden war so kooperativ … Ich dachte mir gleich, dass da was faul ist.«

Annabel rollte mit den Augen.

»Papa, ich verstehe ja, dass du geschockt und verzweifelt bist. Aber das geht nun wirklich zu weit«, tadelte sie ihn sanft.

Uwe blieb am Fenster stehen. Starrte hinaus in den nächtlichen Garten. Hinüber zu Ingas Kräuterspirale in der Ecke. Nie mehr wieder würde sie dort stehen und Thymian und Rosmarin zwischen den Fingern reiben. Und auch keine Rosen mehr schneiden und sich ins Haar stecken. Ihm nie mehr wieder lachend eine Erdbeere aus eigener Ernte in den Mund schieben.

»Sie haben sie einfach sterben lassen.« Seine Stimme war so düster wie die Dunkelheit draußen.

»O Mann, Papa. Warum willst du es nicht verstehen?« Auch für Annabel war der Tag lang und anstrengend gewesen. Allmählich war sie mit ihrer Geduld am Ende. »Hier steht es schwarz auf weiß: Inga ist an einer nicht therapierbaren Hirnblutung gestorben. Dr. Petzold …«

»Diese besserwisserische, arrogante Schnepfe.« Uwe ballte die Rechte zur Faust. »Denkt, dass sie was Besseres ist, weil sie Medizin studiert hat.« Als er sich zu seiner Tochter umdrehte, glitzerten Tränen in seinen Augen. »Wirft mit Fachbegriffen um sich, statt sich anständig um meine Frau zu kümmern.« Eine Träne hinterließ eine feuchte Spur auf seiner Wange.

Annabel sah ihren Vater an. Haderte mit sich. Sie war müde. So müde. Trotzdem gab sie sich einen Ruck und stand auf. Ging auf ihn zu und schloss ihn in die Arme.

»Ach Papa, ich weiß ja, dass es schrecklich ist«, murmelte sie an seiner Schulter. »Aber Menschen sterben. So ist das Leben nun einmal. Ob uns das gefällt oder nicht.«

*

»Nachts erinnert mich die Klinik immer an ein schlafendes, wildes Tier. An einen Wolf zum Beispiel. Oder einen Wildhund. Die Augen geschlossen, aber die anderen Sinne hellwach«, plauderte Dr. Aydin vor sich hin, während er seine Vorbereitungen traf.

Bruder Pirmin sah ihm dabei zu.

»Ein interessanter Vergleich. Das klingt so, als würden Sie Ihren Arbeitsplatz sehr gut kennen. Und mögen.«

»Stimmt. Ich mag ihn so gern, dass ich inzwischen sogar hier schlafe.«

Milan legte den Stauschlauch um den Oberarm seines Patienten und zog zu.

»Warum das denn?«, fragte Bruder Pirmin und machte große Augen.

»Weil ich einen Schwelbrand in meiner Wohnung verursacht habe und rieche wie ein Räucherfisch, wenn ich mich länger als fünf Minuten dort aufhalte.« Aydin versenkte die Nadel unter der Haut. Er öffnete den Stauschlauch wieder. Füllte Röhrchen um Röhrchen mit dem roten Lebenssaft.

Pirmin sah nicht hin. Er konzentrierte sich auf den Arzt.

»Dann kommen Sie zu uns ins Kloster. Wir haben sehr schöne, schlichte Gästezimmer.«

»Davon habe ich schon gehört.« Leise klappernd landeten die Röhrchen in der Chromschale. Milan klebte ein Pflaster auf die Einstichstelle und packte seine Utensilien wieder zusammen. »Ich habe Ihrem Abt heute einen Besuch abgestattet.«

»Warum?« Pirmin fiel von einer Überraschung in die nächste.

»Um herauszufinden, welches Gift Ihre Mitbrüder Ihnen ins Essen gemischt haben.«

Pirmin schnappte nach Luft. Der Herzmonitor schlug aus.

»Sie meinen …«

»Ganz ruhig. Das war nur ein Witz«, versicherte Dr. Aydin schnell. »Einatmen und ausatmen! Ganz langsam! So ist es gut.« Die Zahlen auf dem Monitor beruhigten sich. Milan atmete auf. »Ich wollte irgendeinen Hinweis auf Ihre Krankheit finden.«

»Und? Waren Sie erfolgreich?«

»Deshalb lasse ich Sie um diese Uhrzeit noch zur Ader. Das Labor muss heute Überstunden machen und herausfinden, ob mein Verdacht richtig ist.« Er klingelte nach der Nachtschwester und trug ihr auf, die Röhrchen ins Labor zu bringen. »Sie können mir inzwischen ein paar Fragen beantworten.«

»Wenn es mir dann endlich besser geht, habe ich nichts dagegen«, seufzte Bruder Pirmin und sah den Arzt erwartungsvoll an.

*

Ein neuer Morgen graute. Die dunklen Wolken hatten sich verzogen. Der blaue Himmel sah aus wie frisch gewaschen. Ein Sonnenstrahl kitzelte Uwe Ruhland in der Nase. Er blinzelte. Lächelte ins Licht. Drehte sich um und schob die Hand unter die Bettdecke auf der anderen Seite.

»Inga?«, murmelte er schlaftrunken. Das Bett war kalt. »Sag bloß, du bist schon aufgestanden.«

Keine Antwort.

»Inga?« Uwe gähnte. Rieb sich die Augen, während er lauschte. Auf irgendein Zeichen seiner Frau. Ein Klappern in der Küche. Aber da war nichts. Auch kein Duft nach frischgekochtem Kräutertee. Einfach nichts! Und da würde nie mehr wieder etwas sein! Die Gewissheit schlug ein wie ein Blitz.

Uwe schoss im Bett hoch. Riss die leere Flasche Wein auf dem Nachtkasten mit sich. Klirrend zerbarst sie auf dem Boden. Die Scherben sprangen durchs ganze Zimmer. Uwe kümmerte sich nicht darum. Er schlüpfte in die Hausschuhe. Die Scherben knirschten unter seinen Schritten, als er in die Küche floh.

Dort fand ihn seine Tochter Annabel eine Stunde später. Wie paralysiert saß er auf dem Stuhl und starrte vor sich hin.

»Papa?« Annabel verknotete den Gürtel des seidenen Morgenmantels und setzte sich zu ihm an den Tisch. »Was machst du denn um diese Uhrzeit schon hier?« Ein Blick hinüber zum Glockenwecker, der auf dem Sims in der Ecke tickte. Eindeutig die Handschrift ihrer Mutter. Wie überall im Haus, das nur so strotzte vor Flower-Power-Nostalgie.

»Diese Ärzte haben sich noch nicht einmal entschuldigt.« Uwes Stimme kam von weit her.

Annabel seufzte. Sie hatte es befürchtet. »Warum sollten sie auch? Sie trifft keine Schuld. Das werden wir heute ja erfahren, wenn der Obduktionsbericht kommt.«

»Dann manipulieren sie den eben auch noch. Genau wie die Operationsberichte und all die anderen Unterlagen.«

Am liebsten wäre Annabel aufgesprungen und aus der Küche gelaufen.

»Das. Haben. Sie. Nicht. Getan.«

»Woher willst du das wissen? Deckst du sie etwa? Steckst du am Ende sogar unter einer Decke mit ihnen?« Uwes Augen wurden groß wie Suppentassen. Er setzte sich kerzengerade auf. Starrte seine Tochter an. »Schließlich konntest du deine Mutter nie leiden.«

Annabel konnte nicht anders. Sie warf den Kopf in den Nacken und lachte. Lachte und lachte, bis ihr die Tränen übers Gesicht liefen.

»Deine Trauer in allen Ehren«, fragte sie schließlich schluchzend. »Aber bist du noch ganz bei Trost?«

Uwe senkte den Kopf. Eine Weile sagte niemand ein Wort. Draußen wiegten sich kahle Äste im Wind. Schwer vorstellbar, dass schon wieder Leben in ihnen wohnte. Es wartete nur auf die erste Wärme, um mit aller Macht hervorzubrechen.

»Es tut mir leid«, flüsterte Uwe in Annabels Gedanken hinein.

»Schon gut.« Sie streckte den Arm aus und tätschelte die raue Hand. »Irgendwie kann ich dich ja verstehen. Aber dein ganzer Groll bringt Inga auch nicht zurück.«

»Ja. Ja, du hast recht.«

Ein schrilles Klingeln ließ Uwe zusammenfahren. Sofort dachte er an den Alarm in der Klinik. Dieses schreckliche Geräusch.

»Keine Angst. Das ist nur mein Handy.« Annabel zog die Hand zurück. Nestelte den Apparat aus der Tasche des Morgenmantels. Ein Blick auf das Display. »Das ist die Kanzlei.«

»Schon gut. Geh nur ran.« Uwe stemmte sich am Holztisch hoch. Nickte seiner Tochter zu und verließ das Zimmer.

Während Annabel das Telefon ans Ohr hielt, wunderte sie sich noch über die plötzlich so entschlossenen Schritte ihres Vaters. Bevor sie sich aber darüber wundern konnte, forderte die Stimme am anderen Ende der Leitung ihre ganze Aufmerksamkeit.«

*

Schon von Weitem hörte Dr. Daniel Norden das Lachen von Milan Aydin. Obwohl es noch früh am Morgen war, schien er sich bereits blendend zu amüsieren.

»Gut, dass Sie so laut lachen. Da findet man Sie wenigstens sofort«, begrüßte er den Kollegen, der mit Schwester Elena zusammenstand und Kaffee trank.

»Ich habe ja auch allen Grund zu Lachen. Eine schöne Frau an meiner Seite und eine erfolgreiche Nacht hinter mir. Was will ein Mann mehr?«

Daniel schnappte nach Luft.

»Ich hatte nicht gedacht, dass Sie mein Angebot, in der Klinik zu übernachten, derart schamlos ausnutz …«

Ein Lachen unterbrach ihn.

»Es ist nicht das, was du denkst, Daniel«, versicherte Elena. »Auch wenn sich mein Mann von mir getrennt hat, bin ich noch immer eine verheiratete Frau, die sich mit Sicherheit nicht Hals über Kopf in ein neues Abenteuer stürzt. Und schon gar nicht mit einem Weiberhelden wie Milan.«

»Das habe ich jetzt nicht gehört«, erwiderte der. Er gab sich alle Mühe, die Rolle der beleidigten Leberwurst perfekt zu spielen. Doch das Blitzen in seinen Augen, das Lachen in seinen Mundwinkeln verrieten ihn. »Aber nachdem mir das ohnehin halbwegs klar war, habe ich es vorgezogen, die Nacht im Labor und bei Bruder Pirmin zu verbringen.« Aydin stellte den Kaffeebecher weg und rollte zur Tür. »Wollen Sie mal sehen?«

»Bist du mir böse, wenn ich dir deinen Galan entführe?«, fragte Daniel seine Freundin und Mitarbeiterin vorsichtshalber.

Elena schüttelte den Kopf.

»Erstens bin ich mir sicher, dass ich ihn unversehrt zurückbekomme. Und zweitens hält er mich schon lange genug von der Arbeit ab.«

»Ich habe heute Nacht Überstunden für uns beide gemacht«, rief Milan Aydin vom Flur.

Dr. Norden winkte Elena und machte sich auf den Weg.

»Da bin ich aber gespannt, was Sie mir zeigen wollen.«

»Das können Sie auch.« Selbstbewusst griff Milan Aydin in die Räder, dass Dr. Norden Mühe hatte, ihm zu folgen.

»Wenn schlaflose Nächte bei Ihnen immer solche Energieschübe zur Folge haben, lasse ich Sie in Zukunft nur noch Nachtschichten schieben.«

»Dabei wollte ich Ihnen gerade die gute Nachricht überbringen, dass ich ab heute Nacht so lange im Kloster schlafen werde, bis der Anwalt die Sache mit meiner Wohnung geregelt hat.« Milan bremste scharf. Der Rollstuhl machte eine halbe Drehung und blieb vor der Tür zu Bruder Pirmins Krankenzimmer stehen.

Zu schade, dass Dr. Norden in diesem Augenblick keinen Sinn für Akrobatik hatte.

»Sie gehen ins Kloster? Freiwillig?«

»Ich kann doch das Angebot unseres Mönchs nicht ausschlagen.« Aydin streckte sich nach der Klinke und stieß die Tür auf.

Bruder Pirmin saß halb aufrecht im Bett, ein Frühstückstablett auf dem Schoß, und ließ sich ein halbes Brötchen schmecken. Brösel regneten auf den Teller. Kauend winkte er die Besucher herein.

»Gott grüße dich, Gott grüße dich, kein anderer Gruß gleicht dem an Innigkeit.«

Dr. Aydin verdrehte die Augen.

»Hätte ich das gewusst, hätte ich mit der Behandlung noch ein bisschen gewartet.«

Die Überraschung war gelungen. Staunend stand Dr. Norden am Bett.

»Wie kann das sein?«

Milan ergötzte sich an der Miene seines Chefs. »Ganz einfach: Indem man dem Patienten das richtige Medikament verabreicht.«

»Dazu muss man aber erstmal wissen, was ihm fehlt.«

»Was glauben Sie, warum ich die halbe Nacht im Labor verbracht habe? So schön sind die Frauen dort auch wieder nicht.«

Daniel winkte ab. Er war nicht hier, um sich mit Aydin über Frauen zu unterhalten.

»Und was haben Sie heute Nacht noch herausgefunden?

»Bruder Pirmin leidet an Fleckfieber.«

»Dann hatten Sie also recht.« Damit hatte Dr. Norden nun wirklich nicht gerechnet. Zuletzt war diese Krankheit während der beiden Weltkriege gehäuft aufgetreten und den schlechten hygienischen Bedingungen geschuldet gewesen. Seit diesen dunklen Zeiten war sie in Deutschland aber kaum mehr anzutreffen. »Wie konnte das geschehen?«

Milan fuhr um das Bett herum und hinüber zum Geräteturm. Er drückte ein paar Knöpfe. Kontrollierte die Werte und stellte ein Medikament neu ein.

»Eine Gruppe Helfer, die sich in Südamerika um die Ärmsten der Armen gekümmert haben, haben die Läuse ins Kloster eingeschleppt. Bruder Pirmin hat ihre Wäsche gewaschen. Diesem geballten Angriff hatte er offenbar wenig entgegenzusetzen.«

Dr. Norden machte gar nicht erst den Versuch, seine Bewunderung zu verbergen.

»Alle Achtung, Kollege Aydin. Ich bin beeindruckt von dieser detektivischen Meisterleistung.«

»Gut, dass Sie das sagen. Wenn’s mit dem Doktor nicht mehr klappt, wechsle ich einfach das Fach«, scherzte Milan gut gelaunt.

»Das werde ich zu verhindern wissen.« Dr. Norden trat ans Bett. »Dann bleibt mir nichts anderes übrig, als Ihnen weiterhin gute Besserung zu wünschen.« Er reichte dem Mönch die Hand.

Inzwischen hatte Pirmin sein Frühstück beendet. Er wischte sich die Finger an der Serviette ab und ergriff die dargebotene Hand.

»Gott hat mich geprüft und mir in letzter Sekunde einen Engel geschickt«, sagte er salbungsvoll.

Daniel lachte.

»Einen Engel hatte ich mir bisher immer anders vorgestellt.«

*

»Bitte sagen Sie Frau Rittermann, dass ich sie sehr gern vertrete und mich im Laufe der Woche mit ihr in Verbindung setze.«

Annabel strahlte von einem Ohr zum anderen, als sie das Handy wegsteckte.

»Das ist ja unglaublich!« Sie konnte es selbst nicht fassen. »Papa, wo steckst du? Ich muss dir unbedingt was erzählen. Eine Klientin hat mich gebeten, Ihren Fall zu übernehmen. Es geht um richtig viel Geld.« Annabel hielt inne. Sah sich nach ihrem Vater um. Eine leise Berührung im Nacken. Sie fuhr herum und starrte die Ranke an, die sich aus einer Makramee-Blumenampel vor dem Fenster hinab schlängelte.

»Ich weiß, warum ich diese Dinger immer gehasst habe.« Sie wandte sich ab und verließ das Zimmer. Der Perlenkettenvorhang vor der Wohnzimmertür klimperte, als sie ihn mit den Händen wegschlug. Auf ihrem Weg nach draußen strafte sie gewebte Wandbehänge, antike Holzmöbel und bunte Teppiche mit Missachtung.

»Wo steckst du denn, Papa?« An der Treppe hielt Annabel inne. Blickte hinauf und spitzte die Ohren.

Keine Geräusche. Kein Wasserrauschen im Bad. Keine zuklappenden Schranktüren. Keine Schritte. Einfach nichts. Nichts außer einer ohrenbetäubenden Stille. Annabels Herz schlug schneller. Plötzlich erinnerte sie sich an Uwes entschlossene Haltung, als er aus der Küche marschiert war. Irgendetwas hatte er im Schilde geführt. Aber was?

»Vielleicht ist er im Garten.« Annabel rannte durch den Flur. Riss die Tür auf. Die klare, kalte Luft traf sie wie eine Ohrfeige. Sie schlang die Arme um den Körper und lief weiter, den Gartenweg entlang, der im Sommer von prächtigen Rosenbüschen gesäumt war. Alte Rosensorten. Eine der vielen Leidenschaften ihrer Mutter. Vielleicht war ihr Vater hier, um zu trauern. Beim Anblick der Garage verwarf sie diesen Gedanken wieder. Schlagartig war alles klar. Das Auto war verschwunden.

Atemlos und mit hängenden Schultern stand Annabel Ruhland da und dachte nach. Schwer vorstellbar, dass Uwe sich in dieser Situation ums Geschäft kümmerte. Eigentlich gab es nur einen Ort, an dem er sein konnte.

Annabel begann zu zittern. Ein Morgenmantel war eindeutig die falsche Wahl für einen kühlen Wintermorgen wie diesen. Sie kehrte ins Haus zurück. Schlug die Tür hinter sich zu und hastete die Stufen hinauf in ihr altes Kinderzimmer.

Zwanzig Minuten später verließ sie das Haus mit fliegenden Schritten und wehendem Haar.

*

Mit weit ausgreifenden Schritten eilte Dr. Daniel Norden über den Flur. Er grüßte nach links und rechts. Wich einem Krankentransport aus. Blieb stehen und beantwortete die Frage einer Schwester, ehe er weitereilte. Die gute Nachricht von Bruder Pirmins baldiger Genesung hatte ihn in Hochstimmung versetzt. Wenn ein Tag so begann, konnte eigentlich nichts mehr schiefgehen. Mit wehendem Kittel bog er ins Vorzimmer ab.

»Einen wunderschönen guten Morgen, liebe Andrea. Ich wünsche, wohl geruht zu haben.«

Andrea Sander schaltete die Kaffeemaschine ein und drehte sich um.

»Sie haben ja so gute Laune, Chef. Sagen Sie bloß, Sie haben die gute Nachricht schon bekommen?«

»Also falls Sie Bruder Pirmin meinen …«

Andrea trat an den Schreibtisch. Sie griff nach einem großen braunen Kuvert.

»Der Obduktionsbericht von Inga Ruhland.«

Die Papiere raschelten in Dr. Nordens Händen. Während der Lektüre stutzte er.

»Frau Ruhland litt an einer Entzündung der Blutgefäße im Gehirn. Sie war für die unstillbare Blutung verantwortlich.«

»Und was genau bedeutet das?«

Noch einmal ging Daniel Norden die Unterlagen durch. Es gab keinen Zweifel. Der Bericht aus der Pathologie war eindeutig.

»Frau Ruhland befand sich auch vor dem Unfall schon in akuter Lebensgefahr«, murmelte er, ohne den Blick von den Papieren zu wenden. »Ohne Vaskulitis hätte sie bei dem Unfall möglicherweise gar keine Hirnblutung erlitten.« Endlich hob er den Kopf. Sein Blick fiel über Andreas Schulter aus dem Fenster. Hinauf in den strahlend blauen Himmel. Er wusste, dass die Welt für Uwe Ruhland alle Farben verloren hatte. Aber vielleicht konnte ihn diese Nachricht wenigstens ein bisschen trösten.

Ein Rumpeln, gefolgt von einem empörten Ruf vor der Tür riss ihn aus seinen Gedanken.

»Passen Sie doch auf, wo Sie hinlaufen!«, rief eine Stimme. »Rennt einfach weiter! So eine Unverschämtheit!«

Daniel war auf dem Weg zur Tür, als sie aufgestoßen wurde. Uwe Ruhland tauchte auf. Sein Gesicht glänzte. Sein Atem ging stoßweise.

»Hier stecken Sie!«, keuchte er grußlos. »Wo ist diese Petzold?«

Einem ersten Impuls folgend wollte Dr. Norden den Rasenden um Ruhe bitten. Zum Glück erinnerte er sich rechtzeitig an Fees Ratschläge. Ihre Kenntnisse als Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie hatten ihm auch bei Erwachsenen schon oft weitergeholfen.

»Ich verstehe Ihren Schmerz, Herr Ruhland.«

»Gar nichts verstehen Sie! Fassen Sie mich nicht an!«, fauchte Uwe wie von Sinnen. »Meine Frau ist tot. Daran ist Ihre Frau Petzold schuld. Das wird sie mir büßen. So wahr ich hier stehe!«

»Herr Ruhland …«

»Wo. Ist. Sie?« Spucketröpfchen flogen durch die Luft. Uwe Ruhlands Blick hatte etwas Wildes, Irres. »Raus mit der Sprache! Sonst durchsuche ich das ganze Krankenhaus. Danach steht kein Stein mehr auf dem anderen. Da können Sie sicher sein.«

»Und Sie können sicher sein, dass meine Mitarbeiter keinen Fehler gemacht haben.« Daniels Stimme erschütterte den Raum. Andrea Sander ging in Deckung. So hatte sie ihren Chef bisher selten erlebt. Doch was genug war, war genug! Irgendwie musste Daniel den Mann zur Räson bringen. Und wenn er sich hinterher für sein ungebührliches Verhalten entschuldigen musste. Aber das war immer noch besser als ein Amoklauf in der Klinik. »Ihre Frau war schon vor dem Unfall todkrank. Früher oder später wäre sie mit einer Hirnblutung umgefallen. Verstehen Sie das?«

Wie vom Donner gerührt stand Uwe Ruhland da. Er bebte am ganzen Körper.

»Was haben Sie da gesagt?«, keuchte er.

Dr. Norden atmete auf. Seine Strategie schien zu funktionieren.

»Ihre Frau litt an einer unerkannten Entzündung der Blutgefäße im Gehirn.« Diesmal war seine Stimme ruhig.

Er machte einen Schritt auf Ruhland zu.

»Es hätte keine Rettung gegeben.« Daniel sprach laut und deutlich. Jedes einzelne Wort sollte in Uwes Bewusstsein vordringen. Sein Herz erreichen. Die Mauer durchbrechen, damit die Tränen Erlösung bringen konnten.

Einen Moment lang hatten sowohl Andrea Sander als auch ihr Chef Hoffnung. Ruhland sah von einem zum anderen. Fassungslos.

»Wie meinen Sie das? Inga war doch gesund. Sie hat nie etwas gesagt.«

Daniels Herz zog sich vor Mitgefühl zusammen. Er ahnte, wie sich Uwe fühlte. Schließlich hatte er selbst unzählige Male am Bett seiner Lieben gehofft und gebangt. Beim Anblick des schwer verwundeten Mannes hatte er fast ein schlechtes Gewissen, dass ihm das Schicksal gnädig gewesen war.

»Ihre Frau wäre in absehbarer Zeit gestorben. Oder ein Pflegefall geworden.« Daniel wusste nicht, was schlimmer war. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie leid es mir tut.« Er machte einen weiteren Schritt auf Uwe Ruhland zu. Streckte die Arme aus, um ihm die Hände auf die Schultern zu legen. Trost durch Berührung, durch menschliche Zuwendung zu spenden. Doch ehe er es sich versah, wandte sich Ruhland ab und lief aus dem Zimmer.

*

»Rücksichtslos, diese Menschen heutzutage.«

Im letzten Augenblick war es Bruder Pirmin gelungen, den Infusionsständer vor dem Wahnsinnigen in Sicherheit zu bringen, der ihn um ein Haar über den Haufen gerannt hätte. »Herr, lass Anstand vom Himmel regnen.«

Doch ein Blick aus dem Fenster verriet, dass es damit an diesem Tag nichts werden würde. Die Sonne strahlte vom makellosen Blau und erinnerte Pirmin an sein Vorhaben.

»Frische Luft schnuppern. Mir den Wind um die Nase wehen lassen. Das Leben spüren, das Gott mir geschenkt hat. Ihm für seine Gnade danken«, murmelte er auf dem Weg zum Klinikgarten.

Mit wachen Augen – als sähe er die Welt zum ersten Mal – wanderte er durch die Klinikflure. Betrachtete die großformatigen Landschaftsaufnahmen, die die Wände schmückten und die Patienten an die Schönheit der Welt erinnern, ihnen Mut machen sollten. Nebenbei grüßte er freundlich lächelnd nach links und rechts.

Schwester Elena war schon fast an ihm vorbei, als sie innehielt.

»Bruder Pirmin?«

»Schwester.« Sein Lächeln wurde tiefer. »Gott segne Sie und Ihre Kollegen. Eine wunderbare Arbeit, die Sie hier verrichten.«

»Danke.« Elena konnte nicht lächeln. »Aber was machen Sie hier? Sollten Sie nicht im Bett sein?«

»Ihr Kollege Dr. Aydin hat mir gestattet, mir ein wenig die Beine zu vertreten.«

»Aber Ihre Gesundheit …«

»Es ist ein Wunder!«

Pirmin hob die Hände gen Himmel. »Gott hat mich nicht vergessen und mir einen Engel geschickt.«

Um ein Haar hätte Elena laut herausgeprustet.

»Sie meinen doch nicht etwa Dr. Aydin?«

»Und ob«, erwiderte Pirmin todernst. »Dieser Mann ist ein Heilsbringer wie alle Menschen, die hier arbeiten und wirken. Ich stehe tief in Ihrer Schuld und freue mich, mich wenigstens bei Dr. Aydin erkenntlich zeigen zu können. Abt Anselm freut sich schon auf ihn. Sein Zimmer ist vorbereitet.«

Elena meinte, sich verhört zu haben.

»Milan geht ins Kloster?«

»Er wird unser Gast sein, bis seine Wohnung wieder bewohnbar ist.«

»Hoffentlich haben Sie sich das gut überlegt«, platzte Elena heraus.

Pirmin musterte sie überrascht.

»Da gibt es nichts zu überlegen, Schwester. Dieser Mann hat mein Leben gerettet. Ich stehe tief in seiner Schuld.«

Elena haderte mit sich. Sollte sie ihrem Freund und Kollegen einen Streich spielen? Sie trat einen Schritt näher.

»Nichts für ungut, Bruder Pirmin«, raunte sie so leise, dass nur der Mönch sie hören konnte. »Aber in Wahrheit sucht Milan Aydin einen Weg, um Buße zu tun.«

»Wirklich? Aber warum? Ein so edler Mann.«

»Ich würde Ihnen uneingeschränkt recht geben, wären da nicht die Frauen …«

Pirmin zuckte zurück.

»Sie meinen er ist … er ist …«

»Genau das meine ich«, flüsterte Elena zurück.

Die Wangen des Mönchs färbten sich tiefrot.

»Bei uns hat er die Möglichkeit, seine Fehler zu bereuen und Buße zu tun. Sie müssen nicht länger um sein Seelenheil bangen.«

Elena lächelte. Zu schade, dass sie Milans Gesicht nicht sehen konnte, wenn er zum Beichtstuhl geführt wurde. Aber zumindest war sie sicher, sein Gezeter und Gemecker zu hören. Sie konnte nur hoffen, vor Lachen nicht vom Stuhl zu fallen.

»Vielen Dank, Bruder.« Es fehlte nicht viel und sie hätte einen Knicks gemacht.

»Gern geschehen.« Bruder Pirmin sah sich um. »Ach, könnten Sie mir noch den Weg zum Garten zeigen? So einen herrlichen Tag darf man nicht ungenutzt verstreichen lassen.«

»Den Gang hinunter, dann rechts und die zweite Tür wieder rechts«, erklärte sie bereitwillig, ehe sie sich für den Moment verabschiedete. Höchste Zeit, an die Arbeit zurückzukehren.

*

Im Bauch der Klinik herrschte ein Betrieb wie in einem Ameisenhaufen.

Schwestern und Pfleger eilten über die Flure.

Überholten Ärzte, die auf dem Weg zu ihren Patienten die Köpfe zusammensteckten und über Diagnosen und geeignete Behandlungsmethoden diskutierten. Betten mit und ohne Patienten wurden an andere Orte gebracht. Dazwischen schwammen die Tresen der verschiedenen Stationen wie Inseln im stürmischen Meer.

An einem solchen Ort trafen Sophie Petzold und Dr. Merizani an diesem Vormittag zusammen.

»Gut, dass ich Sie treffe.« Die Ellbogen auf die nussbaumfarbene Theke gestützt, wartete Sophie auf eine Patientenakte, als Amir ebenfalls an den Tresen trat. »Es gibt gute Neuigkeiten.«

Amir musterte sie aus unergründlichen Augen. Normalerweise war Sophie gar nicht schlecht darin, in fremden Gesichtern zu lesen. Bei Merizani scheiterte sie jedes Mal wieder.

»So?« Mehr sagte er nicht.

»Der Autopsiebericht von Frau Ruhland ist da. Wir sind von jeglicher Schuld freigesprochen.«

»Haben Sie etwas anderes erwartet?«, fragte er ohne den Anflug eines Lächelns.

Was für ein seltsamer Mann! Wäre Sophie nicht mit dem Chef der Notaufnahme liiert gewesen, hätte es sie gereizt, Merizanis Geheimnis zu lüften. Aber so …

»Interessiert Sie nicht, woran Frau Ruhland gestorben ist?«

Endlich lächelte Amir doch.

»Mir sind schon bei der Operation die Gefäßveränderungen aufgefallen.«

Sophie Petzold machte große Augen.

»Dann wissen Sie, dass sie an einer Entzündung der Blutgefäße gestorben ist? Warum haben Sie nichts gesagt?«

»Was hätte das genützt? Wissen ist ein wildes Tier und muss gejagt werden, ehe man es zähmen kann.«

Sophie neigte den Kopf. Endlich kam auch sie einmal in den Genuss eines persischen Sprich …

»Ah, da sind Sie ja!« Annabel Ruhlands Stimme lenkte Dr. Petzold ab. Atemlos trat Annabel neben Amir Merizani an den Tresen. »Haben Sie meinen Vater gesehen?«

»Heute noch nicht.« Sophie neigte den Kopf. »Stimmt was nicht?«

»Ich bekam heute Morgen einen Anruf aus der Kanzlei. Danach war Papa auf einmal verschwunden. Er ist einfach weggefahren. Ohne Bescheid zu sagen.« Annabel fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Als könnte sie so die Gedanken ordnen, die in ihrem Kopf durcheinanderwirbelten. »Ehrlich gesagt hatte ich gehofft, ihn hier zu finden.«

»Hatten Sie Streit?«, fragte Amir Merizani.

»Schön wäre es. Aber ich bin überhaupt nicht zu ihm durchgedrungen«, gestand Annabel leise. »Als ich heute Morgen in aller Herrgottsfrüh aufgestanden bin, saß er schon wer weiß wie lange in der Küche. Er war kaum ansprechbar.« Ihr Seufzen kam aus tiefstem Herzen. »Wenn ich nur wüsste, wo er steckt.«

»Vielleicht braucht er nur ein bisschen Ruhe. Das ist ganz normal nach so einem Schock.«

»Ja.« Annabel starrte ein Loch in den Tresen, ehe sie sich einen Ruck gab. Den Kopf hob und sich ein Lächeln auf die Lippen zwang. »Ja, vielleicht haben Sie recht.« Sie holte tief Luft und straffte die Schultern. »Vielen Dank noch einmal für Ihre Bemühungen. Ich weiß sehr genau, was Sie für meine Mutter getan haben.«

»Das war selbstverständlich«, versicherte Sophie und sah sich um.

Im Laufe des Gesprächs war es unruhig geworden. Wie vor einem drohenden Unwetter. Einem nahenden Sturm. Telefone klingelten. Schwestern und Pfleger steckten die Köpfe zusammen. Das Tuscheln erfüllte die Luft.

Auch Dr. Merizani bemerkte die Unruhe.

»Was ist passiert?« Er sah hinüber zu Schwester Astrid.

Sie legte den Hörer zurück auf die Gabel. Ihr Gesicht war kreidebleich.

»Da ist ein Mann auf dem Dach.«

Annabel schlug die Hand vor den Mund, fuhr herum und stürzte los.

*

Wie ein Lauffeuer machte die Neuigkeit die Runde. Jeder Patient, der sich halbwegs auf den Beinen halten konnte, machte sich auf den Weg in den Klinikgarten. Gesellte sich zu den anderen Schaulustigen, die – die Hände schützend über den Augen – nach oben blinzelten.

»Wenn ich geahnt hätte, dass er so verzweifelt ist …« Dr. Daniel Norden beendete den Satz nicht.

Seine Freundin und Kollegin Sophie Petzold verhinderte es.

»Dann hättest du es auch nicht verhindern können. In so einer Situation, so absoluten Ausweglosigkeit, hältst du keinen Menschen der Welt von einem Suizid ab«, erklärte sie sachlich. »Du kannst froh sein, dass er es hier versucht. Da können wir vielleicht noch etwas tun.«

»Dein Wort in Gottes Ohr«, stöhnte Daniel, als ein Megafon krachte und knackte.

»Ein Pfarrer, haben wir einen Pfarrer hier?«, rief ein Feuerwehrmann in die Menge. »Der Mann will mit einem Geistlichen sprechen.«

Alles sprach gegen Sophies Hoffnung.

»Ausgerechnet heute liegt der Klinikpfarrer krank im Bett«, verkündete Milan, der sich zu seinen Kollegen gesellt hatte.

»Vielleicht kann ich helfen.«

Ein Murmeln aus vielen Kehlen. Köpfe drehten und wendeten sich auf der Suche nach dem Mann, der das gesagt hatte.

Dr. Norden erkannte die Stimme sofort. Er schnappte nach Luft.

»Das ist doch Bruder Pirmin. Was macht er hier?«, zischte er.

»Das solltest du Milan fragen.« Elena sah zu Aydin hinunter.

»Was denn! Er hat mich um Erlaubnis gefragt, sich ein bisschen die Beine zu vertreten. Ich habe es ihm erlaubt. Schließlich ist Bewegung gut für den Kreislauf.«

»Aber nicht in seinem Zustand«, widersprach der Klinikchef.

Dr. Aydin sah hinüber zu dem stattlichen Mann im schwarzen Habit, der sich mit dem Feuerwehrmann beratschlagte.

»Was ist mit seinem Zustand?«

Wohl oder übel musste Daniel seinem Mitarbeiter recht geben.

»Erstaunlich, wie schnell er sich erholt hat«, murmelte er.

»Vielleicht hat aber auch Bruder Augustinus recht und Pirmin ist ein Hypochonder, der uns ein bisschen an der Nase herumgerührt hat«, mutmaßte Elena, ohne den Mönch aus den Augen zu lassen.

Wie das Rote Meer vor Moses teilte sich in diesem Moment die Menschenmenge vor Bruder Pirmin. Er schritt auf die Tür zu, verschwand im Klinikgebäude, um wenige Minuten später auf das Dach hinaus zu treten.

Uwe Ruhland hörte das Knirschen der Sohlen auf dem Steinboden. Warf einen Blick über die Schulter.

»Keinen Schritt weiter!« Seine Stimme zitterte.

»Ich bin der Geistliche, mit dem Sie sprechen wollten.« Auch Pirmin klang alles andere als sicher. »Gehen Sie weg von der Kante! Ich bin nicht schwindelfrei.«

Uwe wandte sich wieder dem Abgrund zu.

»All die schweren Jahre. Die Entbehrungen. Der Kampf ums Überleben. Und jetzt, da Inga und ich es endlich geschafft hatten … Wie kann Ihr Gott das zulassen?«

»Es ist nicht mein Gott. Er ist der Gott aller Menschen und Tiere. Aller Lebewesen und Pflanzen, der …«

»Hören Sie schon auf mit dieser Haarspalterei!«, stieß Uwe durch die Lippen. »Wo war Gott, als wir ihn am nötigsten brauchten? Warum hat er meine Frau nicht beschützt?«

Schweigen. Pirmin scharrte mit den Füßen auf dem Boden.

»Vielleicht hat er das ja, und wir verstehen ihn nur nicht«, erwiderte er schließlich.

Wieder ein Blick über die Schulter.

»Wie meinen Sie das?«, fragte Uwe zögernd.

Die Frage machte Bruder Pirmin Mut.

»Nehmen wir an, Ihre Frau hätte überlebt, wäre aber behindert gewesen.«

»Dann wäre sie wenigstens noch da.«

»Egoistische Gedanken haben hier nichts zu suchen.« Pirmin wunderte sich selbst über die Strenge in seiner Stimme. »Wie hätte sich Ihre Frau entschieden, wenn sie die Wahl gehabt hätte zwischen dem Tod und einem Leben in geistiger Umnachtung, unfähig sich zu bewegen, zu sprechen.« Die drastische Schilderung war pure Absicht.

Uwe Ruhland starrte wieder hinab in die Tiefe. Die Feuerwehrleute drängten sich zwischen die Menschen, breiteten ein Sprungtuch aus. Gleichzeitig erinnerte er sich an Gespräche mit Inga.

»Sie hätte so nicht leben wollen«, gestand er leise.

Pirmin nickte.

»Und nun stellen Sie sich vor, Sie hätten den Unfallwagen gefahren. Wären verantwortlich für den Zustand Ihrer Frau«, fuhr Pirmin mutiger fort.

»Sie hätte mich gehasst für den Rest ihres Lebens. Und ich mich dazu.«

»Auch keine schöne Option.«

»Aber warum musste das alles überhaupt passieren?« Uwe schrie seinen Schmerz in den Himmel. »Warum konnte Gott uns nicht in Ruhe unser Leben leben lassen?«

Bruder Pirmin breitete die Hände aus. »Ich weiß es nicht.«

Uwe Ruhland drehte sich um.

»Wie? Sie wissen es nicht.« Er hatte mit allem gerechnet, mit Ausflüchten und Ausreden, aber nicht mit der Wahrheit. »Sie sind doch Mönch.«

»Das heißt noch lange nicht, dass ich Gott verstehe. Ich versuche es. Und ich zweifle. Sehr viel sogar«, gestand der Mönch. »Aber ausgerechnet dann, wenn die Nacht am dunkelsten ist, passiert es. Immer wieder.«

»Was passiert?«

Pirmin zögerte. Machte einen Schritt zurück.

»Wenn Sie zu mir kommen, verrate ich es Ihnen.«

Uwe schnaubte.

»Das ist doch nur ein billiger Trick.«

»Stimmt«, gab Bruder Pirmin unumwunden zu. »Um ehrlich zu sein, weiß ich nur eines: Auch die dunkelste Nacht hat einmal ein Ende. Und jedes Mal wieder erheben sich Freude und Glück wie Phönix aus der Asche empor. Sicher, es kann eine Zeit lang dauern. Aber eines Tages wird es so weit sein.« Ein Gedanke kam ihm in den Sinn. »Welche Träume hatte Ihre Frau?«

»Inga?« Zum ersten Mal seit Ingas Tod lächelte Uwe. Er bemerkte es nicht. »Sie wollte alles und am liebsten alles auf einmal«, gestand er rau. »Aber ihr größter Wunsch war es, die Trauernden mit ihren Blumen zu trösten. Ihnen Mut zu machen. Ihnen zu zeigen, dass das Leben weitergeht.« Er machte eine Pause. Wischte sich eine Träne von der Wange. »Inga wollte die Menschen an die Schönheit erinnern, die das Leben trotz allem noch bereithält. Auch wenn man sie manchmal nicht sehen kann.«

Bruder Pirmin nickte beeindruckt.

»Was für ein schöner Gedanke«, seufzte er. »Finden Sie nicht, dass es Ihre Aufgabe ist, diesen Traum weiter zu träumen? Für Ihre Frau? Für sich selbst?«

»Und für deine Tochter«, erklang auf einmal eine Stimme hinter Pirmin.

Er drehte sich um. Starrte die Frau mit den rotgeweinten Augen an, genauso wie Uwe seine Tochter anstarrte.

»Annabel!« Wie hatte er sie nur vergessen können?

»Papa!«, schluchzte Annabel auf. »Du kannst mich doch nicht allein lassen. Du nicht auch noch.«

Mucksmäuschenstill war es im Klinikgarten, als der Mann von der Dachkante verschwand. Niemand wagte zu atmen. So musste es sich anfühlen, wenn die Zeit stillstand. Wann würden sich die Uhren weiterdrehen?

Endlich öffnete sich die Tür zum Garten. Bruder Pirmin wurde mit frenetischem Applaus begrüßt. Er war allein. Aber nicht lange. Erst unter Gewaltandrohung gelang es den Feuerwehrleuten, den Mönch aus den Fängen der Schaulustigen zu befreien und zum Klinikchef zu geleiten.

Daniel Norden breitete die Arme aus.

»Bruder Pirmin, ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll.« Seine Stimme bebte vor Ergriffenheit.

Pirmin stand die überstandene Aufregung ins Gesicht geschrieben. Trotzdem lachte er.

»Wie sagen Sie immer so schön? Ich habe nur meine Pflicht getan. Obwohl mir der Gedanke, ein rettender Engel zu sein, ganz gut gefällt.« Er zwinkerte Milan Aydin zu.

»Ihre Mitbrüder werden Augen machen, wenn sie diese Geschichte hören. Dann wird der Spott hoffentlich ein Ende haben«, tat er seine Hoffnung kund.

»Ach!« Auf dem Rückweg ins Krankenzimmer winkte Bruder Pirmin ab. »Dann finden sie etwas anderes, worauf sie herumhacken können. Und so unrecht hatten sie ja vielleicht gar nicht.« Ein spitzbübisches Lachen. »Auch ein Gottesdiener ist schließlich nur ein Mensch. Und das ist auch gut so.«

Chefarzt Dr. Norden Staffel 5 – Arztroman

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