Читать книгу Dr. Norden Extra Staffel 1 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 6

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Acht Jahre lang war es her, daß sich Jessica de Wieth, zwanzig Jahre jung, von Dr. Norden verabschiedet hatte, um als Victor Santorros Frau nach Beverly Hills zu gehen. Sie war ein bezauberndes, bildschönes Mädchen gewesen, in das sich der schon sehr bekannte Filmschauspieler während der Dreharbeiten in den Bayerischen Bergen verliebt hatte.

Daß er in Jessica auch die reiche junge Erbin sah, die erst vor einem Jahr ihre Eltern durch einen tragischen Unfall verloren hatte, daran dachte niemand, auch Jessicas Vermögensverwalter nicht.

Victor Santorro bekam horrende Honorare, besaß eine feudale Villa und man konnte ihm auch keine Affären nachsagen.

Sie hatten sich auf einer Party kennengelernt, die Jessicas Vermögensverwalter, Dr. Kollberg, der selbst an der Filmproduktion beteiligt war, gegeben hatte.

Das wunderschöne Landhaus in der Nähe von Garmisch, das auch zu Jessicas ererbtem Besitz gehörte, war auch Schauplatz in dem Film. Jessica, die große Neigung gezeigt hatte, selbst einmal Drehbücher zu schreiben, und der auch großes Talent nachgesagt wurde, hatte bei den Dreharbeiten dabeisein wollen.

Sie war ein modernes, intelligentes junges Mädchen gewesen, aber Erfahrungen mit Männern hatte sie noch nicht gemacht. So hatte Victors Charme sie buchstäblich überrollt.

Er sah blendend aus, der richtige Herzensbrechertyp, was er aber nicht hören wollte. Er war der geborene Schauspieler, allerdings auch im wirklichen Leben, was alle, die mit ihm zu tun hatten, jedoch erst merkten, wenn es für sie zu spät war.

In den Illustrierten hatte man von der Hochzeit des Traumpaares lesen können. Konnte sie bewundern in ihrem Traumhaus, auf Partys und auf Reisen. Ausführlich war über die Geburt der Tochter Laura berichtet worden, aber dann war es um die bezaubernde Jessica stiller geworden. Man sah Victor mit anderen Frauen, man erfuhr, daß Jessica sich ganz ihrer Tochter widme. Vor zwei Jahren hatten auch die Nordens aus der Zeitung erfahren, daß Jessica mit einem Nervenzusammenbruch in ein Sanatorium eingeliefert worden sei. Dann war die Meldung von der Scheidung und dem Kampf um das Sorgerecht für das Kind gekommen.

Fee und Daniel Norden waren bestürzt, was da so alles von der Sensationspresse aufgebauscht wurde, aber wenn man auch nur einen Teil glauben wollte, war es schon genug. Der Traum vom märchenhaften Glück schien schnell geplatzt zu sein. Fee tat es sehr leid, daß ihre Ahnung, ob das gutgehen könne, sich erfüllen sollte.

Es gab niemanden, der ihnen sagen konnte, was nun wahr an all diesen Geschichten war und was nicht. Jessica, die anfangs noch ab und zu einen Gruß geschickt hatte, ließ nichts mehr von sich hören.

Fee fand auch keine Berichte mehr in den Zeitungen. Von Victor Santorro konnte sie nur lesen, daß sein letzter Film total verrissen worden war.

»Wenn wir doch nur wüßten, was mit Jessica ist«, sagte sie wieder einmal mit einem schweren Seufzer.

»Eigentlich müßten ihr die Ohren klingen, so oft sprechen wir von ihr«, sagte Daniel nachdenklich. »Wenn sie ihr das Kind wegnehmen, sehe ich schwarz.«

Zwei Tage später betrat eine blasse mit unauffälliger Eleganz gekleidete junge Frau die Praxis von Dr. Norden.

Wendy blickte in ein schmales, ernstes Gesicht von reifer, fast ergreifender Schönheit.

Der melancholische Ausdruck der großen dunklen Augen verursachte ihr beinahe Beklemmung.

»Mein Name ist de Wieth, ich hätte gern einen Termin bei Dr. Norden.« Wendy hörte eine etwas heisere Stimme.

»Waren Sie schon bei ihm?« fragte Wendy.

»Ja, aber es mag etwa acht Jahre her sein. Sie waren damals noch nicht in der Praxis.«

»Ich bin erst seit ein paar Monaten hier. Man nennt mich Wendy.«

Wendy wußte einfach nicht, was sie sagen sollte, sie war wie benommen unter diesem Blick, der ihre Seele zu erforschen schien.

»Ich werde Ihre Karteikarte heraussuchen«, erklärte sie stockend. »Würden Sie bitte Platz nehmen?«

»Hätte Dr. Norden Zeit für mich?« fragte Jessica leise.

»Aber sicher.«

Da kam er schon aus dem Sprechzimmer. »Wendy…« Mehr brachte er nicht über die Lippen, wie erstarrt blieb er stehen und sah Jessica ungläubig an.

»Jessica?«

»Ja, ich bin es«, sagte sie mit bebender Stimme.

Er streckte ihr beide Hände entgegen. »Können Sie sich noch ein paar Minuten gedulden, ich bin gleich fertig.«

»Ich habe viel Zeit«, erwiderte sie tonlos.

Er führte sie in den Therapieraum. »Entspannen Sie sich, Jessica«, sagte er fürsorglich. »Ich bin bald bei Ihnen.«

Wendy sah ihn fragend an. »Würden Sie mir sagen, wo die alten Karteikarten aufbewahrt werden? Die Patientin sagte, daß sie vor acht Jahren hier gewesen sei.«

»Ich brauche keine Karteikarte, ich brauche nur Zeit für sie. Rufen Sie bitte meine Frau an, und sagen Sie ihr, daß ich noch in der Praxis bleibe, aber sagen Sie ihr nicht, wer gekommen ist. Das möchte ich ihr selbst sagen.«

Nun war Wendy erst recht verwirrt. Sie hätte liebend gern mehr von dieser geheimnisvollen Patientin erfahren, deretwegen Dr. Norden sogar seine Mittagspause einschränken wollte, und er nannte sie beim Vornamen.

Jessica de Wieth, in irgendeinem Zusammenhang hatte sie diesen Namen schon mal gehört, aber da Wendy keine Ahnung hatte von dem, was vor acht Jahren hier begonnen hatte, war es für sie auch nicht interessant gewesen, wenn sie wirklich mal etwas über das Ehepaar Santorro gelesen hatte.

Jessica hatte sich in dem bequemen Ledersessel zurückgelehnt und die Augen geschlossen. Ihre Gedanken wanderten zurück zu jener Zeit, in der sie noch ein unbeschwertes Mädchen gewesen war, das mit allen Wehwehchen zu dem lieben Dr. Norden gekommen war. Fünfzehn war sie gewesen, als sie beim Sport gestürzt war und sich beide Knie aufgeschlagen hatte. Sie konnte gerade noch humpeln, aber abends wollte sie unbedingt zur Tanzstunde gehen. So war Jessica immer gewesen. Nach einem Sturz mit dem Fahrrad, als sie sich verbrüht und so in die Hand geschnitten hatte, daß sie genäht hatte werden müssen. Erkältungskrankheiten hatte sie selten gehabt, aber wenn es sie mal erwischt hatte, dann gleich ordentlich. Jessicas Eltern hatte Daniel Norden auch sehr gut gekannt. Sie hatten mit all ihrem Reichtum nicht viel Glück gehabt im Leben. Sie hätten gern mehrere Kinder gehabt, aber Hannelore de Wieth hatte zwei Fehlgeburten gehabt und einen kleinen Sohn hatten sie im Alter von drei Jahren an einer Hirnhautentzündung verloren. Es war nicht verwunderlich, daß sich ihre ganze Liebe auf Jessica konzentriert hatte und daß sie in ständiger Angst um sie gelebt hatten.

Sie hatten sich auch nie von Jessica getrennt. Als sie bei dem schrecklichen Unfall ums Leben gekommen waren, war es auch ein Zufall gewesen, daß Jessica nicht bei ihnen war. Sie war mit ihrer Abiturklasse nach Paris gefahren. Ihre Eltern wollten sie bei der Rückkehr vom Flughafen abholen. Auf der Fahrt dorthin wurden sie von einem Lastwagen gerammt, dessen Fahrer übermüdet am Steuer eingeschlafen war. Es waren noch drei weitere Autos in diesen Unfall verwickelt gewesen, und noch zwei Personen waren dabei umgekommen.

In ihrem großen Schmerz hatte sich Jessica zu Fee und Daniel Norden geflüchtet. Ihnen war es mit viel Verständnis und Geduld gelungen, sie wieder aufzurichten. Und dann hatten sie auch gedacht, daß es ganz gut war, daß sich Jessica in Victor Santorro verliebte.

Daran dachte jetzt Daniel Norden, als er zu Jessica ging, die mit geschlossenen Augen ihren Erinnerungen nachhing.

Daniel Norden ergriff ihre Hände, und sie schlug die Augen auf. Verwirrt blickte sie ihn an.

»Es sind so viele Erinnerungen geweckt worden«, sagte sie leise. »Ich bin früher oft zu Ihnen gekommen.«

»Soll ich aufzählen, woran ich mich erinnere?«

Sie nickte, und er tat es.

Da erschien erstmals ein flüchtiges Lächeln auf ihrem Gesicht.

»An all das habe ich mich auch erinnert«, sagte sie.

»Und dann war da noch Ihr Abschiedsbesuch. Sie waren so glücklich, Jessica.«

»Es erschien mir alles wie ein Traum«, flüsterte sie, »aber es wurde ein Alptraum. Nun bin ich wieder hier und flüchte mich wieder zu Ihnen, weil ich sonst niemanden mehr habe.«

Er sah sie mitfühlend an. »Dann ist es wahr, was die Zeitungen geschrieben haben?«

»Ich denke, es ist alles noch viel schlimmer. Aber ich sollte dankbar sein, daß sie mich nicht noch mehr in den Dreck gezogen haben. Ich erwarte nichts mehr vom Leben, aber ich will mein Kind wiederhaben. Sagen Sie, daß man es mir nicht wegnehmen darf für alle Zeit.«

»Sie müssen mir alles erzählen, Jessica. Ich hätte nur gern, daß Fee dabei ist. Sie hat Ihren Weg verfolgt, bis das große Schweigen kam. Sie weiß immer am besten, was zu tun ist.«

»Mein Gott, was soll ich sagen, ich weiß ja selbst nicht, wie das alles gekommen ist! Wie es soweit kommen konnte! War ich denn so naiv, daß ich nichts bemerkt habe, was um mich vor sich ging? Daß ich es nicht ernst genug nahm, wie Victor mich behandelte? Ich werde nie wieder einem Mann trauen können, Sie ausgenommen. Kollberg hat mich beinahe um mein ganzes Vermögen gebracht.«

»Guter Gott, davon hatten wir keine Ahnung! Wie ist das geschehen?«

»Er hat spekuliert und gespielt und sich fleißig von meinem Vermögen bedient. Ich bekam ja nur Teilbeträge. Papa wollte mich gegen einen Mitgiftjäger absichern, und dabei hat er den Bock zum Gärtner gemacht. Aber Victor hatte sich anscheinend auch größere Beträge erhofft. Es ist mir noch immer nicht klar, was sie mit mir gemacht haben, was hinter meinem Rücken ablief. Ich hatte ja keine Ahnung von Geschäften, mich konnte man leicht täuschen. Jetzt allerdings nicht mehr. Ich habe meine Lektion gelernt, und mich legt jetzt niemand mehr herein.«

Ihr Gesicht hatte sich wieder belebt, und sie wurde der Jessica von damals ähnlicher.

»Wie ist es, werden Sie mich wieder unter Ihre Fittiche nehmen, Dr. Norden? Ich werde viel Kraft brauchen in der nächsten Zeit.«

»Es stimmt, daß Sie geschieden sind?«

»Ja, das stimmt, aber das Sorgerecht wurde mir nicht entzogen. Victor ist mit meiner Tochter untergetaucht. Ich weiß nicht, wo sie sich jetzt aufhalten. Er ist angeblich mit einem neuen Film beschäftigt, was aber nicht stimmt.

Er hat behauptet, ich hätte Laura außer Landes geschafft und ich weiß nicht, wo ich mit der Suche anfangen soll. Momentan fühle ich mich gar nicht gut. Mir fehlt der Antrieb.«

»Wir werden über alles in Ruhe sprechen, Jessica. Kommen Sie am Abend zu uns.«

»Früher haben Sie hier gewohnt«, sagte sie leise.

»Und jetzt wohnen wir nur ein Stück weiter. Wo wohnen Sie?«

»Im Hotel Novara. Ich bin gestern erst angekommen. Unser Haus ist ja vermietet. Wenigstens das ist mir geblieben.«

Ihre Mundwinkel bogen sich leicht abwärts.

»Ich muß mich erst an Ort und Stelle informieren, welchen Schaden Kollberg angerichtet hat. Er soll ja auf Kaution frei sein, und sein Vermögen ist beschlagnahmt. Vielleicht bekomme ich dann doch noch etwas zurück.«

»Hatte er denn Generalvollmachten?« fragte Daniel.

»Eigentlich hätte er nur mit meiner Zustimmung Entscheidungen treffen können, aber vielleicht hat er meine Unterschrift gefälscht. Weiß der Himmel, was er alles gemacht hat. Aber ich habe inzwischen gelernt, mit Gemeinheiten und Intrigen umzugehen und bin auch in der Lage, meinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Ich bin nicht mehr das unbedarfte Mädchen von damals, das kein Mißtrauen kannte.«

»Hätten Sie nicht vorher etwas gegen Kollberg unternehmen können, Jessica?« fragte Daniel.

»Ich hatte doch keine Ahnung. Ich war in einem Sanatorium, und angeblich sollten alle Aufregungen von mir ferngehalten werden. Wundern würde es mich nicht, wenn Victor mit Kollberg unter einer Decke steckte.«

»Dann sollten Sie auch die Polizei einschalten.«

»Das werde ich auch, wenn ich weiß, was da gelaufen ist. Ich muß erst auf Nummer sicher gehen. Ich will meine Tochter wiederhaben.

Wenn ich für verrückt erklärt werde, bekomme ich sie nicht.«

»Aber Sie sind nicht verrückt, Jessica.«

»Das sagen Sie, und deshalb konnte ich es gar nicht erwarten, mit Ihnen zu sprechen.«

»Sie können Vertrauen zu uns haben, Jessica.«

»Das habe ich, unbegrenztes Vertrauen. Ich vertraue sonst niemandem.«

»Wir freuen uns, daß Sie hier sind. Fee wird sich freuen, Sie wiederzusehen. Sie hat sich viele Gedanken um Sie gemacht.«

»Wirklich? Sie hat mich nicht vergessen? Wenn ich das gewußt hätte, hätte ich vielleicht doch den Mut gehabt, mich früher bei Ihnen zu melden.«

Er sah sie mitfühlend an. »Sie haben sehr viel Schlimmes erlebt«, stellte er nachdenklich fest.

»Sie werden es nicht glauben, wenn ich Ihnen alles erzähle. Manchmal dachte ich, ich wäre Darstellerin in einem Horrorfilm.«

Er ergriff wieder ihre Hand. »Wie konnte Ihr Mann das zulassen?«

»Es war doch seine Inszenierung. Ich habe es nicht für möglich gehalten, daß ein Mensch so heucheln, so sadistisch sein kann. Aber diese Menschen sind so dekadent, unmoralisch und dabei bigott, habgierig und neidisch. Die wenigen, die Charakter und Anstand besitzen, ziehen sich ganz zurück. Ich hatte niemanden, der mir half, mit dem ich hätte sprechen können.«

»Jetzt können Sie mit uns sprechen, Jessica. Ist es Ihnen recht, wenn ich Sie um neunzehn Uhr vom Hotel abhole?«

»Falle ich Ihnen auch wirklich nicht zur Last?«

»Das dürfen Sie nicht einen Augenblick denken.«

»Ich kann nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen bin.«

Es tat ihm richtig weh, wie sie ihn aus tränenvollen Augen anblickte. Und mit welcher Zuversicht hatte sie sich damals von ihm verabschiedet!

*

Fee Norden empfing ihren Mann gleich an der Gartentür. Sie hatte schon nach ihm Ausschau gehalten. Die Kinder hatten bereits gegessen. Erwartungsvoll sah sie ihn an.

Er spannte sie nicht auf die Folter. »Du wirst es nicht glauben, Feelein, aber Jessica hat mich aufgesucht.«

»Sie ist wieder hier? Wie geht es ihr?« fragte Fee.

»Psychisch nicht gut. Du wirst es heute abend alles erfahren. Ich habe sie zu uns eingeladen. Sie wohnt im Novara.«

Er wollte jetzt nicht viel erzählen, er sagte nur, daß sie von Kollberg betrogen worden sei.

»Dann handelt es sich bei ihm um den betrügerischen Nachlaßverwalter und Finanzberater G. K., dessen Name in den Zeitungen nicht ausgedruckt wurde. Ich wollte es nicht annehmen. Ich verstehe nicht, warum man solche Leute nicht gleich öffentlich an den Pranger stellt.«

»Weil sie über die besten Beziehungen verfügen, und wer weiß, wer da alles verwickelt ist.«

»Und Jessica gehört zu den Opfern.«

»Ihr Haus hat sie wenigstens behalten, aber es ist vermietet. Immerhin scheint sie finanziell noch ganz gut gestellt zu sein.«

»Stimmt es, daß sie einen Nervenzusammenbruch gehabt hatte?«

»Wir werden alles genau erfahren. Jedenfalls sagte sie, daß sie sich wie die Darstellerin in einem Horrorfilm vorkam.«

»Das arme Geschöpf! Wir müssen ihr helfen, Daniel.«

»Soweit uns das möglich ist. Sie muß um ihre Tochter kämpfen.«

Entsetzt weiteten sich Fees Augen. »Man hat sie ihr genommen?«

»Dieser Santorro scheint ein Teufel zu sein. Sie nannte ihn einen Heuchler und Sadist.«

»Und sie war so verliebt in ihn! Liebe macht wohl doch blind.«

»Sie war unerfahren, und er scheint ja auch ein guter Schauspieler zu sein. Im Leben vielleicht ein besserer als im Film. Wir haben das ja schon mal erlebt.«

»Aber wie kann man ein so liebenswertes Geschöpf so quälen?«

»Wir werden hören, was sie uns noch erzählen wird.«

*

Jessica gönnte sich keine Ruhe. Sie hatte sich mit einem Privatdetektiv in Verbindung gesetzt, der alles über Günter Kollberg in Erfahrung bringen sollte. Von der Polizei hatte sie bisher noch keine Auskunft bekommen. Man hatte sie zum nächsten Vormittag ins Präsidium bestellt. Auch den jetzigen Aufenthaltsort von Kollberg hatte sie nicht erfahren. Ihr kam das alles sehr merkwürdig vor.

Allerdings wurde ihr nun auch bewußt, daß sie ihm blindlings vertraut hatte. Genauso hatte sie ja auch Victor vertraut, bis er seine Maske hatte fallen lassen.

An ihn wollte sie nicht denken, aber die Sehnsucht nach Laura raubte ihr fast die Beherrschung. In ihre Verzweiflung mischte sich glühender Haß auf Victor und auf alle, die seine Partei ergriffen hatten.

Sie hatte nicht geglaubt, so hassen zu können, aber mit Vernunft konnte sie diesen Gefühlen nicht beikommen. Die Angst um ihr Kind, der Gedanke, Laura nie wiederzusehen, raubte ihr fast den Verstand. Aber sie wußte auch, daß gerade dies ihr schaden konnte. Einmal war es Victor schon gelungen, sie zur Verzweiflung zu treiben. Nein, das durfte nicht wieder passieren, daß sie in einer Nervenklinik landete. Sie wollte ganz offen mit den Nordens über all ihre Qualen sprechen. Vielleicht konnten sie ihr helfen.

Dann kam ihr der Traum in den Sinn, den sie in dieser ersten Nacht im Hotel Novara geträumt hatte. Konnte man ihn so deuten, daß sie Hoffnung haben konnte, ihr Kind wiederzusehen? Ein Mann hatte ihr Laura gebracht, aber sie kannte diesen Mann nicht, und doch hatte sie ihn im Traum so deutlich gesehen, daß ihr sein Gesicht, seine ganze Erscheinung in der Erinnerung haften geblieben war.

Alfred Kühne, der Detektiv, war es jedenfalls nicht. Der war ein freundlicher, älterer Herr mit schütterem Haar, dem man nicht ansah, daß er schon manchen Gaunern auf die Schliche gekommen, ein Meister im Recherchieren und Beobachten war.

Er war auch ein guter Menschenkenner, und Jessica brauchte gar nicht viel zu sagen. Er merkte sofort, daß sie sehr viel durchgemacht hatte.

Die Sache Kollberg war ihm ein Begriff, weil er schon für einen anderen Klienten ermittelt hatte, dessen Verluste jedoch bei weitem nicht so hoch waren, wie es bei Jessica der Fall war.

»Kollberg könnte sich in der Schweiz aufhalten«, erklärte er. »Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß er eine so hohe Kaution verfallen läßt. Haben Sie Konten in der Schweiz?«

»Es war eins vorhanden, aber vielleicht hatte er da auch Zugriff. Mein Vater hat ihm voll vertraut. Sie waren befreundet. Ich begreife nicht, wie er zum Betrüger werden konnte.«

»Er war ein Spieler, und dann die Frauen… Manche Männer rasten aus, wenn sie über Fünfzig sind.«

»Ich möchte alles wissen. Sie brauchen nicht besorgt zu sein, daß ich Sie nicht bezahlen kann. Genügen Ihnen tausend Mark als Vorschuß?«

»Ich werde nicht länger als zwei Tage brauchen. Sie werden nicht übervorteilt, gnädige Frau. Ich bin auch froh, wenn solchen Kerlen das Handwerk gelegt wird. Es ist unglaublich, was man jetzt alles erlebt.«

»Als ich ihn vor acht Jahren zum letzten Mal sah, war er ein angesehener Mann, hatte ein wunderschönes Haus und bestimmt auch viel Geld. Oder habe ich schon damals alles durch eine rosa Brille gesehen?«

»Sie waren sicher sehr jung«, sagte Alfred Kühne.

Sie nickte. »Und sehr naiv. Ich sehe es immer mehr ein, aber man denkt, daß man ja schon so erwachsen ist. Würden Sie sich zutrauen, auch nach meiner Tochter zu forschen?«

»Wenn Sie mir einen Hinweis geben könnten?«

»Ich kann nur sagen, daß mein geschiedener Mann seit zwei Wochen mit ihr untergetaucht ist, als er sein Besuchsrecht in Anspruch nahm. Ausgangspunkt Beverly Hills. Sein Name ist Victor Santorro. Meine Tochter heißt Laura und ist sechs Jahre alt. Ich muß jedoch leider sagen, daß Santorro über allerbeste Beziehungen verfügt.«

»Ich habe auch Beziehungen zu Kollegen in den Staaten. Wir helfen uns gelegentlich gegenseitig. Ich kann erst mal vorfühlen, was machbar wäre, sonst wird es eine kostspielige Angelegenheit.«

»Ich werde das Geld beschaffen. Ich kann nur nicht selbst wieder zurück.«

Er verabschiedete sich zehn ­Minuten später sehr höflich von ihr.

Jessica blickte auf die Uhr. Noch zehn Minuten bis neunzehn Uhr. Sie fuhr noch einmal zu ihrem Appartement in der fünften Etage, machte sich schnell ein bißchen frisch und nahm ihre Aktentasche mit sich.

Als sie aus dem Lift trat und um sich blickte, blieb sie wie angewurzelt stehen. An der Rezeption lehnte ein hochgewachsener dunkelhaariger Mann, der sich jetzt umdrehte. Ihre Blicke trafen sich, und ihr Herzschlag setzte aus, aber da betrat schon Daniel Norden die Halle und kam rasch auf sie zu.

Er merkte, daß sie verwirrt war und schob seine Hand unter ihren Arm. »Fee freut sich schon auf Sie, Jessica«, sagte er.

Geistesabwesend ging sie an seiner Seite hinaus. Der Mann an der Rezeption richtete das Wort an den Empfangschef, mit dem er schon vorher gesprochen hatte.

»Können Sie mir bitte sagen, wer die blonde Dame war, die eben abgeholt wurde?«

»Weil Sie es sind, Dr. Vreden. Es ist Mrs. de Wieth. Und der Herr war Dr. Norden, nach dem Sie sich auch erkundigt hatten.«

»Jessica de Wieth, das ist interessant«, murmelte Julian Vreden. »Sie wohnt auch hier, welch ein Zufall.«

*

Jessica wirkte immer noch etwas benommen, als Daniel Norden ihr aus dem Wagen half. »Hier wohnen wir«, sagte er.

Jessica zuckte zusammen. »Pardon, ich war in Gedanken«, sagte sie leise. »Es ist ein schönes Haus.«

»Wir haben inzwischen fünf Kinder, Jessica.«

»Fünf Kinder«, wiederholte sie staunend. »Ich kannte nur zwei.«

»Ja, so vergehen die Jahre.« Fee stand schon in der Tür. Es war ein herzlicher Empfang.

Jessicas Gesicht entspannte sich.

»Sind die Kinder schon zu Bett? Ich würde sie gern sehen«, sagte sie bittend.

Die Kinder waren in der Küche bei Lenni, und Fee dachte sich, daß es am besten wäre, daß Jessica gleich alle auf einmal kennenlernen könne.

Vielleicht war es für Jessicas Seelenheil doch zuviel, besonders als sie Annekas kleine Hand hielt. Nur mühsam konnte sie die Tränen zurückhalten.

Die Zwillinge schätzten keine abendlichen Besuche und ließen sich beim Puddingessen nicht stören, sagten nur »Hallo« und ließen es sich schmecken. Das war gut so, denn Jessica kämpfte noch immer mit den Tränen, und Anneka schaute ihre Mami ganz betreten an.

Die Kinder ließen sich dann auch nicht mehr blicken. Jessica konnte ungestört ihre Geschichte erzählen, und wurde auch von Fee und Daniel nicht unterbrochen.

»Den Anfang kennen Sie ja«, begann Jessica. »Ich schwebte auf Wolken, fühlte mich als glücklichste Frau der Welt, und das hielt wenigstens ein halbes Jahr an. Dann fuhr Victor zu Filmaufnahmen nach Kanada. Eigentlich war es geplant, daß ich ihn begleiten sollte, aber dann sagte er, daß es dem Regisseur nicht recht sei, weil ich störend wirken würde. Eifersüchteleien sollten vermieden werden. Da wußte ich allerdings noch nicht, daß Victor mal mit Audrey Burnes ein Verhältnis hatte. Ich habe sowieso alles erst nach und nach erfahren. Ich saß also in dem wirklich wunderschönen Haus, in dem ich gern einiges verändert hätte, aber damit hätte ich Victor auf die Palme gebracht. Er hatte seinen eigenen Geschmack, und er entpuppte sich als ausgemachter Macho. An Belehrungen mußte ich schon manches einstecken, aber er wurde wenigstens nicht aggressiv. Gäste hatten wir selten, aber wir wurden häufig eingeladen. Ich mußte mich jedoch überall als Außenseiter fühlen. Vielleicht war ich diesbezüglich auch zu empfindlich. Leslie Howard zum Beispiel versuchte Kontakt zu mir zu bekommen, aber das haben unsere Männer weitgehend unterbunden. Später erfuhr ich auch, warum das so war, denn Victor und Paul Howard waren sich sehr ähnlich und gaben sich auch immer gegenseitig ein Alibi bei ihren Extratouren. Leslie informierte mich eines Tages darüber, aber dann verschwand sie plötzlich, und man sprach davon, daß sie ihren Mann verlassen hätte. Ich war inzwischen schwanger, und Victor war sehr nett zu mir. Ich hatte ihm ja nie etwas nachgetragen. In meinen Augen war er eben ein Star, der seine Launen haben durfte. Laura kam zur Welt, und er zeigte sich gern als glücklicher Vater. Ich wurde mehr und mehr zu einem Schattendasein verbannt. Er hatte dauernd etwas an mir auszusetzen. Ich erholte mich auch lange nicht von der ziemlich schweren Geburt. Heute weiß ich, daß meine seelische Verfassung daran schuld war. Dann gab es auch schon die ersten Differenzen, weil meine Zinsen so unregelmäßig eintrafen. Einige Zertifikate hatte ich ausgezahlt bekommen, und ich hatte bis dato kein Geld von Victor gebraucht. Nun blieb das Geld aus, und Victor teilte mir ein recht spärliches Taschengeld zu. Heute sehe ich alles mit anderen Augen. Geld ist schon lange nicht mehr wichtig für mich, aber ich war es ja nicht gewohnt, etwas zu verdienen. Ich hatte das Kind, aber Victor bestand darauf, eine Kinderschwester ins Haus zu nehmen. Ich will gar nicht abstreiten, daß er Laura liebt, aber ich merkte dann, daß er sie allein als seine Tochter betrachtete. Sie ist ein besonders hübsches Kind.«

»Kein Wunder bei der Mutter«, warf Fee zur Aufmunterung für Jessica ein.

»Victor behauptet, daß sie nur ihm ähnlich sähe. Mir gegenüber zeigte er sich von der brutalen Seite. Ich will das nicht im einzelnen schildern, aber es war blankes Entsetzen, als er mich zum ersten Mal schlug, und nur, weil ich ihn gefragt hatte, wo er gewesen sei, als er erst in den Vormittagsstunden heimkam. Es wurde immer schlimmer. Noch wußte ich nichts davon, daß er Ärger mit dem Produzenten hatte und Audrey ihn erpreßte. Er muß ein illegales Geschäft gemacht haben, womit weiß ich nicht, aber ich kann vermuten, daß es sich um Drogen handelt.

Als ich dann soweit war, ihn zu fragen, ob es nicht besser sei, wenn wir uns scheiden lassen, mißhandelte er mich so, daß ich nicht mehr richtig reden konnte. Er ließ mich in ein Nervensanatorium bringen mit der Behauptung, daß ich mit dem Messer auf ihn losgegangen sei.

Er wies einen Schnitt am Arm vor, den jemand anderes ihm zugefügt haben mußte oder er selbst. Ich auf keinen Fall, aber mir glaubte niemand. Es war alles so irrsinnig, daß ich dann selbst fast glaubte, nicht mehr bei Verstand zu sein. Ich war verzweifelt, weil ich Laura nicht sehen konnte. Als ich dann endlich wieder frei war und sie sehen konnte, rief sie: ›Tu mir nichts, Mummy, ich habe Angst.‹ Das hat ihr Victor wohl einstudiert. Er hatte die Scheidung eingereicht. Ich erhob keine Einwände, aber ich wollte um das alleinige Sorgerecht für Laura kämpfen. Es erschien mir fast als Wunder, als ihm nur das Besuchsrecht zugesprochen wurde. Laura hatte sich wieder an mich gewöhnt. Ich traf schon Vorkehrungen, nach München zu­rückzukehren. Selbstverständlich wollte ich sie mitnehmen. Das wußte Victor durch eine einstweilige Verfügung zu verhindern. Dann geriet ich zweimal in Lebensgefahr. Einmal zusammen mit Laura, als wir beinahe überfahren wurden, ein zweites Mal allein, als meine Bremsen versagten und ich meinen Wagen gerade noch in ein Gebüsch setzen konnte. Aber mir wurde kein Glauben geschenkt, als ich das als Anschlag bezeichnete. Ich mußte fürchten, daß Victor mich erneut in eine Nervenanstalt bringen lassen wollte. Ich beschloß, heimlich mit Laura zu verschwinden, aber er kam mir zuvor, und er hatte es erreicht, daß ich mich laut Gerichtsbeschluß von ihm und dem Kind fernhalten sollte, da ich angeblich eine akute Gefährdung für Lauras Leben darstellte.

Da ich nun wußte, daß ich drüben keine Hilfe erwarten durfte, beschloß ich, es von hier aus zu versuchen.«

Fee und Daniel tauschten einen Blick, der viel ausdrückte, aber vor allem Besorgnis. Jessica registrierte es anscheinend sofort.

»Meinen Sie, daß ich genug damit zu tun habe, meine Vermögenslage zu klären? Ich habe schon einen Detektiv beauftragt, mir hinreichende Informationen über Kollberg zu beschaffen. Aber um das Geld mache ich mir weniger Sorgen, als um das Leben meines Kindes. Nach allem, was ich Ihnen geschildert habe, mag es rachsüchtig klingen, aber ich glaube, daß Victor paranoid, wenn nicht gar schizophren ist. Auf jeden Fall ist er gewalttätig, und wenn man ihm widerspricht, rastet er aus.«

»Meinen Sie, daß das Kind ihm widersprechen wird?«

»Laura könnte sagen, daß sie wieder zu mir will. Sie ist nicht mehr gar so klein, und sie hat schon ein paarmal gemerkt, daß Victor sehr aggressiv wird. Sie ist ein intelligentes Kind und wird ihm zumindest Fragen stellen, wo ich bin. Das wird ihn reizen.«

»Konnten Sie denn mit gar niemandem sprechen, Jessica?« fragte Fee.

»Was immer ich auch versuchte, man hielt sich bedeckt. Wahrscheinlich wollte sich keiner in die Nesseln setzen, oder möglicherweise vor Gericht zitiert werden.«

»Und diese Leslie?«

»Ich weiß nicht, was aus ihr geworden ist. Sie hat es als Schauspielerin nicht weit gebracht, aber schlecht war sie eigentlich nicht. Ich nehme an, daß ihr Mann sie nicht hochkommen lassen wollte. Es gefällt diesen Männern nicht, eine erfolgreiche Frau neben sich zu haben, die sie vielleicht sogar in den Schatten stellen könnte.«

»Sie deuteten an, daß Victor mit Kollberg gemeinsame Sache gemacht haben könnte«, warf Daniel ein.

»Es ist nur eine Vermutung, weil er sich über die ausbleibenden Überweisungen nicht so sehr aufregte, da er sonst doch sehr aufbrausend war. Ich hätte mich früher darum kümmern müssen. Ich war einfach zu gutgläubig.«

»Haben Sie denn wenigstens noch eine Aufstellung Ihrer Vermögenswerte?« fragte Daniel.

»Ja, die liegen bei der Bank. Ich hoffe wenigstens, daß Kollberg dort nicht auch abkassiert hat. Auf das Konto wird auch die Miete für mein Elternhaus überwiesen.«

Fee schenkte ihr noch ein Glas Wein ein. »Trinken wir erst mal auf ein gutes Gelingen und daß Sie Laura bald wiederhaben werden. Wir werden Ihnen helfen, Jessica. Es werden sich schon die richtigen Leute finden lassen. Haben Sie sonst noch Pläne?«

Feine Röte stieg jetzt in Jessicas Wangen. »Ja, ich habe ein Drehbuch geschrieben für einen Fernsehfilm. Und ich werde mich in der Liga für die Rechte mißhandelter Frauen engagieren. Die meisten verstecken sich ja, schämen sich, wie ich es auch getan habe. Man traut auch vielen Männern nicht zu, daß sie so brutal sind.«

»Sie sind sehr mutig«, sagte Daniel.

»Mutig? Ich weiß nicht. Ich habe so viele Demütigungen hingenommen, daß ich mich eine Zeit selbst verachtet habe. Ich muß etwas für mein Selbstwertgefühl tun. Ich muß noch besser kämpfen lernen. Es bringt nichts, wenn ich mich jede Nacht in den Schlaf weine. Übrigens habe ich hier zum ersten Mal wieder richtig geschlafen. Glauben Sie an Träume?«

»Man kann manchen Träumen schon eine gewisse Bedeutung geben«, sagte Fee.

»Dann gibt mir mein Traum Hoffnung. Ich träumte nämlich, daß ein Mann mir Laura brachte, ein fremder Mann, aber ich hielt mein Kind in den Armen.«

Wenn es nicht nur ein Wunschtraum war, dachte Fee.

»Und was war das für ein Mann?« fragte sie.

»Es war nicht Victor, wenn Sie das denken. Ich habe diesen Mann ganz deutlich gesehen, und Sie werden es sicher nicht für möglich halten, aber ich meinte ihn auch vorhin in der Hotelhalle zu sehen. Es klingt natürlich unwahrscheinlich, aber zumindest sah er dem Mann aus meinem Traum sehr ähnlich.«

»Sie haben ihn vorher nicht gesehen?« fragte Daniel.

»Nein, erst als ich aus dem Lift stieg. Er stand an der Rezeption, als Sie kamen, um mich abzuholen. Ich war völlig verwirrt.«

Fee und Daniel dachten das gleiche, nämlich, daß Jessica zwischen Traum und Tag lebte. Aber einen Vorwurf konnte man ihr nach allem, was sie erlebt hatte, daraus nicht machen. Und schon gar nicht wollten sie ihr die Hoffnung zerstören, ihr Kind wiederzusehen.

Sie versprachen ihr, sich mit ein paar Leuten, die gute Beziehungen hatten, in Verbindung zu setzen.

»Man müßte eine Brücke nach Amerika schlagen, um ständige Kontakte halten zu können«, sagte Daniel nachdenklich. »Welcher Arzt hat Sie behandelt, Jessica?«

»Dr. Hatkins. Er hat mir auch geholfen, daß ich nicht länger in dem Sanatorium bleiben mußte. Er war sicher korrekt, aber ob er mir wirklich alles geglaubt hat?«

»Haben Sie Unterlagen?«

»Ich habe alles mitgebracht, was ich im Besitz habe«, nickte Jessica. »Auch Fotos von Laura.«

Sie nahm alles aus ihrer Aktentasche. Fee zog es das Herz zusammen, als sie das süße Kindergesicht sah. Auch zwei Fotos von Victor hatte Jessica mitgebracht. Und dann einige Dokumente, deren Inhalt Fee frösteln ließ, da man Jessica zur unzuverlässigen, krankhaft eifersüchtigen Mutter stempeln wollte. Die Formulierungen waren teilweise beleidigend. Die Gutachten der Ärzte behielt Daniel. Sie sagten nichts aus, was ihr vor Gericht hätte schaden können.

»Ist es Ihnen recht, wenn ich mich mit den Kollegen in Verbindung setze?« fragte Daniel.

»Wenn Sie sich die Mühe machen wollen? Aber für die Ärzte war ich eine von vielen, keiner kannte mich richtig.«

»Von Santorros Anwalt ist wohl kaum Hilfe zu erwarten«, meinte Fee. »Seine Formulierung läßt darauf schließen, daß er von Santorro beeinflußt wurde.«

»Alle wurden sie von ihm beeinflußt, aber da war er auch noch der große Star. Vielleicht hat sich etwas geändert, da er nun auch Federn lassen mußte. Ich werde kämpfen. Hier fühle ich mich sicherer. Es macht mir Mut, mit Ihnen reden zu können. Hoffentlich fühlen Sie sich nicht belästigt.«

»Das wollen wir nie wieder hören«, sagte Fee. »Wir sind immer für Sie da, Jessica. Betrachten Sie uns als Freunde.«

Tränen lösten sich aus Jessicas langen Wimpern. »Ich bin so unendlich dankbar«, flüsterte sie.

*

Daniel brachte Jessica zum Hotel zurück.

Nadine Sontheim, die Besitzerin, kam gerade aus dem Speisesaal, in dem ein größeres Essen stattfand.

»Nett, dich mal wieder zu sehen, Daniel«, sagte sie. »Frau de Wieth? Wir haben uns noch nicht persönlich kennengelernt. Ich hoffe, sie fühlen sich wohl bei uns.«

»Ja, sehr.«

»Bei der Gelegenheit kann ich Ihnen gleich sagen, daß Dr. Vreden Sie höflichst um ein Gespräch bittet. Dich wird er auch aufsuchen, Daniel.«

»Darf ich fragen, wer dieser Dr. Vreden ist? Ein Kollege?« Daniel sah sie erwartungsvoll an.

»Nein, er hat mit der Filmgesellschaft zu tun, bei der Kollberg beteiligt war. Er war angenehm überrascht, daß Frau de Wieth auch hier wohnt. Er hat Sie wohl vorhin zufällig gesehen.«

Der Mann aus Jessicas Traum etwa? ging es Daniel durch den Sinn. Dann konnte man wohl doch an die Bedeutung von Träumen glauben. Fee würde das gefallen.

»Wann kann ich Dr. Vreden treffen?« fragte Jessica.

»Er frühstückt um neun Uhr. Wäre Ihnen das zu früh?«

»Nein, ich habe viel zu erledigen. Danke für die Nachricht. Mich interessiert alles, was mit Kollberg zusammenhängt.«

»Eine üble Geschichte, aber man weiß überhaupt nichts Genaues. Es tut mir leid, wenn Sie zu den Opfern gehören.«

»Er war mein Nachlaßverwalter.«

Nadine und Daniel tauschten einen bedeutungsvollen Blick. Dann verabschiedete sich Daniel.

»Darf ich Sie noch zu einem Schlummertrunk einladen?« fragte Nadine.

»Vielen Dank, ich sage nicht nein.«

»Das ist recht. Setzen wir uns in mein Büro.«

Der Schlummertrunk wurde auch prompt gebracht, und er schmeckte köstlich.

»In einem Hotel hört man vieles«, sagte Nadine. »Ich habe auch einiges über Kollberg gehört. Er hatte ja Fäden in alle Welt geknüpft. Ich weiß natürlich auch, daß Sie mit Victor Santorro verheiratet waren. Wir haben auch noch ein Hotel in Valencia. Dort hat er mal gewohnt: Es muß schon etwa zehn Jahre her sein. Ich habe damals gerade noch gelernt.«

»Waren Sie von ihm beeindruckt?«

»Das kann ich nicht behaupten. Ich hatte schon meinen Mann kennengelernt, und da konnte mich kein anderer mehr beeindrucken.«

»Hätte ich nur vorher auch schon Erfahrung mit Männern gehabt. Aber lassen wir das Thema. Ich möchte wahrlich nicht von ihm träumen. Meine Illusionen wurden gründlich zerstört.«

»Das geht vielen Frauen so. Es tut mir leid, daß Sie bittere Erfahrungen machen mußten. Ich habe gute Verbindungen nach USA. Wenn ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann, sagen Sie es ruhig.«

»Mir würde es am meisten nützen, wenn mir jemand sagen könnte, wo sich Santorro mit meiner Tochter aufhält. Aber das weiß anscheinend niemand.«

»Manchmal hilft der Zufall«, sagte Nadine aufmunternd.

Aber sie hütete sich, ein Wort darüber zu verlieren, daß sie sich bereits mit Julian Vreden über Jessica unterhalten hatte.

Bevor Jessica einschlief, dachte sie an den Mann aus ihrem Traum, der in der Hotelhalle lebendig ­geworden war.

*

Sie war so müde, daß sie dann sofort eingeschlafen war, aber kurz nach acht Uhr erwachte sie. Gleich dachte sie daran, daß sie Dr. Vreden beim Frühstück treffen konnte.

Sie ging ins Bad und duschte ausgiebig. Dann überlegte sie, was sie anziehen könnte. Warum wollte dieser Mann sie sprechen? Warum hatte er sie so seltsam angesehen. Woher kannte er ihren Namen?

Hatte er ihn gestern zum ersten Mal gehört oder schon vorher im Zusammenhang mit Kollberg? All das ging ihr durch den Sinn, und dabei verstrich die Zeit. Bis sie ihre Morgentoilette beendet hatte und angekleidet war, war es schon neun Uhr geworden.

Sie konnte es nicht verhindern, daß ihr Herz schneller schlug, als sie mit dem Lift abwärts fuhr und dann zum Frühstücksraum ging.

Sie sah ihn sofort, und er hatte auch zur Tür gesehen und sprang gleich auf.

Er küßte ihr die Hand, und sie errötete. »Es freut mich, daß Sie Zeit für mich haben«, sagte er mit dunkler Stimme. Er war ein ganz anderer Typ als Victor, und das beruhigte sie ungemein. Er war eine Persönlichkeit, imponierend und auf eine besondere Weise faszinierend.

»Die Vorsehung hat ihre eigenen Gesetze«, sagte er. »Ich war darauf vorbereitet, nach Ihnen suchen zu müssen und dann treffe ich Sie hier.«

»Warum wollten Sie mich suchen?« fragte Jessica konsterniert.

»Die Affäre Kollberg. Ich wurde benachrichtigt, daß Sie nach München kommen, um mit der Bank zu sprechen und sich Aufklärung über Kollberg zu verschaffen. Und Frau Möller sagte mir, daß möglicherweise Dr. Norden wüßte, wo Sie sich aufhalten.«

»Frau Möller?« wiederholte Jessica fragend.

»Christa Möller, Kollbergs Haushälterin.«

»Christa, guter Gott, an die habe ich gar nicht mehr gedacht. Sie wollte doch heiraten. Aber anscheinend hat sie das auch, denn früher hieß sie doch Neubert, wenn ich mich recht erinnere.«

»Ja, so ist es. Wir haben uns bemüht, Auskünfte bei allen zu bekommen, die mit Kollberg zu tun hatten, und Frau Möller konnte uns recht gut weiterhelfen.«

»Christa war eine sehr nette Frau. Ich glaube, sie hatte sehr viel für Kollberg übrig«, sagte Jessica gedankenverloren.

»Bis sie ihn durchschaute. Sie hat zum Glück einen sehr anständigen und soliden Mann gefunden. Aber damals ahnte sie auch nicht, daß Kollberg sich in kriminelle Machenschaften einlassen würde, und schon gar nicht, daß er Sie auch betrügen würde.«

»Darf ich fragen, was Sie mit dieser Geschichte zu tun haben?« Jessica wappnete sich mit Abwehr. Sie wollte diesem Mann nicht sofort Vertrauen schenken, wenn er auch noch so vertrauenswürdig wirkte.

»Ich bin an der Filmgesellschaft beteiligt und natürlich daran interessiert, daß der Schaden, den er angerichtet hat, begrenzt wird. Kollberg hatte eine sehr enge Verbindung zu Ihrem Mann, wie ich erfahren habe.«

»Zu meinem geschiedenen Mann«, betonte Jessica. »Wie eng diese Verbindung war, weiß ich nicht. Es würde mich interessieren. Vielleicht haben sie mich gemeinsam betrogen. Jedenfalls lernte ich Santorro durch Kollberg kennen, und ich halte es für möglich, daß ich auf raffinierte Weise verkuppelt wurde, ohne es in meiner Naivität zu bemerken. Sie dürfen es mir bitte nicht verübeln, daß ich durch meine bitteren Erfahrungen sehr mißtrauisch geworden bin.«

»Dafür habe ich Verständnis, aber ich möchte Ihnen nachdrücklich versichern, daß Sie mir vertrauen dürfen. Ich konnte mich informieren, daß Sie ein beträchtliches Vermögen geerbt haben, das Kollberg verwalten sollte.«

»Mein Vater war mit ihm befreundet und hat ihm absolut vertraut. Er benahm sich mir gegenüber als guter Onkel. Ich muß leider zugeben, daß ich ihn auch so sah.«

»Er hat auch uns täuschen können. Es scheint so, daß er sich an fremdem Geld erst vergriffen hat, als er sein eigenes Vermögen verspielt und verspekuliert hatte. Er rutschte immer tiefer in das Dilemma, aus dem er sich wohl heraushelfen wollte. Mr. Santorro scheint ihm dabei sehr behilflich gewesen zu sein, indem er sich Filme von Kollberg finanzieren ließ, die dann aber Verlustgeschäfte wurden.«

»Und dann hat er mir auch noch meine Tochter gestohlen«, sagte Jessica tonlos. »Aber vielleicht habe ich nun doch eine Möglichkeit, Laura wiederzubekommen, wenn ich nachweisen kann, daß er mit Kollberg zu meinem Schaden gemeinsame Sache machte.«

»Vielleicht gewinne ich Ihr Vertrauen soweit, daß Sie mir erzählen, was Ihnen angetan wurde. Ich weiß nur, was in der Regenbogenpresse berichtet wurde, und das sollte man nicht glauben.«

»Ich bin dabei bestimmt nicht gut weggekommen. Santorro war doch der große Held, der vorbildliche Vater, der sich seiner verrückten Frau erwehren mußte.«

»Na, so schlimm war die Berichterstattung auch wieder nicht«, sagte Julian Vreden mit einem Anflug von Humor. »Ich kenne mich außerdem in dem Geschäft aus und weiß, was ich von Sensationsberichten zu halten habe. Es war ja schon bekannt, daß Santorro nicht mehr die Popularität genoß wie vor Jahren. Er hat sich überschätzt. Er wurde größenwahnsinnig.«

»Mich hat er zur Wahnsinnigen gestempelt. Es ist Ihnen vielleicht bekannt, daß ich einen Nervenzusammenbruch hatte und in ein Sanatorium kam. Niemand hat berichtet, daß ich von ihm zusammengeschlagen wurde, daß ich nicht mehr klar denken konnte. Wer hätte ihm denn so etwas zugetraut? Er hatte ja auch Freunde, die genauso skrupellos und brutal waren wie er. Er kannte auch einen Arzt, der ihm abnahm, daß ich in betrunkenem Zustand die Treppe herabgestürzt war. Dabei habe ich nie einen Tropfen Alkohol getrunken, außer mal in Gesellschaft ein Glas Sekt. Aber darüber will ich jetzt gar nicht reden. Es geht darum, ihm nachzuweisen, daß er mich gemeinsam mit Kollberg betrogen hat, denn das wäre wohl das einzige, was ich gegen ihn vor Gericht vorbringen kann.«

»Es ist nicht das einzige«, sagte Julian Vreden. »Wenn Sie es mir gestatten, werde ich Ihnen helfen, Ihre Tochter zu finden.«

Jessica dachte wieder an ihren Traum. Sollte es Wirklichkeit werden, was sie in dieser ersten Nacht in München geträumt hatte?

Sollte es dieser Mann sein, der ihr Laura wiederbrachte? Ihr Herz schlug schnell, und ihr wurde fast schwindelig bei dem Gedanken.

»Ich kann es nicht glauben, daß mir noch jemand helfen kann«, sagte sie bebend.

»Sie sollten aber ganz fest daran glauben. Ich weiß, daß es schwer ist, wieder Vertrauen zu gewinnen, wenn man so betrogen wurde, aber es sind nicht alle Menschen schlecht. Sie haben doch auch Vertrauen zu Dr. Norden, wie ich gestern abend feststellen konnte.«

»Ich kenne ihn und seine Frau schon lange.«

»Darf ich Sie bitten, mich jetzt auch besser kennenlernen zu wollen? Ich möchte Ihnen sehr gern helfen, weil es mich wütend macht, wie Kollberg mit dem ihm anvertrauten Erbe umgesprungen ist. Es ging immerhin um die Tochter eines Freundes, der ihn schätzte. Es war ein eklatanter Vertrauensbruch, besonders weil er mit Santorro gemeinsame Sache machte.«

»Wenn ich das nur gewußt hätte«, sagte Jessica leise.

»Ich hätte doch eine ganz andere Ausgangsposition gehabt. Wahrscheinlich hat er allen weißgemacht, daß ich finanziell von ihm abhängig bin. Ich weiß momentan nicht, was ich denken soll, Herr Dr. Vreden.«

»Ich heiße Julian, darf ich Jessica sagen? Wir werden jetzt an einem Strang ziehen, und ich verspreche Ihnen, daß ich schnellstens etwas unternehmen werde, um Santorro zu finden.«

»Und Kollberg, weiß man schon, wo er sich aufhält?«

»In der Schweiz, soviel ist sicher, aber er wird an kein Fremdkonto herankommen, wenn er auch Vollmachten besitzt. Ich habe entsprechende Vorkehrungen getroffen. Ich denke, daß auch Ihre Verluste in Grenzen gehalten werden können.«

»Ich habe einen Detektiv eingeschaltet, der einen sehr guten Eindruck machte. Sie können sich auch mit Herrn Kühne in Verbindung setzen.«

Sie ist nicht hilflos, dachte Julian.

Sie machte sogar einen sehr entschlossenen Eindruck auf ihn, und das freute ihn.

»Wenn Sie Geld benötigen, helfe ich gern aus«, sagte er. »Sie brauchen sich keine Gedanken zu machen, Sie haben bestimmt nicht alles verloren.«

»Ich will jetzt zur Bank fahren. Ich habe schon einen Termin mit dem Bankdirektor ausgemacht.«

»Darf ich Sie hinbringen? Ich muß sowieso in die Stadt fahren zu meinem Anwalt. Können wir uns dann nachmittags wieder treffen?«

»Ich weiß nicht, wann ich zurück bin, aber Sie können das ja im Hotel erfahren.«

»Würden Sie mir noch sagen, zu wem Santorro eine enge Beziehung hatte?«

»Paul Howard, mit ihm war er fast ständig zusammen. Leslie Howard war in der gleichen Situation wie ich, aber sie verschwand plötzlich. Ich weiß nicht, was aus ihr geworden ist.«

»Eine recht gute Schauspielerin. Sie filmt auch in England.«

»Ist das sicher? Ich würde sie gern wiedersehen. Es wurde von den Männern verhindert, daß wir uns näher kennenlernten.«

»Dann werde ich ein Treffen arrangieren.«

Jessica sah ihn staunend an.

»Jetzt glaube ich doch fast, daß Sie der Himmel zu mir geschickt hat.«

»Ich bin aber kein Engel«, sagte er lächelnd. »Und jetzt werde ich einigen Leuten die Hölle heiß machen!«

*

Julian brachte sie zur Bank. Beim Abschied hielt er ihre Hand sekundenlang fest. »Kopf hoch, Jessica, Sie sind nicht allein, Sie haben Mitstreiter. Es wäre doch gelacht, wenn wir nicht bald einige Schritte weiter wären.«

»Wenn nur Laura gesund zu mir zurück kommt, mehr wünsche ich mir nicht«, erwiderte sie mit erstickter Stimme.

Mit sehr gemischten Gefühlen betrat sie die Bank. Der Bankdirektor Jost empfing sie höflich, wirkte aber etwas unsicher.

»Sie dürfen mir glauben, daß mir diese Angelegenheit mit Dr. Kollberg sehr peinlich ist, aber wir hatten keinen Anlaß, ihm zu mißtrauen. Selbstverständlich haben wir Ihr Schließfach nicht geöffnet und das Mietkonto wurde nicht angerührt. Schließlich versicherte er uns aber glaubhaft, daß einige Zertifikate in Ihrem Auftrag verkauft werden sollten und der Erlös wurde auf Ihr Konto in Los Angeles transferiert.«

»Das können Sie ja sicher belegen«, sagte Jessica ruhig.

»Selbstverständlich, gnädige Frau.«

»Ich brauche die Beweise, da ich das Geld nie bekommen habe.«

»Ich verstehe das alles nicht. Ich muß jedoch zugeben, daß Dr. Kollberg uns auch Verluste zugefügt hat. Ich darf mich nicht darüber äußern, da es in ein schwebendes Verfahren eingreift. Natürlich sind auch wir interessiert, daß diese mysteriöse Angelegenheit aufgeklärt wird.«

»Was mich betrifft, kann ich sagen, daß ich von Kollberg, wie auch von Santorro betrogen worden bin. Ich möchte jetzt Gewißheit haben, was mir überhaupt noch geblieben ist. Ich brauche vor allem auch die Aufstellung über die Vermögenswerte zum Zeitpunkt des Todes meiner Eltern, als die Verwaltung von Kollberg übernommen wurde.«

Jost ging mit ihr in den Tresorraum. Ihr Schließfach wurde geöffnet, und die Kassette stand nun vor ihr. Sie war ziemlich schwer, so daß sie daraus schließen konnte, daß ihr Inhalt unberührt war, was ihr von Jost auch nochmals versichert wurde.

Der Schmuck ihrer Mutter und auch der ihrer Großmutter war vollständig vorhanden. Von diesem hatte Santorro auch nichts gewußt. Für sie waren es Erinnerungsstücke, die sie selbst gar nicht tragen wollte. Jedenfalls damals nicht. Auch ein Etui mit Goldbarren war vorhanden und eine Liste mit allen Vermögenswerten, wie auch drei Sparbücher mit erklecklichen Beträgen.

Die Konten bestanden jedoch bei einer anderen Bank. Jessica nahm die Bücher und die Liste an sich, die Kassette ließ sie wieder einschließen.

Dann kontrollierte sie noch das Mietkonto, von dem nur laufende Kosten, die das Haus und die Instandhaltung betrafen, abgebucht waren. Es waren jedoch fast sechzigtausend Mark Guthaben vorhanden.

Jessica bekam ein Scheckheft für dieses Konto ausgehändigt, dann konnte sie die Bank wieder verlassen. Sie ließ einen Bankdirektor zurück, der etwas aufatmen konnte. Ganz rein war sein Gewissen nicht, was Kollberg anbetraf und die Überweisungen auf Santorros Konto, von denen Jessica anscheinend gar nichts erfahren hatte.

Er konnte von Glück sagen, daß der Inhalt des Schließfachs noch vorhanden war, denn um ein Haar hätte Jessica diesen leer vorgefunden. Aber gerade der Zweitschlüssel, den Kollberg hatte anfertigen lassen, war ihm zum Verhängnis geworden, da er bereits überwacht und gefaßt wurde, als er den Schlüssel abholen wollte. So war festgestellt worden, daß der Schlüssel zu Jessicas Schließfach gehörte.

Jost hatte ihr das wohlweislich verschwiegen. Aber wohl war ihm nicht bei dem Gedanken, daß doch noch herauskommen könnte, daß er einen engen persönlichen Kontakt zu Kollberg gehabt hatte und dieser manchen Tip von ihm bekommen hatte. Das allerdings konnte nur Kollberg preisgeben. So war es verständlich, daß Jost hoffte, der andere würde auf Nimmerwiedersehen verschwunden sein.

Das jedoch war nicht der Fall. Günter Kollberg sollte bald merken, daß seine Pechsträhne ihn in einen Abgrund führte. In den Schweizer Banken wurden ihm die Türen vor der Nase zugeschlagen. Er sah keinen Ausweg mehr. Er sah sich schon hinter Gittern, und das war ihm doch unerträglich. Er setzte sich in seinen Wagen und fuhr zurück nach Deutschland, um aus einem sicheren Versteck das zu holen, was ihm helfen sollte, ein Exil zu finden, wo man ihn so schnell nicht aufspüren könnte. Aber als er an der Grenze aufgehalten werden sollte, packte ihn Panik. Er trat aufs Gaspedal, um dann gleich an das erste Hindernis zu krachen. Er war nicht tot, wie er es sich in der letzten Schrecksekunde vielleicht gewünscht hatte. Er wurde schwer verletzt in das nächstgelegene Krankenhaus gebracht.

Die Meldung wurde weitergegeben nach München.

*

Jessica war zu der anderen Bank gefahren mit den drei Sparbüchern in der Tasche. Man schaute sie dort recht merkwürdig an? als sie diese vorlegte, aber sie wurde dann überhöflich behandelt, als sie ihre Ausweise vorlegte. Es wurde ihr gesagt, welche Dokumente und Bescheinigungen sie vorzulegen hatte, damit die Konten auf sie überschrieben werden konnten. Nun wußte sie, daß sie noch allerhand zu tun haben würde, um dies alles zu beschaffen. Aber jetzt war sie schon zuversichtlicher. Gewiß war das, womit sie jetzt rechnen konnte, nur ein Bruchteil dessen, was ihre Eltern hinterlassen hatten, aber sie dachte, daß es vielen Menschen weit schlechter ging als ihr. Sie konnte sich überhaupt nicht vorstellen, daß es Menschen gab, die nie zufrieden waren und immer mehr haben wollten. Erst recht hatte sie kein Verständnis für Menschen wie Kollberg, die sich auf Kosten anderer bereicherten und dann alles verspielten.

Wie oft konnte man von Millionenbetrügern lesen, die jahrelang hohes gesellschaftliches Ansehen genossen und skrupellos und schamlos ihre Mitmenschen ausbeuteten, bei denen sie ein und aus gegangen waren. Wie auch Kollberg.

Wenn meine Eltern das wüßten, dachte Jessica. Unwillkürlich richtete sich ihr Blick zum Himmel.

»Hallo«, sagte eine dunkle Männerstimme, »welch ein Zufall! Oder sollte man es schon Schicksalsfügung nennen, Jessica?«

Heiße Glut schoß ihr in die Wangen. Er hatte es wirklich nicht wissen können, daß sie zu dieser Zeit hier sein würde, und so glaubte nun auch sie an eine schicksalhafte Fügung.

»Was machen Sie denn hier?« entfuhr es ihr.

»Ich war auf dem Präsidium. Und was führt Sie in diese Gegend? Lust auf einen Einkaufsbummel?«

»Nein, danach steht mir nicht der Sinn. Ich war noch auf einer anderen Bank, und jetzt habe ich Hunger.«

»Haben Sie seit dem Frühstück noch nichts gegessen?« fragte Julian.

»Nein, daran habe ich gar nicht gedacht. Ich muß soviel anderes denken, und jetzt möchte ich eigentlich nur Kaffee trinken und Kuchen essen.«

»Da würde ich auch nicht

nein sagen. Darf ich mich anschließen?«

Sollte sie sagen, wie froh sie war, ihn zu sehen?

Er gab ihr ein unbekanntes Gefühl der Sicherheit. Ja, sie wußte schon, daß sie sich auf ihn verlassen konnte.

»Jetzt sieht alles schon besser aus«, sagte sie.

»Nach dem Bankbesuch?« fragte er.

»Alles hat er mir nicht genommen. Das ging wohl doch nicht, aber ich habe das Gefühl, daß der Bankdirektor kein reines Gewissen hat. Ich will ja nichts sagen, aber er hat sich ein bißchen merkwürdig verhalten.«

»Er wird bestimmt auch noch überprüft. Aber ich kann mit einer brandneuen Nachricht aufwarten, die ich soeben erfahren habe. Kollberg ist bei dem Versuch, einer Zollkontrolle auszuweichen, gegen einen abgestellten Lastwagen gerast.«

»Ist er tot?« fragte Jessica unbewegt.

»Nein, er ist schwer verletzt, aber er wird nach München geflogen. Man hofft doch, daß er noch einiges zur Aufklärung beitragen kann.«

»Ist das jetzt noch wichtig? Die Betrogenen haben nichts davon, wenn er auch am Leben bleibt.«

»Ich glaube nicht, daß er als armer Mann sterben wird«, sagte Julian.

»Aber wer wird ihn beerben? Meinen Sie, daß sein Erbe wenigstens versuchen würde, gutzumachen, was er angerichtet hat?«

Es war müßig darüber zu rätseln. Sie gingen in ein nahegelegenes Cafe, und obgleich es sehr gut besucht war, fanden sie einen Tisch, der nur Platz für Zwei hatte. Sie nahmen keine Notiz davon, daß sie neugierig gemustert wurden. Sie waren ein attraktives Paar.

Nachdem sie sich schon gelabt hatten, sagte Jessica plötzlich,daß sie mit Kollberg sprechen wolle, wenn es möglich wäre.

»Ich möchte unbedingt erfahren, wie lange er mit Santorro schon Geschäfte machte. Vielleicht war es das, womit Audrey Burnes ihn erpreßt hat. Sie könnte es gewußt haben.«

Julian sah sie überrascht an. »Er wurde erpreßt?«

»Habe ich das noch nicht gesagt? Nein, den Nordens hatte ich es erzählt. Von Leslie hatte ich erfahren, daß er ein Verhältnis mit Audrey hat.«

Es war nun mal das Thema, dem sie nicht ausweichen konnten. Julian hätte sie gern auf andere Gedanken gebracht, aber es mußte noch viel geklärt werden.

»Den Weg zum Präsidium können Sie sich sparen, das habe ich schon geregelt«, erklärte er. »Sie werden benachrichtigt, wenn neue Erkenntnisse vorliegen. Man weiß Bescheid, daß wir jetzt in Verbindung stehen, und es genügt, wenn ich mit den Beamten rede.«

Sie war froh, daß er ihr das ersparte, und sie fuhren dann auch gemeinsam zum Hotel zurück.

Dort fand sie eine Nachricht von Dr. Norden vor. Er bat um ihren Anruf. Sie erreichte ihn gerade noch in der Praxis. Er sagte ihr, daß er Verbindung zu Dr. Hatkins aufgenommen hätte und nun auf ein Fernschreiben von ihm warte.

»Wenn Sie morgen zu mir kommen, weiß ich vielleicht schon mehr«, sagte er.

»Ich kann Ihnen auch einiges erzählen«, erwiderte sie. Und sie verabredeten, daß sie wieder nach elf Uhr zu ihm in die Praxis kommen sollte.

Sie war kaum in ihrem Appartement, als ein Anruf von Alfred Kühne kam. Er hatte auch bereits von Kollbergs Unfall erfahren, konnte ihr aber auch noch sagen, daß Kollberg zuletzt in einem Landhaus bei Garmisch gewohnt hätte. Es gehörte ihm.

»Wenn es nicht das Haus ist, das meine Eltern gebaut haben«, sagte sie. »Finden Sie heraus, wer der tatsächliche Eigentümer ist oder vorher war.«

Du lieber Gott, was werde ich noch alles verkraften müssen, sagte sie dann zu ihrem Spiegelbild. Sie sah wieder müde aus und war nicht zufrieden mit sich, da sie sich doch mit Julian zum Abendessen treffen wollte. Er spielte jetzt schon eine bedeutende Rolle in ihrem Leben. Wenn sie ehrlich mit sich selbst war, war er gar nicht mehr wegzudenken.

So schnell konnte sich alles ändern, auch die ganz persönliche Einstellung, aber sie sagte sich auch, daß man nicht Unschuldige büßen lassen dürfe, was andere einem zugefügt hatten.

*

Während Julian und Jessica ihr gemeinsames Abendessen schon beendet hatten und beschlossen, noch einen Spaziergang zu machen, löffelte ein kleines Mädchen im fernen Jamaika lustlos ein Eis.

»Wann darf ich endlich wieder nach Hause, Daddy?« fragte Laura drängend. »Wir sind schon so lange fort.«

»Hier ist es doch schön. Bekommst du nicht alles, was du haben willst?« fragte Victor Santorro gereizt.

»Ich weiß schon, daß du schimpfst, wenn ich von Mummy rede. Warum eigentlich? Sie tut mir doch gar nichts. Sie ist immer lieb.«

»Hör endlich damit auf. Jeden Tag dasselbe Theater«, brauste Victor auf. »Deine Mummy ist nicht lieb. Sie macht mir das Leben zur Hölle. Sie will nicht, daß wir zusammen sind, Baby.«

»Ich bin kein Baby mehr. Ich mag nicht, wenn du auf Mummy schimpfst«, sagte Laura trotzig. »Und überhaupt ist mir gar nicht gut. Ich mag auch nicht dauernd Eis haben, und mir ist langweilig.«

»Dann fahren wir eben nach New York, da ist es nicht langweilig.«

»Mußt du gar nicht mehr filmen?«

Das hätte sie lieber nicht fragen sollen, denn das war ein wunder Punkt, der ihn in Zorn versetzte. Man schien ihn schon vergessen zu haben. Er war noch keine vierzig Jahre alt und sollte schon eine Nebenrolle spielen.

»Was geht dich das an«, fuhr er das Kind an. »Ich will mit dir zusammensein, das ist mir wichtiger als alles andere.«

»Aber Mummy möchte sicher wissen, wo ich bin. Ich will sie wenigstens mal anrufen«, beharrte Laura.

Er überlegte, ob es nicht besser sei, Laura zurückzubringen. Er hatte keine Ahnung, daß Jessica inzwischen die Staaten verlassen hatte. Ihm wurde es auch lästig, ständig nur mit dem Kind zusammenzusein. Wenn er allein etwas unternehmen wollte und einen Babysitter bestellte, wurde das mit der Zeit teuer. Außerdem machte Laura jedesmal Theater und verlangte noch energischer, zu ihrer Mummy zu fahren.

Er mußte jetzt auch über anderes nachdenken, denn Kollbergs Quelle schien ganz versiegt zu sein. Er wußte nicht, was sich da zusammengebraut hatte. Es war ihm auch nicht geheuer bei dem Gedanken, daß Jessica ihm auf die Schliche kommen könnte, denn dann würde sie etwas in der Hand haben gegen ihn. Natürlich ging es ihm finanziell noch nicht schlecht, aber wenn er keine großen Rollen mehr bekam, mußte er seine Ansprüche schon gewaltig zurückschrauben. Und seit es Ärger mit Audrey gegeben hatte, mußte er auch auf lukrative Nebengeschäfte verzichten, die er gemeinsam mit ihr gemacht hatte.

Er mußte versuchen, wieder mit ihr klarzukommen, aber dabei war ihm das Kind im Wege. Auf die Dauer war Laura ihm sowieso eine Last, aber sie war halt Mittel zum Zweck, Jessica unter Druck zu setzen. Sollte sie tatsächlich etwas unternehmen gegen ihn, was ihm Ärger einbringen konnte, hatte er Laura als Tauschobjekt. Um sie zurückzubekommen, würde Jessica schweigen und alles vergessen, das hatte er sich ausgerechnet.

Es war ja alles okay gewesen, solange sie anbetend zu ihm aufgeblickt hatte, aber dann hatte sie sich plötzlich verändert, hatte aufbegehrt und Selbstbewußtsein entwickelt. Das hatte ihm gar nicht gefallen, denn so war sie für ihn bei seinen Geschäften mit Kollberg zur Gefahr geworden. Aber Kollberg hatte sich auch nicht in die Karten sehen lassen.

Er hat bestimmt kräftig abgesahnt, dachte Victor grimmig. Vielleicht wäre es doch besser gewesen, mit Jessica gegen ihn vorzugehen. Aber es hatte sich eben alles anders entwickelt, und Audrey hatte auch noch ihren Teil dazu beigetragen. Eiskalt und habgierig wie sie war, das Gegenteil von Jessica, aber mit dem Teufel im Leib.

Durch Jessicas Wohlerzogenheit, ihrem damenhaften Auftreten, war ihm erst richtig bewußt geworden, aus welchem Milieu er kam. Er wollte nicht daran erinnert werden, und es machte ihn wütend, wenn andere es so selbstverständlich präsentierten, wie gebildet sie waren. Er war wahrlich kein schlechter Schauspieler, und er hatte Glück gehabt, soweit nach oben zu kommen, aber ihm fehlte eben das gewisse Etwas, das die großen Stars auszeichnete. Er war in das Klischee des Liebhabers gepreßt, der sich durchboxen mußte. Natürlich lagen ihm solche Rollen, aber sie hoben ihn doch nicht über den Durchschnitt hinaus.

Er hatte gemeint, durch Kollberg zu mehr Ruhm zu kommen, indem er sich die Rollen kaufte, die er sonst nicht bekam. Es waren zwei Mißerfolge, und Kollberg war sauer, daß das Geld falsch investiert war und Verlust brachte.

Das alles ging Victor durch den Sinn, ohne daß er sich selbst freilich die Schuld gab.

»Ich will heim, Daddy«, sagte Laura wieder.

»Ich bringe dich heim«, erwiderte er, »aber du mußt deiner Mummy sagen, daß ich immer lieb zu dir war und daß du mich lieber hast als sie.«

»Warum soll ich das sagen?«

»Sonst bringe ich dich nicht heim.« Seine Stimme klang drohend, und das Kind zuckte zusammen.

»Dann sage ich es eben«, flüsterte sie. Doch seine Gedanken waren schon anderswo. Er mußte sich unbedingt mit Audrey versöhnen. Das würde ihm schon gelingen, wenn Laura nicht zwischen ihnen stand.

Laura packte selbst ihre Sachen ein.

Sie dachte an ihre Mummy und weinte dabei still vor sich hin. Sie begriff jetzt schon, daß ihr Daddy nicht so lieb war, wie er selbst sagte, und daß er ihrer Mummy weh tun wollte, wie er ihr schon weh getan hatte. Nur hatte sie das nicht so aufgefaßt, als sie noch kleiner gewesen war. Da hatte sie geglaubt, was ihr eingeredet worden war.

Jetzt wußte sie auch, daß sie ihrem Vater nicht widersprechen durfte, weil er sehr zornig werden konnte, so zornig, daß sie Angst bekam.

Er stand in der Tür. »Du packst ja schon«, sagte er, »das ist brav.«

»Ich bin gleich fertig«, erwiderte sie.

Als er sie betrachtete, kam ihm plötzlich ein Gedanke. Jessica würde alles geben für das Kind, aber wieviel besaß sie noch? Wie hatte Kollberg doch gesagt?

Sie weiß gar nicht, wieviel ihre Eltern hinterlassen haben. Sie wird gar nicht merken, daß wir etwas abzweigen. Es bleibt ja noch genug. Es vermehrt sich von selbst.

Wenn das stimmte und Kollberg die Wahrheit gesagt hatte, mußte sie noch genug haben. Wenn er ihr nun einen Tausch vorschlug, Laura gegen ein paar Millionen? Es konnte klappen, wenn er es geschickt anfing.

Als sie im Flugzeug saßen? machte er Pläne. Laura war eingeschlafen.

Sie störte ihn nicht mit ihrer ewigen Fragerei.

Er hatte sich alles zurechtgelegt, als sie landeten.

Er hatte nur nicht damit gerechnet, daß Jessica weit weg und für ihn unerreichbar war, denn auf den Gedanken, daß sie nach München geflogen war, kam er nicht.

»Wo ist Mummy?« fragte Laura schluchzend.

»Sie kommt schon wieder!« fuhr er sie gereizt an. »Vielleicht ist sie bei Paul.«

Was anderes fiel ihm momentan nicht ein.

»Sie kann Paul nicht leiden, ich mag ihn auch nicht«, sagte Laura.

Sie hörte dann, wie Victor telefonierte, und sie entnahm seinen Worten, daß er etwas mit ihr vorhatte, was ihre Mummy in Aufregung versetzen könnte. Sie hörte auch, daß er sagte, er hätte keine Ahnung, wo sie sein könnte, und dann vernahm sie auch noch ein paar Flüche.

Sie huschte schnell hinaus, als sie seine Schritte vernahm. »Wo bist du, Laura?« rief er.

»Auf der Terrasse«, erwiderte sie.

»Paul ist im Hospital. Ich will ihn besuchen. Du mußt mitkommen.«

»Ich will ihn aber nicht besuchen«, widersprach sie eigensinnig.

»Du kannst im Wagen warten. Ich weiß nicht, was du gegen Paul hast. Er war doch immer nett zu dir.«

»Er kann Kinder überhaupt nicht leiden. Und er hat Mummy belästigt.«

»Wie kommst du denn darauf?«

»Weil ich gehört habe, daß Mummy zu ihm sagte, er soll sie nicht belästigen.«

»Und was hat sie über mich gesagt?«

»Daß ihr nicht mehr zusammen seid, weil ihr euch nicht versteht.«

»Du siehst ja, daß sie nichts von dir wissen will, sonst wäre sie ja hier und hätte auf dich gewartet.«

»Hast du ihr gesagt, daß ich lieber bei dir bin, oder hast du sie geschlagen, daß sie wieder im Krankenhaus ist?«

Sie stand da mit flammenden Augen, voller Abwehr, und er starrte sie fassungslos an.

»Du kannst mich ruhig auch schlagen«, stieß Laura hervor. »Ich will wissen, wo meine Mummy ist.«

»Ich weiß es nicht«, sagte erheiser, »aber wir werden es herausfinden.«

*

Sie fuhren zum Hospital. Es war schwer, einen Parkplatz zu finden. Die Sonne brannte erbarmungslos vom Himmel.

»Du kommst mit herein, du kannst im Wartezimmer warten, hier draußen ist es zu heiß«, sagte Victor.

Laura dachte sich, daß es besser sei, ihm nicht zu widersprechen, denn sein Ton war alles andere als freundlich. Wochen lagen hinter ihr, in denen sie nicht mehr wußte, wohin sie eigentlich gehörte und was ihr Vater noch vorhatte. Sie war nicht mehr so unbefangen, um alles einfach so hinzunehmen.

»Die Leute gucken uns komisch an, findest du nicht, Daddy?« fragte sie.

Er fühlte sich auch unbehaglich, denn das Kind hatte recht. Er schickte Laura ins Wartezimmer, dann fragte er nach Paul Howards Zimmer.

»Sind Sie ein Verwandter?« fragte die Schwester.

Victor ärgerte sich immer, wenn man ihn nicht erkannte, aber jetzt war es ihm ganz recht.

»Ich bin sein Cousin. Ich habe erst heute erfahren, daß er hier liegt. Was fehlt ihm denn überhaupt?«

»Er hatte einen schweren Unfall, wir wußten nicht, wen wir verständigen sollten, außer der Filmgesellschaft.« Sie sah ihn plötzlich forschend an. »Sind Sie nicht Victor Santorro?«

Victor konnte es nicht abstreiten. Aber es beunruhigte ihn, daß er auch von ihr so merkwürdig gemustert wurde.«

»Ich darf Paul doch hoffentlich besuchen?« fragte er.

»Vielleicht ist er gerade wach. Zimmer sieben.«

Ausgerechnet die Sieben, dachte Victor. Eine Zahl, die beide als Unglückszahl betrachteten.

Paul war nicht zu erkennen unter den Verbänden, aber seine Augen waren offen.

»Jetzt bin ich aber wirklich erschrocken, Paul. Was machst du für Sachen?« sagte Victor.

Paul hob die linke Hand, deutete zu dem Nachbarn, der hinter einem Vorhang lag.

»Die Zeitung«, sagte er mühsam. »Wo warst du? Wo ist Laura, und was ist mit Jessica?«

Victor mußte sich sehr anstrengen, um ihn zu verstehen. »Was für eine Zeitung?« fragte er.

»Das kann ich Ihnen sagen«, ertönte eine kräftigere Stimme hinter dem Vorhang. Ich habe es ihm vorgelesen.«

Victor schob den Vorhang zurück und sah nun in ein breites, grinsendes Gesicht.

»Da ist ja der Victor Santorro höchstpersönlich. Ja, wo hat er denn bloß gesteckt?« Es klang fast zynisch, und Victor wurde eine Zeitung entgegengehalten. Die Schlagzeile sprang ihm in die Augen.

Wo ist Victor Santorro? Hat er seine Tochter entführt? Kann er das Verschwinden seiner Frau erklären? Wer hat sie gesehen?

Dann konnte er lesen, daß er von seinem Besuchsrecht Gebrauch gemacht hätte, dann aber mit seiner Tochter untergetaucht sei. Er konnte auch lesen, daß er verdächtigt wurde, mit Jessicas Verschwinden etwas zu tun zu haben.

»Da sitzen Sie wohl ganz schön in der Tinte, Mr. Santorro«, sagte der Patient.

»So ein Unsinn, ich war mit meiner Tochter verreist. Sie ist wohlauf und sitzt im Wartezimmer. Was meine geschiedene Frau inzwischen unternommen hat, kann ich nicht sagen. Was weißt du, Paul?«

»Nichts. Wir sind weg vom Fenster, Vic. Da sitzt ein Supermann am Drücker. Du warst zu lange fort mit Laura.«

»Ich kann doch wohl mit meiner Tochter verreisen.«

»Du hättest sagen müssen, wie lange du wegbleibst und wohin du fährst. Mich haben Sie auch ausgefragt. Jetzt scheint Jessica im Vorteil zu sein, falls sie noch lebt.«

Seine Stimme wurde noch leiser. »Hast du ihr was angetan?«

Victor sprang unbeherrscht auf. »Jetzt ist es aber genug«, zischte er. Er drehte sich um und sah einen Mann an der Tür stehen, der ihm sehr bekannt vorkam. Er hatte schon mit Inspektor Cutter zu tun gehabt.

»Wir haben einige Fragen an Sie, Mr. Santorro«, sagte er.

»Bitte, ich stehe zur Verfügung, aber ich darf wohl erst meine Tochter aus dem Wartezimmer holen.«

»Sie ist hier?«

»Natürlich, wir waren immer zusammen, da meine Frau sich nicht um sie kümmert.«

»Wir haben andere Informationen bekommen. Aber holen wir erst Laura.«

Laura war nicht da. Angeblich hatte niemand sie gesehen. So fassungslos hatte man Victor Santorro selten gesehen.

»Aber wir sind zusammen gekommen, man muß uns gesehen haben«, sagte er. »Laura sagte noch, daß uns die Leute so merkwürdig ansehen. Da wußte ich noch nicht, daß wir gesucht werden. Das kann doch nur Jessica inszeniert haben.«

»Sie irren sich. Mrs. Santorro hat zwar Beschwerde eingelegt, weil Sie mit Laura unbekannten Aufenthaltes waren, aber ihr wurde mitgeteilt, daß Sie das alleinige Sorgerecht beantragt haben. Die Voraussetzungen dafür haben sich geändert.«

»Wieso? Ihre psychische Verfassung ist für das Kind eine Gefahr.«

»Darüber wird noch entschieden werden, aber jetzt sollten Sie uns Laura bringen.«

»Ich weiß doch nicht, wo sie ist«, schrie ihn Victor unbeherrscht an. »Ich habe sie ins Wartezimmer gesetzt, das wird doch wohl jemand bestätigen können.«

Aber Laura war nirgends zu finden. Zwei Schwestern konnten sich erinnern, das Kind gesehen zu haben, aber die Beschreibungen, die sie gaben, waren so vage, daß man ihnen auch keinen Glauben schenkte.

Und nun war es Victor, dem kein Glauben mehr geschenkt wurde. Der Bummerang, den er auf Jessica gerichtet hatte, kam zu ihm zurück.

Laura war es bald zu langweilig geworden, und so ging sie auf Erkundung aus. Es herrschte ein so reger Betrieb auf den Gängen, daß sie nicht beachtet wurde. Für Laura war es eine Erfahrung mehr, daß es so viele kranke Leute gab. Sie fing dieses und jenes über Krankheiten auf, womit sie aber nichts anfangen konnte, bis sie plötzlich aufhorchte, denn hinter einem Tresen unterhielten sich zwei Schwestern. Sie konnten Laura nicht sehen, weil sie nicht über den Tresen gucken konnte. Und Laura wollte auch nicht entdeckt werden, als sie den Namen Santorro gehört hatte.

»Ich sage dir, daß da etwas Wahres dran sein könnte. Du weißt doch, was alles über seine Ehe geschrieben worden ist, aber welche Frau erträgt denn schon diese Affären.«

»Wahrscheinlich hat er sie aus dem Weg haben wollen, deshalb hat er sie in die Nervenklinik gebracht. Wundern würde es mich auch nicht mehr, wenn er sie jetzt um die Ecke gebracht hätte. Das arme Kind…«

Das hörte Laura noch, dann aber huschte sie davon. Ihr Herz klopfte ängstlich, denn was sie da gehört hatte, flößte ihr Furcht ein. Was hatte Daddy wohl mit der Mummy gemacht? Wie konnten die Leute sonst so reden?

Sie lief hinaus, so schnell die kleinen Füße sie tragen konnten. Sie lief immer weiter, blindlings und ohne zu überlegen, bis sie nicht mehr schnaufen konnte.

Sie setzte sich auf eine Wiese unter einen Baum, der Schatten spendete. Das Blut hämmerte in ihren Schläfen und ihr Kopf begann zu schmerzen.

Sie erinnerte sich an manches, was sie früher erlebt hatte, was verdrängt worden war. Einmal hatte sie gehört, daß Victor schrie: Ich bringe dich um, wenn du das tust.

Was hatte ihre Mummy tun wollen, wie hatte er so etwas sagen können? Sie hätte sicher nur geträumt, hatte ihre Mummy gesagt, als sie sie gefragt hatte. Sie hatte nie ein böses Wort gegen ihn gesagt.

»Mummy, ich will zu meiner Mummy«, schluchzte Laura in ihre schmutzigen Hände hinein, die sie vor ihr Gesicht hielt.

»Hast du dich verlaufen?« fragte eine freundliche Stimme. Sie blickte auf und sah ein hübsches junges Gesicht.

»Ich will zu meiner Mummy«, flüsterte Laura.

»Komm, ich bringe dich zu deiner Mummy«, sagte die junge Frau. »Du bist sicher müde und hungrig. Du kommst mit zu uns, und dann rufen wir deine Mummy an.«

Hungrig war Laura nicht, aber müde. Sie schlief in dem Auto, in das sie gesetzt wurde, auch gleich ein.

Ihre Gedanken und Ängste waren ausgelöscht.

*

Zehn Tage war Jessica nun schon in München, und sie hatte sehr viel erledigen können. Sie wohnte immer noch im Hotel Novara. Geld hatte sie genug, und mit den Mietern ihres Hauses hatte sie sich einigen können, als sie ihnen erklärte, daß sie das Haus verkaufen wolle. Sie waren selbst an dem Kauf interessiert, mußten sich aber noch Geld beschaffen. Jessica wollte ihnen, nach Rücksprache mit Julians Anwalt, entgegenkommen, wenn sie eine größere Anzahlung leisten konnten, den Restbetrag in monatlichen Raten abzahlen zu lassen.

Das war soweit geregelt, als Julian vor drei Tagen eine längere Reise antreten mußte. Er hatte Jessica verschwiegen, daß er nach Amerika fliegen würde. Er wollte nicht Hoffnungen in ihr wecken, die sich vielleicht nicht erfüllen würden.

Kollberg lag noch im Klinikum im Koma, aber sein Zustand hatte sich stabilisiert. Dr. Norden wurde auf dem laufenden gehalten und informierte Jessica über den Stand der Dinge.

Er hatte indessen das Gutachten von Dr. Hatkins über Jessicas Therapie bekommen, und Jessica war zu ihm in die Praxis gekommen, um es sich auch anzuschauen.

»Sie wurden mit einer Kopfverletzung und schwersten Blutergüssen eingeliefert, Jessica, und Santorro behauptete, daß Sie die Treppe herabgestürzt wären.«

»Vielleicht hat er mich noch runtergestürzt, nachdem er mich bewußtlos geschlagen hatte«, sagte sie bitter.

»Sie hätten das auch Dr. Hatkins erzählen müssen.«

»Ich stand unter einem Schock, und es ist nicht gerade angenehm für eine Frau, zu sagen, daß sie von ihrem Mann verprügelt wird, wie es unter Asozialen üblich sein mag.«

»Sie werden nicht glauben, wie oft es auch in den Kreisen vorkommt, die man zur besseren Gesellschaft zählt. Aber das wird ja nun vorbei sein für immer.«

»Ich weiß noch immer nicht, wo Laura ist«, sagte sie bebend. »Herr Kühne hat mir gesagt, daß er alles in die Wege geleitet hat, eine Spur zu finden. Es soll auch Presseveröffentlichungen geben.«

Daniel Norden wußte von Julian Vreden, daß er diesbezüglich schon alles in die Wege geleitet hatte.

Auch davon sollte Jessica nichts erfahren, bevor sich nicht ein Erfolg abzeichnete. Jedenfalls war Daniel von Julian genau informiert worden, was er zu unternehmen gedachte.

»Santorro kann doch nicht spurlos verschwinden«, sagte Jessica. »Immerhin war er doch ziemlich bekannt, und er hatte nicht nur Freunde, die ihn decken würden. Jetzt jedenfalls nicht mehr, da sein Stern im Sinken begriffen ist.«

»Sie müssen noch Geduld haben, Jessica. Kühne wird sicher einiges in Erfahrung bringen.«

»Es wäre vielleicht doch besser, wenn ich wieder rüberfliegen würde.«

»Sie sollten jetzt abwarten, ob Sie mit Kollberg sprechen können.«

Jessica war skeptisch, ob das überhaupt noch etwas bringen könnte, aber die Ereignisse sollten sich nun überstürzen. Sie bekam einen Anruf aus der Klinik, daß Kollberg aus dem Koma erwacht sei.

Sie fuhr sofort hin und sprach erst mit dem behandelnden Arzt, der ihr sagte, daß die Gefahr keineswegs gebannt sei, da postoperative Folgen nicht auszuschließen wären.

»Wie können die sich äußern?« fragte sie.

»In einer Lungenembolie oder einer Thrombose. Es ist ein Wunder, daß er überhaupt am Leben blieb.«

Vielleicht soll ihm noch bewußt werden, was er anderen Menschen angetan hat, dachte Jessica.

Als sie dann aber an seinem Bett stand, dachte sie, daß er schwer zu büßen hatte. Leere Augen starrten sie an, und langsam erwachte darin ein ungläubiges Staunen.

»Jessi?«

»Ja, ich bin es.«

»Du bist hier?«

Sie griff zögernd nach seiner Hand. Sie wollte es eigentlich nicht, aber er sollte spüren, daß sie wirklich da war.

»Ich wollte dich noch einmal sehen«, sagte sie langsam, »den Menschen, dem ich vertraute, wie mein Vater ihm vertraute und der mich so hintergangen hat.«

»So ist es nicht, du bekommst alles zurück, wenn ich tot bin, Jessi.«

»Alles, auch meine Tochter?«

»Was ist mit Laura?«

»Victor hat sie mir weggenommen. Er hat mich mißhandelt, mich für verrückt erklären wollen und mir das Kind weggenommen. Und du hast mit ihm unter einer Decke gesteckt.«

Sie wußte, daß sie ihm schaden konnte mit dieser Anklage, aber ihr war in diesem Augenblick alles gleich. Er sollte wissen, wie sehr sie ihn haßte für das, was er getan hatte und wenn es seinen Tod bedeuten konnte.

»Das wollte ich nicht, Jessi, nein, das nicht. Dann hat er mich auch belogen.«

»Ihr nehmt euch beide nichts. Wenn ich Laura nicht wiedersehe, werde ich dich Tag für Tag daran erinnern, was du mir angetan hast. Dabei geht es nicht um das Geld, sondern darum, daß du dazu fähig warst, mein Vertrauen so zu mißbrauchen. Ich hoffe, du wirst noch lange leben und jeden Tag leiden, wie ich gelitten habe und leide.«

»Geh nicht, Jessi, ich wollte das doch nicht. Ich möchte dir alles erklären, aber ich bin zu schwach. Wenn du Geld brauchst…«

»Ich brauche kein Geld, und ich brauche jetzt auch keine Erklärungen mehr. Ich sage es noch einmal: Ich wünsche dir ein langes Leben. Adieu.« Dann ging sie.

Er atmete schwer und sammelte seine Kräfte. Dann läutete er, und der Arzt kam.

»Ich möchte Inspektor Brauer sprechen«, murmelte er. »Bald.«

»Sie sollen sich nicht überanstrengen und nicht aufregen, Herr Kollberg.«

»Ich will nicht ewig leben, das nicht. Aber ich muß noch etwas tun.«

Und so geschah es, daß er nach einer längeren Ruhepause ein ziemlich langes Gespräch mit Inspektor Brauer hatte, der sich nur wundern konnte, was er von dem bisher so schweigsamen Günter Kollberg alles erfuhr.

*

Jessica lief nach diesem Besuch erst einige Zeit ziellos herum. Ihre innere Erregung verzehrte beinahe ihre ganze Kraft. Sie vermißte Julian, an den sie sich anlehnen konnte, so sehr, daß ihr die Tränen kamen. Was nützten ihr alle Rachegefühle, davon bekam sie Laura nicht zurück! Und wenn sie geahnt hätte, was sich jetzt in dem fernen Beverly Hills abspielte, wäre sie eher noch mehr verzweifelt.

Die Zeitungsberichte gingen auf Julians Kosten. Er hatte kein Geld und keine Mühe gescheut, seine Verbindungen einzusetzen, um Santorro Angst einzujagen.

Als er aber von Lauras Verschwinden erfuhr, war er sehr besorgt, daß seine Kampagne eine negative Auswirkung haben könnte. Aber es gelang ihm, Victor zu sprechen. Er traf einen Mann, dem die Furcht ins Gesicht geschrieben stand. Victors Selbstbewußtsein hatte schwer gelitten, da niemand ihm jetzt noch Glauben schenkte. Er hatte keine Freunde mehr. Die, die auf seiner Seite gestanden hatten, hatten jetzt Gewissensbisse und Schuldgefühle Jessica gegenüber.

»Wir haben uns persönlich noch nicht kennengelernt, Mr. Santorro«, begann Julian das Gespräch. »Ich bin Mitgesellschafter der Filmgesellschaft, der auch Kollberg angehörte. Sie werden sicher gehört haben, daß er verhaftet wurde und wegen Betrugs und anderer Delikte vor Gericht gestellt wird, wenn er sich von seinem Unfall erholt hat.«

»Ich weiß gar nichts, auch nicht, daß er einen Unfall hatte. Ich habe seit meiner Scheidung von Jessica keine Verbindung mehr zu ihm.«

»Was sehr leicht anhand von Bankauszügen zu widerlegen ist. Ich kann beweisen, daß Sie gemeinsam mit Kollberg Jessica schändlich betrogen haben. Dafür werden Sie ohnehin zur Rechenschaft gezogen, aber ich will jetzt wissen, wo Laura ist.«

»Ich weiß es nicht. Sie ist verschwunden. Sie wurde aus dem Hospital entführt, als ich Paul Howard besuchte. Ich habe mich vorher nie von meiner Tochter getrennt. Sie sollte im Warteraum warten. Das habe ich alles schon der Polizei erzählt. Ich warte seit zwei Tagen auf eine Nachricht, eine Lösegeldforderung.«

»Ich möchte eher annehmen, daß Sie das Kind versteckt halten.«

»Wie denn, wo denn?« stöhnte Santorro. »Ich liebe meine Tochter, ich sorge mich um sie. Sie können denken, was Sie wollen, ich wollte sie zu ihrer Mutter zurückbringen, aber Jessica war verschwunden. Ich habe keine Ahnung, wo sie ist.«

»Ich weiß, wo sie ist. Sie hatte hier ja niemanden, der ihr half. Sie hatten eine solche Hetzkampagne gegen sie veranstaltet, daß sie keine Chance sah, hier noch etwas zu erreichen. – Sie werden sich jetzt allerdings damit abfinden müssen, daß Jessica die einflußreiche Freunde hat, die sie hier gebraucht hätte, um Ihren abscheulichen Machenschaften Einhalt zu gebieten. Jetzt wird jeder erfahren, welch ein mieser Kerl Sie sind.«

»Tun Sie doch, was Sie wollen, ich weiß, daß ich ruiniert bin, aber mit Lauras Verschwinden habe ich nichts zu tun.«

Das mußte Julian schließlich hinnehmen. Aber wo war Laura, wo sollte er sie suchen?

*

Laura hatte sich in einem hübschen Zimmer, in einem sauberen Bett, ausgeschlafen. Sie hatte nicht gemerkt, wie sie entkleidet und gewaschen worden war. Und als sie die Augen aufschlug, saß die junge Frau mit dem freundlichen Gesicht an ihrem Bett und beugte sich mit einem Lächeln über sie.

»Ausgeschlafen, kleine Maus?« fragte sie.

»Wo bin ich?«

»Bei mir und meinem Mann. Ich heiße Kim.«

»Und wo ist meine Mummy, Kim? Du bist doch lieb und bringst mich zu ihr?«

»Ich konnte sie noch nicht erreichen, Laura.«

»Du weißt, wie ich heiße?«

»Du hast es mir doch gesagt«, erwiderte Kim hastig. »Was möchtest du essen, Laura?«

»Ein bißchen Hunger hätte ich schon.«

»Möchtest du Hot Dogs oder einen Hamburger?«

»Lieber Toast mit Erdnußbutter.«

»Das kannst du gleich haben. Bleib noch liegen, Darling.«

Kim eilte in die Küche. »Was ist?« fragte ihr Mann.

»Pssst, sie ist munter. Sie hat Hunger.«

»Ist sie das Kind, das gesucht wird? Laura Santorro?«

»Nicht so laut, Adam, mir ist das gleich, ich will sie behalten. Sie ist so süß.«

»Kim, ich bitte dich, wir würden uns strafbar machen. Aber wenn wir sie zurückbringen, bekommen wir bestimmt eine schöne Belohnung.«

»Ich will sie aber nicht hergeben«, sagte Kim aggressiv. »Der Himmel hat mein Gebet erhört und mir dieses Kind geschickt.«

»Wir wollen doch ein Baby haben«, sagte er begütigend.

»Aber sie ist genauso, wie ich mir mein Kind vorstelle, so hübsch, und ich kann auch schon mit ihr reden.«

Adam seufzte schwer. Er wußte, daß man Kim nicht leicht ausreden konnte, was sie sich in den Kopf gesetzt hatte, aber ihm ging das doch zu weit, obgleich er seiner hübschen Frau sonst jeden Wunsch erfüllte, der ihm möglich war.

»Jetzt bring ihr was zu essen, ich muß zur Arbeit«, sagte er.

»Jetzt schon?« schmollte sie.

»Ich muß Überstunden machen, wenn wir noch jemand durchfüttern wollen.«

Er gab ihr einen Kuß und ging. In seiner Jackentasche steckte die Zeitung mit der Suchmeldung. Ein Mr. Roberts im Penta-Hotel nahm Hinweise entgegen. Auch die Telefonnummer stand dabei, aber Adam Rafter hielt es für besser, persönlich hinzugehen, denn Kim sollte keinesfalls Schwierigkeiten bekommen.

Als er das Hotel betrat, wäre er am liebsten gleich wieder umgekehrt, weil er sich fehl am Platz fühlte, aber dann dachte er daran, daß es mit jedem Tag, an dem die kleine Laura bei ihnen war, schlimmer werden könnte für seine Kim.

Er machte sich Mut und fragte nach Mr. Roberts. Er wurde gleich sehr höflich behandelt und nach einem kurzen Telefonat von einem Boy zu einer Suite gebracht.

Julian hatte einen Angestellten vorgeschoben, damit sein Name nicht in die Zeitung kam, aber er war anwesend, um Adam zu empfangen, der einen guten Eindruck auf ihn machte und stockend erklärte, daß er auf die Suchmeldung käme.

»Können Sie einen Hinweis geben?« fragte Julian freundlich, da er merkte, wie unsicher der junge Mann war.

»Ja, eigentlich schon, aber ich möchte Sie erst was fragen, Mr. Roberts.«

»Fragen Sie nur. Wenn es um eine Belohnung geht, kann ich sagen, daß diese sehr annehmbar sein wird.«

»Darum geht es nicht allein, wenn wir ein bißchen Geld auch brauchen könnten. Es geht eigentlich um meine Frau. Sie liebt Kinder über alles, und als sie das weinende kleine Mädchen fand, floß sie gleich über vor Mitgefühl und nahm es mit nach Hause. Ich möchte gleich richtigstellen, daß sie das Kind nicht entführt hat.«

»Ich glaube es Ihnen, fahren Sie fort.«

»Die Kleine war so müde, daß sie gar nicht reden konnte. Kim hat sie gleich zu Bett gebracht, und sie hat durchgeschlafen bis heute nachmittag. Ich hatte die Anzeige in der Zeitung gelesen und es Kim gesagt, aber sie will sich nicht von dem Kind trennen. Sie ist gut zu der Kleinen, das müssen Sie glauben, und sie begreift auch nicht, daß es Unrecht wäre, sie zu behalten. Sie meint, daß das Kind verstoßen wurde, daß keiner von den Eltern es richtig will.«

»So ist es aber nicht, Mr. Rafter. Lauras Mutter sucht ihr Kind verzweifelt, und ihr wurde sehr weh getan von Santorro.«

»Man sollte es nicht glauben, daß so ein Mann so abscheulich handeln kann. Ich habe das alles gelesen, was in der Zeitung stand. Man will es nicht glauben, und doch ist es so.«

»Sagen Sie mir, wo Laura ist?« drängte Julian.

»Ich sage es Ihnen, aber Kim darf nicht erfahren, daß ich es Ihnen gesagt habe. Und bitte, gehen Sie freundlich mit ihr um, mehr will ich nicht.«

»Wenn ich das Kind gesund in Empfang nehmen kann, werden Sie fünftausend Dollar von mir bekommen, Mr. Rafter. Es könnte auch ein Trostpflaster für Ihre Frau sein.«

»Geben Sie es ihr, und bitte sagen Sie nicht, daß ich hier war.«

»Ich werde mir schon etwas einfallen lassen. Jedenfalls bin ich Ihnen zu großem Dank verpflichtet.«

»Ich will nur nicht, daß Kim Schwierigkeiten bekommt. Sie ist eine gute, anständige Frau, die jedem hilft.«

*

Adam hatte noch gesagt, daß er zur Nachtschicht müsse, und Julian überlegte nun, wie er am besten vorgehen solle. Selbstverständlich wollte er das ohne Polizei abwickeln. Er hatte die Adresse und schaute auf dem Stadtplan nach, wie er am besten dorthin gelangen könnte. Es war nicht allzu schwierig zu finden. Er kaufte noch eine Puppe und ein paar Plüschtiere, Schokolade und Kekse und für Kim eine große Pralinenschachtel. Dann fuhr er los.

Auf der Fahrt dachte er an Jessica und was sie wohl sagen würde, wenn er ihr Laura brachte. Ein Lächeln legte sich bei diesen Gedanken um seinen Mund, es war ein weiches, zärtliches Lächeln.

Er konnte es kaum erwarten, das Kind in die Arme zu schließen und atmete erleichtert auf, als er vor dem hübschen, kleinen Haus hielt, das verriet, daß seine Bewohner sehr ordentliche Leute waren.

Er läutete. Es dauerte ziemlich lange, bis Kim öffnete. Ihr Gesicht bekam gleich einen ängstlichen Eindruck, als sie den fremden Mann vor sich stehen sah, obwohl Julian bestimmt nicht furchterregend wirkte.

»Mrs. Rafter? Mein Name ist Vreden«, sagte er.

»Wir kaufen nichts«, stieß sie hervor.

»Ich will nichts verkaufen, ich will Ihnen eine Belohnung bringen, weil Sie Laura gefunden haben.«

Sie war überrumpelt. »Wer hat Ihnen das gesagt?« fragte sie aufgeregt.

»Jemand, der Sie mit dem Kind gesehen hat, teilte es mir mit.«

»Es ist aber nicht Laura«, flüsterte sie, »es ist ein armes kleines Mädchen.«

»Können Sie sich nicht denken, wie sehr die Mutter sich nach ihrem Kind sehnt, Mrs. Rafter?«

»Warum hat sie sich dann nicht um ihr Kind gekümmert und es diesem schrecklichen Mann überlassen? Das tut eine gute Mutter nicht. Ich würde mein Kind nie hergeben.«

»Lauras Mutter wollte das auch nicht. Man hat ihr das Kind auf ganz gemeine Weise weggenommen.«

Er wußte nicht, daß Laura lauschte und alles hörte. Und ihr kleines Herz schlug wieder schmerzhaft.

Sie öffnete leise die Tür und ging auf Zehenspitzen zu Kim, die jetzt jammervoll schluchzte. Sie sah Julian nicht an.

»Du mußt nicht weinen, Kim, du wirst bestimmt ein Baby bekommen«, flüsterte sie.

»Ich bin doch schon groß, und ich möchte sehr gern wieder zu meiner Mummy, das mußt du verstehen. Du hast mir doch auch versprochen, daß du mich zu Mummy bringst.«

»Ich habe dich doch so lieb, Laura«, schluchzte Kim.

»Du warst auch sehr lieb zu mir.«

»Und dafür möchte ich mich im Namen von Lauras Mutter herzlich bedanken, Mrs. Rafter. Vielleicht kann die ausgesetzte Belohnung Sie trösten.«

»Ich will keine Belohnung, ich möchte ein Baby haben.«

Laura streichelte ihr die Wange. »Du wirst schon eins bekommen. Ich bete jeden Tag dafür, Kim, und ich schreibe dir auch, wenn ich bei Mummy bin.«

Kim hielt sie in ihren Armen und streichelte und küßte sie. Dann sah sie Julian an.

»Es muß wohl sein«, sagte sie bebend.

»Es tut mir leid, wenn Lauras Mutter Kummer hatte, aber es ist nicht gut für ein Kind, so einen Vater zu haben.«

Wie wahr, dachte Julian, und nun nahm er Lauras kleine Hand. Sie blickte zu ihm empor. »Bringst du mich wirklich zu meiner Mummy?« fragte sie.

»Ganz großes Ehrenwort, Laura.« Dann hob er sie empor und trug sie hinaus. Kim winkte ihr noch zu und sank dann schluchzend an den Tisch, auf dem ein dicker Umschlag lag. Es dauerte eine ganze Zeit, bis sie ihn öffnete. Dann wurden ihre Augen riesengroß. Sie wollte zum Telefon greifen, aber da ging die Tür auf und Adam kam. »Ich muß heute nicht arbeiten, Darling«, sagte er hastig, »wir sollten noch einmal über Laura nachdenken.«

»Ein Herr hat sie geholt, und schau, was er uns gebracht hat, Adam. Sechstausend Dollar, ich kann es gar nicht glauben, und er war sehr freundlich und hat mich nicht beschimpft.«

»Sechstausend«, wiederholte Adam, »die Belohnung für eine gute Tat, Kim.«

»Und Laura will beten, daß ich ein Baby bekomme.«

»Ich bin froh, daß ich dich habe.«

»Unsere Kinder hätten einen guten Vater.«

*

Laura saß ganz still im Auto, auf der Fahrt zum Hotel. Als sie dort angekommen waren und Julian sie aus dem Auto hob, sah sie ihn ängstlich an.

»Bringst du mich doch nicht zu Mummy?« fragte sie mit ersticktem Stimmchen.

Er nahm sie auf den Arm. »Ich werde dir etwas erklären müssen, Laura. Ich bringe dich bestimmt zu deiner Mummy. Wahrscheinlich müssen wir sie aber erst hierher holen, weil so viele Formalitäten zu erfüllen sind.«

»Was sind Formalitäten?«

Er hatte es nicht mit einem Baby zu tun, sondern mit einem denkenden kleinen Menschen, einem Kind, das momentan nicht wußte, wohin es gehörte.

»Meine Sachen sind aber alle zu Hause. Weißt du, wo wir wohnen?«

»Ja, das weiß ich.«

»Ich meine, wo Mummy und ich wohnen, nicht wo Daddy wohnt. Wo ist er jetzt? Ist er wütend, weil ich weggelaufen bin?«

»Vielleicht ist er wütend.« Er trug sie zu seiner Suite und fragte sie, ob sie etwas essen möchte.

»Sehr gern ein Eis«, erwiderte sie.

»Nicht erst ein richtiges Essen? Eine Suppe und vielleicht Hähnchen mit Pommes?«

»Ich mag keine Pommes, ich mag lieber Nudeln oder eine Pizza. Ja, eine Pizza könnten wir essen. Magst du die auch?«

Ihr zuliebe hätte Julian alles gegessen. Er wollte ihr Vertrauen gewinnen, denn er mußte dem Kind tatsächlich viel erklären, was schwer zu verstehen war.

Die Pizza wurde schnell gebracht, und für danach bestellte er auch gleich das Eis nach Lauras Wahl, Vanille, Himbeer und Zitrone.

»Das esse ich nämlich am liebsten«, erklärte sie, »Schokolade macht Flecken.« Julian mußte lächeln. Sie warf ihm einen schelmischen Blick zu.

»Du bist sehr nett. Hat Mummy dich geschickt?«

»Ganz so ist das nicht, aber ich wollte ihr helfen, dich zu finden.«

»Wußte sie denn nicht, wo wir sind?«

»Nein, das wußte sie leider nicht.«

»Daddy hat mir nicht erlaubt, sie anzurufen. Wie heißt du doch gleich?«

»Julian, und ich möchte dein Freund sein.«

»Da wird Daddy erst recht wütend. Zuletzt war er nämlich nicht mehr so lieb zu mir.«

»Bist du deshalb aus dem Hospital weggelaufen, Laura?«

»Ich habe gehört, wie zwei Frauen sich unterhalten haben. Sie haben schlecht über Victor Santorro geredet, so heißt mein Dad. Da hatte ich Angst, daß er mich nicht zu Mummy bringt und ich wollte sie suchen. Aber leider kenne ich mich nicht aus. Wo ist Mummy?«

»In München.«

Laura riß die Augen ganz weit auf.

»Sie hat mir von München erzählt. Sie wollte mich dorthin mitnehmen, aber dann kam Dad und hat mich mitgenommen nach Jamaika. Eigentlich sollten wir nicht solange bleiben, aber er hat immer geredet, daß ich es bei ihm besser habe. Das stimmt aber nicht. Er hatte damals ja auch gesagt, daß Mummy mir weh tun würde, das hat auch nicht gestimmt. Jetzt habe ich Angst vor ihm. Paul ist nämlich auch gemein.«

»Du brauchst keine Angst zu haben, Laura. Du bist bei mir, und bald wird deine Mummy bei uns sein.«

»Aber München ist sehr weit weg. Sie hat es mir auf der Karte gezeigt.«

»Mit dem Flugzeug kann sie bald hier sein. Wir werden sie morgen anrufen.«

»Warum nicht gleich?«

»Weil dort tiefe Nacht ist, und sie würde sehr erschrecken. Wir müssen uns ja auch noch über sehr viel unterhalten.«

»Darf ich auch fragen?«

»Natürlich darfst du fragen.«

»Dad konnte das nicht leiden.« Sie war nun schon dazu übergegangen, nicht mehr Daddy zu sagen, sondern nur Dad. Er nahm es als Zeichen, daß sie kritisch gestimmt war. Seine Gedanken wanderten jetzt aber zu Jessica. Wie mochte sie diesen Tag verbracht haben, der hier soviel verändert hatte?

*

Jessica hatte nichts davon gewußt, daß sich schon alles zum Guten veränderte. Sie hatte nur gehört, daß man Victor festgenommen hatte und Laura verschwunden war. Das hatte sie in völlige Verzweiflung gestürzt, und sie hatte sich am Abend zu den Nordens geflüchtet, weil sie nicht mehr ein noch aus wußte.

»Ich kann doch sonst mit niemandem reden, da Julian weg ist«, sagte sie unter Tränen.

»Wir haben doch gesagt, daß Sie jederzeit zu uns kommen können, Jessica«, sagte Fee herzlich, und langsam beruhigte sich Jessica. Freilich hatte sich auch Fee aufgeregt, als sie gehört hatte, daß Laura verschwunden war, angeblich entführt wurde, wie nach hier gemeldet worden war.

Dann sagten sie Jessica, daß Julian an Ort und Stelle sei und alles in die Hand nehmen würde.

»Er hat mir davon nichts gesagt«, meinte Jessica verwirrt.

»Er wollte wohl keine falschen Hoffnungen in Ihnen wecken und sich erst melden, wenn er Erfolge vorweisen konnte«, meinte Daniel. »Es kann doch sein, daß Santorro das Kind versteckt hat, als er merkte, daß man ihm auf die Schliche gekommen ist. Jedenfalls erscheint er den Behörden dort drüben auch nicht mehr glaubwürdig.«

»Und wenn man Laura etwas antut?« schluchzte Jessica.

Es war schwer, Trost zu spenden, wenn man selbst Befürchtungen hegte, aber dann kam die Nachricht aus dem Klinikum, daß Kollberg nach dem Gespräch mit Inspektor Brauer einem Herzversagen erlegen sei.

Nun hatten sie ein anderes Gesprächsthema. Jessica erzählte von ihrem Besuch bei ihm.

»Es kann ja sein, daß er sich aufgeregt hat, weil ich so deutlich sagte, was ich von ihm halte«, sagte sie, »aber ich bedauere es nicht.«

»Er hat Inspektor Brauer kommen lassen nach Ihrem Besuch«, erklärte Daniel. »Er scheint ein volles Geständnis abgelegt zu haben. Anscheinend ist es ihm doch nahe gegangen, daß Santorro so skrupellos Ihnen gegenüber war.«

»Er wußte, wo ich war, und er hätte einen persönlichen Kontakt zu mir aufnehmen können, wenn ihm wirklich Zweifel in bezug auf Victor gekommen wären. Nein, da hatten sich zwei gefunden, die sich ähnlich waren und nur raffen wollten, was möglich war. Ich sehe das ganz nüchtern. Ich wurde von Kollberg an Santorro verkuppelt, damit sich beide auf meine Kosten bereichern konnten. Ich war ein dummes, unerfahrenes Mädchen, das auf einen charmanten Nichtsnutz hereingefallen ist. Ich schäme mich, wenn ich daran denke, wie himmelhochjauchzend ich in diese Ehe gegangen bin, und wie lange es gedauert hat, bis ich merkte, daß ich nur benutzt wurde. Was mir da drüben auch angetan wurde, ich habe mich selbst absolut lächerlich gemacht.«

»Denken Sie das doch nicht, Jessica«, sagte Fee sanft. »Sie haben eben eine ganz andere Mentalität. Resignieren Sie bitte nicht. Sie werden bestimmt bald Nachricht von Julian Vreden bekommen. Ihm können Sie vertrauen.«

Wenn sie da wenigstens schon eine Ahnung gehabt hätte, was er alles in die Wege geleitet hatte, um Laura zu finden. Daniel und Fee waren in großer Sorge um sie, als sie sich verabschiedete und zurück zum Hotel fuhr. Fee rief Nadine Sontheim an und bat sie, ein Auge auf Jessica zu haben.

»Sie wird hier erwartet«, sagte Nadine, »Leslie Howard-Janson ist angekommen. Und eben sehe ich, wie Jessica das Hotel betritt. Macht euch keine Sorgen.«

*

Konsterniert sah Jessica Leslie an, die blendend aussah. »Bist du das wirklich?« fragte sie ungläubig.

»Ich konnte leider nicht früher kommen, Jessi-Darling. Was bin ich froh, dich zu sehen. Bist du endlich dieser Hölle entkommen?«

Ihr sah man es an, daß es ihr bedeutend besserging als in Beverly Hills. Sie wollte davon auch gar nichts mehr wissen.

»Mr. Vreden ließ mir mitteilen, wo ich dich finden kann«, erklärte sie. »Du hast ja anscheinend schon die allerbesten Beziehungen.«

»Was ich dir erzählen kann, wirst du kaum glauben, Leslie. Ich weiß jetzt, warum man dich und mich voneinander fernhalten wollte. Es hätte ja schon damals aufkommen können, wie ich betrogen werde.«

»Ich habe es nicht mehr ausgehalten mit Paul. Ständig war er betrunken und mit diesen Flittchen zusammen. Und ich wußte auch von Victors Verhältnis mit Audrey. Du hast mir so leid getan, aber ich dachte auch, daß du mir nicht glauben würdest, wenn ich dir alles sage, was ich weiß. Jetzt denke ich schon, daß es besser gewesen wäre, aber es bot sich ja auch keine Gelegenheit.«

»Julian hat mir erzählt, daß du in England filmst. Du hast anscheinend Karriere gemacht.«

»Ich bin nicht erpicht darauf, aber ich bin gut beschäftigt. Das ist auch was wert. Ich filme unter dem Namen Jansen, mein Geburtsname. Und ich hoffe nur, daß es Paul nicht erfährt, wenn es ihm dreckiggeht. Aber er hat mir ja sowieso nichts zugetraut. Für ihn war ich nur ein Fußabtreter, weil ich ein armes Mädchen war, als wir uns kennenlernten. Du warst ein reiches Mädchen, Jessi.«

»Und wurde auch mit Füßen getreten, Leslie. Ich konnte mich nicht mal wehren.«

Blankes Entsetzen stand in Leslies Augen, als sie nun alles erfuhr, was sich seit ihrer Flucht aus Beverly Hills abgespielt hatte.

»Und niemand hat dir geholfen?« fragte sie heiser.

»Wer denn schon? Du weißt, wie überzeugend Victor sein konnte. Schließlich glaubte ich schon selbst, daß ich nicht mehr bei Verstand bin. Am schlimmsten war, daß er Laura gegen mich aufhetzte, daß sie Angst vor mir hatte, als ich aus dem Sanatorium kam.«

»Aber das hat sich doch gelegt?«

»Ja, es war bald wieder alles gut, und ich wollte weg mit ihr, aber da kam Victor wieder dazwischen und holte sie ab. Zum Wochenende, wie es abgemacht war, aber er verschwand mit ihr. Wieder war ich im Abseits. Ich wußte, daß ich dort keine Hilfe finden würde und flog nach München. Hier habe ich Freunde. Ich wollte feststellen, was mir von meinem Vermögen noch geblieben war, denn ich wußte, daß ich nur mit Geld etwas bei einer Sorgerechtsklage erreichen konnte. Ich hatte auch überlegt, Victor Geld zu geben, damit er mir Laura ließ. Du kannst dir nicht vorstellen, wie verzweifelt und verwirrt ich war, aber da lernte ich Julian Vreden kennen, der wegen Kollberg Kontakt zu mir aufnehmen wollte. Ich fand in ihm einen Freund.«

»Er ist ein Mann mit gewaltigem Einfluß, Beziehungen in aller Welt. Wenn jemand dir helfen kann, dann er.«

»Ich hoffe es, wenn es nicht schon zu spät ist. Victor wurde festgenommen, aber Laura ist verschwunden.«

»Verzweifle nicht, Jessi, morgen sieht alles vielleicht schon viel besser aus. Ich war auch mal am Boden zerstört, aber dann gibt es doch wieder einen Silberstreifen am Horizont. Trink noch ein Gläschen.«

Da kam Nadine Sontheim, und man sah ihr die freudige Erregung an. »Eben kommt ein Fax, Laura ist gefunden und bei Dr. Vreden. Morgen erfahren Sie Genaueres, Frau de Wieth.«

Leslie fiel Jessica gleich um den Hals. »Siehst du, ich habe es gesagt, es wird alles gut, Jessi.«

»Herrgott, ich danke dir«, sagte Jessica aus tiefstem Herzen, »und Julian Vreden danke ich auch.«

Dann ließ sie ihren Tränen freien Lauf, aber diesmal waren es Tränen der Erlösung. Es war weit nach Mitternacht, und Julian hatte sich entschlossen, diese Nachricht auch zu senden, nachdem Laura eingeschlafen war. Er hatte ihr erst noch eine lange Geschichte erzählt, in die er alles hineingepackt hatte, was ihr verständlich machen konnte, was zwischen ihren Eltern und um ihre kleine Person vor sich gegangen war. Schon halb im Schlaf hatte Laura gesagt: »Ich will immer bei meiner Mummy bleiben, und du bleibst mein Freund, Julian.«

*

Ein paar Stunden hatte Jessica doch schlafen können, wenn es auch kein Tiefschlaf gewesen war. Julian und Laura geisterten durch ihren Traum, aber nun wußte sie, daß es kein Traum mehr war.

Ein neuer Tag erwachte, Regen peitschte an die Fenster, aber das konnte ihr nicht die Stimmung verderben. Bald würde sie ihr Kind wieder in den Armen halten können, nur das konnte sie denken.

Um neun Uhr wollte sie mit Leslie frühstücken, bis dahin hatte sie noch viel Zeit, denn es war noch nicht mal acht Uhr.

Es war doch seltsam, wie langsam die Zeit verging, wenn man mit brennender Ungeduld auf eine Nachricht wartete.

Sie rief gleich nach acht Uhr in Dr. Nordens Praxis an. Er war gerade gekommen, und so konnte sie ihm sagen, was sie noch in der Nacht erfahren hatte.

»Gott sei es gedankt«, sagte auch er erleichtert. »Ich werde es gleich Fee berichten.«

Danach sollte ihr die Zeit nicht mehr lang werden, denn Inspektor Brauer rief an und bat sie um ein Gespräch. Er wollte gleich zu ihr ins Hotel kommen. Ihr sollte es recht sein. Leslie würde es nichts ausmachen, wenn es mit dem Frühstück später wurde.

Inspektor Brauer war sehr höflich und gab sich gar nicht amtlich. Er erzählte ihr von dem Gespräch mit Kollberg, und daß sie aufgrund dessen die Tatsachen den amerikanischen Kollegen mitgeteilt hätten, die Victor Santorro in Haft behalten würden.

»Sie haben also nichts zu fürchten, wenn Sie jetzt nach Beverly Hills fliegen, um sich an Ort und Stelle zu vergewissern, was mit Ihrer Tochter geschehen ist«, sagte er.

»Da weiß ich schon mehr als Sie. Laura ist in Sicherheit. Dr. Vreden hat sie gefunden. Ich warte jetzt auf Einzelheiten, da es nur kurz hergefaxt wurde.«

»Das ist allerdings eine gute Nachricht«, sagte er.

»Nach Kollbergs Tod kann nun eine Bestandsaufnahme gemacht werden, da sein gesamter Nachlaß auch in die Konkursmasse einbezogen werden kann. Er sagte mir auch, daß er eine hohe Lebensversicherung zu Ihren Gunsten abgeschlossen hat, wohl um sein Gewissen zu beruhigen. Als armer Mann ist er nicht gestorben.«

»Er konnte nur nicht genug kriegen«, sagte Jessica. »Er hatte bestimmt vor, sich abzusetzen und irgendwo ein gutes Leben zu führen. Haben Sie eine Aufstellung, wer durch ihn geschädigt wurde?«

»Sie sollten sich darüber keine Gedanken machen, denn Sie sind ganz sicher die am meisten Ge schädigte, auch im moralischen Sinne. Wenn man so etwas seinem Mündel antun kann, muß man schon einen üblen Charakter haben.«

»Ich will darüber gar nicht mehr nachdenken, sonst müßte ich auch meinem Vater die Schuld geben, daß er ihm so viele Vollmachten gab.«

Sie wollte nicht, daß die Erinnerung an ihre Eltern getrübt wurde. Sie hatte schon Distanz gewonnen, und die Zukunft sollte ihr wichtiger sein als die Vergangenheit.

Und endlich, als sie mit Leslie beim Frühstück saß, das sie beide richtig genießen konnten, läutete das Telefon.

Atemlose Spannung erfüllte Jessica, als das Kinderstimmchen an ihr Ohr tönte:

»Bist du da, Mummy? Hier ist deine Laura.«

»Mein Schatz, mein Herzlein«, sagte Jessica bebend, »es ist schön, deine Stimme zu hören. Wir werden bald wieder für immer zusammensein, das verspreche ich dir.«

»Das hat Julian auch schon gesagt. Er will dich sprechen. Ich rede lieber mit dir, wenn du bei mir bist.«

»Ich habe dich sehr lieb, Laura, das darfst du nicht vergessen.«

»Ich habe dich auch sehr lieb und habe immer an dich gedacht. Ich durfte nur nicht mit dir telefonieren.«

Dann hörte sie Julians tiefe, warme Stimme. »Ich bin froh, daß Laura wohlauf ist. Ich erzähle dir, wo ich sie gefunden habe, wenn du hier bist, Jessica. Du mußt hierher kommen, denn es müssen einige Formalitäten bei dem Vormundschaftsgericht erledigt werden, und es ist auch sonst noch manches zu klären. Jetzt brauchst du ja keine Angst mehr zu haben. Ich habe für morgen schon deinen Flug gebucht.«

Erst hinterher wurde ihr bewußt, daß er du gesagt hatte und sie war wie betäubt.

»Jetzt bist du überwältigt«, sagte Leslie lächelnd. »Man sieht es dir an.«

»Morgen fliege ich zu meinem Kind«, flüsterte Jessica. Und zu Julian, fügte sie in Gedanken hinzu. Ein Leuchten war in ihren Augen, wie schon lange nicht mehr.

»Und was dann, wirst du dort bleiben?« fragte Leslie.

»Nein, wir werden hier leben. Ich werde mit Laura erst mal irgendwo in den Bergen ein paar Wochen verbringen, und dann werde ich hier ein Haus suchen.«

»Schön ist es hier«, stellte Leslie fest.

»Mir würde es auch gefallen, hier zu leben.«

»Du wirst uns hoffentlich oft besuchen, aber vielleicht kann dir Julian hier auch eine Rolle besorgen.«

»Ich glaube nicht, daß ich noch gut Deutsch lernen werde. Für den Hausgebrauch geht es ja, aber für den Beruf werde ich doch lieber bei Englisch bleiben. Und dann, in London gibt es auch einen Mann, mit dem ich mich recht gut verstehe. Er ist ganz anders als Paul. Es sind nicht alle Männer so wie Paul und Victor.«

»Das weiß ich auch. Es ist nur schwer zu begreifen, wie man so blind sein kann.«

»Irren ist menschlich, Jessi, vor allem, wenn man jung und unerfahren ist. Erst durch Erfahrung wird man klüger.«

»Ich frage mich nur, ob ich so oberflächlich war, daß ich gar nicht erst hinter die Kulissen blickte.«

»Du bist halt an einen geraten, der mit allen Wassern gewaschen war und genau wußte, wie er es anfangen mußte. Es hat ihm gefallen, daß du ihn angehimmelt hast. Als du eigene Ansichten hattest und nicht mehr alles hingenommen hast, zeigte er sein wahres Gesicht. Ich habe doch gehört, wie er sich mit Paul unterhalten hat. Aber lassen wir das vergessen sein. Du bist noch jung genug, um ein neues Leben zu beginnen. Ich wünsche dir von Herzen, daß du glücklich sein kannst in diesem Leben. Du hast es verdient, Jessi.«

*

»Es klang gar nicht so weit weg, wie ich mit Mummy geredet habe, Julian«, sagte Laura nachdenklich.

Ihr gefiel der Name Julian sehr, und ihm gefiel es, wie sie ihn aussprach.

»Das Telefon ist eine feine Sache, da rückt man ganz eng zusammen«, sagte er, »aber nun sind wir ja bald vereint.«

Für ihn hatte das eine ganz besondere Bedeutung. Er wollte Laura schon auf seine Pläne einstimmen.

»Wo werden wir wohnen?« fragte die Kleine.

»Das müssen wir noch mit deiner Mummy besprechen.«

»Nehmen wir unsere Sachen mit?«

»Wir kaufen lieber neue, denke ich.«

Sie nickte. »Mir ist sowieso das meiste zu klein. Komme ich dann auch in die Schule?«

»Sicher kommst du in die Schule.«

»Ich kann aber noch nicht gut deutsch sprechen, nur das, was Mummy mit mir redet.«

»Das wirst du lernen. Du kannst auch in eine internationale Schule gehen, da sind Kinder aus verschiedenen Nationen, auch aus Frankreich und England, sogar aus Japan.«

»Hast du eigentlich Kinder, Julian?« fragte sie plötzlich.

»Nein.«

»Auch keine Frau?«

»Auch nicht.«

»Hattest du nie eine?«

Das war eine Gewissensfrage. »Ich war nie verheiratet.«

»Dad hatte noch eine Frau, die heißt Audrey, aber die konnte mich nicht leiden. Wo ist er jetzt eigentlich?«

»Weit weg.« Er wollte ihr doch nicht sagen, daß er im Gefängnis war.

»Aber er darf mich nicht wieder mitnehmen?«

»Nein, das darf er nicht. Wollen wir jetzt einkaufen gehen, Laura? Du brauchst ein paar Sachen. In Deutschland ist es nicht so warm wie hier.«

»Geben wir meine Sachen, die zu klein sind, armen Kindern, die nichts anzuziehen haben, Julian? Mummy hat das immer gemacht.«

»Sie wird ja bald hier sein, und wir werden das besprechen. Morgen holen wir sie in Los Angeles ab.«

»Ich freue mich ja so.« Sie drückte ihre Wange an seine Hand.

»Ich habe dich auch lieb, Julian, weil du mich wieder zu meiner Mummy bringst.«

»Das macht mich sehr glücklich, Laura«, sagte er zärtlich.

»Und Mummy soll nun nie wieder weinen.«

»Dafür werden wir sorgen, mein Schatz.«

Sie gingen Hand in Hand durch die Straßen, der große Mann und das kleine Mädchen.

Für ihn war es ein wundervolles Gefühl, daß sie sich so an ihm festhielt.

»Meinst du, ob Kim schon ein Baby hat?« fragte sie plötzlich.

»So schnell geht das nicht, Laura.«

»Ich hätte es auch gern, daß wir noch ein Baby haben, ich bin doch jetzt schon groß, und Babys sind sehr niedlich. Findest du nicht auch?«

»Mir gefällt es, mit dir zusammenzusein, weil wir uns schon so gut unterhalten können.«

Ihre Augen strahlten ihn an. »Das finde ich auch so schön. Hoffentlich versteht sich Mummy auch so gut mit dir.«

»Ja, das hoffe ich auch.«

*

Jessica hatte sich nur telefonisch von den Nordens verabschiedet, aber mit dem Versprechen, daß sie bald ein fröhliches Wiedersehen feiern würden.

»Jetzt ist Jessica schon über den Wolken«, sagte Fee.

»Da ist der Himmel ganz nah«, sagte Anneka. »Fliegen wir auch mal wieder?«

»Wir könnten lieber mal eine Schiffsreise machen«, sagte Danny.

»Da wird es uns bloß schlecht«, warf Felix ein. »Jürgen hat erzählt, daß es ihm die ganze Zeit schlecht war, als sie die Kreuzfahrt gemacht haben, und hinterher mußte er am Blinddarm operiert werden.«

»Deswegen wird ihm schlecht gewesen sein«, sagte Daniel. »Aber am Meer finde ich es schöner, als auf dem Meer. Nächstes Jahr fahren wir an die Nordsee, die Luft wird euch gut bekommen.«

»Da ist das Wasser aber kalt«, meinte Danny.

»Da sind auch Swimmingpools und sogar mit Meerwasser.« Felix war sehr gut informiert. Er hörte sich bei seinen Schulfreunden um, aber die meisten fuhren nach Italien.

Fee und Daniel fuhren am liebsten zur Insel der Hoffnung. Das war nicht weit, und mit fünf Kindern zu reisen war nicht das reinste Vergnügen. Außerdem mußte auch Lenni dabeisein. Sie war nicht zum Fliegen zu bewegen.

Jessica schwebte über den Wolken und war dem Himmel ganz nah, jedenfalls mit ihren Gefühlen, mit der Vorfreude, dem Glück, das auf sie wartete. Wenn sie es auch noch nicht wahrhaben wollte, so war in ihrem Herzen doch schon so ein bißchen Hoffnung, daß auch Julian Vorfreude empfinden mochte.

Laura war schon ganz aufgeregt. Julian hatte ihr ein neues Kleid gekauft, das sie wunderschön fand. Sie sah auch ganz bezaubernd darin aus. Neue Schuhe hatte sie auch bekommen. Lange vor Ankunft des Flugzeuges in Los Angeles waren sie schon am Airport.

»Mummy wird doch bestimmt in dem Flugzeug sein«, flüsterte Laura, als die Zeit nun naherrückte.

Julian nickte nur. Hoffentlich ist­ nichts dazwischengekommen, dachte er, aber vorsichtshalber erkundigte er sich, ob die Maschine auch pünktlich gestartet sei. Man beruhigte ihn. Es war auch keine Verspätung angesagt. Aber die letzte Viertelstunde wollte überhaupt nicht vergehen. Und endlich, endlich war es soweit.

Für Jessica war es genauso aufregend gewesen, und sie war froh, als sie wieder Boden unter den Füßen spürte. Endlich entdeckte sie dann auch Julian. Er hob Laura hoch empor, damit sie ihre Mummy gleich sehen konnte, und dann lagen sie sich in den Armen in grenzenloser Freude. Während Jessica Laura küßte, spürte sie Julians warme Lippen auf ihrer Schläfe. Ihr wurde ganz schwindelig vor Glück.

»Jetzt sind wir vereint«, sagte Laura, »das hat Julian gesagt. Er ist so lieb, Mummy, das kannst du dir gar nicht vorstellen. Wir können uns gut unterhalten, das hat er auch gesagt. Und ich kann soviel fragen, wie ich will, er gibt mir immer eine Antwort.«

»Das ist wirklich sehr lieb«, sagte Jessica. »Ich muß mich ganz herzlich bei ihm bedanken.«

»Du kannst ihm ruhig auch einen Kuß geben, ich habe nichts dagegen«, lachte Laura.

»Das heben wir uns auf«, half ihr Julian aus der Verlegenheit, aber in seinen Augen tanzten tausend Teufelchen.

»Das Kleid und die Schuhe hat mir Julian gekauft. Ich bin sehr gewachsen, findest du doch auch?«

Jessica konnte den Blick nicht von ihr wenden. Sie hatte sich so sehr nach dieser Stunde gesehnt! Sie konnte ihr Kind wieder in den Armen halten, und endlich wich auch die letzte Angst.

»Wir werden die Formalitäten so schnell wie möglich erledigen«, sagte Julian, »und dann fliegen wir heim.«

»Ich weiß, was Formalitäten sind. Julian hat es mir erklärt. Da mußt du Papiere unterschreiben, Mummy. Und ich brauche einen Paß. Aber wir nehmen nichts mit, hat Julian gesagt. Wir kaufen alles neu.«

»Wir lassen alles hinter uns, was gewesen ist«, sagte er. »Wir fangen ein ganz neues Leben an.«

Jessica blickte zu ihm auf. »Wir?« wiederholte sie leise.

Er streichelte ihre Wange. »Ja, wir.«

*

Sie fuhren zum Hotel, damit sich Jessica ein bißchen ausruhen und umkleiden konnte. Dann konnten sie sich bei einem guten Essen unterhalten, und abwechselnd erzählten Laura und Julian, wie Laura gesucht und gefunden worden war.

»Wie bist du denn auf den Gedanken gekommen, aus dem Hospital wegzulaufen?« fragte Jessica.

»Weil ich gehört habe, daß Dad böse ist. Ich habe das nicht so verstanden, Mummy. Ich bin doch nicht klein, hat Julian gesagt, und ich werde das alles vergessen. wenn wir zusammen sind. Ich möchte gar nicht mehr von ihm reden, und du sollst nie mehr weinen.«

»Jetzt bin ich ja glücklich«, sagte Jessica leise.

»Ich möchte, daß du immer glücklich bist«, flüsterte ihr Julian zu.

Laura schleckte genußvoll ihr Eis und blinzelte ab und zu mal zu ihnen herüber.

»Wie lange kennt ihr euch eigentlich schon?« fragte sie.

»Leider noch nicht lange genug«, erwiderte Julian.

»Wärest du sonst mein Daddy?«

»Früher hat sie nie solche Fragen gestellt«, murmelte Jessica verlegen.

»Dazu war auch kein Anlaß vorhanden«, meinte er lächelnd. »Sie macht sich ihre Gedanken, und das finde ich gut. Mir würde es gefallen, ihr Vater zu sein.«

»Siehst du, Mummy!«

»Ich finde, wir sollten Julian nicht zuviel zumuten«, meinte Jessica.

»Das ist doch keine Zumutung«, widersprach er. »Meine Verständigung mit Laura ist schon sehr weit gediehen. Wir sollten nichts komplizieren, was eigentlich doch sehr erfreulich ist.«

»Wir sind endlich vereint«, sagte Laura triumphierend. Das hatte sich ihr eingeprägt, und ihr gefiel es, dies immer zu wiederholen. Was sollte Jessica dazu noch sagen? Sie konnte wieder träumen, und manche Träume erfüllten sich.

*

Ein paar nicht gerade angenehme Erlebnisse mußte sie während dieser Tage in Beverly Hills noch überstehen. Aber da Julian immer erreichbar war, fühlte sie sich sicher, und vor allem wußte sie Laura gut beschützt.

Vor Gericht wurde sie mit Victor konfrontiert: Jetzt war er derjenige, der unsicher und nervös wirkte und langsam begriff, daß er der Verlierer war.

»Du hast alles mißverstanden«, wagte er zu sagen. Sie maß ihn mit einem langen verächtlichen Blick, dann beantwortete sie die Fragen, die ihr gestellt wurden, ganz ruhig und ignorierte seine Zwischenrufe, für die er gerügt wurde.

Schließlich konnte er alldem, was gegen ihn vorgebracht wurde, nicht mehr widersprechen. Die Beweise gegen ihn waren erdrückend. Kollbergs Geständnis gab ihm den Rest.

»Das ist ein Komplott«, schrie er unbeherrscht. »Ihr seid ja alle verrückt!« Aber da wurde es ganz offensichtlich, daß er selbst nicht mehr ganz zurechnungsfähig war.

Voller Haß wollte er sich auf Jessica stürzen. »Ich verzichte nie auf meine Tochter«, schrie er. »Eher bringe ich euch um.« Und das hätte er besser nicht sagen sollen, denn nun war auch die Entscheidung über das Sorgerecht endgültig gefallen.

»War es sehr schlimm?« fragte Julian.

»Am schlimmsten ist es für mich, daß er Lauras Vater ist«, erwiderte sie tonlos. »Ich werde es mir nie verzeihen.«

»Sag nicht ›nie‹, Jessi.« Er legte den Arm um ihre Schultern. »Wir werden nicht mehr daran denken, wenn wir alles hinter uns gelassen haben. Die Zeit wird uns dabei helfen.«

»Du müßtest mich doch verachten, Julian«, sagte sie stockend.

»Um Himmels willen, wie kannst du nur so etwas sagen. Meinst du, ich habe keine Fehler gemacht, hab’ mich nie getäuscht? Wahrscheinlich werden so ein paar Irrtümer von mir uns mal in den Weg laufen und vielleicht sogar versuchen, dich zu verunsichern. Was wirst du dann denken?«

»Daß ich nicht mehr daran geglaubt habe, daß mir noch so ein Mann begegnet, der mir den Glauben an die Liebe zurückgibt.«

Er beugte sich schnell zu ihr herab und küßte sie auf die Stirn. »Das höre ich gern, liebste Jessica.«

Laura hatte brav im Auto gewartet, war aber nun doch ein bißchen ungeduldig geworden.

»Müssen wir noch öfter hierher?« fragte sie. »Oder können wir bald nach München fliegen?«

Sie war ja schon so gespannt auf ihre neue Heimat, die Jessicas eigentliche Heimat geblieben war.

»Wir buchen jetzt den Flug, dann machen wir noch ein paar Einkäufe, und übermorgen um diese Zeit können wir schon in München sein«, sagte Julian.

»So schnell geht das?« staunte Laura.

»Das kommt durch die Zeitverschiebung. Wir sind schon eine ganze Zeit in der Luft, aber in Deutschland haben sie eine andere Uhrzeit.«

»Erklärst du mir das, Julian?«

Sie fragte grundsätzlich ihn, nicht ihre Mummy. Und sie strahlte ihn dabei an.

»Jetzt ist es hier dreizehn Uhr. Siehst du, der Zeiger steht auf der Eins, und in Deutschland ist es jetzt einundzwanzig Uhr.«

»Warum ist das so?« fragte Laura.

»Das kommt daher, weil sich die Erde um die Sonne dreht.«

Laura seufzte hörbar. »Ich muß noch sehr viel lernen, aber du bringst mir ja alles bei, Julian.«

Es machte Jessica unendlich froh, wie vertrauensvoll das Kind war, ließ es doch hoffen, daß sie nicht mehr nach dem Vater fragen würde. Sie erwähnte ihn überhaupt nicht, und das überraschte Jessica doch.

Aber wie es der Teufel wollte, geschah es, daß sie im Restaurant Audrey Burnes sahen. Sie saß mit zwei Männern an einem Tisch, der in ihrem Blickfeld lag. Laura hatte sie zuerst bemerkt.

»Guck nicht hin, Mummy, da sitzt Audrey«, flüsterte sie. »Jetzt hat sie gleich zwei Männer.«

»Gönnen wir es ihr«, erwiderte Jessica.

»Sie guckt aber giftig. Sie ärgert sich bestimmt, weil wir Julian haben.«

»Soll sie sich doch ärgern«, meinte Julian.

»Ist ja auch egal«, nickte Laura, »bald sind wir weit weg.«

Nur zwei Koffer mit Kleidung nahm Jessica mit, sonst ließ sie alles zurück. Es war ihr egal, was aus Victors Haus wurde. Ihre Wohnung war nur gemietet gewesen. Laura hatte eine Tasche voller Spielsachen eingepackt, aber Jessica konnte beobachten, daß es nur solche waren, die sie ihr gekauft hatte. Es tat ihr gut, daß sie keine Erinnerung an ihren Vater mitnahm.

Aber Laura hatte ja Julian, mit dem sie reden konnte und der geduldig ihre Fragen beantwortete. Sie hatte ganz instinktiv den Unterschied zwischen ihm und Victor festgestellt. Natürlich gefiel es ihr auch, daß Julian so lieb zu ihrer Mummy war.

Und dann kam der große Augenblick, als sie das Flugzeug bestiegen, das sie nach Deutschland bringen sollte. Ganz rote Bäckchen hatte Laura vor Aufregung. Es gefiel ihr freilich auch, daß sie in der First-class mit besonderer Aufmerksamkeit begrüßt und bedient wurden.

Am tollsten fand sie es jedoch, als die Stewardeß Julian fragte, ob er besondere Wünsche für seine Tochter hätte. Ein Leuchten ging über ihr Gesichtchen.

»Sie denken, daß ich deine Tochter bin«, sagte sie stolz, »was sagst du dazu, Julian?«

»Es gefällt mir, mein Schatz.«

»Hast du gehört, Mummy, ich bin sein Schatz«, flüsterte sie. »Er ist der allerliebste Mann von der Welt, findest du doch auch?«

Jessica blickte zu Julian hinüber, und in ihren Augen war ein zärtlicher Ausdruck.

»Wir haben großes Glück, Laura«, gab sie zurück.

Laura nickte und kuschelte sich in seinen Arm. »Ich freue mich ja so, daß wir vereint sind«, murmelte sie.

*

Als Laura eingeschlafen war, hatte Jessica endlich Gelegenheit, Julian das zu sagen, was sie auf dem Herzen hatte.

»Bitte, gib Laura nicht in allem nach, Julian. Für sie ist alles so selbstverständlich, mir ist das ein bißchen unheimlich.«

»Es soll für dich auch selbstverständlich werden, Liebes«, erwiderte er weich. »Ich weiß, daß du erst Abstand gewinnen mußt, aber überlaß es doch der Kleinen, für uns zu planen. Sie macht es schon richtig.«

»Du faßt es nicht falsch auf? Du darfst nicht denken, daß ich ihr etwas einrede.«

»Setz dich jetzt mal an meine andere Seite, Jessi. Ich kann ja nicht aufstehen, sonst wird Laura wach. Aber ich möchte mich nicht dauernd über ihren Kopf hinweg mit dir unterhalten…«

Jessicas Herz klopfte wieder heftiger, als sie sich neben ihn setzte.

Er schob gleich den Arm unter ihren Nacken.

»Mir wäre es recht, wenn du mir gegenüber auch so unbefangen wärst wie Laura«, sagte er. »Wir gehören doch zusammen, das dürfte auch dir klargeworden sein.«

»Es ist aber noch nicht lange her, daß wir uns zum ersten Mal begegnet sind. Es ist auch zu bedenken, unter welchen Umständen wir uns kennengelernt haben. Was mußt du für einen Eindruck von mir gehabt haben?«

»Das kann ich dir gleich sagen. Ich dachte, was ist das für eine Frau! Wie konnte sie nur an Santorro geraten? Ich wußte nämlich eine ganze Menge über ihn, und es wäre gar nicht verwunderlich gewesen, wenn er dich zum Wahnsinn getrieben hätte.«

»Das hat er ja nicht geschafft, aber es war schlimm genug.«

»Du wirst es vergessen. Ich werde alles tun, damit dieses Kapitel in deinem Leben völlig ausgelöscht wird.«

»Meinst du, daß das möglich ist?«

»Wir beginnen doch ein neues Leben, Jessi. Ich liebe dich.«

Das hatte Victor damals auch gesagt, aber wie anders sprach Julian diese drei Worte aus. Und nun küßte er sie, lange und sehnsüchtig, voller Zärtlichkeit und Hingabe. Zum ersten Mal küßte er sie so, und alles wurde dadurch anders.

»Du hast mich gerettet«, flüsterte sie nach langen, glückerfüllten Minuten. »Du hast mich aus einer dunklen Tiefe wieder ins Licht gezogen, Julian. Ich weiß nicht, wie ich es je wiedergutmachen kann.«

»Du brauchst mich nur zu lieben und immer bei mir zu bleiben. Ich gebe zu, daß ich nicht sicher war, ob es gutgehen könnte, Jessica. Es ging soviel von Laura ab. Wenn sie mich abgelehnt hätte, wenn ihr Vater eine wichtige Rolle in ihrem Leben spielen würde, dann wäre es sicher nicht so gutgegangen, aber sie hat mich im Sturm erobert.«

»Du sie aber auch. Ich hätte das auch nicht gedacht. Sie wurde soviel hin und her gerissen, aufgehetzt gegen mich. Es war damals nicht einfach, ihr die Ängste zu nehmen. Sie wußte auch dann nicht, wohin sie eigentlich gehörte, wenngleich sie nicht mehr gern mit Victor ging. Ich komme ja wieder, Mummy, sagte sie immer, aber dann kam sie nicht zurück zur rechten Zeit, und ich mußte fürchten, daß ich sie für immer verloren hätte.«

»Aber nun wirst du sie für immer behalten.«

Er küßte sie wieder. »Wir werden sie behalten. Es heißt jetzt nur noch wir.«

Welch ein wundervolles Glück war es, sich so anlehnen zu können. Ihretwegen hätte der Flug noch viel länger dauern können, denn es bedurfte keiner Worte, ihre Gefühle füreinander auszudrücken.

*

München präsentierte sich in seinem freundlichsten Gesicht, als sie zur Landung ansetzten. Laura hatte bis eine Stunde zuvor geschlafen. Aber nun war sie putzmunter und schaute aus dem Fenster, als die Maschine immer tiefere Kreise zog.

»Es ist eine große Stadt mit vielen Türmen«, sagte sie, »wohnen wir da mitten drin?«

»Nein, wir werden außerhalb wohnen«, erklärte Julian.

»Kann man das von hier aus sehen?«

»Nicht genau, aber schau mal dort hinunter, wo der große Wald ist, nicht weit vom See werden wir wohnen.«

»Es sieht alles noch weit aus«, meinte Laura. »Ich bin sehr gespannt, wann wir endlich dort sind.«

»Sei nicht ungeduldig«, sagte Jessica. Fragend sah sie dann Julian an.

»Ich hatte noch keine Pläne, wo wir uns niederlassen. Vorerst müßten wir noch im Hotel wohnen.«

»Das kommt gar nicht in Frage. Ihr kommt gleich mit zu mir. Es ist genug Platz, und Hanna weiß Bescheid.«

Er hatte schon einmal beiläufig erwähnt, daß Hanna eine entfernte Verwandte sei, die ihm den Haushalt führte und daß er dann noch Ricardo, das Faktotum für Haus und Garten hätte.

»Wir können da doch nicht so einfach hereinplatzen«, meinte Jessica.

»Tut ihr doch nicht. Ihr seid bereits angemeldet.«

»Du denkst an alles«, sagte sie bewundernd.

»Ich denke vor allem an dich und Laura«, erwiderte er.

Es war sehr aufregend für das Kind, als sie dann draußen von Ricardo und einer großen Limousine empfangen wurden.

Ricardo, in seinen besten Anzug gekleidet, machte eine tiefe Verbeugung vor Jessica, und Laura machte einen Knicks, als er seinen Namen nannte. »Ich bin Laura«, sagte sie.

Als sie dann nach ziemlich langer Fahrt vor einem wunderschönen, an einem grünen Hang gelegenen Haus hielten, klatschte sie begeistert in die Hände.

»Das ist wie ein Schloß im Märchen«, sagte sie andächtig. »Hier darf ich wohnen?«

»Ja, hier wohnen wir«, erwiderte Julian, und dann kam Hanna, grauhaarig, rundlich, Freundlichkeit ausstrahlend, die herzgewinnend war.

»Herzlich willkommen«, sagte sie, und ihre blauen Augen leuchteten auf, als Jessica ihr die Hand reichte.

»Guten Tag«, sagte Laura, die ihre Deutschkenntnisse gleich einsetzte. Sie hatte schon einiges gelernt und war sehr stolz darauf.

Es kam auch Jessica tatsächlich wie im Märchen vor.

Das Haus hatte eine andere Atmosphäre, als der supermoderne Bungalow in Beverly Hills, und die Einrichtung erinnerte sie an ihr Elternhaus.

»In diesem Haus bin ich zur Welt gekommen«, erklärte Julian. »Meine Eltern leben seit Jahren in der Toscana. Wir werden sie bald einmal besuchen. Ich war sehr froh, daß Hanna bei mir geblieben ist.«

Laura war schon mit Hanna zum oberen Stockwerk gegangen, um sich ihr künftiges Reich anzuschauen.

»Du hast deine Eltern noch gar nicht erwähnt, Julian«, sagte Jessica beklommen.

»Ich wollte Laura nicht verwirren. Ich denke, es ist besser, wenn ich ihr alles nacheinander erzähle.«

Jessica konnte sich nur immer wieder wundern, was er alles bedachte. Es stimmte ja, daß sehr viel auf Laura einstürmte, und es war jetzt eine völlig neue Welt, die sich ihr auftat.

Mit Hanna und Ricardo war sie gleich vertraut, und die konnten natürlich diesem bezaubernden kleinen Mädchen nicht widerstehen, mochten sie vorher auch noch so skeptisch gewesen sein, daß Julian eine Frau mit einem Kind ins Haus brachte, nachdem er sich vorher nie zu einer festen Bindung hatte entschließen können.

Plötzlich hatte er eine richtige Familie, und auch das schien Hanna und Ricardo gleich selbstverständlich zu sein.

»Wir werden natürlich noch einiges verändern müssen, Jessi«, meinte er. »Du kannst sagen, wie du das Haus eingerichtet haben möchtest. Für Laura brauchen wir ein richtiges Kinderzimmer, und du wirst auch einen eigenen Geschmack einsetzen wollen.«

»Mir gefällt alles sehr gut« erwiderte sie. »Vielleicht könnte ich ein paar schöne Möbel aus meinem Elternhaus holen, falls sie noch vorhanden sind. Das muß ich ja einräumen, denn Kollberg hat ja wohl alles zu Geld gemacht, was Wert hatte.«

»Oder in seinem Haus untergebracht. Es wird noch allerhand für uns zu tun geben, bis vollständige Inventur gemacht ist.«

»Es kommt doch alles in die Konkursmasse, denke ich. Ich will mir jetzt gar nicht den Kopf darüber zerbrechen, ich bin schon soweit entfernt von der Vergangenheit.«

Etwas Schöneres konnte sie ihm gar nicht sagen. War die Gegenwart jetzt schon so lebenswert, die Zukunft sollte noch schöner für sie werden.

Alles machten sie gemeinsam, und auch Hanna freute sich, daß Julian sich endlich einmal Zeit für das Privatleben nahm.

Sie fuhren nach München und besuchten die Nordens, und das war ein Fest für Laura, gleich mit fünf Kindern spielen zu können.

Fee und Daniel freuten sich von Herzen, daß nun alles doch noch ein so gutes Ende für Jessica nehmen sollte, und einem Mann wie Julian konnte man ohne Vorbehalt vertrauen.

»Das ist die ausgleichende Gerechtigkeit«, meinte Fee. »Etwas Besseres konnte Jessica gar nicht passieren, als diesen Mann zu finden.«

»Ohne ihn wäre es auch nicht so gutgegangen«, sagte Daniel gedankenvoll. »Weißt du noch, wie sie uns von ihrem Traum erzählt hat? Da hat sie wohl selbst nicht daran gedacht, daß er in Erfüllung gehen würde.«

»Du doch auch nicht«, meinte Fee neckend. »Du glaubst doch nicht an Träume.«

»Das stimmt nicht. Ich habe gesagt, daß manche Träume Vorankündigungen eines Geschehens sein können.«

»So hast du es nicht gesagt.«

»Aber ich habe es so gemeint. Manchmal hat man einfach eine Vision.«

»Ich habe die Vision, daß es bald eine Hochzeit geben wird und Laura noch einige Geschwister bekommt«, lachte Fee.

Davon konnte Laura nicht genug reden. Es hatte sie kolossal beeindruckt, daß so viele Kinder in einer Familie waren.

»Und sie sind alle so lieb«, meinte sie. »Einen großen Bruder hätte ich sehr gern, aber das geht wohl nicht.«

»Wie wäre es mit einem kleinen Bruder?« fragte Julian.

»Das wäre auch schön. Könntest du Mummy nicht heiraten?« flüsterte sie ihm ins Ohr. »Dann seid ihr auch richtige Eltern, wie Fee und Daniel. Sie gefallen mir gut, und eine Schwester wie Anneka würde mir auch gefallen. Meinst du, daß wir auch fünf Kinder haben können?«

»Wir könnten ja damit anfangen, daß wir erst mal Hochzeit feiern«, erklärte er.

»Bald?«

»Du kannst ja mal mit Mummy sprechen. Frag sie doch, was sie denkt.«

»Mummy wird vielleicht sagen, daß ich nicht so vorlaut sein soll. Sie denkt, daß du schon zuviel für uns tust.«

»Ach was, mir wäre es recht, wenn wir bald heiraten würden. Ich brauche nicht zu überlegen.«

»So lieb hast du uns«, sagte sie mit verklärtem Blick und drückte ihm einen Kuß auf die Hand. »Bist du dann mein Papi, wie Dr. Norden ein Papi ist? Papi gefällt mir besser als Dad, und Mami schreibt sich leichter als Mummy, hat Anneka gesagt.«

Sie hatten sich anscheinend in der verhältnismäßig kurzen Zeit, über sehr viel unterhalten, aber Julian konnte das nur recht sein.

»Ich finde es gut, wenn du Papi zu mir sagst, es gefällt mir auch«, sagte er.

Sie umarmte ihn stürmisch und drückte ihm Bussis auf die Wangen. »Das muß ich gleich mal Mami sagen. Ist es dir recht?«

»Du machst es schon recht«, sagte er zärtlich. »Du bist ein ganz lieber Schatz.«

*

Jessica war in der Küche bei Hanna. Sie wollte auch so gut kochen lernen wie die Ältere, und vor allem so köstliche Kuchen backen können.

»Was macht ihr gerade?« begann Laura mit der ihr eigenen Diplomatie.

»Wir bereiten das Abendessen vor«, erwiderte Hanna.

»Ich möchte das auch mal so gut machen können«, sagte Jessica.

»Sieht wirklich lecker aus«, stellte Laura fest, »aber Hanna bleibt doch bei uns.«

»Sie könnte sich aber mal ausruhen, wenn ich ihr Arbeit abnehme.«

»Kann ich auch was tun?« fragte Laura.

»Du kannst doch Julian Gesellschaft leisten«, meinte Jessica.

»Wir haben gerade geredet. Es war wichtig. Es würde ihm sehr gut gefallen, wenn ich Papi zu ihm sage. Zu Dr. Norden sagen seine Kinder auch Papi. Und wenn ihr heiratet…« Sie geriet ins Stocken, weil es wohl doch ein bißchen zu schnell über ihre Lippen sprudelte. »Ich meine, wir haben auch darüber geredet, daß wir Hochzeit feiern können, weil ich noch Geschwister haben möchte. Hättest du was dagegen, Hanna?«

»Was sollte ich dagegen haben? Es würde mich freuen.«

»Siehst du, Mami, niemand hat was dagegen. Und Papi wäre es nur recht, wenn wir bald heiraten.«

»Sei nicht so vorlaut, Laura«, sagte Jessica mahnend.

»Genau das habe ich Papi gesagt, daß du sagst, ich bin vorlaut. Aber er findet es nicht. Er meint, daß ich es recht mache«, erklärte sie mit unverhohlenem Triumph.

»Was sagt man dazu?« seufzte Jessica.

»Daß Julian recht hat und Laura auch«, meinte Hanna schmunzelnd.

*

Es gab keine langen Diskussionen mehr. Die Hochzeit sollte im Oktober stattfinden. Vorher wollte Julian noch mit Jessica und Laura zu seinen Eltern fahren. Davor hatte Jessica aber doch Herzflattern, wenn Julian auch sagte, daß dies völlig überflüssig sei.

Allerdings hatten seine Eltern insgeheim auch Bedenken, denn sie trauten ihrem Sohn eigentlich nicht zu, Vater zu sein.

Sie hätten es lieber gesehen, wenn er eine Frau gewählt hätte, die nicht schon mal verheiratet gewesen war. Aber als sie Jessica kennenlernten, waren alle Be­denken im Handumdrehen geschwunden, und Laura gewann ihre Herzen genauso schnell, wie sie Julians Herz gewonnen hatte. Sie wollten sie gar nicht mehr weglassen, aber um nichts in der Welt wollte sich Laura von ihrem Papi trennen.

»Ich könnte eifersüchtig werden, aber ich bin es nicht«, sagte Jessica. »Es ist wundervoll, daß du diese Vorzugsstellung einnimmst, die jede Erinnerung an Victor verdrängt. Es stimmt mich so dankbar, Julian.«

»Aber du wirst mich doch hoffentlich nicht nur deswegen heiraten?« scherzte er.

»Nein, natürlich heirate ich dich auch, weil Laura noch Geschwister haben will«, gab sie mit einem bezaubernden Lächeln zurück.

Und ganz besonders deshalb, weil du der liebenswerteste, großartigste Mann bist, den der Himmel mir schenken konnte.«

»Liebenswert lasse ich mir gefallen, großartig bin ich nicht, aber ich bin auch überzeugt, daß uns ein besonders gütiges Geschick zusammenführte. Übrigens wußte ich schon an jenem Abend im Hotel, als ich noch gar nicht deinen Namen kannte, daß du die Frau bist, die ich haben wollte.«

»Und ich hatte in der Nacht zuvor von dir geträumt. Ganz deutlich sah ich dich, und du brachtest mir Laura. Du kannst die Nordens fragen. Ich habe ihnen von diesem Traum erzählt.«

Damals war es nur ein Traum, jetzt war es wundervolle Wirklichkeit, aber jedesmal, wenn sie Julian mit Laura an der Hand kommen sah, mußte sie an diesen Traum denken.

*

Die Hochzeit sollte für Laura zu einem unvergeßlichen Erlebnis werden, denn welches Kind konnte schon an der Hochzeit seiner Eltern teilnehmen, zu der es selbst soviel beigetragen hatte.

Julians Eltern waren gekommen. Sie wollten es sich nicht nehmen lassen, diesen Tag mit ihnen zu feiern. Leslie kam aus London und brachte ihren Lebensgefährten Robin Lester mit. Natürlich durften die Nordens nicht fehlen, und auch Alfred Kühne war eingeladen worden.

Laura und Anneka streuten Blumen. Jessica sah hinreißend aus in dem eierschalfarbenen Satinkleid.

Im Haar hatte sie nur eine Spange aus Myrten und um den Hals das Collier, das Julians Mutter zur Hochzeit getragen hatte. Es war eine besondere Liebesgabe für Jessica, daß Amelie Vreden sich davon trennte.

Jessica bekam all die Liebe geschenkt, die sie seit dem Tode ihrer Eltern missen mußte, und als sie mit Julian vor dem Altar kniete und sie sich ihr Jawort gaben, konnte man all die Liebe, die sie füreinander empfanden, in ihren Gesichtern lesen, wie sie sich ansahen und schließlich küßten.

»Wer könnte da noch zweifeln«, flüsterte Fee ihrem Mann zu.

»Es gibt doch noch Paare, die genauso glücklich sind wie wir.«

»Ich bin gespannt, ob sie auch so viele Kinder in die Welt setzen«, flüsterte er zurück.

»Man könnte auf den Geschmack kommen«, sagte Robin Lester zu Leslie.

»Du und heiraten?« meinte sie verblüfft.

»Eigentlich bist du doch dagegen«, sagte er.

»Wir sind doch beide gebrannte Kinder. Es geht auch so ganz gut.«

»Aber wenn man die Kinder sieht, spürt man doch, daß einem etwas fehlt.«

»Ja, da muß ich dir recht geben. Schließen wir einen Kompromiß, Robin. Wenn wir ein Kind bekommen, heiraten wir.«

*

Laura hatte gemeint, daß sie nun gleich nach der Hochzeit ein Baby bekommen würden, und sie war sehr enttäuscht, daß sie sich in Geduld üben mußte.

Tröstlich war es für sie, daß sie vorerst zu Hause Unterricht bekam, um die nötigen Voraussetzungen für einen Besuch an einer deutschen Schule zu bekommen. So hatte sie wenigstens unter Kontrolle, was da vor sich ging.

Sie durfte auch ihre Mami zu Dr. Norden begleiten, und so erfuhr sie dann auch zuerst, daß sie ein Brüderchen bekommen würde.

»Wann?« war ihre erste Frage.

»In fünf Monaten«, erwiderte Jessica.

»Du hast gesagt, es dauert neun Monate.«

»Ich wollte es erst genau wissen. Du hättest mich mit Fragen vier Monate lang gelöchert. Fünf Monate sind auch noch lang genug.«

»Aber wenn du weißt, daß es ein Brüderchen wird, kannst du es doch sehen. Warum kann ich es nicht sehen.«

»Man kann es nur bei der Ultraschalluntersuchung sehen. Für dich ist es viel schöner, wenn du es dann erst siehst, wenn es auf der Welt ist.«

»Es ist sehr aufregend«, sagte Laura tiefsinnig. »Für Papi auch. Jetzt weiß ich wenigstens, warum er immer so besorgt um dich ist. Und daß du dich wegen diesem Kollberg nicht mehr aufregen sollst. Was war das eigentlich für ein Mann?«

»Einer, der viel Unrecht auf sich geladen hat, aber nun können wir wenigstens die entschädigen, die durch ihn in große Not geraten sind.«

Das konnte sie, nachdem ihr die Lebensversicherung ausgezahlt worden war.

Es waren tatsächlich zwei Millionen, etwa der Betrag, um den Kollberg sie betrogen hatte. Doch das Glück, das sie an Julians Seite gefunden hatte, bedeutete ihr mehr als alles Geld. Er hatte nichts dagegen, daß sie damit anderen half.

Ihr Glück war vollkommen, als sich ihr Sohn ins Leben schrie, kräftig und gesund und nach Julians Worten das schönste Baby, das er je gesehen hatte. Da konnte Jessica lachen.

»Wie viele hast du denn schon gesehen? Und verdirb es nur nicht mit Laura.«

Laura wartete mit den Großeltern und Hanna draußen, aber sie war außer sich vor Freude, als sie das kräftige Stimmchen hörte. »Das ist mein Brüderchen, jetzt ist es da.«

Sie durfte es auch gleich sehen und bewundern. Aber dann sah sie Julian an.

»Gell, Papi, ich bin trotzdem dein Schatz«, flüsterte sie zaghaft.

»Mein großer, lieber Schatz«, versicherte er.

»Und was bin ich?« fragte Jessica, als sie dann allein sein konnten, weil Laura mit den Großeltern und Hanna nach draußen gegangen war.

»Meine heißgeliebte Jessimaus«, erwiderte er und küßte sie innig. Sie waren glückliche Eltern.

»Jetzt haben wir zwei Kinder«, sagte Jessica, »ob wir die Nordens noch einholen?«

»Das dürfte euch schwerfallen«, ertönte da Daniel Nordens Stimme von der Tür her. »Aber euch trauen wir ja alles zu.«

Dr. Norden Extra Staffel 1 – Arztroman

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