Читать книгу Dr. Norden Extra Staffel 1 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 9

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»Wie kommt es, daß es Doppelgänger gibt, Mami?« fragte Anneka.

Die Familie saß beim Mittagstisch. Es war Mittwoch, und Dr. Daniel Norden hatte seinen freien Nachmittag, da konnten sie sich Zeit nehmen, was nicht oft vorkam.

»Das sind so seltene Dinge, die sich die Natur einfallen läßt«, erklärte Dr. Norden. »Ganz gleich sind zwei Menschen nie, irgendwelche Unterschiede gibt es immer, so hat zum Beispiel jeder Mensch andere Fingerabdrücke.«

»Wie kommst du denn auf Doppelgänger?« fragte Fee interessiert.

»Wir haben zwei Jungen in der Parallelklasse«, sagte Anneka, »den Mark und den Christian, die sehen aus wie Zwillinge.«

»Das weiß ich ja gar nicht«, sagte Fee überrascht. Sie war Schulärztin an Annekas Schule und kannte durch die regelmäßigen Untersuchungen eigentlich alle Kinder. So etwas wäre ihr bestimmt aufgefallen.

»Der Mark ist erst seit ein paar Tagen bei uns, der hat vorher in Köln gewohnt.«

»Das ist aber ein enormer Zufall«, meinte Daniel. »Die meisten Menschen erfahren es nie, wenn sie tatsächlich einen Doppelgänger haben. Sind sie vielleicht miteinander verwandt und wußten es nicht?«

»Christian sagt, ihre Mütter hätten schon oft miteinander darüber gesprochen, sie sind bestimmt nicht verwandt.«

»Ist doch so was Besonderes auch nicht«, meinte Danny. »Viele Filmschauspieler haben ein Double, die müssen sich auch sehr ähnlich sehen.«

»Vielleicht hab ich ja auch einen und lern’ ihn mal kennen. Dann wechseln wir uns mit der Schule ab, einen Tag geht er hin und den anderen ich.« Felix war im Augenblick nicht gut auf die Schule zu sprechen, weil er mit Fräulein Schreiber, seiner Mathelehrerin, nicht zurechtkam. Mathe war nicht sein Lieblingsfach, wobei Fee meinte, daß Fräulein Schreiber zu ungeduldig mit ihm war, sie würde sich darum kümmern müssen.

Jan und Desiree, die kleinen Nachkömmlinge der Nordens, wurden quängelig, sie wollten von ihren Stühlchen.

Fee und Lenni hoben sie herunter, und Lenni ging mit ihnen ins Bad, um sie für den Mittagsschlaf zurechtzumachen.

Fee und Daniel hatten noch ein wenig Ruhe und Zeit für einen Kaffee, nachdem die Jungen und Anneka in ihre Zimmer gegangen waren.

Sie waren ein harmonisches Ehepaar, das das Zusammensein genoß.

Lange dauerte dies jedoch nicht. Das Telefon klingelte. Es war Dieter Behnisch.

Daniel hörte eine Weile schweigend zu. »Ja, gut, ich komme.«

»Wieder kein freier Nachmittag?« fragte Fee mitfühlend.

»Frau Lengfeld geht es nicht gut. Dieter fürchtet, sie könnte die Nacht nicht überleben. Sie möchte mich sprechen.«

Fee seufzte. Natürlich würde Daniel zu Frau Lengfeld fahren. Er hatte die einsame alte Dame in den letzten Monaten betreut, bevor sie mit einem Schlaganfall in die Behnisch-Klinik gekommen war. Er war praktisch der einzige Mensch, zu dem sie noch Kontakt und vor allem Vertrauen gehabt hatte.

Zusammen mit Dr. Dieter Behnisch saß er an Margareta Lengfelds Bett. Sie atmete mühsam.

»Seien Sie ganz ruhig, Frau Lengfeld, es wird schon wieder werden.«

Frau Lengfeld lächelte nun.

»Danke, Herr Doktor, wenn ich... wenn ich…«

Dr. Norden nahm ihre Hand.

»Es liegt alles in meinem Schreibtisch, Testament, Dokumente, würden Sie sich darum kümmern? Ich wüßte niemanden, den ich sonst darum bitten könnte.«

»Natürlich, Frau Lengfeld, aber nun gibt Dr. Behnisch Ihnen eine Spritze, Sie werden gut schlafen können und dann wird es Ihnen wieder bessergehen.«

Tatsächlich entspannte sich ihr Gesicht, und sie schlief ein. Dr. Behnisch überprüfte die Infusion, dann gingen sie leise hinaus.

»Danke, daß du gekommen bist.«

»Ist doch kein Thema.«

»Vielleicht erholt sie sich doch noch, sie sah jetzt viel besser aus, als vor einer Stunde. Heute ist ein trauriger Tag. Henriette von Ahlen ist gestorben.«

»In dieser Familie gibt es viel Unglück«, meinte Daniel, der die von Ahlens kannte. Vor zwei Jahren Leon und jetzt die Mutter.«

Dr. Behnisch nickte. »Eine seltsame Familie.«

Daniel verabschiedete sich, und Dr. Behnisch ging in sein Zimmer, in dem Johann von Ahlen auf ihn wartete.

Mit unbewegtem Gesicht stand Johann von Ahlen vor Dr. Behnisch, straff und ungebeugt. Soeben hatte ihm der Arzt erklären müssen, daß seine Frau an Herzversagen gestorben war. Johann von Ahlen legte großen Wert auf die Feststellung, daß es in seiner Familie noch nie eine unstandesgemäße Heirat gegeben hatte. Er wollte sich jetzt schon gar nicht daran erinnern, daß erst sein jüngerer Sohn Leon mit der Tradition gebrochen hatte. Leichtfertig, unüberlegt und skrupellos… so wenigstens war die Meinung des Freiherrn von Ahlen.

Kann diesen Mann denn gar nichts erschüttern? dachte Dieter Behnisch. Kann er sich so beherrschen? Oder hat er kein Herz, keine Seele? Die hellen grauen Augen blickten ihn kühl an, und vielleicht konnte ihm Johann von Ahlen vom Gesicht ablesen, was er dachte. Er sagte tatsächlich etwas, aber über diese Worte erschrak Dr. Behnisch noch mehr.

»Nun hat Leon auch sie auf dem Gewissen. Sie hat ihn so geliebt.«

Seine Stimme klang tonlos. Dr. Behnisch mußte erst den aufsteigenden Groll hinunterschlucken, bevor er etwas erwidern konnte.

»Ihr Sohn lebt auch nicht mehr«, sagte er.

»Der Tod löscht nicht alles aus. Er hat uns genug angetan. Was soll darüber noch gesprochen werden? Ich will Ihnen auch nicht Ihre kostbare Zeit rauben. Ich bedanke mich für das, was Sie für meine Frau getan haben.«

»Wenn Sie sie noch einmal sehen wollen…« Dr. Behnisch hielt inne, denn der andere schüttelte schon den Kopf.

»Hanno war ja sicher bei ihr«, sagte er.

»Er ist noch bei seiner Mutter«, stellte Dr. Behnisch mit deutlich vorwurfsvollem Unterton fest.

»Das genügt. Er wird mir auch die Formalitäten abnehmen. Ich darf mich verabschieden!«

Dieter Behnisch hatte nichts dagegen. Ihm lief fast die Galle über, so herzlos fand er diesen Mann.

Als Ahlen gegangen war, dachte er, daß seine Frau wohl nicht mehr hatte leben wollen. Sie hatte sich nicht gewehrt gegen das Sterben. Sie hatte den Tod als einen Freund

erwartet, und das hatte sie auch gesagt.

Hanno von Ahlen saß noch am Sterbebett seiner Mutter. Jetzt war ihr feines Gesicht still und friedlich. Er betrachtete es mit Wehmut.

Du hast zuviel Liebe an Leon verschwendet, Mama, dachte er. Er hat es dir nicht gedankt. Aber vielleicht hätte es dir geholfen, wenn du sein Kind hättest um dich haben können. Warum hast du dich nur nicht aufgelehnt gegen Vater? Warum hast du nie gewagt, ihm zu widersprechen?

Er streichelte noch einmal ihre gefalteten Hände, dann erhob er sich. Auch sein Gesicht war nun verschlossen, aber ihm sah man den Schmerz an, der ihn bewegte.

Dr. Behnisch hatte Zeit für ihn, als er um ein kurzes Gespräch bat.

»Hat mein Vater sich gemeldet, Dr. Behnisch?« fragte er.

»Er war hier und ist wieder gegangen, nachdem ich ihm mitgeteilt habe, daß Ihre Mutter gestorben ist.«

»Das sieht ihm ähnlich! Manchmal denke ich, daß er unter aller Härte einfach feige ist. Bitte, nehmen Sie es mir nicht übel, daß ich so von meinem Vater spreche, aber das Maß ist eigentlich voll. Ich werde meinen Weg jetzt allein gehen.«

»Ich muß gestehen, daß auch ich durch seine Reaktionen sehr befremdet bin. Gut, es ist viel auf Sie eingestürmt… erst der Tod Ihres Bruders vor einem knappen Jahr und dann die Krankheit Ihrer Mutter…«

»Denken Sie nicht nach, Dr. Behnisch, in Vater sitzt doch nur der Groll, daß Leon mit der Tradition gebrochen hat. Er hat sich geweigert, Leons Frau auch nur kennenzulernen. Er weigert sich, die Existenz des Kindes zur Kenntnis zu nehmen, läßt kein gutes Haar an Leon, auch nach seinem tragischen Tod nicht. Gut, ich war auch mit manchem nicht einverstanden, was mein Bruder tat, auch nicht mit seiner Lebensweise, aber Cordula war doch kein Fehltritt! Sie war ein Mädchen aus gutem Hause, und Leon lebte recht gut von ihrer Mitgift. Ich sollte jetzt nicht darüber sprechen, entschuldigen Sie, aber ich möchte Ihnen von Herzen danken, daß Sie Mama das Sterben erleichtert haben. Ich denke, daß Sie auch das Recht haben, ein wenig hinter die Kulissen zu schauen.«

Dr. Behnisch verriet nicht, wieviel er von dieser Familie wußte. Er sagte auch nicht, daß er von Leon von Ahlen kaum eine bessere Meinung gehabt hatte als von seinem Vater. Aber Hanno war ein sympathischer, feinsinniger und kluger Mann. Dr. Behnisch konnte nur hoffen, daß

er jetzt keine Familienrücksichten mehr nehmen und seinen Weg tatsächlich allein gehen würde.

»Ich werde jetzt die Formalitäten erledigen«, erklärte Hanno stockend. »Die Rechnung schicken Sie bitte gleich an mich, damit mein Vater sie nicht erst ein paar Wochen ignoriert.«

Sie trennten sich mit einem festen Händedruck. Dr. Behnisch hätte dem Jüngeren gern noch ein paar ermunternde Worte gesagt, aber ihm war die Kehle eng, weil er nun an Cordula Mohl denken mußte, die zwar offiziell den Namen von Ahlen führen konnte, aber nun wieder unter ihrem Mädchennamen lebte.

*

Henriette von Ahlen war im engsten Familienkreis zu Grabe getragen worden. Ihr Bruder mit Familie war gekommen, eine Kusine, ein paar alte Bekannte. Es war eine schlichte Trauerfeier, kurz gehalten und ohne sentimental stimmende Musik.

Die Ahlen wohnten in einer prachtvollen, schloßartigen Villa, die von einem großen Park umgeben war, und sie hatten schon lange ein zurückgezogenes Leben geführt.

Mit der ihm angebotenen Herablassung stellte Johann den Verwandten gegenüber fest, daß man hier ja nichts an Kontakten hatte noch finden können, da sich hier nur Parvenues breitgemacht hätten, und demzufolge hatte man sich immer mehr zurückgezogen.

»Ich vermisse deine Schwiegertochter«, sagte Baron Otto, Henriettes Bruder, der mit Johann gleichaltrig war.

»Wir haben keinen Kontakt«, erwiderte Johann abweisend, während Hanno zusammengezuckt war.

»Warum nicht?« Otto ließ nicht locker.

»Sie ist eine Bürgerliche, das dürfte dir doch bekannt sein!«

»Na und? Unsere Schwiegertochter ist auch eine Bürgerliche, aber wir sind damit sehr zufrieden, sie hat frisches Blut und auch Geld in unsere Reihen gebracht, und sie haben drei gesunde Kinder.«

Hanno beobachtete seinen Vater, aber Johann beherrschte sich.

»Ich bleibe meinen Ansichten und unserer Tradition treu«, sagte er steif.

Baron Otto zuckte die Schultern. »Jedem das seine«, erwiderte er brummig, »aber man sollte doch mit der Zeit gehen. Na ja, du hast nichts verloren, du brauchst nur zu verkaufen, wenn du diesen Besitz nicht mehr halten kannst.«

»Ich denke nicht daran, etwas zu verkaufen.«

»Und für wen willst du es aufheben?«

»Ich habe ja noch einen Sohn.«

»Aber Hanno scheint keine Neigung zu haben, sich zu verheiraten.«

»Jedenfalls lasse ich mir nicht vorschreiben, wer standesgemäß sein könnte«, warf Hanno ein.

»Unsere Privatangelegenheiten gehen auch niemanden etwas an«, sagte Johann verweisend.

Es blieb niemand über Nacht. Alle schienen froh zu sein, das Haus wieder verlassen zu können.

»Du hättest dir deine Bemerkung ersparen können, Hanno«, sagte ­Johann von Ahlen, als sie allein waren.

»Ich bin vierunddreißig Jahre alt, Vater, wenn ich dich daran erinnern darf. Und ich kann meine Meinung sagen, wann und wo ich will. Du wirst kein Glück haben, wenn du mir den Mund verbieten willst. Ich habe bereits meine eigenen Pläne, bevor ich an der Tradition auch noch ersticke.«

Und dann ging er mit einem kurzen Gutenachtgruß davon. Er wollte an diesem Abend keinen Streit heraufbeschwören, aber er wußte, daß es dazu kommen würde, wenn er sich jetzt nicht zurückzog.

*

Cordula Mohl las die Todesanzeige der Baronin am nächsten Tag in der Zeitung.

Von ihrem Leiden erlöst wurde Henriette Baronin von Ahlen

hieß es da.

Im Namen der Familie, Johann Baron von Ahlen.

Hanno Baron von Ahlen.

Die Beerdigung fand im engsten Familienkreise statt.

Cordula schloß die Augen. Gut, daß Nora noch nicht lesen kann, dachte sie, so brauche ich ihr auch keine Erklärung zu geben.

Sollte sie Trauer fühlen? Nein, das konnte sie nicht. Einmal, ein einziges Mal war sie Henriette von Ahlen begegnet. Es war nach Leons Unfalltod gewesen. Und was hatte sie zu hören bekommen, außer verlegenen Ausreden? »Es tut mir ja so leid, aber ich kann leider nichts für Sie und das Kind tun. Mein Mann ist unerbittlich und unversöhnlich.«

Da hatte Cordula gesagt: »Ich bedauere es auch sehr, Leon geheiratet zu haben, das dürfen Sie mir glauben, und ich bin deshalb froh, daß ich mein Kind für mich allein haben kann.«

Ja, sie war stolz, diese Cordula Mohl, die sich ihrer Herkunft wahrhaftig nicht zu schämen brauchte. Es war nur Pech gewesen, daß ihr Vater ein genialer Konstrukteur war… und daß Leon von Ahlen nur eine Leidenschaft gehabt hatte: Schnelle Autos. Für nichts anderes hatte er sich begeistern können. Cordula hatte an ihrem Vater gehangen, ihre Mutter hatte eines Tages erklärt, daß sie mit dem Verrückten nicht mehr leben könne und sich scheiden lassen.

Ein paar Jahre später hatte dann Cordula auch so einen Verrückten geheiratet. So, wie er mit dem Auto raste, war er wie ein Sturmwind in ihr Leben eingebrochen und ihr Vater war von ihm begeistert gewesen. Sie aber auch, das wollte sie gar nicht leugnen. Und ihr hatte es überhaupt nichts ausgemacht, daß sie von seinem Vater nicht akzeptiert wurde. Leon hatte sich ohnehin nicht gerade freundlich über ihn geäußert und seine Mutter als eine dem Mann hörige, schwache Frau geschildert.

Das alles war Cordula freilich nicht. Sie war intelligent. Sie studierte Architektur, als sie Leon kennenlernte, und schloß ihr Studium auch während der Ehe ab. Und das war gut so, denn daß es Leon nicht mit dem Geldverdienen hatte, sondern eher mit dem Ausgeben, das hatte sie schon bald gemerkt. Aber das Kind war da. Sie konnte nicht so arbeiten, wie sie wollte. Sie wollte ja Nora auch nicht vernachlässigen, die ein wahrer Sonnenschein war und ihr Leben mit Freude erfüllte… auch wenn sie sich über Leon oft ärgern mußte. Aber ihr Vater hielt nach wie vor große Stücke auf ihn, obgleich

er es war, der fast den gesamten Lebensunterhalt für sie bestritt, denn was Leon wirklich verdiente, verbrauchte er auf seinen Reisen. Von Zuhause bekam er nichts.

Hanno hatte Cordula ein paar Mal getroffen, und sie hatte einen guten Eindruck von ihm gewonnen. Jedoch verbot ihr eigener Stolz ihr, einem von Ahlen entgegenzukommen.

Cordula war in Reminiszenzen versunken, immer noch die Zeitung vor sich, als ihre Tochter in der Tür erschien.

Ein bildhübsches Kind war die kleine Vierjährige. Wie ein Engel sah sie aus mit ihrem Lockenköpfchen. Ihre großen blauen Augen erinnerten sehr an Leon, wenn sie auch viel wärmer blickten.

»Mami, was machst du denn nur so lange?« fragte Nora vorwurfsvoll, »wir wollen doch heute zu Opi fahren! Er hat Geburtstag.«

»Ich habe es nicht vergessen, Schatz, ich bin gleich fertig.«

»Wir müssen auch noch die Torte abholen und die Blumen«, wurde sie erinnert.

»Welch ein Glück, daß mein Mädchen so ein gutes Gedächtnis hat«, scherzte Cordula.

»Gell, ich bin gut. Das sagt Dorle auch, aber sie will nicht mitkommen, sie will lieber mal wieder Frühjahrsputz machen.«

Cordula seufzte. Dorle war schon in ihrem Elternhaus tätig gewesen, aber sie war lieber bei ihr geblieben, als sich Hans Mohl zurückzog aufs Land. Sie hatte ihm immer gegrollt, daß er Leon soviel Freiheiten gelassen hatte. Und nun sollte sich Hans Mohl ruhig von der brummigen Resi versorgen lassen, das meinte Dorle. Und ihr kam man auch mit gutem Zureden nicht bei.

»Ich bin ja froh um dich… und daß du hierbleibst, Dorle«, sagte Cordula zu der mütterlichen Frau, »aber allzu nachtragend solltest du auch nicht sein, Paps gegenüber. Er macht sich jetzt genug Gewissensbisse.«

»Er ist nicht schuld, daß sein Schwiegersohn in den Tod gerast ist, und das hätte er ihm auch nicht antun dürfen, da es der beste Wagen war, den der Chef je gebaut hatte. Aber er grübelt jetzt immer noch nach, ob nicht doch ein Fehler von ihm schuld war.«

»Er weiß, daß es kein Konstruktionsfehler war, Dorle. Wir wollen darüber auch nicht mehr reden.«

»Lerne leiden ohne zu klagen«, brummte Dorle.

»Ich leide nicht.«

»Eine Gemeinheit ist es, daß man so tut, als würden Sie und Nora gar nichts existieren! Das ist meine Meinung, und dabei bleibe ich.«

»Ich lasse jedem seine Meinung«, erklärte Cordula ernst. »Und ich brauche niemanden, um dessen Gunst ich buhlen müßte, das liegt mir nicht.«

»Andere hätten aber eine solche Schwiegertochter mit Kußhand genommen.«

»Nun, ich habe mein Lehrgeld bezahlt. Schluß damit, Dorle.«

»Na, vielleicht bringt dem Baron der andere Sohn eine Hochgestochene ins Haus«, fuhr Dorle fort, denn so schnell konnte sie sich nicht beruhigen, wenn die Rede auf die Ahlens kam.

»Die Baronin ist gestorben, die Todesanzeige steht in der Zeitung«, sagte Cordula ruhig.

»Frieden sei mit ihr«, murmelte Dorle, denn fromm war sie auch, und eigentlich sollte man ja Toten wirklich nichts nachsagen.

Nora wurde ungeduldig. »Jetzt fahren wir aber, Mami«, rief sie. »Und denk dran, daß wir noch viel abholen müssen.«

So fuhren sie also los, Richtung Wörthsee. Cordula konnte gar nicht vergessen, daß sie noch die Geburtstagstorte und die Blumen abholen mußte, denn Nora erinnerte sie dauernd daran. Für den Rest der Fahrt zeigte sich das Kind dann sehr besorgt, ob der Opi auch nicht denken würde, sie würden gar nicht mehr kommen, weil es doch schon so sonnig wäre wie mittags.

»Wir wollen froh sein, daß die Sonne mal wieder scheint«, sagte Cordula, »wir sind es nicht mehr gewohnt. Wir sind noch nicht spät dran, glaub mir.«

»Warum hat Dorle gesagt: ›Frieden sei mit ihr‹?« lenkte Nora ab, mal wieder unter Beweis stellend, daß sie ihre Ohren überall hatte, so wie ihre Augen.

»Es ist jemand gestorben. Du kennst die Dame nicht«, erwiderte

»Ich finde es auch nicht gut, wenn jemand stirbt. Aber wenn sich jemand derrent, ist er selber schuld.«

Cordula schrak zusammen. »Wie kommst du darauf?« fragte sie rauh. »Wer sagt so etwas?«

»Die Steffi im Kindergarten. Da ist die Oma gestorben, und Steffi ist traurig. Und sie hat gesagt, daß mein Papa ja auch schon tot ist, aber wer sich derrennt ist selber schuld. Hat sie gesagt, Mami, kannst es mir glauben.«

»Gut, wir reden nicht mehr darüber«, sagte Cordula.

»Will ich ja auch gar nicht. Ich weiß sowieso nicht mehr, wie er ausgesehen hat, er war ja nie zu Hause.«

Hat sie das wirklich begriffen, oder hat Dorle mal darüber geredet, überlegte Cordula.

Aber Nora war schon bei einem anderen Thema.

»Schau mal die dicken Kühe, Mami, die geben bestimmt viel Milch. Kann man die trinken, oder ist die auch giftig?«

»Es wird alles gründlich untersucht, Nora«, erklärte Cordula, und da endlich gab die kleine Ruhe.

*

Es war keineswegs so, daß Cordula immer ein Herz und eine Seele mit ihrem Vater gewesen wäre, aber vielleicht waren sie einander deshalb besonders zugetan, weil sie beide starke Charaktere waren… und weil sie Meinungsverschiedenheiten ausdiskutieren konnten, ohne nachtragend zu sein.

Hans Mohl hielt schon nach den Gästen Ausschau.

Nora sprang gleich aus dem Wagen und stürmte auf ihn zu, und Cordula genoß es, ihnen zuzuschauen, wie sie glücklich lachten und sich immer wieder küßten.

Das war ihr Paps, wie sie ihn liebte. Ein Mann mit Herz, obgleich er ein Leben lang nur mit Maschinen gearbeitet hatte. Und weil er soviel Herz hatte, konnte er auch oft genug die Menschen nicht richtig durchschauen, wenn sie Interesse für seine Arbeit aufbrachten.

So war es auch bei Leon gewesen. Vielleicht war er für Leon wirklich der einzige Mensch gewesen, zu dem er aufgeblickt hatte, der ihm wirklich viel bedeutete.

Nachdem Hans seine Enkeltochter zärtlich umarmt und geküßt hatte, wandte er sich Cordula zu. Immer war er ein wenig scheu ihr gegenüber seit Leons Tod, so, als wollte er fragen, ob sie ihn denn wirklich noch möge.

Cordula umarmte ihn herzlich. »Alles, alles Gute für dein neues Lebensjahr, Paps, und bleib schön gesund.«

»Das werde ich schon, ich trete ja kurz, Cordula«, erwiderte er.

»Das kannst du mir doch nicht weismachen! Ich lese genug über dich.«

Nora war nun schon zu Resi in die Küche gelaufen. Der Kleinen gegenüber war die gute Resi nicht brummig, und sie strahlte über ihr ganzes rundes Gesicht, als Gaby kam.

»Da ist ja unser Kleinchen«, sagte sie, »kannst auch gleich schlecken.«

Draußen sagte Hans Mohl zu seiner Tochter: »Ich habe heute was in der Zeitung gelesen.«

»Die Todesanzeige?« fragte Cordula.

»Ja, nun ist sie auch gestorben. Es wird wohl das Beste für sie sein.«

»Sag das nicht, Paps, sie hätte aus ihrem Leben viel mehr machen können. Gut, Leon war nicht gerade ein liebevoller Sohn, aber mit ihrem ständigen Flehen, er möge zurückkehren, hat sie doch gar nichts erreicht. Er hat seinen Vater viel zu sehr gehaßt. Aber wir wollen heute nicht über Leon sprechen, Paps.«

»Ich denke oft, daß er sich vielleicht doch geändert hatte. Er war doch kein schlechter Kerl, Cordula.«

»Nein, das war er nicht, nur ein ganz großer Egoist, und wenn er sich auch geändert hätte… unsere Ehe wäre nicht besser geworden. Ich hatte meine Illusionen bald verloren. Ich weiß, daß du ihm viel bedeutet hast, und wenn du sein Vater gewesen wärest, hätte er sich wohl ganz anders entwickelt.«

»So siehst du das also!«

»Ja, so sehe ich es, und nun wollen wir lieber deinen Geburtstag feiern.« Sie küßte ihn auf beide Wangen. »Sechzig Jahre und ein bißchen weiser«, sagte sie lächelnd. »Aber gut schaust du aus, Paps.«

»Ich bin ja auch nicht mehr so gestreßt, und Resi versorgt mich gut. Dorle grollt wohl immer noch, oder?«

»Sie ist stur, aber wir profitieren ja davon. Was würde ich denn ohne sie machen?«

»Läuft es gut bei dir?« fragte er.

»Ich kann mich wirklich nicht beklagen, aber Nora darf auch nicht zu kurz kommen. Jetzt verziehst du dich mal für einige Minuten, damit wir den Geburtstagstisch aufbauen können, sonst ist dein Enkelkind schwer beleidigt.«

»Ihr sollt euch doch mit mir nicht soviel Mühe machen, Cordula«, wandte er verlegen ein.

»Das ist doch keine Mühe! Eigentlich wäre ja ein ganz großes Fest fällig, aber nachdem du dich in deine Einsiedelei zurückgezogen hast, kann dich ja kaum noch jemand finden.«

Doch darin sollte sie sich getäuscht haben, wie sie später erleben sollten. Vorerst hatte es Nora natürlich sehr wichtig, und sie murmelte auch noch mal das Geburtstagsgedicht vor sich hin, zu dem sie von sich aus etwas hinzugedichtet hatte. Diesbezüglich zeigte sie schon jetzt eine verblüffende Begabung.

Nun stand die Torte auf dem Tisch, die schönen Blumen und die liebevoll hergerichteten Päckchen. Die Kerzen wurden angezündet, und ›Happy Birthday‹ wurde gesungen. Der Opi strahlte, aber man sah ihm auch die Rührung an. Und dann sagte Nora ihr Gedicht auf.

»Lieber Opi, zu deinem Geburtstagsfeste wünschen wir das Allerbeste. Bleibe fröhlich und gesund, ich liebe an dir jedes Pfund.«

Da mußte er natürlich lachen, und Cordula stimmte fröhlich ein. »Das hat sie sich selbst ausgedacht, Paps, ich hatte keine Ahnung.«

»Gell, das habe ich gut ausgedacht, Opi?« freute sich Nora über ihren Erfolg.

»Sehr gut, mein Liebling«, erwiderte er zärtlich.

»Und jetzt mach’ ich hopp, hopp, hopp, und schenke dir den Blumentopp«, zwitscherte sie.

Da drückte er sie ganz lange und fest an sich. »Es ist so schön, daß wir dich haben«, sagte er innig.

»Und was meinst du, wie froh wir sind, daß wir dich haben«, sagte Nora.

In diesem Moment vernahmen sie schon das Nahen mehrerer Autos, und gleich darauf wurde ein Hupkonzert veranstaltet.

»Die Verrückten kommen«, sagte Resi.

»Guter Gott«, murmelte Hans. Aber Cordula freute sich, daß man ihn doch nicht vergessen hatte. Die Kollegen kamen, und sie brachten von der Firmenleitung ein Geschenk, mit dem Hans wirklich nicht gerechnet hatte. Es konnte nicht ins Haus gebracht werden, es stand vor der Tür, metallig glitzernd im Sonnenschein.

»Dein neuestes Modell, Hans«, sagte Lutz Fiebig. »Es wird bestimmt der Renner der Saison.«

»Toll«, sagte Nora bewundernd, »wirklich toll und ganz neu!«

Cordula gegenüber hatten die Besucher anscheinend einige Hemmungen, aber sie verstand es, diese zu überbrücken. Und sie organisierte auch gleich im ›Hirschen‹ ein Essen für die Gäste, während Hans noch überlegte, was man so vielen Leuten wohl vorsetzen könnte.

Cordula freute sich ungemein darüber, daß ihr Vater nicht vergessen war, daß ihm solche Anerkennung zuteil wurde, daß sie auch an diesem Tag immer wieder hören konnte, wie nötig man seinen Rat, seine Hilfe brauche. Und Lutz Fiebig sagte dann, nur für Cordula bestimmt, daß sie alle hoffen würden, daß Hans, wie auch sie, den Schock über Leons Tod überwunden hätten.

»Es war jedenfalls kein Konstruktionsfehler und nicht Vaters Schuld«, sagte sie leise, aber mit großem Nachdruck. »Es ist schön, daß Sie alle gekommen sind.«

Es wurde viel gelacht an diesem Tag, und Nora war mitten drin und hatte immer wieder die Lacher auf ihrer Seite mit ihren drolligen Bemerkungen.

»Den Wagen bekommst du«, sagte Hans am Ende dieses langen, fröhlichen Tages zu Cordula.

»Kommt gar nicht in Frage, Paps«, widersprach sie sofort. »Er ist hier viel besser aufgehoben. Es gibt so viele Rowdys bei uns, und ein solcher Wagen verführt nur dazu, gestohlen zu werden.«

»Den kriegt keiner auf, der hat alle Sicherungen«, wandte Hans ein.

»Dann wird er aus purer Wut demoliert. Schau dir mal die linke Seite von meinem Wagen an. Da hat auch so ein Rowdy einen langen Kratzer hinterlassen.«

»Ich verstehe so was nicht«, meinte er kopfschüttelnd. »Aber einen bombensicheren Lack gibt es nicht, und den kann man auch nicht herstellen. Kind, es gibt zuviel Schlechtigkeit in der Welt.«

»Aber auch viel Gutes und viel Freude. Heute haben wir es doch wieder mal erlebt, Paps.«

»Und ich habe wirklich nicht damit gerechnet!«

»Wie heißt es doch: Alle Freude, die wir geben, kehrt ins eigne Herz zurück.« Sie machte eine kleine Pause und legte die Hand auf seine Schulter. »Das wird bei dem Herrn Baron von Ahlen bestimmt nicht der Fall sein.«

»Er wird sich auch nicht klar sein, um was er sich selbst betrügt. Aber ich bin froh, daß ich unsere Nora mit niemandem teilen muß. Und dich auch nicht«, fügte er hinzu.

Dann gingen sie zu Bett, und seltsamerweise hatte Cordula in dieser Nacht einen wunderschönen Traum, den sie aber nicht zu deuten vermochte.

*

Johann von Ahlen sollte schon bald den nächsten Schock bekommen. Im Sägewerk, das auch mit zu seinem Besitz gehörte, war ein Brand ausgebrochen. Hanno war sofort hingefahren, aber das Feuer war schnell gelöscht worden. Hanno hatte seinen Vater gleich angerufen, damit er sich nicht aufregen sollte. Aber das regte ihn gar nicht so sehr auf, worüber er sich selbst wunderte. Ihn beschäftigte unaufhaltsam seit Henriettes Beerdigung der Gedanke, daß Hanno tatsächlich eigene Wege einschlagen könnte.

Es gab doch hier wahrhaftig genug zu tun und zu denken. Es war ja nicht nur das Sägewerk, sie besaßen auch eine Papierfabrik, und sie waren an verschiedenen Unternehmen beteiligt. Für Hanno gab es also ein vielfältiges Betätigungsfeld. Leider wollte Johann von Ahlen jedoch nicht wahrhaben, daß er der Patriarch war und bleiben wollte, solange er lebte. Es war für ihn so selbstverständlich, daß er akzeptiert wurde, daß er ein Aufbegehren dagegen überhaupt nicht begreifen wollte.

Es war ja jetzt nur noch Hanno da, und er würde sowieso alles erben. Er würde es allerdings erwarten können, bis es an der Zeit sein würde, daß er Herr im Hause war.

Aber Johann von Ahlen wollte auch noch einen Erben erleben, einen Stammhalter heranwachsen sehen, und all sein eiserner Wille war darauf ausgerichtet. Er suchte jetzt nach einer passenden Frau für Hanno, überzeugt, daß der sich letztlich doch seinem Willen fügen würde. Hanno war immer zur Verständigung bereit gewesen. Aber Johann zog nicht in Betracht, daß dies nur Henriette zuliebe so gewesen war, weil Hanno seine Mutter geliebt hatte, obgleich sie immer Leon vorgezogen hatte. Aber er hatte empfunden, wie sie gelitten hatte in dieser Ehe, in der sie sich nur anpassen mußte. Leider war sie so erzogen worden, daß sie gar nicht anders konnte.

Hanno war nicht der Mensch, der Knall auf Fall ging, wie es Leon getan hatte, der einfach die Tür hinter sich zugeschlagen hatte. Irgendwie hing er an allem, wofür er nun schon Jahre wirklich ernsthaft gearbeitet hatte, was bei Leon ja nie der Fall gewesen war. Bei ihm hatte es ja schon den Ausschlag gegeben, sein Elternhaus zu verlassen, daß sein Vater sich weigerte, ihm ein teures Auto zu kaufen, das er sich in den Kopf gesetzt hatte. Mit der Zeit hatte er auch begriffen, daß sein Vater nur solchen Haß auf Hans Mohl und seine Tochter hatte, weil Leon durch sie an diese schnellen und teuren Wagen herankam. Und fast war es ein Triumph gewesen, als Leon mit einem solchen Wagen in den Tod gefahren war.

»Nun seht ihr es«, hatte er gesagt, »ich habe es geahnt, daß es mal so kommen würde!«

Aber weiser geworden war Johann von Ahlen durch diesen Schicksalsschlag nicht. An diesem Tag sollte er jedoch noch etwas erfahren, was ihm fürchterlich zusetzte.

Gustl, das Faktotum – Verwalter, Butler, Chauffeur in einer Person, und ein Mann für alle Arbeiten, die es in einem großen Hause zu verrichten galt – erschien und sagte, daß eine Dame den Herrn Baron zu sprechen wünsche.

»In welcher Angelegenheit?« fragte der Baron barsch.

»Das will sie Ihnen selbst sagen. Wenn Sie sie nicht empfangen, gäbe es einen Skandal, hat sie gesagt.«

Der gute Gustl war ins Stottern geraten, und er duckte sich, als der scharfe Blick Johanns ihn buchstäblich durchbohrte.

»Es ist nicht die junge Frau«, murmelte er, »die Witwe. Nein, die ist es nicht, aber sie kommt wohl wegen dem jungen Herrn.« Gustl wand sich buchstäblich vor Verlegenheit, und man sah ihm das Unbehagen an.

»Führ sie in den Salon«, sagte Johann tonlos. Das Wort Skandal behagte ihm nicht.

Aber wenn es nicht Cordula Mohl war, wer konnte es dann sein?

Als Dame mochte Johann die junge Frau nicht bezeichnen, die da im Salon wartete und die mit einem frivolen Lächeln, »einen recht guten Tag, Herr Baron« wünschte.

»Sie wissen, wer ich bin, vielleicht erfahre ich nun auch, wer Sie sind?« sagte er kalt.

»Sonja Keller ist mein Name, Alter siebenundzwanzig und Mutter Ihres Enkels Leon.«

Das saß! Momentan schien sein Herzschlag auszusetzen. Er starrte sie an, als wolle er sie mit seinen Blicken töten.

»Er ist übrigens sechs Jahre, und da ich an seine Zukunft denken muß und die Frau Baronin nun leider verstorben ist… und ich ja auch von Leon nichts mehr bekommen kann, muß ich mich an Sie wenden.«

»Lassen Sie meine Frau aus dem Spiel!« fuhr er sie an.

»Aber nein, ganz und gar nicht! Sie war so gütig, mir wenigstens jedes Jahr eine kleine Hilfe zuteil werden zu lassen.«

»Das glaube ich nicht. Das müssen Sie erst einmal beweisen. Wie ich auch Beweise dafür haben will, daß Leon auch noch einen unehelichen Sohn hat zu der ehelichen Tochter.«

Sonja Keller kniff die Augen zusammen. »Die aber besser abgesichert wurde als mein Sohn. Frau Mohl… von Ahlen lebt in blendenden Verhältnissen. Ich habe mich vergewissert, bevor ich herkam.«

»Aber nicht von meinem Geld. Sie hat keine Mark bekommen und auch nicht verlangt, das muß ich ihr zugute halten. Wovon sie ihren Lebensunterhalt bestreitet, weiß ich nicht, aber Ihnen möchte ich sagen, daß ich meinen Sohn Leon enterbt habe, als er dieses Haus verließ. Seither habe ich nur noch einen Sohn.«

»Ich habe Hanno kennengelernt. Er wird bestätigen können, daß Leon mir einst die Ehe versprach.«

»Dann werde ich ihn mal rufen lassen«, sagte Johann. »Ich hörte, daß er gekommen ist.«

Das war eine ganz große Beruhigung für ihn, denn er hatte es im Gefühl, daß diese Frau nicht lockerlassen würde.

Er war im tiefsten Innern beunruhigt, da er sich auch Hannos Solidarität nicht sicher sein konnte. Aber dann merkte er doch, daß Sonja Keller unruhig wurde, als er nach Hanno rufen ließ.

Der trat ein, blieb kurz an der Tür stehen und maß Sonja mit einem durchdringenden Blick.

»Du kennst diese Dame, Hanno?« fragte Johann, und so, wie er das Wort ›Dame‹ aussprach, klang es fast wie eine Beleidigung.

»Natürlich kennst du mich, Hanno«, sagte Sonja schrill.

»Wir sind uns wohl einmal flüchtig begegnet, aber ich kann mich nicht erinnern, daß wir uns geduzt haben.«

»Männer können sehr vergeßlich sein, Leon war es auch«, sagte sie erregt. »Aber ich lasse mich nicht so abspeisen.«

»Worum geht es eigentlich, Vater?« fragte Hanno ruhig.

»Diese Dame behauptet, einen Sohn von Leon zu haben, einen sechsjährigen Sohn.«

»Das ist doch absurd, das müßte ich gewußt haben. Das hätte Leon mir gesagt«, erklärte Hanno mit fester Stimme. »Sie haben Beweise, wie ist doch gleich Ihr Name?«

Sie starrte ihn haßerfüllt an. »Alle seid ihr gleich… gemein und skrupellos«, zischte sie. »Sonja Keller ist mein Name.« Sie schrie es laut heraus. »Und Sie werden noch von mir hören!«

»Sie werden uns Beweise bringen für Ihre Behauptungen, und dann können wir uns nochmals in aller Ruhe unterhalten«, sagte Hanno kühl. »Ich kann mich wirklich nicht erinnern, wo wir uns mal begegnet sein könnten, Frau Keller. Vielleicht geben Sie mir einen Hinweis.«

»Es war auf der Geburtstagsparty von Janice, die sich wegen Leon das Leben genommen hat. Es wird nun eben alles publik werden. Ich brauche keine Rücksicht mehr auf ihre edle Mutter zu nehmen, Herr Baron Hanno«, sagte sie höhnisch.

Dann rauschte sie hinaus. »Wir sollten sie nicht gehen lassen«, stöhnte Johann. »Sie ist anscheinend zu allem fähig.«

»Was regst du dich auf, Vater? Sie soll doch erst mal Beweise bringen! Wenn sie solche hätte, wäre sie längst aufgekreuzt. Diese Sorte Frauen wartet nicht.«

»Aber sie sagt, daß sie von Henriette unterstützt worden ist.«

»Und woher hätte Mama das Geld haben sollen? Du hast doch jede Mark unter Kontrolle gehabt.«

Sein Vater zuckte zusammen. Nun drückte sich endlich einmal Schuldbewußtsein in seinem Mienenspiel aus.

»Ja, ich weiß auch nicht so recht«, murmelte er. »Meinst du wirklich, sie will nur bluffen?«

»Zumindest dich. Mich kann sie nicht einschüchtern. Was soll es denn? Sechs Jahre soll das Kind alt sein? Da wollen wir doch mal sehen, auf welchen Namen es registriert ist.«

»Er heißt Leon, hat sie jedenfalls gesagt«, erklärte der Baron.

»Hat sie gesagt. Und sie hat auch so getan, als wären wir per Du, aber das stimmt nicht, Vater. Ich habe mich nicht mit solchen Frauen geduzt.«

»Sie war damals noch sehr jung, und es sind insgesamt fast sieben Jahre vergangen, wenn man vom Alter des Kindes ausgeht. Was war damals mit dieser Janice?«

»Ich habe keine Ahnung. Nicht mal der Name sagt mir etwas. Ja, es könnte eine Geburtstagsparty gewesen sein. Robert hat uns mitgenommen, Leon und mich. Aber das Mädchen, das Geburtstag hatte, hieß anders. Nicki, wenn ich mich recht erinnere. Es war ein ziemlich ausgeflipptes Mädchen.«

»Ausgeflippt?« fragte der Baron, dem solche Ausdrücke nicht geläufig waren.

»Völlig unkonventionell, wenn du das besser verstehst. Es war überhaupt eine wilde Gesellschaft. Ich bin nicht lange geblieben.«

»Aber Leon blieb?«

»Er hat sich danach auch nicht gerade begeistert geäußert.«

Eine Weile trat Schweigen ein. Beide überlegten. Dann sagte Hanno nachdenklich: »Nicki könnte ja von Janice abgeleitet sein, aber wegen Leon hat sich bestimmt keine Frau umgebracht. Ich werde den Dingen auf den Grund gehen, Vater.«

»Dafür wäre ich dir sehr dankbar. Und welcher Robert hat euch da eingeführt?«

»Der erlauchte Graf Guttrom, der leider auch das Zeitliche bereits gesegnet hat. Er wurde versehentlich auf der Jagd erschossen, falls du dich erinnerst.«

»Ich erinnere mich, aber es wurde gemunkelt, daß es nicht nur ein Versehen gewesen wäre.«

»Wo kein Kläger ist, ist kein Richter. Und Sonja Keller wird es sich überlegen, ob sie gegen uns klagen wird.«

»Aber wenn es stimmt, müssen wir zahlen, um einen Skandal abzuwenden.«

Hanno sah ihn lange und ernst an. »Auf den Gedanken, etwas für Leons eheliche Tochter zu tun, bist du aber noch nicht gekommen«, sagte er betont. »Erst recht nicht für seine Frau.«

»Der es sehr gut zu gehen scheint, wie diese Keller sagte.«

»Sie arbeitet. Sie ist eine bekannte Architektin, und ihr Vater ist ein vermögender Mann.«

»Du bist anscheinend gut informiert. Kommst du mit diesen Leuten etwa zusammen?«

»Nein, aber nicht, weil ich es nicht wollte. Sie lehnen jeden Kontakt ab. Sie wollen nichts mit den Ahlens zu tun haben.«

»Aber den Namen benutzt sie.«

»Du täuschst dich. Cordula nennt sich nur Mohl. Sie behielt ihren Mädchennamen auch bei der Heirat bei.«

»Aber ihre Tochter ist immerhin ehelich geboren«, sagte Johann dumpf.

»Und sie könnte Ansprüche geltend machen, aber sie tut es nicht. Du brauchst nichts dergleichen zu fürchten. Und wenn du meine Meinung wissen willst, Vater: Leon hat diese Frau nicht verdient. Ich sage das, obwohl er tot ist. Sie hat ihn bestimmt nicht zur Ehe gezwungen und auch nicht geheiratet, weil er ein von Ahlen war.«

Darauf folgte ein langes Schweigen, dann sagte der Baron: »Ich muß alles überdenken. Wie schon gesagt, ich wäre dir sehr dankbar, wenn du diese Frau überprüfen lassen würdest. Ich meine diese Keller. Es wird doch wohl möglich sein, dahinterzukommen, warum sie gerade jetzt in Erscheinung tritt!«

»Sie wird die Todesanzeige gelesen haben und ihr Vorgehen auf Mutters Tod aufbauen. Eine rührselige Geschichte. Mama gibt Geld für das uneheliche Kind. Heimlich natürlich. Aber diese Keller scheint nicht zu wissen, daß die Baronin Ahlen nicht mal Taschengeld von ihrem Mann bekam.«

Diesen Hieb konnte er sich nicht versagen. Dann ließ er seinen Vater allein, und der ging zurück in sein Arbeitszimmer und setzte sich an seinen Schreibtisch. Den Kopf in die Hände gestützt, begann er zu grübeln.

Ganz in sich zusammengesunken saß er da, und weil ihn niemand sah, brauchte er sich auch nicht zu beherrschen. Blanke Verzweiflung drückte sein Gesicht jetzt aus.

*

Nach den schönen Tagen bei ihrem Vater ging Cordula wieder mit frischem Mut an die Arbeit. Da sie ein paar Aufträge hatte, die sie sehr inAnspruch nahmen, war es ihr sogar recht gewesen, daß Nora noch ein paar Tage bei ihrem Opi bleiben wollte. Natürlich war Dorle erst mal beleidigt, aber bald sollte sie froh darüber sein, daß die Kleine nicht da war, denn auch bei ihnen erschien Sonja Keller, und wie sie sich hier aufführte, übertraf ihren Auftritt bei dem Baron noch um einiges.

Cordula war zuerst so perplex, daß sie kurz nach Fassung ringen mußte, als Sonja sie gleich mit der Bemerkung: »Jetzt wird hier auch mal reiner Tisch gemacht«, überfiel.

Sonja hatte es nur schwer verkraftet, im Hause Ahlen nichts erreicht zu haben. Sie hatte sich alles so geschickt ausgedacht! Und nun war in ihr nur noch die blanke Wut auf die Frau, die in einem schönen Haus lebte, geblieben. Eine Frau, die ihr geistig haushoch überlegen war, was Sonja allerdings nicht begriff, denn sie hatte sich ihr eigenes Bild zurechtgelegt von jener Frau, die von Leon von Ahlen tatsächlich geheiratet worden war.

Mochte sich Sonja auch eine hübsche Geschichte ausgedacht haben… ein paar Wochen hatte sie sich wirklich in dem Glauben gewiegt, Leon festhalten zu können.

Cordula hatte sich schnell gefangen. »Wenn Sie mir sagen würden, was hier auf den Tisch soll, wäre ich Ihnen sehr verbunden«, entgegnete sie spöttisch. »Ich habe nämlich nicht viel Zeit.«

Durch diesen Ton sehr irritiert, wurde Sonja nervös und wenn sie nervös wurde, redete sie oft Unsinn, zumindest überlegte sie nicht, was sie sagte.

»Dann werde ich Ihnen mal eröffnen, daß der Baron von Ahlen mich zu Ihnen geschickt hat, damit Sie endlich erfahren, daß es noch einen männlichen Erben gibt, bevor Sie alles mal an sich reißen. Ich habe nämlich einen Sohn von Leon, er ist jetzt sechs Jahre, und ich denke nicht daran, auf meine Rechte und seine zu verzichten.«

Es war auch für Cordula nicht einfach, das zu schlucken, aber sie konnte sich beherrschen.

»Dann machen Sie doch Ihre Rechte geltend«, entgegnete sie knapp. »Sollte ich Ihnen dabei etwa behilflich sein?«

Sonja starrte sie an, als käme sie von einem anderen Stern. »Aber wir könnten uns doch zusammentun«, stotterte sie. »So habe ich es mir jedenfalls gedacht. Wie er so abfällig von Ihnen gesprochen hat, als würden Sie sich Ihr Geld auf dem Strich verdienen…«

Jetzt langte es Cordula. »Ich verbitte mir das!« sagte sie eisig. »Sie werden auf der Stelle mein Haus verlassen. Einigen Sie sich mit dem Baron, wie Sie wollen, ich will mit dieser ganzen Sippe nichts zu tun haben… und mit Ihnen auch nicht. Ich will Sie hier nie wieder sehen, haben Sie verstanden?«

In dem Moment kam Dorle. »Soll ich vielleicht die Polizei rufen?« fragte sie.

»Ich gehe ja schon«, stammelte Sonja. »Sie haben mich mißverstanden. Ich wollte doch ganz vernünftig mit Ihnen reden!«

»Dann hätten Sie es anders anfangen müssen. Wir haben uns nichts zu sagen. Ich kann für mein Kind selber sorgen. Wie wäre es, wenn Sie das auch versuchen würden?«

Sonja Keller stolperte fast aus dem Haus. Und Cordula war so wütend, wie Dorle sie noch nie gesehen hatte.

»Und jetzt wird der Baron von Ahlen eine Abreibung von mir bekommen, die sich gewaschen hat und die er nie vergessen wird. Hundertmal habe ich es mir schon vorgenommen gehabt, aber jetzt bin ich gerade in der richtigen Stimmung.«

»Schaden kann es nicht«, sagte Dorle gemächlich, »und unsere Kleine hat wenigstens nichts mitgekriegt.«

Ja, jetzt war auch sie froh, daß Nora nicht hier war.

Cordula setzte sich in ihren Wagen und fuhr zu Baron von Ahlen, der nun zum zweiten Mal in dieser Woche den überraschenden Besuch einer Dame bekam. Aber das war eine wirkliche Dame, wie Gustl bemerkte, denn auch in allem Zorn vergaß Cordula ihren Stolz nicht.

»Mein Name ist Cordula Mohl«, sagte sie eisig. »Ich wäre zwar berechtigt, auch den Namen von Ahlen zu tragen, aber ich lege keinen Wert darauf. Und ich bin nur gekommen, um Ihnen klipp und klar zu sagen, daß Sie mich nicht auf eine Stufe mit einer gewissen Sonja Keller stellen sollen. Ich verdiene meinen Unterhalt und den meines Kindes als Architektin und nicht auf schlüpfrigen Wegen, wie Sie anscheinend meinen. Wenn meine Ehe mit Leon nicht so verlief, wie ich es erhofft habe, so hat es nichts damit zu tun, daß Sie als Vater völlig versagt haben. Ich habe glücklicherweise einen Vater, auf den ich mich verlassen kann, den es sogar mehr schmerzt, daß Leon so unglücklich sterben mußte als mich. Das wollte ich Ihnen ins Gesicht sagen, Herr Baron, und wenn Sie etwas Diskriminierendes gegen mich und meine Familie sagen sollten, werden Sie es bitter zu bereuen haben. Dann werde ich mit einigen Wahrheiten aus Ihrer Vergangenheit aufwarten, die ich von Leon schwarz auf weiß habe und die auch ein Beweis dafür sind, warum er keinen Respekt vor Ihnen haben konnte. Nun wissen Sie Bescheid. Richten Sie sich danach.«

Johann von Ahlen starrte sie voller Entsetzen an. Kein Wort kam über seine trockenen Lippen, und als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, sank er ächzend in seinen Sessel zurück. Draußen schoß Cordula an Hanno vorbei, der gerade, von Gustl herbeigerufen, das Haus betreten hatte.

»Cordula, was ist geschehen?« rief er.

Mit zornig funkelnden Augen blickte sie ihn an. »Wir haben uns auch nichts mehr zu sagen«, fuhr sie ihn an. »Du bist genauso ein Feigling wie Leon. Nur hintenherum könnt ihr hetzen.«

»Cordula, ich bitte dich, ich weiß überhaupt nicht, worum es geht!«

»Frag deinen Vater. Ich dachte, wenigstens du wärest anders, aber ich habe mich getäuscht. Da war ja sogar Leon noch mutiger, indem er diesem Haus den Rücken kehrte, was immer er sonst auch getan haben mag.«

Draußen atmete sie tief durch. So, jetzt hatte sie es gesagt, was schon so lange in ihr gärte, aber so ganz wohl fühlte sie sich trotzdem nicht, als sie sich in ihren Wagen setzte. Und sie fuhr nicht nach Hause, sondern zu ihrem Vater. Sie hatte das Bedürfnis, mit ihm zu sprechen.

*

Hanno saß seinem Vater gegenüber, der sich inzwischen halbwegs erholt hatte.

»Jetzt sage mir, was passiert ist. Es muß etwas geschehen sein, daß Cordula persönlich hier erscheint.«

»Ich habe doch überhaupt nichts sagen können«, murmelte Johann. »Sie hat mir keine Chance gegeben.« Und dann erzählte er schleppend, was er zu hören bekommen hatte.

»Dann war diese miese Person also auch bei ihr«, sagte Hanno tonlos. »Ich möchte nur wissen, was sie eigentlich bezweckt. Aber ich kann mir auch vorstellen, daß sie von Cordula eine Abfuhr bekommen hat.«

»Du scheinst sie wirklich gut zu kennen«, sagte Johann.

»Ich sah sie früher öfter, als wir noch dachten, daß du dich mit Leon versöhnen würdest. Das hatte auch Mama gehofft, aber sie hat nicht gewagt, einen engeren Kontakt zu Cordula zu pflegen, weil sie zuviel Angst vor dir hatte. Deshalb glaube ich auch nicht, daß sie Kontakt mit Sonja Keller hatte. Begreifst du endlich, daß deine Frau Angst vor dir hatte, vor dir kuschte, um nicht deinen Zorn auf sich zu laden? Einmal muß es gesagt werden, Vater, daß niemand dich lieben konnte, weil du gar nicht bereit bist, Liebe zu geben, Verständnis für andere aufzubringen.«

Und es gab keinen Widerspruch, wie er ihn erwartet hatte. Johann von Ahlen blickte zu Boden, und dann lief er mit auf dem Rücken verschränkten Händen im Raum auf und ab.

»Ich möchte dich bitten, mit Frau Mohl zu sprechen«, sagte er heiser. »Sie soll keinesfalls bei der Meinung bleiben, daß ich sie mit dieser Keller auf eine Stufe stelle. Sie soll ihre Ansprüche anmelden, und du wirst alles regeln, Hanno.«

»Nein, das werde ich nicht. Das ist deine Sache, Vater. Ich krieche nicht vor dir zu Kreuze, wie sie meint, und ich räume nicht aus dem Weg, was dir jetzt unbequem geworden ist. Außerdem würde Cordula keine Ansprüche geltend machen. Sie würde auch nicht dulden, daß du möglicherweise einmal Ansprüche auf Nora geltend machen könntest, wenn dich die Reue doch noch überkommen sollte. Aber ich sage dir noch eins, Vater. Sollte ich jemals eine Frau finden, mit der ich mir ein Leben vorstellen kann, und sollte ich Kinder haben, sie werden allein von mir erzogen, nicht deinem Einfluß ausgesetzt. Und wenn du jetzt sagst, ich solle auch verschwinden, dann gehe ich sofort.«

»Hanno, ich bitte dich, ja, ich bitte dich um eine ruhige Aussprache. Ich will ja Zugeständnisse machen. Aber ich lasse mir von einer solchen Frau wie der Keller nicht die Pistole auf die Brust setzen. Es gibt doch gar keine Beweise, daß der Junge Leons Kind ist!«

»Mir geht es auch nicht darum, sondern ich will nicht, daß Cordula einen Feigling in mir sieht. Sie ist bisher die einzige Frau, der ich je begegnet bin, vor der ich Respekt habe, eine Frau, um die ich Leon beneidet habe. Aber er hat das ja auch nicht begriffen, obgleich ich es ihm gesagt habe. Er hat sich als Sieger auf allen Ebenen gefühlt. Gerade deshalb glaube ich nicht, daß er ein ernstes Verhältnis mit der Keller hatte. Das war unter seinem Niveau. Eine Frau mußte auch schon etwas darstellen. Nun, diese Wahrheit werde ich herausfinden, denn sie ist bestimmt nicht die Frau, die nicht zumindest versucht hätte, zu seinen Lebzeiten seine Ehe zu stören, wenn sie irgendeine beweisbare Handhabe gegen ihn gehabt hätte. Wenn ich noch etwas für dich tue, dann nur deshalb, weil ich nicht will, daß Cordula durch solche Gemeinheiten belästigt wird. Schließlich geht es auch um ihr Kind. Und eins steht fest:

Noras Großvater bist du, wenn du diesbezüglich auch auf ganzer Linie versagt hast. Du mußt mir schon gestatten, dir ein paar Wahrheiten zu sagen, da ich kein folgsamer Sohn bin und auch nicht war. Aber ich bin Mamas wegen geblieben, das sage ich nochmals. Sie hatte ja sonst niemanden mehr.«

Johann wandte sich zum Fenster. »Ich muß dir noch etwas sagen, Hanno. Leon scheint seiner Frau da etwas unterbreitet zu haben, womit sie mir gedroht hat. Ein paar Wahrheiten aus meiner Vergangenheit wüßte sie, hat sie gesagt. Aber ich kann mir nicht erklären, was sie damit andeuten wollte. Wer weiß, was Leon alles gesagt hat in seinem Haß auf mich.«

»Cordula würde nie etwas sagen, was nicht beweisbar ist«, erwiderte Hanno, und seine Augenbrauen schoben sich zusammen, als sein Blick voller Mißtrauen auf seinen Vater gerichtet war. »Also, was könnte es sein? Sag es, damit ich vorbereitet bin.«

»Ich weiß es wirklich nicht. Sie kann doch nicht diesen Vorfall aus meiner Internatszeit meinen. Woher hätte Leon davon wissen können?«

»Welcher Vorfall?« fragte Hanno. »Ich weiß davon nichts.«

»Und ich kann mich so genau gar nicht mehr erinnern. Es war da ein Junge, der einen Revolver mitgebracht hatte aus den Ferien. Wir waren fünfzehn und fanden das toll. Keiner wußte, daß der Revolver auch geladen war, und jeder spielte damit herum. Aber dann löste sich plötzlich ein Schuß, und David fiel um. Er war nicht tot, aber er blieb behindert, und unsere Eltern mußten zahlen. Sehr viel mußten sie zahlen. Aber ich schwöre dir, ich gab den Schuß nicht ab. Wir wußten wirklich nicht, daß noch eine Kugel im Lauf war. Es war wie russisches Roulette, aber wir waren Jungen, und ich habe das Ausmaß der Tragödie erst viel später begriffen. Das kann man doch nicht mehr ausspielen, Hanno!«

»Ich weiß nicht, was Cordula gemeint hat, aber ich werde sie fragen. Wenigstens diese Frage muß sie mir beantworten. Ich lasse es nicht auf mir sitzen, daß sie mich einen Feigling nennt. Aber verstehen kann ich sie. Für sie muß unser Name ein Alptraum sein.«

Johann drehte sich zu seinem Sohn um. »Du trägst diesen Namen auch«, sagte er tonlos.

»Aber nicht mit Überheblichkeit, Vater. Man wird ja als werdender Mensch nicht gefragt, unter welchem Namen man geboren werden will. Man wird ungefragt in die Welt gesetzt, das solltest du dir auch mal vor Augen führen. Allein an den Eltern liegt es, ob ein Kind diesen Namen akzeptiert und wie es heranwachsen kann. Kinder brauchen Liebe, Vater. Sie brauchen Wärme. Du solltest wirklich einmal darüber nachdenken. Mama hat ihre ganze Liebe Leon gegeben, weil sie wohl meinte, ihn damit halten zu können, weil sie dachte, ich sei der Klügere und Vernünftigere, weil ich nicht so früh hinausdrängte.«

»Du hattest die besseren Zeugnisse, auf dich war mehr Verlaß«, warf Johann ein.

»Ist das denn so wichtig in der Beziehung zwischen Eltern und Kindern? Leon hatte unruhiges Blut in den Adern, und vielleicht solltest du dich mal fragen, von wem das kam. Warum hast du erst geheiratet, als du schon Mitte Dreißig warst? Warum hast du dich da dem Willen deiner Eltern gefügt?«

»Du bist jetzt auch vierunddreißig, und nicht verheiratet«, sagte Johann.

»Aber ich füge mich nicht deinem Willen, lieber bleibe ich ledig.« Hanno sah seinen Vater wieder voll an. »Aber du hast meine Frage noch nicht beantwortet, Vater.«

»Man hat Pflichten als Majoratserbe«, erwiderte Johann, »aber die Zeiten haben sich ja geändert. Heute denkt ihr anders. Vielleicht lerne ich es noch zu begreifen.«

»Das wäre allerdings ein Fortschritt«, erwiderte Hanno sarkastisch.

Dann war Johann von Ahlen wieder allein. Er begann, sich mit einigen Ereignissen aus früheren Jahren auseinanderzusetzen, wenn ihm das auch sehr unbequem war. Aber so langsam wurde es ihm doch bewußt, von der Vergangenheit eingeholt worden zu sein. Er sah Cordula vor sich, so voller Zorn und Verachtung. Dennoch hatte sie ihm Respekt abgenötigt, denn noch nie hatte ihm jemand so hart und deutlich die Wahrheit gesagt.

Und wenn er auch immer noch den Kopf in den Sand stecken wollte, er wußte ja, daß sie nichts aus der Luft griff, daß sie nichts erfand wie diese Sonja Keller. Daran, daß sie Geld von seiner Frau bekommen hatte, konnte er nicht mehr glauben, nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß Henriette auch von ihrem ganz privaten Konto nichts mehr abgehoben hatte nach Leons Tod. Und bis dahin waren es auch nur kleinere Beträge gewesen, die kaum ins Gewicht fielen.

Wenigstens in bezug auf Sonja Keller war er wieder ruhiger geworden. Aber daß Cordula gesagt hatte, sie wäre zwar berechtigt, den Namen von Ahlen zu tragen, aber sie lege keinen Wert darauf, gab ihm zu denken. Und sie hatte auch gesagt, daß er als Vater völlig versagt hätte.

Das ging ihm nicht mehr aus dem Sinn, das hatte sich tief in seine Seele hineingegraben.

*

Cordula hatte mit ihrem Vater gesprochen. Ihr größter Zorn war nun verraucht, und Hans Mohl tat nichts dazu, die Flamme ganz zu löschen.

»Ich verstehe ja, daß es dich tief getroffen hat, Cordula, aber eine Chance zur Erwiderung hättest du ihm schon geben können. Wer weiß, was diese Sonja Keller alles zusammengelogen hat.«

»Das kann man doch nicht aus den Fingern saugen, Paps«, widersprach Cordula.

»Schau, es kann doch sein, daß Leon mal mit ihr eine Affäre hatte. Aber das war vor eurer Heirat, und sie hätte ihn gewiß zur Kasse gebeten, als sie schwanger war. Ich bin nicht von gestern, ich bin mit der Zeit gegangen, und ich hatte zwei Sekretärinnen, die von Männern sitzengelassen wurden, als sie schwanger waren. Sie haben sich bei mir ausgeweint.«

»Und was hast du ihnen geraten? Was haben sie gemacht?«

»Eine hat abgetrieben, die andere hat das Kind bekommen und dann einen sehr netten Mann gefunden. Aber ich habe keiner zur Abtreibung geraten, mein Schatz. Ich weiß doch, welches Glück es sein kann, Vater zu sein!«

»Aber nicht immer ist es für die Mutter ein Glück, siehe die meine.«

»Wir wollen Celia nicht verdammen. Sie hat es einfach nicht verkraftet, daß ich einen Beruf hatte, der mir sehr viel bedeutete. Sie wollte mehr vom Leben haben, und sie war wohl auch nicht zur idealen Mutter geschaffen. Hast du sie sehr vermißt?«

»Nein, eigentlich gar nicht«, gab Cordula zu.

»Na also, und Nora wird ihren Vater auch nicht vermissen. Man muß nicht immer sagen: der Vater oder die Mutter sind schuld. Im Grunde sind es doch beide, wenn es nicht so hinhaut, weil man sich einfach getäuscht hat. Und schließlich ist es besser, sich zu trennen, als sich gegenseitig aufzureiben.«

»Wenn Leon am Leben geblieben wäre, hätte er sich von dir jedenfalls nie getrennt und uns hätte er mit in Kauf genommen, Paps«, sagte Cordula. »Das habe ich seinem Vater am Rande zu verstehen gegeben.«

»Das hättest du besser nicht tun sollen, Cordula.«

»O doch. Und Hanno habe ich zu verstehen gegeben, daß ich ihn für einen Feigling halte«, stieß sie zornig hervor.

»Das verdient er nicht. Er hat sich über mich immer wieder bemüht, Kontakt zu dir zu bekommen, aber du hast dich ja geweigert. Er wollte gern für Nora mit dasein.«

»Hör auf, Paps, die Ahlens können mir gestohlen bleiben«, rief Cordula aus.

»Sei nicht ungerecht, Cordula. Vergiß nicht, daß Nora diesen Namen trägt.«

Sie ahnten nicht, daß Nora das alles hörte. Die Kleine hatte auch schon vorher eine Weile gelauscht. Sie hatte nämlich gedacht, daß ihre Mami sie aus einem unerfindlichen Grunde nach Hause holen wollte, aber derzeit gefiel es ihr sehr gut beim Opi und der Resi, die sich überbot, ihr alle Leibgerichte zuzubereiten, um Dorle auszustechen, denn diese Konkurrenz hatte schon immer bestanden.

Bald jedoch wußte Nora, daß sie noch bleiben konnte, und deswegen sagte sie gar nichts von dem, was sie erlauscht hatte, denn das wollte sie lieber allein mit ihrem Opi klären, wenn die Mami wieder weg war.

»Hast du mächtig viel zu tun, Mami?« fragte sie.

»Ja, sehr viel.«

»Dann kann ich noch bleiben?«

»Ja, sicher, ich hatte mit Opi nur was zu besprechen. Am Sonntag komme ich und hole dich.«

»Ist gut, hier ist es sehr schön, und Resi kann genauso gut kochen wie Dorle. Aber das brauchst du ihr nicht zu sagen.«

»Ich werde mich hüten!« erwiderte Cordula. »Ich bin froh, wenn es dir hier gefällt, mein Liebling.«

»Opi ist ja auch sooo lieb«, erwiderte die Kleine mit hinreichender Betonung.

Später, als Cordula weggefahren war, hatte sie es sehr eilig, mit ihrem Opi zu reden, damit sie nur ja nicht vergaß, was sie gehört hatte.

»Opi, ich muß dich was fragen«, begann sie. »Hast du Zeit?«

»Für dich doch immer, mein Schätzchen.«

»Warum können die Ahlens Mami gestohlen bleiben? Das hat sie gesagt, ich habe es gehört. Und du hast gesagt, daß ich diesen Namen trage. Warum denn eigentlich?«

»Du hast gelauscht«, sagte Hans.

»Ich habe es einfach gehört, weil ihr so lange geredet habt und ich fragen wollte, ob ich bei dir bleiben kann. Ich möchte nämlich noch bleiben.«

»Und du bleibst ja auch«, erwiderte er.

»Aber du mußt mir auch antworten, Opi.«

»Das ist aber nicht so einfach, Nora.«

»Warum nicht?«

»Du weißt doch, daß dein Papi Leon von Ahlen hieß.«

»Weiß ich nicht so genau, aber er ist ja tot«, sagte Nora.

Es gab ihm einen Stich. Er zog sie zu sich aufs Knie. »Ich möchte es dir so gern erklären, mein Schatz, aber ich weiß nicht, wie ich anfangen soll.«

»Ich habe gehört, daß Mami mit seinem Vater gestritten hat. Warum kenne ich den nicht?« half ihm Nora weiter.

»Weil er nichts mit uns zu tun haben will«, erwiderte Hans.

»Aber Mami will mit ihm auch nichts zu tun haben. Und wer ist Hanno?«

»Das ist der Bruder von deinem Papi.«

»Will er von mir auch nichts wissen? Hat er keine Kinder?«

»Nein, er hat keine Kinder«, erwiderte Hans, »aber er würde gern öfter mit dir zusammen sein.«

»Woher weißt du das?«

»Er hat es mir gesagt.«

»Du kennst ihn? Warum kommt er nicht her? Ich würde ihn gern mal kennenlernen, damit ich weiß, ob er auch so ist wie Papi.«

»Und wie war Papi?«

»Er hatte nur immer Zeit für Autos, nicht für uns. Aber du bist nicht schuld, daß er sich derrent hat, sagt Dorle.«

Gott steh mir bei, dachte Hans. Was kann ich diesem Kind nur für eine Erklärung geben?

»Weißt du, Nora, dein Papi hat sich nicht allzugut mit seinem Vater verstanden«, begann er stockend.

»Ich habe mich mit Papi auch nicht gut verstanden, und Mami hat manchmal auch mit ihm gestritten. Vielleicht muß ich den Vater von Papi mal fragen, warum er eigentlich böse auf uns ist.«

»Das lassen wir besser, Nora«, murmelte Hans.

»Aber mit dem Hanno könnten wir doch mal reden, meinst du nicht?«

»Dann wird Mami vielleicht böse auf mich sein.«

Nora busselte ihn ab. »Doch nicht auf dich! Du bist doch unser allerliebster Schatz«, sagte sie zärtlich. »Und wenn ich Hanno nicht leiden kann, sage ich Mami gar nicht, daß ich ihn kennengelernt habe. Okay?«

»Okay, Noralein. Ich muß sowieso mal mit ihm reden.«

»Na siehst du, da sind wir uns mal wieder einig«, sagte sie altklug.

*

Hans Mohl war sein Leben lang ein gerechter Mann gewesen, und er überlegte, was nun zu tun sei. Ihm ging vieles durch den Sinn, aber letztlich sagte er sich, daß zumindest Hanno, der sich sehr fair verhalten hatte, ein Anrecht darauf hatte, Nora zu sehen.

Hanno überlegte indessen, wie er am besten Kontakt zu Cordula bekommen könnte, ohne sich wieder eine Abfuhr einzuhandeln. Er nahm ihr nichts übel, so sehr es ihn auch schmerzte, von ihr verachtet zu werden. Sie war eine bewundernswerte Frau… ganz im Gegensatz zu Sonja Keller, über die er Nachforschungen anstellen ließ.

Nach seinem Besuch bei seinem Anwalt rief Hanno bei Cordula an. Er hatte erst ein paar Mal tief Luft holen müssen, ehe er es wagte, aber dann war Dorle am Telefon und sagte, daß Cordula nicht zu Hause wäre. Sie hätte sehr viel zu tun.

Das sagte Dorle immer, und eigentlich stimmte es auch. Aber diesmal fügte sie doch hinzu, daß Cordula vielleicht noch bei ihrem Vater sei.

Hanno rief dort an. Hans Mohls Nummer hatte er in seinem Notizbuch stehen. Er hatte schon öfter mit ihm telefoniert. Uber ihn hatte er Cordula auch schon ein paar lukrative Aufträge zugeschanzt, ohne daß sie davon etwas bemerkt hatte.

Hans war überrascht über diesen Anruf, denn es war buchstäblich Gedankenübertragung, daß Hanno anrief.

»Cordula ist nicht mehr hier«, sagte er, »aber ich hätte gern mit Ihnen gesprochen, Hanno. Es gibt einiges, was geklärt werden müßte.«

»Cordula hat Ihnen also erzählt, daß sie mit Vater gesprochen hat?«

»Hat sie, und ich kenne meine Tochter. Sie hat ihm bestimmt keine Chance zu einer Erklärung gegeben.«

»Das tut ihm recht gut. Er fängt zu überlegen an. Darf ich Sie aufsuchen?« fragte Hanno.

»Meinetwegen heute noch. Nora ist bei mir. Sie möchte Sie auch kennenlernen.«

»Wieso das?«

»Das wird sie Ihnen am besten selbst erklären. Sie kann das nämlich ausgezeichnet und sehr verständlich. Ich habe schon einige sehr schwierige Fragen heute beantworten müssen. Aber sie läßt mit sich reden, wenn sie gute Antworten bekommt.«

Von innerer Erregung bewegt, fuhr Hanno nun zum Wörthsee. Er kannte das Haus. Er war schon einmal hier gewesen, doch später hatte er nur telefonisch zu Hans Verbindung gehalten.

Nora, die keine Scheu kannte, hielt Ausschau nach ihm. Hans hatte es für besser gehalten, sie auf den Besuch vorzubereiten.

Hanno wurde von den klaren Kinderaugen forschend gemustert.

»Du bist also Herr von Ahlen«, sagte sie nachdenklich. »Du siehst anders aus als mein Papa, aber ich weiß eh nicht mehr genau, wie er ausgesehen hat. Er ist nämlich tot, weißt du das?«

So führte sich Nora ein, und Hanno war einigermaßen irritiert, denn schließlich war sie ein Kind von vier Jahren, und da hatte er eine so deutliche Sprache nicht erwartet. Aber er war durchaus angenehm überrascht.

»Und du bist Nora«, sagte er leise.

»Komm jetzt erst einmal herein. Opi wartet schon.«

Hans hatte ihr Zeit gelassen, sich selbst mit Hanno bekannt zu machen.

»Du kannst Hanno zu mir sagen.«

»Nicht Onkel oder so? Das ist mir auch lieber. Du bist sehr groß, ist der Herr von Ahlen auch so groß?«

Hanno wußte momentan nicht, was er erwidern sollte, aber jetzt kam ihm Hans zu Hilfe. »Mußt du gleich alle Fragen auf einmal stellen, Nora?« lächelte er.

»Ich weiß ja nicht, ob später noch Zeit ist, weil du ja sicher allein mit Hanno reden willst. Es ist wohl eine wichtige Besprechung. Und wenn es um Geschäfte geht, darf ich zu Hause auch nicht dabeisein.«

»Wir werden nur kurz etwas besprechen, und dann kannst du dich wieder mit Hanno unterhalten«, sagte Hans. »Einverstanden?«

»Dann werde ich Resi sagen, daß sie einen guten Imbiß machen soll… und daß wir Hanno nicht vergraulen wollen«, erklärte Nora.

»Sie ist bezaubernd«, sagte Hanno leise, als Nora entschwunden war, nachdem sie ihm noch einmal zugeblinzelt hatte.

»Sie ist die Tochter ihrer Mutter, aber sie hat auch allerhand von Leons Charme. Nur darf ich das nicht laut sagen.«

»Das ist auch besser so. Sein Charme hat kaum jemandem Glück gebracht. Cordula hat meinem Vater unter anderem gesagt, daß es Sie schmerzt, daß Leon so unglücklich sterben mußte.«

»Das stimmt. Es tat weh, daß er nicht begriffen hat, daß man auch Maschinen gefühlvoll behandeln muß, wenn man sie beherrschen will. Aber wir haben uns recht gut verstanden. Cordula sagt selbst auch, daß ich wohl der einzige Mensch auf der Welt war, für den Leon eine ehrliche Zuneigung empfand… und daß er sich wohl anders entwickelt hätte, wäre ich sein Vater gewesen.«

»Das könnte ich mir vorstellen. Ich hätte auch lieber so einen Vater wie Sie gehabt. Aber man kann es sich ja nicht aussuchen. Sprechen wir also über meinen Vater. Cordulas Besuch hat ihn bewegt und beeindruckt. Aber mich hat es tief getroffen, daß Cordula mich einen Feigling genannt hat.«

»Wenn Sie mir vielleicht mehr erzählen könnten, Hanno?« bat Hans.

Hanno erzählte, welche Worte in welchem Zusammenhang gefallen waren, und dann sprach er auch noch von Cordulas Drohung, daß sie mehr wüßte, als seinem Vater wohl lieb sein könnte.

»Was sie damit gemeint hat, weiß ich wirklich nicht«, erklärte Hans, »aber sie ist manchmal sehr impulsiv, und da klingt einiges schlimmer, als es eigentlich gemeint ist.«

»Und dann diese Geschichte mit Sonja Keller… Ich werde das genau nachprüfen lassen, aber ich glaube, daß sie sich alles nur ausgedacht hat, weil sie keinen Vater für ihren Sohn gefunden hat. Sie war bestimmt eine sehr flüchtige Episode in Leons Leben. Leider lebt Robert von Guttrom, der sie wohl näher kannte, auch nicht mehr. Ich werde seine Eltern aufsuchen… wenn das auch sehr peinlich werden wird.«

»Man kann so was ganz diplomatisch anfangen«, sagte Hans. »Klopfen Sie doch einfach auf den Busch! Sagen Sie, diese Keller hätte Ihnen gesagt, daß Guttrom der Vater ist, dann werden Sie ja sehen, wie die Leute reagieren.«

»Darauf wäre ich nicht gekommen«, erwiderte Hanno. »Eine sehr gute Idee!«

»Ich hatte in meinem Leben wahrscheinlich mit mehr Schlitzohren zu tun als Sie«, meinte Hans lächelnd, »und ein Schuß ins Blaue trifft oft ins Schwarze.«

»Dürfte ich Sie nun auch bitten, bei Cordula zu vermitteln… wenigstens was mich betrifft?«

»Vielleicht kann das Nora sogar besser als ich. Aber Sie müssen verstehen, daß Cordula sich tatsächlich diskriminiert gefühlt hat und die Initiative, Barrieren abzubauen, von ihrem Vater ausgehen müßte.

»Dazu ist er zu starrköpfig und vielleicht tatsächlich zu feige.«

»Dann packen Sie Cordula selbst. Sagen Sie ihr doch, daß sie nicht so ungerecht sein und Sie in die Sippenhaftung einbeziehen soll. Sagen Sie ihr, daß sie Ihnen wenigstens eine Chance geben müßte, unter Beweis zu stellen, daß Sie wenigstens Nora ein guter Onkel sein wollen. Aber jetzt wollen wir uns ruhig wieder mit diesem Sonnenschein befassen, ich kann mir vorstellen, daß ihr noch viele Fragen auf den Lippen brennen.«

Und so war es tatsächlich! Resi hatte einen sehr appetitlichen Imbiß hergerichtet.

»Es ist wirklich alles sehr lecker, Hanno. Du kannst ruhig zulangen. Ich habe schon viel gekostet und bin ziemlich satt.«

Die beiden Männer ließen es sich schmecken, und Nora gab ihre Kommentare dazu.

»Dein Vater muß wohl ziemlich brummig sein, Hanno«, sagte sie irgendwann sehr nachdenklich. »Mami war mächtig ärgerlich auf ihn, aber Opi meint, daß ich ihn sowieso nicht kennenlernen werde. Aber eigentlich möchte ich das doch. Ich kenne nämlich nur nette Leute, die mich gern haben. Man kann doch nicht auf jemanden böse sein, den man gar nicht kennt!«

»Völlig logisch«, sagte Hanno, »du bist ein sehr gescheites Mädchen, Nora.«

»Ein kluges Kind, sagt Opi«, nickte sie mit ihrem hinreißenden Lächeln. »Aber sie reden ja auch gescheit mit mir, nicht so datschig wie andere mit ihren Kindern. Ich weiß ja gar nicht, ob ich überhaupt mit ihm reden würde, wenn er auch so was wie ein Großvater ist. Ich habe ja auch nicht gewußt, ob ich dich mag. Aber siehst du, so geht es: Jetzt kenne ich dich und mag dich auch.«

Dann konnte Hanno wirklich nicht mehr anders, als Nora in die Arme zu nehmen. »Was meinst du wohl, wie sehr ich dich mag! Und

ich hoffe, daß wir uns jetzt öfter sehen.«

»Das müssen wir aber ganz schön schlau anfangen«, meinte sie. »Mami kann nämlich sehr bockig sein, und dann geht sie mit dem Kopf durch die Wand.«

»Ganz so schlimm wird es ja nicht sein«, meinte Hanno.

»Zu mir ist sie ja auch immer lieb, da fehlt sich nix«, meinte Nora. »Wir halten mächtig zusammen, aber mit dir kann ich mich auch sehr gut verstehen.«

»Das freut mich sehr, Nora«, erwiderte Hanno weich.

»Opi hat doch gesagt, daß ich auch von Ahlen heiße. Mir ist es ja egal, das mit den Namen, aber wenn ich nachher zur Schule gehe, fragen sie mich dann doch. Das denke ich wenigstens.«

In dem Moment läutete das Telefon, und sie sagte rasch: »Ich gehe schon hin.«

»Wahrhaftig ein kluges Kind«, stellte Hanno fest, und da schallte schon Noras Stimme zu ihnen in den Raum. »Ja, er ist hier, Mami, und ich weiß überhaupt nicht, was du hast! Er gefällt mir sehr gut. Du brauchst auch nicht immer bockig zu sein.«

Dann schnaufte sie hörbar und rief: »Opi, die Mami will mit dir reden. Aber ich kann doch nicht sagen, daß mir Hanno nicht gefällt, wenn er mir doch gefällt!«

»Ist ja recht, mein Schatz«, sagte Hans, »ich rede jetzt mit Mami.«

Aber er machte dazu die Tür zu, und drinnen hörten sie nichts.

»Dorle hat nämlich zu Mami gesagt, daß du angerufen hast, Hanno«, sagte sie verschwörerisch. »Dorle ist gar nicht so stur. Ihr hat es bloß nicht gepaßt, daß Papi immer so gerast ist. Gell, du rast nicht?«

»Nein, Nora.«

»Das ist sehr gut! Man muß nämlich vernünftig fahren, auch wenn man ein schnelles Auto hat. Opi baut welche. Und zum Geburtstag hat er eins geschenkt gekriegt, aber Mami will es nicht haben. Dein Auto sieht ja auch ganz normal aus. Und da kriegt man auch viel rein. Habt ihr eigentlich ein Schloß?«

»Nein, es ist eine Villa«, erwiderte er.

»Dann habt ihr wohl auch keine Kühe, Pferde und Hunde?«

»Nein, die haben wir leider nicht.«

»Das ist sehr schade. Ich mag Tiere. Aber wir können leider auch keine haben, weil Mami soviel unterwegs ist, und Dorle wird das zuviel Dreck.«

Sie hatten viel reden können, denn das Gespräch zwischen Hans und Cordula hatte lange gedauert. Doch die Miene des Mannes war nicht düster, als er sich wieder zu ihnen setzte.

»Freilich will sie Beweise Ihrer Loyalität sehen, Hanno, aber sie wird mit sich reden lassen.«

»Jetzt bin ich aber sehr froh«, warf Nora schnell ein.

»Und ich erst«, schloß sich Hanno an.

»Und was heißt das schwere Wort, das du eben gesagt hast, Opi?« fragte Nora.

»Loyal? Das heißt redlich, anständig.«

»Also, Mami wird doch wirklich nicht meinen, daß Hanno nicht anständig ist«, sagte Nora. »Aber ich werde schon noch mit ihr reden.«

»Davon bin ich wahrhaftig überzeugt«, meinte Hans lächelnd, und er nickte Hanno aufmunternd zu.

Als Hanno sich verabschiedete, blickte ihm Nora sinnend nach. »Ich finde, daß er sehr gut aussieht«, stellte sie fest. »Vielleicht heirate ich ihn mal, wenn ich groß bin. Dich kann ich ja leider nicht heiraten, weil du mein Opi bist. Aber wenn ich mal Kinder habe, sollen sie ihren Papi sehr liebhaben, und er soll auch lieb mit ihnen sein. Warum hat Mami eigentlich nicht Hanno geheiratet? Der hätte sich nicht derrent.«

»Frag sie das lieber selber«, erwiderte Hans weise, denn er hoffte, daß seine gescheite Enkeltochter ihre Mutter damit wirklich mal in die Enge treiben könnte.

*

Hanno war auch für den Rest des Tages noch unterwegs. Viel hatte er über Sonja Keller noch nicht erfahren können, aber in ärmlichen Verhältnissen lebte sie nicht, soviel wußte er nun schon. Sie lebte mit einem Mann zusammen, der zwar viel unterwegs war, der jedoch den Beruf eines Immobilienmaklers auszuüben schien.

Hanna überlegte, ob nicht dieser Mann hinter Sonjas Angriff stecken könnte.

Auf dem Rückweg aus der Stadt fuhr er bei den Guttroms vorbei, die im Südwesten von München noch ihr altes Gutshaus bewohnten, obwohl sie das Land, das ihnen einstmals gehört hatte, längst verkauft hatten. Da waren Siedlungen entstanden, und da der Grund immer teurer geworden war, konnten sie davon auch sorglos leben.

Sie freuten sich, daß Hanno kam. Er sagte, er hätte gerade in der Gegend zu tun gehabt und wollte die Gelegenheit nutzen, um etwas zu klären, was ihm Unbehagen bereitet hatte. Ein bißchen reserviert waren sie daraufhin zwar, aber als er den Namen Sonja Keller erwähnte, hoben sie schon abwehrend die Hände.

»Sagen Sie bloß nicht, daß sie immer noch Robert als den Sündenbock hinstellt«, sagte Lothar von Guttrom. »Sie hat doch mindestens drei Männer geschröpft! Tote können sich ja nicht wehren. Vielleicht behauptet sie jetzt auch noch, daß Leon der Vater ihres Sohnes ist. Aber es ist doch eindeutig festgestellt worden, daß ein Araber der Vater sein soll. Das hat Robert gesagt, als es um die Vaterschaftsfeststellung ging. Aber sie ist ein dummes Weib.«

Das war sehr deutlich und drastisch gesagt, und man schien froh zu sein, sich einmal wieder abfällig über diese Sonja Keller äußern zu können, da brauchte Hanno zu seiner Erleichterung gar nicht viel zu erklären.

»Jedenfalls hat Robert gezahlt, bis das Kind geboren war. Sie wollte es ja angeblich haben, aber dann hat er es sich angeschaut und festgestellt, daß da eine andere Rasse mitmischt… und einen Anwalt eingeschaltet.«

»Wir hätten ja nichts gegen ein Kind gehabt, nachdem Robert uns so tragisch genommen wurde«, sagte Frau von Guttrom leise, »aber es hätte schon sein Fleisch und Blut sein müssen.«

Sie redeten wenigstens nicht so wie Vater, dachte Hanno, und Robert war ganz sicher ein Filou gewesen, in bezug auf Frauen wohl noch leichtsinniger als Leon. Die Tochter hatte einen Bürgerlichen geheiratet, da war auch kein großes Theater gemacht worden. Und nun hatten sie zwei Enkel, wie Hanno auch erfuhr.

Hanno brauchte es nicht zu bereuen, diesen Besuch gemacht zu haben. Nun wußte er doch wenigstens einiges mehr, wenn auch jene anderen Männer, die Sonja auch noch geschröpft hatte, unerwähnt blieben. Es erleichterte Hanno aber ungemein, daß der Vater des Jungen mit Sicherheit ein Ausländer war. Er wollte jetzt noch in Erfahrung bringen, ob er tatsächlich Leon getauft worden war.

Am nächsten Tag schon erfuhr er, daß auch dies nicht stimmte. Die Geburtsurkunde lautete auf den Namen Juan Keller, und der Vater war nicht angegeben.

Erst als er auch dies wußte, sprach er mit seinem Vater. »Ganz schön frech von dieser Person«, sagte er ruhig. »Und dann auch noch Cordula da hineinziehen zu wollen. Aber sie muß ihr eine gewaltige Abfuhr erteilt haben.«

»Eine sehr energische Frau, das hätte Leon eigentlich guttun müssen, wenn er einsichtig gewesen wäre«, sagte Johann tonlos.

»Jedenfalls haben sich die Guttroms solidarisch mit ihrem Sohn erklärt«, bemerkte Hanno beiläufig. »Sie hätten das Kind sogar zu sich genommen, wenn Robert der Vater gewesen wäre.«

»Ich habe einen anderen Stil.«

»Es muß nicht der richtige sein, Vater. Ich war gestern bei Hans Mohl. Nora war bei ihm. Sie ist

ein bildhübsches, hochintelligentes Kind, ein Sonnenschein, ein richtiger kleiner Botticelli-Engel dem Aussehen nach, Sie läßt sehr kluge Sprüche los.«

»Ein vierjähriges Kind? Übertreib doch nicht!«

»Ich übertreibe nicht. Sie hat gefragt, wie man böse auf einen Menschen sein kann, den man gar nicht kennt, und sie möchte dich gern kennenlernen, um festzustellen, ob sie dich böse findet und du nichts mit ihr zu tun haben willst. Dafür möchte sie dann eine Begründung haben.«

»Das hast du dir doch ausgedacht, um mich weich zu machen«, sagte Johann heiser.

»Ich habe auch gestaunt über sie, aber sie ist ein aufrichtiges Kind. Sie sagt, was sie denkt, und ich finde das wunderbar. Sie hat mich richtig verblüfft.«

»Aber sie hat mit dir geredet.«

»Ja, natürlich! Sie hat festgestellt, daß ich ihr gefalle, und das hat mich glücklich gemacht. Was du auch weiterhin denken und tun magst lasse es mir nicht nehmen, mich weiterhin um die Zuneigung dieses Kindes zu bemühen.«

»Und um die ihrer Mutter, nicht wahr? Ich weiß doch, daß du begeistert von ihr warst. Leon hat es ja lautstark verkündet, daß du deswegen gegen ihn gehetzt hast.«

»Das ist absolut lächerlich. Ich habe lediglich zu Mama gesagt, daß er um diese Frau zu beneiden sei. Aber wir brauchen über Cordula nicht zu diskutieren, sie will von dem Namen Ahlen nichts wissen. Sie braucht ihn nicht. Sie ist als Cordula Mohl erfolgreich.«

»Hast du mir noch mehr vorzuwerfen?« fragte sein Vater zornig.

»Ich werfe dir nichts vor. Ich habe dir erklärt, was ich in Erfahrung gebracht habe, wie du es ja auch von mir verlangt hast. Wenn du noch mehr wissen willst, mußt du dich selbst bemühen. Wie sich meine Beziehungen zu meiner Nichte künftig gestalten, darüber werde ich dir keine Rechenschaft ablegen.«

»Ich will davon auch nichts wissen.«

»Ich muß jetzt nur daran denken, welch unsägliche Freude Mama an diesem wonnigen Kind gehabt hätte. Aber du hast ihr ja wirklich nichts gegönnt.«

Johann wandte sich ab. »Ist es etwa das, was Leons Frau mir vorwerfen will, was er ihr eingeflüstert hat? Nun, mein Sohn, dann will ich dir etwas sagen: Deine Mutter hat mir immer wieder gesagt, daß sie mich haßt, daß sie mich unter Zwang geheiratet hat und ihre Liebe auf immer und ewig einem anderen Mann gehören würde. Nach außen hin war sie die sanfte, nachgiebige Frau, mir gegenüber jedoch war sie voller Feindseligkeit. Du kannst es mir glauben oder nicht, aber du kannst die Beweise in ihrem Nachlaß finden. Ich weiß nicht einmal, ob Leon wirklich mein Sohn war.«

Eiskalt wurde es Hanno, alles Blut war aus seinem Gesicht gewichen. Aber er wußte, daß sein Vater so etwas niemals sagen würde, wenn es nicht der Wahrheit entspräche, denn dies auszusprechen, war allein schon eine Demütigung für ihn selbst.

»Ich kann es verstehen, wenn du es nicht glaubst, Hanno«, fuhr der Baron nun fort. »Es steht eine Truhe im Schrankzimmer, in der du alles an Beweisen findest.«

»Ich bin erschüttert, Vater«, murmelte Hanno heiser.

Johann drehte ihm immer noch den Rücken zu. »Versteh mich nicht falsch, Hanno, betteln um Verständnis habe ich nicht gelernt, aber ich habe nur einen Sohn, und ich bitte dich, mich jetzt nicht im Stich zu lassen.«

›Ich bitte dich‹, hatte er gesagt. Hanno wurde die Kehle eng, als sein Vater sich jetzt umdrehte und er in dieses veränderte Gesicht blickte.

»Ich bleibe, Vater«, sagte er. »Wir werden einmal über alle Probleme sprechen. Ich muß jetzt auch nachdenken.«

»Das brauchst du nicht. Ich wollte deine Mutter in deinen Augen nicht herabsetzen. Ich wollte dir nur erklären, warum ich so geworden bin.«

»Hätte es aber nicht einen anderen Weg gegeben, es mir verständlich zu machen? Ein Gespräch von Mann zu Mann?«

»Ich hatte es vor, aber dann kam alles Schlag auf Schlag: Diese Sonja Keller, dann der Generalangriff von Cordula, deine Vorwürfe, deine Drohung, eigene Wege zu gehen. Es war ein bißchen viel auf einmal, und ich habe auch über die Vergangenheit nachgedacht.«

»Jedenfalls werde ich bleiben, und wir werden schon eine Basis finden, auf der wir uns verständigen können«, sagte Hanno versöhnlich.

*

Die Truhe im Schrankzimmer… sie ging ihm nicht aus dem Sinn. Leon hatte einmal versucht, sie zu öffnen. Da hatte Hanno seine Mutter zum erstenmal aufgebracht gegen ihn gesehen, zu dem sie sonst doch immer nachsichtig war.

Und Leon hatte auch noch frech gefragt, ob da der Teufel drinsitzen würde, vor dem sie Angst hätte.

Aber sie hatte ihn dann unter vier Augen ins Gebet genommen, und nie mehr hatte er es gewagt, nochmals an diese Truhe zu gehen.

Hanno war das alles ziemlich gleichgültig gewesen. Er war nicht neugierig, und er fürchtete sich auch nicht. Es gab genug Truhen im Haus, in denen alles mögliche aufbewahrt wurde. Wäsche, alte Kleidung, auch wertvolle Gegenstände, die geschont werden sollten. Hanno hatte seine Zimmer so schlicht wie nur möglich eingerichtet, nachdem es einmal einen gewaltigen Krach gegeben hatte, weil ein paar wertvolle Leuchter und Gläser verschwunden waren. Er hatte gewußt, daß Leon sie beiseite geschafft und wohl auch verkauft hatte, aber er hatte nichts gesagt. Leon hatte es erst eingestanden, als eine langjährige Hausangestellte, die beschuldigt worden war, auf einer polizeilichen Untersuchung bestand.

Ja, Hanno wußte um so manchen Streich, den Leon seinem Vater gespielt hatte. Doch darüber wollte er jetzt wirklich nicht mehr nachdenken. Es ging um soviel mehr und auch darum, für seinen Vater doch Verständnis aufzubringen. Konnte er doch keinen Zweifel hegen, daß er die Wahrheit gesagt hatte.

Nein, Johann von Ahlen wäre solcher Lügen nicht fähig gewesen. Er hatte zu lange geschwiegen. Jetzt war es verzweifelte Selbstverteidigung gewesen, daß er einiges gestand, um nicht auch noch seinen zweiten Sohn zu verlieren. Hanno war zutiefst erschüttert, als er endlich die ganze Tragweite begriff, die letztlich auch das kühle Verhältnis des Vaters zu den Söhnen zur Folge gehabt hatte.

Bedauert worden war nur die Mutter, die er als still Duldende gesehen hatte, die ihre Kinder zu täuschen verstand, die aber vielleicht auch von Schuldgefühlen geplagt wurde.

Es war wirklich nicht einfach, dies alles zu begreifen, aber Hanno wurde es doch bewußt, welche Selbstüberwindung und Beherrschung es den Vater gekostet haben mußte, diese Haltung zu wahren, die ihm doch wahrlich keine Sympathie oder gar Zuneigung eingebracht hatte.

Hanno wollte jetzt nicht in der Vergangenheit wühlen. Deshalb sollte die Truhe auch noch verschlossen bleiben. Doch er wußte, daß er sich damit befassen mußte, da dadurch eine Brücke zu seinem Vater geschlagen werden konnte.

Von einer Minute zu anderen konnte sich seine Einstellung nicht ändern, das war ihm bewußt, denn auch zwischen den Ahlens und Cordula mußte noch viel ausgeräumt werden.

Er dachte an Nora, dieses bezaubernde Kind, das Herzen gewinnen und vielleicht auch erweichen konnte. Aber vielleicht war es die Tatsache, daß Leon ihr Vater war, die Johann so hart gemacht hatte, die Ungewißheit, die ihn wohl ein Leben lang gequält hatte, ob Leon, der in seinen Augen mißratene Sohn, wirklich sein Sohn gewesen sei.

Hanno konnte sich nur schwer vorstellen, daß seine Mutter sich so hatte verstellen und andere täuschen können. Aber hatte nicht auch Leon Cordula getäuscht? Hätte sie ihn denn geheiratet, wäre sie nicht überzeugt gewesen, daß er sie liebte?

Es blieben so viele Fragen offen, die ihn quälten und bewegten! Es fiel ihm schwer, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren, die aber auch erledigt werden mußte.

Er überlegte kurz, ob er Cordula mitteilen sollte, was er bisher über Sonja Keller in Erfahrung gebracht hatte. Er entschloß sich, doch lieber zu warten, bis Hans mit seiner Tochter gesprochen hatte.

*

Cordula war innerlich nicht zur Ruhe gekommen nach dem Telefonat mit Nora und ihrem Vater. Wenn sie nicht soviel zu tun gehabt hätte, wäre sie gleich hinausgefahren, um sich mit ihrem Vater auszusprechen.

Sie befand sich in einem Zwiespalt. Sie hatte ja eigentlich nichts gegen Hanno gehabt und ihn nur von einer sympathischen Seite kennengelernt. Nach nüchterner Überlegung mußte sie sich auch eingestehen, daß sie sich nur zu dieser zornigen Äußerung hatte hinreißen lassen, weil das unverschämte Auftreten von Sonja Keller sie so in Rage gebracht hatte.

Hanno war anders als Leon, das wußte sie, denn Leon hatte es selbst – wenn auch in spöttischem Ton – gesagt. ›Die ungleichen Brüder‹ waren sie genannt worden, daran erinnerte sich Cordula genau. Aber Hanno war zu ihrer Hochzeit gekommen. Er hatte sich von seinem Vater nicht beeinflussen lassen.

Cordula erinnerte sich jetzt auch daran, daß sie die beiden Brüder gedankenvoll verglichen hatte, aber sie war ja so verliebt in Leon gewesen!

Er sei ein Streber und Pedant, hatte Leon über seinen Bruder gesagt, er würde mal genauso werden wie der Vater, und er würde dann auch die Frau heiraten, die man ihm aussuchen würde. Genauso, wie es bei den Eltern gewesen sei. Gewiß würde dann auch jeder seine eigenen Wege gehen.

Ob es bei seinen Eltern auch so gewesen wäre, hatte Cordula gefragt.

Er hatte zynisch gelacht. Ja, dieses Lachen hatte sie später auch hassen gelernt. Nun ging ihr durch den Sinn, daß Leon vielleicht gar nicht empfunden hatte, wie zynisch er oft war, wie verächtlich er von anderen gesprochen hatte, ohne je Kritik an sich selbst zu üben.

Ja, auf ihre Weise waren sie auch eigene Wege gegangen, nur hatte sie nie nach anderen Männern geschielt.

Sie hatte Henriette von Ahlen nie kennengelernt, aber sie hatte sich auch nicht vorstellen können, daß diese Frau, die doch anscheinend völlig unter der Fuchtel ihres Mannes stand, ein Eigenleben geführt hatte.

Leon hatte gesagt, seine Mutter hätte alle Affären ihres Mannes hingenommen und schweigend geduldet.

Aber anscheinend war ihnen nur eins wichtig gewesen: daß die Tradition respektiert wurde, daß nur Partner von Adel in Frage kamen. Und warum sollte Hanno anders denken? Warum war er noch immer nicht verheiratet, da er doch die Verpflichtung hatte, für einen Erben zu sorgen? –

Lieber Himmel, warum soll ich mir darüber den Kopf zerbrechen, dachte Cordula nun. Ich habe ihnen meine Meinung gesagt, und so schnell werde ich die auch nicht ändern, selbst wenn Paps mit Engelszungen redet. Jetzt scheint er auch Hanno zu mögen. Aber da war ja auch Noras Meinung, und eigentlich war die Kleine für Männer gar nicht so leicht einzunehmen, weil ihr Opi einmalig in ihren Augen war.

Cordula ärgerte sich fürchterlich, daß ihre Gedanken immer wieder zu Hanno zurückkehrten. Freilich bezog sie seinen Vater nicht in diese Gedankengänge ein, aber es irritierte sie, daß sie Hanno gegenüber Gewissensbisse fühlte.

Indessen war Hans Mohl entschlossen, nichts mehr auf die lange Bank zu schieben. Mit großen Augen sah ihn Nora an, als er sagte, daß sie nach München fahren würden.

»Willst du mich loswerden, Opi?« fragte sie kleinlaut.

»Aber nein, du kannst hierbleiben, wenn du möchtest. Ich würde dich aber bestimmt wieder mitnehmen. Ich habe nur etwas Wichtiges mit deiner Mami zu besprechen.«

»Oder fährst du zu Hanno?« fragte die Kleine.

»Aber nein, er wohnt doch ganz woanders.«

»Wo denn? Sag es mir doch bitte.«

»Im Schloßpark am Bach.«

»Aber er hat gesagt, er wohnt nicht in einem Schloß, bloß in einer Villa.«

»Es ist auch kein Schloß, aber der Park heißt so.«

»Hat er auch ein Telefon?« fragte Nora.

»Natürlich hat er ein Telefon.«

»Dann kann ich ihn doch mal anrufen.«

»Bei Gelegenheit einmal«, vertröstete er sie.

»Ich fahre dann doch mit zu Mami. Aber du nimmst mich wieder mit, ja? Ich langweile mich nämlich, wenn sie soviel zu tun hat. Hier ist auch so gute Luft.« Wie verständig das Kind sprach!

Das war allerdings ein Argument, das auch Hans überzeugte, denn er konnte sich gar nicht mehr vorstellen, in der Stadt zu leben, wenn es auch in einem Vorort und in einem Haus mit Garten wäre. Er war viel ausgeglichener, seit er ohne Zwang leben und arbeiten konnte, und diese innere Ruhe kam freilich auch dem Kind zugute. Hans meinte auch, daß Cordula, vom Erfolg nun schon verwöhnt, zu wemg Zeit für Nora hatte.

Ihn beschäftigte es, daß Nora soviel über Hanno sprach und soviel an ihm entdeckt hatte, was ihr gefiel. Auf der Fahrt nach München sprach sie dauernd von ihm.

»Ich finde, daß Hanno wie ein Ritter aussieht«, sagte sie.

»Wie kommst du denn darauf?« fragte er erstaunt.

»Im Fernsehen war mal ein Ritter, der war auch so schön wie Hanno, und er hat gegen böse Menschen gekämpft und sie besiegt.«

»Hanno ist doch nicht schön«, wandte Hans ein.

»Du verstehst nicht, Opi. Du bist auch schön. Wenn jemand gut ist, ist er schön.«

»Und du meinst, daß Hanno gut ist?«

»Seine Stimme gefällt mir sehr. Sie streichelt.«

Hans war verblüfft. »Und was findest du noch schön an ihm?« fragte er beklommen.

»Seine Augen. Er guckt genauso lieb wie du. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie Papa geguckt hat, aber bestimmt nicht so lieb wie Hanno, sonst hätte ich ihn nicht vergessen. Ich werde Mami wirklich fragen, warum sie nicht Hanno geheiratet hat.«

»Ich bin gespannt, was du da für eine Antwort bekommst«, sagte Hans.

»Ich verrate es dir. Dir sage ich sowieso alles. Eigentlich mußt du sagen, daß dir Hanno auch gefällt.«

»Das bestreite ich ja gar nicht.«

»Sagst du es auch der Mami?«

»Natürlich sage ich es ihr!«

»Und wenn sie ärgerlich wird?« fragte Nora besorgt.

»Das legt sich wieder, mein Schätzchen.«

Das Gespräch mit Nora war sehr aufschlußreich, und Hans staunte immer wieder, wie genau dieses Kind das Wesentliche schon erfaßte, wie gut es beobachtete und wie klar es sich auszudrücken verstand! Und das mit vier Jahren.

*

Dorle stand da wie vom Donner gerührt, als sie die Tür geöffnet hatte.

»Friß mich nicht gleich«, sagte Hans.

»Welch ein Wunder, daß Sie überhaupt mal wiederkommen«, sagte sie vorwurfsvoll.

»Du willst doch gar nichts mehr von mir wissen«, meinte er anzüglich.

»Hier werde ich gebraucht.«

»Und das habe ich auch eingesehen, Dorle. Ich habe nicht leichten Herzens auf dich verzichtet, aber Resi wäre ja nicht in die Stadt gegangen, und du bist doch sehr gern hier in deiner schon so lange vertrauten Umgebung. Gib es doch zu.«

»Mami ist überhaupt nicht da!« posaunte da Nora schon durchs Haus, durch das sie gefegt gekommen war.

»Sie wird sicher bald kommen«, sagte Dorle. »Kann ich was herrichten?«

»Ja, gern«, sagten beide strahlend.

Dorle eilte in die Küche.

»Wir sagen ihr lieber nicht, daß ich wieder mit zu dir fahre, Opi«, raunte Nora ihm zu, »sonst streikt sie vielleicht.«

»Du liebe Güte, auf was du alles kommst«, staunte er.

»Sie kann auch stur sein, richtig stur, das darfst du glauben.«

»Ich weiß es, Nora. Ich kenne sie über zwanzig Jahre.«

»Aber das mußt du auch sagen,

sie ist eine Perle. Mami sagt das immer.«

»Ja, sie ist eine Perle«, bestätigte Hans mit Nachdruck.

Cordula kam erst eine Stunde später, und da hatten die beiden ihren Imbiß schon verzehrt. Die junge Frau wirkte abgehetzt und war natürlich maßlos überrascht, ihren Vater und ihre Tochter hier zu sehen.

Aber dann entspannte sich ihr Gesicht. »Fein, daß ihr gekommen seid, heute habe ich die Nase mal so richtig voll.«

»Dann mußt du schneuzen, Mami«, erklärte Nora trocken.

Ein Lächeln legte sich um Cordulas Mund. »Es ist ziemlich scheußlich, wenn man abends heimkommt und keine Ansprache mehr hat«, erklärte sie.

»Hast du heute«, meinte Nora.

»Heute ja, aber ich habe dich schon mächtig vermißt.«

Nora geriet in einen tiefen Zwiespalt. »Eigentlich wollte ich gern wieder mit zu Opi fahren«, sagte sie, »aber er könnte ja auch ein paar Tage bleiben, und dann können wir mal wieder in den Tierpark gehen.«

»Ihr wolltet also nur eine Stipvisite machen«, sagte Cordula enttäuscht. »Wieso denn? Was ist der Grund?«

»Mal wieder mit dir zu reden«, erwiderte Hans.

»Dann kann ich mir den Grund schon denken!« Ihr Gesicht verschloß sich sofort.

»Ich könnte auch bis morgen bleiben«, schlug Hans vor.

»Oder bis übermorgen vielleicht?« meinte Nora.

»Auch bis übermorgen«, stimmte er sofort zu, »wenn es erlaubt ist.«

»Frag nicht so dumm«, sagte Cordula. »Du weißt, daß du immer hier sein kannst. Du machst zu wenig Gebrauch davon.«

»Also gut, ich bleibe.«

»Aber dann müssen wir Resi Bescheid sagen. Sie ist wenigstens nicht so stur wie Dorle und nicht gleich so beleidigt«, meinte Nora.

»Dorle meint es auch nicht bös«, beschwichtigte Hans seine Enkelin.

Dann entschwand Nora, um Dorle die frohe Botschaft zu verkünden, daß auch der Opi ein paar Tage bleiben würde.

»Man kommt nicht gegen sie an«, sagte Cordula seufzend.

»Sie ist eine richtige Evastochter. Sie hat Hanno bezaubert – und sie mag ihn.«

Cordula runzelte die Stirn. »Und du willst es so, Paps«, sagte sie, aber er vernahm keinen aggressiven Unterton.

»Ich habe ihr nicht zugeredet, und du kennst sie zur Genüge. Nora hat ihre eigenen Ansichten, und wenn sie nicht will, will sie nicht. Aber es hat mich gefreut, weil er ein sehr sympathischer und anständiger Mann ist. Es hat ihn tief getroffen, daß du ihn einen Feigling nanntest, Cordula.«

»Es war auch unüberlegt, aber ich war überreizt, da diese unverschämte Person mir so kam, als wäre ich ihres gleichen und wir könnten an einem Strang ziehen. Was kümmern mich jetzt noch Leons Affären?«

»Er hatte keine Affären in dem Sinne, ein paar Flirts vielleicht, aber mehr nicht, Cordula. Aber die Frauen sind ihm nun mal nachgelaufen. Er hat mehr die schnellen Autos geliebt, das darfst du mir glauben. Und ich bin auch überzeugt, daß du die einzige Frau warst, zu der er eine feste Bindung hatte.«

»Durch dich. Ich habe davon nicht viel gespürt, Paps. Aber das gehört der Vergangenheit an. Gegen ihn hege ich keinen Groll, ich wollte ihn ja, und er hat mich geheiratet, obgleich seine Familie sich gegen ihn stellte.«

»Sein Vater«, korrigierte Hans betont.

»Und was ist mit seiner Mutter?«

»Lassen wir das doch. Sie ist tot.«

»Aber du weißt doch auch, daß sie mit Morrell verbandelt war! Leon hätte das nie erwähnt, hätte er nicht gewußt, wie gut du Morrell kanntest.«

»Das ist lange her, Cordula, und fast vergessen.«

»Aber der Baron und Hanno leben, und mir scheint es, als wären sie beide von der Vergangenheit eingeholt worden.«

»Wie meinst du das?«

»Zuerst mal Sonja Keller«, erwiderte sie, »und dann ein gewisser Jean Pierre Morrell, den ich heute zufällig kennenlernte.«

»Ich verstehe dich nicht ganz, Cordula«, sagte Hans irritiert. »Wer ist das?«

»Der Sohn von Jean Claude Morrell, und er sieht Leon unglaublich ähnlich.«

Hans’ Gesicht verdüsterte sich. »Wo hast du ihn kennengelernt?« fragte er.

»In meinem Büro. Er wollte mir einen Auftrag geben. Aber er sagte auch gleich sehr direkt, daß ich doch mit Leon von Ahlen verheiratet gewesen sei, und warum ich mich Mohl nenne. Ich habe ihm natürlich nicht vorenthalten, daß dies mein Mädchenname sei.«

»War er unverschämt?« fragte Hans heiser.

»Ganz im Gegenteil, lieber Paps, er überhäufte mich mit Komplimenten, und ich habe einen Millionenauftrag in der Tasche, bereits perfekt.«

Hans sah sie fassungslos an. »Du bist also noch mal auf den gleichen Typ hereingefallen«, sagte er tonlos.

»Wieso hereingefallen? Ich habe ein glänzendes Geschäft gemacht. Er ist im Gegensatz zu Leon reich, hat einen guten Namen als Unternehmer, ist jünger als Leon, aber anscheinend um einiges tüchtiger und realistischer eingestellt. Über Leon haben wir übrigens nicht mehr gesprochen, nachdem ich ihm sagte, daß ich keinerlei Kontakt zu seiner Familie habe und von dieser als Bürgerliche nicht akzeptiert worden wäre.«

»Aber er sieht Leon ähnlich«, murmelte Hans. »Gibt dir das nicht zu denken, Cordula?«

»Sehr sogar, und deshalb will ich ihn näher kennenlernen. Wir treffen uns morgen zu einem Ausflug. Demzufolge bin ich doppelt froh, daß du dich auch weiterhin um Nora kümmerst.«

Hans sah seine Tochter sehr ernst an. »Und du meinst, daß du dich richtig verhältst?« sagte er leise.

»Wieso sollte ich mich falsch verhalten? Habe ich irgendwelche Verpflichtungen den Ahlens gegenüber? Und wenn die stolze und dann so nachgiebige Baronin einen Fehltritt begangen hat, werde ich meinen Triumph haben. Den werde ich auskosten, Paps.«

»Wie kommst du denn auf einen Fehltritt?« fragte Hans verwirrt.

»Sie hatte eine Liebschaft mit Morrell, das wußte sogar Leon. Er hat mir gesagt, daß die Ehe seiner Eltern gar nicht gutgehen konnte, weil es eine Mußheirat gewesen sei, und so was hätte er nie gewollt.«

»Eine Mußheirat? So sagt man doch, wenn ein Kind schon unterwegs ist.«

»Also, Paps, was du gleich denkst«, spottete Cordula. Doch gleich darauf wurde sie ernst. »Meinst du, daß man einen Mann so hinters Licht führen kann?« fragte sie.

»Es sind schon öfter angebliche Frühgeburten zur Welt gekommen«, erwiderte er anzüglich.

»Und angeblich soll Leon tatsächlich eine Frühgeburt gewesen sein. Aber wenn es so ist, kann einem der – Baron ja fast leid tun, denn er könnte ja doch mal dahintergekommen sein. Guter Gott, ich muß diesen Morrell tatsächlich näher kennenlernen.«

»Willst du dich aufs Glatteis begeben, Cordula?« fragte Hans gedankenvoll und warnend.

»Das bestimmt nicht, da kannst du ganz sicher sein. Auch wenn er seriöser ist als Leon, es käme mir nicht ganz geheuer und sogar ziemlich geschmacklos vor, wenn ich mich ernsthaft engagieren würde. Nein, Paps, keine Sorge, Nora ist mir wichtiger als jeder Mann.«

»Aber vielleicht wirst du nach solchen Erwägungen etwas toleranter Hanno gegenüber sein. Unsere Kleine hat ihn wirklich gern. Und sie hat sehr nachdenklich stimmende Vergleiche zwischen ihm und Leon gezogen. Er gefällt ihr alles in allem viel besser. Sie mag seine Stimme, seine Augen, und sie hat mit ihm geredet, als wäre er ihr ganz vertraut.«

»Das ist allerdings wirklich erstaunlich«, sagte Cordula.

»Gib ihm doch die Chance zu einem Gespräch, Cordula«, sagte Hans bittend.

»Zuerst will ich mal Jean Pierre Morrell aufs Korn nehmen«, erwiderte sie. »Und durch ihn verdiene ich mir ja eine goldene Nase.«

»Als ob das so wichtig wäre«, warf Hans geringschätzig ein.

»Für eine selbständige Frau ist das sehr wichtig, Paps, und ich möchte niemals abhängig von einem Mann sein.«

Wenn sie sich nur nicht noch mal die Finger verbrennt, weil dieser Morrell es anscheinend auch versteht, sofort Eindruck zu machen, ging es ihm durch den Sinn. Aber er sah in ihren Augen keinen verträumten Ausdruck, sondern nur einen wachsamen. Und sie schenkte ihm ein Lächeln.

»Du brauchst dir wirklich keine Sorgen mehr um mich zu machen, Paps«, sagte sie. »Ich mache keinen Fehler zweimal. Ich weiß nämlich genau, was du eben gedacht hast.«

»Dann sag es doch mal, wenn du Gedanken lesen kannst.«

Sie lachte leise. »Sie wird sich doch nicht noch mal die Finger verbrennen – das hast du gedacht – stimmt’s?«

Er war verblüfft. »Man kann ja Angst vor dir bekommen«, meinte er.

»Es wäre natürlich schön, wenn Männer auch Gedanken lesen könnten«, fuhr sie lächelnd fort, »dann bliebe einem manche Abweisung erspart.«

»Ich weiß jedenfalls, ob du positiv oder negativ eingestellt bist. Gegen diesen Morrell scheinst du nichts zu haben.«

»Es ist auch nichts gegen ihn einzuwenden. Ich habe sofort Erkundigungen eingezogen. Solvent und auch seriös, und was das Private anbetrifft, bleibe ich ohnehin auf Distanz. Aber du wirst doch verstehen, daß ich neugierig bin, oder?«

»Es ist doch aber eigenartig, daß er gerade jetzt in Erscheinung tritt.« Hans sah seine Tochter sehr nachdenklich an.

»Der Tod der Baronin scheint so manchen aus der Versenkung gelockt zu haben«, stellte Cordula fest, »natürlich unter den unterschiedlichsten Aspekten. Aber für mich gibt es nur die eine Erklärung. Und ich bin wirklich gespannt, was dabei herauskommt.«

»Ich auch«, gab Hans zu.

»Dieser Jean Claude Morrell lebt noch?« fragte Hans nach einem längeren Schweigen stockend.

»Er soll aber sehr krank sein. Der Sohn hat sich darüber nicht geäußert. Ich habe es nur im Zuge meiner Erkundigungen erfahren.«

»Und woher beziehst du Informationen?«

»Im Zeitalter von Computern erfährt man rasch so manches, wenn man die nötigen Verbindungen hat. Paps, ich lasse mich nicht mehr mit Leuten ein, die die Puppen tanzen lassen und so tun, als könnten sie sich alles leisten. Man arbeitet wochenlang an einem Projekt, und dann wartet man vergeblich auf das Honorar. Außer Spesen nichts gewesen, sagte man früher. Aber mir ist das nur einmal passiert. Jedenfalls macht der Sohn Morrell einen ganz guten Eindruck, und er ist auch ein ganz humorvoller Mann.«

»Du solltest Nora mit ihm bekannt machen und hören, wie sie urteilt.«

»Nun, ich glaube nicht, daß meine Tochter eine bessere Menschenkenntnis besitzt als ich.«

»Aber einen Instinkt, der aus dem Gefühl kommt, Cordula.«

»Paps, ich bitte dich, sieh mich nicht schon wieder auf Abwegen wandeln! Und wenn du es auch nicht so gern hören wirst: Wahrscheinlich wäre ich bei Leon kritischer gewesen, wenn du dich nicht gleich so gut mit ihm verstanden hättest. Vergiß bitte nicht, daß ich ihn durch dich kennengelernt habe. Aber deswegen brauchen wir keine Asche auf dein Haupt zu streuen. Ich weiß auch, daß du mir niemals zugeredet hättest, ihn zu heiraten, wenn ich es selber nicht gewollt hätte. Und letztlich ist davon zumindest eine wirklich entzückende Tochter geblieben, und ich bin eine sehr stolze und glückliche Mutter. So sehe ich es.«

»Und das ist wundervoll, mein Liebes«, sagte Hans weich.

»Wir werden uns immer verstehen, Paps«, sagte Cordula. »Es kann sich niemand zwischen uns drängen. Darüber bin ich sehr glücklich.«

Aber nun wartete Hans doch voller Spannung, was der nächste Tag bringen würde. Nora sah allem mit Gelassenheit entgegen. Sie war nur enttäuscht, daß ihre Mami sich nicht mit Hanno traf, sondern mit einem Mann, den sie nicht kannte.

*

»Sie hat nicht leiden müssen«, sagte Dr. Dieter Behnisch zu seinem Freund Daniel Norden. »Sie ist still und friedlich eingeschlafen. Ein langes Leiden ist ihr erspart geblieben.«

Dr. Behnisch hatte Daniel angerufen, als er wußte, daß es mit Margarete Lengfeld zu Ende gehen würde, aber er hatte sie nicht mehr lebend angetroffen, von einem Moment zum anderen war Margarete Lengfeld in die Ewigkeit hinübergeschlummert.

Obwohl auch er froh war, daß sie nicht hatte leiden müssen, war er traurig, er hatte die alte Dame gemocht.

Schwester Ingrid eilte herbei und teilte Dr. Behnisch mit, daß ein neuer Patient eingeliefert worden sei. Kreislaufschwäche. Er habe unbedingt in die Behnisch-Klinik gewollt. »Ihre Frau untersucht ihn gerade«, meinte Ingrid noch.

»Ich komme gleich«, sagte Dr. Behnisch.

»Das gibt’s doch nicht!« sagte Dr. Norden da gerade fassungslos.

Dieter Behnisch sah ihn erstaunt an.

Dann fiel auch sein Blick auf den jungen Mann, der auf die beiden Ärzte zukam, und war ebenfalls erstaunt. Sie hatten Leon von Ahlen vor Jahren zuletzt gesehen, und dadurch meinten sie auch, ihn lebendig vor sich zu sehen.

Aber Leon von Ahlen war tot!

»Es ist frappierend!« meinte Dieter.

Der junge Mann war inzwischen zu ihnen getreten. Er war von den fassungslosen Gesichtern der Ärzte irritiert.

»Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Jean Pierre Morrell. Man hat mir mitgeteilt, daß mein Vater hier eingeliefert wurde. Wenn es geht, möchte ich zu ihm.«

»Ich bin Dr. Behnisch. Warten Sie bitte dort einen Augenblick. Mir wurde gerade gesagt, daß wir einen neuen Patienten haben. Das könnte Ihr Vater sein.«

Nachdem Jean Pierre Morrell sich in der Eingangshalle niedergelassen hatte, hatten sich Dr. Norden und Dr. Behnisch wieder gefaßt.

»Es ist wirklich eine enorme Ähnlichkeit«, sagte Daniel. »Man weiß ja, daß in den Filmen Doubles eingesetzt werden und solche Ähnlichkeiten verblüffend sind. Aber wenn man selbst damit konfrontiert wird, ist es doch erstaunlich. Gerade vor ein paar Tagen hatten wir mit den Kindern ein Gespräch über Doppelgänger. In Annekas Schule sind zwei Jungen, die sich unglaublich ähnlich und doch nicht miteinander verwandt sind.«

»Wir haben Leon vor Jahren zuletzt gesehen. Da kann selbst eine flüchtige Ähnlichkeit täuschen.«

»Nein, diese ist verblüffend.«

»Und welche Rückschlüsse ziehst du?«

»Das sind nur vage Vermutungen, aber die behalte ich lieber für mich. Sonst lacht ihr mich eines Tages womöglich aus. Aber sollte der junge Herr Morrell sich vielleicht nach der Baronin Ahlen erkundigen, dann sag mir bitte Bescheid.«

»Du meinst, es könnte da eine Verwandtschaft bestehen? Na, wundern würde mich bei dieser Familie gar nichts. So einem sturen, gefühllosen Mann wie diesem Ahlen bin ich vorher noch nie begegnet.«

»Sag das nicht, man vergißt es bloß. Man merkt sich nur die, die bei aller Sturheit auch eine Persönlichkeit sind. Ich weiß nicht, was ihn zu diesem Menschen gemacht hat. Ich mache mir jetzt Gedanken, Daniel.«

»Das scheinen sehr ernste, tiefgründige Gedanken zu sein«, stellte Dieter Behnisch nachdenklich fest.

»Je älter man wird, desto mehr Gedanken macht man sich«, erwiderte Daniel.

»So ist es, mein Freund! Wir betrachten es halt nicht mehr nur vom medizinischen Standpunkt.«

Für Jean Claude Morrell wurde in der Behnisch-Klinik alles getan, was medizinisch und menschlich möglich war, aber ob man ihm wirklich helfen konnte, stand in den Sternen.

*

Jean Pierre war nicht in der Verfassung, einen fröhlichen Ausflug mit Cordula zu machen, wie er es sich vorgenommen hatte, denn sie gefiel ihm ausnehmend gut. Aber sein Vater hatte in seinem Leben bisher eine Ausnahmestellung eingenommen, die Hauptrolle gespielt. Frauen hatte Jean Pierre nur wenige kennengelernt… mal ein paar Flirts, eine Jugendfreundschaft, die aber auch nicht gehalten hatte, dann auch eine Liebe, die er aber mit Gänsefüßchen versah, weil die besagte junge Dame auch ganz konkrete Vorstellungen von ihrer Zukunft hatte. Sie war Cordula ähnlich, wenn auch noch jünger und nicht verheiratet gewesen.

Aber eigentlich beruhte sein Interesse für Cordula auf ganz anderen Vorzeichen, doch momentan dachte er daran nicht mehr. Es war ihm peinlich, ihr erklären zu müssen, daß er sich lieber um seinen kranken Vater kümmern wollte, als mit ihr den Rest des Tages zu verbringen. Aber er wollte es ihr persönlich sagen. Er wollte ihr verständlich machen, daß ihm viel an ihr lag.

Doch es kam anders, als er gedacht und befürchtet hatte. »Ihr Vater ist doch wichtiger als ein gemeinsames Essen«, sagte Cordula sofort, als er ihr zögernd erklärt hatte, was geschehen war. »Aber in der Behnisch-Klinik ist er bestens aufgehoben.«

»Sie kennen die Klinik?« fragte er.

»Gewiß, meine Tochter ist dort geboren, sie ist jetzt vier Jahre. Ich kenne auch die Ärzte, und ich würde gern mit Dr. Behnisch sprechen, daß ganz besondere Fürsorge auf Ihren Vater verwandt wird. Allerdings nur, wenn es Ihnen recht ist.«

»Sie sind sehr, sehr nett«! sagte er leise. »Mein Vater bedeutet mir sehr viel.«

»Das ist gut, dann sind Sie besser dran als Leon von Ahlen«, erwiderte sie. »Sie wissen sicher, daß Sie eine große Ähnlichkeit mit ihm haben.«

»Ja, das weiß ich, aber ich habe dafür keine Erklärung. Ich bin nur oft darauf angesprochen worden, und deshalb, das sage ich ganz offen, wollte ich Sie auch kennenlernen, als ich nach einem einfallsreichen Architekten suchte und hörte, daß Sie mit Leon von Ahlen verheiratet waren. Ich wollte Ihnen das alles heute auch ausführlich erklären, Frau Mohl, aber nun kam der Zusammenbruch meines Vaters dazwischen.«

»Dann machen wir eben keinen Ausflug, sondern fahren gemeinsam zur Behnisch-Klinik, wenn es Ihnen recht ist. Ich spreche dann mit Dr. Behnisch, daß ihrem Vater ganz besondere Fürsorge zuteil wird, weil er einen liebevollen Sohn hat. Einverstanden?«

»Sie sind einmalig«, sagte er voller Wärme.

»Das bin ich bestimmt nicht«, erwiderte sie, »ich habe Ihnen nur einiges voraus, wenn ich das sagen darf. Ich habe vor allem die besten Erfahrungen mit der Behnisch-Klinik gemacht, – in der übrigens auch kürzlich die Baronin von Ahlen verstarb, Leons Mutter. Ihr war nicht mehr zu helfen.«

»Sie haben sie gut gekannt?« fragte Jean Pierre hastig, etwas zu hastig für die hellhörige Cordula, die ja wenigstens etwas an diesem Tag in Erfahrung bringen wollte.

»Nein, ich habe sie überhaupt nicht gekannt. Ich war mit Leon verheiratet, aber nicht an seine Familie gebunden. Und ich habe Ihre Einladung auch nur deshalb angenommen, weil Sie Leon so ähnlich sehen, das sage ich ganz ehrlich. Sonst sind Sie allerdings sehr verschieden von ihm.«

»Und warum interessiert Sie diese Ähnlichkeit? Es gibt doch viele Doubles.«

»Nun, ich dachte, daß Sie vielleicht gemeinsame Vorfahren haben könnten, denn über diese habe ich ja nie etwas erfahren. Leon hat darüber nicht gesprochen. Er ist ausgebrochen aus der Tradition, wie man sagt.«

»Aber es gibt doch noch einen Sohn«, sagte Jean Pierre, und Cordula spürte, wie auch er nachhaken wollte.

»Ja, Hanno, aber er ist sehr traditionsbewußt«, erwiderte sie. »Allerdings wohl auch recht selbständig, was die geschäftlichen Dinge betrifft.« Sie wußte selber nicht zu erklären, warum sie etwas zu Hannos Vorteil sagte.

»Fahren wir jetzt gemeinsam zur Behnisch-Klinik?« fragte sie dann.

»Wenn Sie es wirklich wollen? Ich bin Ihnen sehr dankbar, Cordula. Ich glaube, Sie sind eine Frau, mit der man wirklich gut Freund sein kann.«

»Ganz sicher, aber mehr auch nicht«, erwiderte sie mit fester Stimme.

»Und sicher haben Sie dafür auch ein triftiges Argument.«

»Ist eine Ehe, die ein Fiasko war, etwa keines?« fragte sie ruhig.

Sie fuhren gemeinsam zur Behnisch-Klinik und redeten auf der Fahrt fast nichts, aber als sie dort angekommen waren, sagte Jean Pierre:

»Es ist seltsam, Sie haben sehr viel Ähnlichkeit mit Anouk, nicht so sehr äußerlich, aber in Ihren Ansichten.«

»Das ist interessant«, sagte Cordula, »da sieht man doch mal wieder, wie sehr Menschen sich ähneln können! Es scheint gar nichts Besonderes zu sein.«

»Doch, ich finde schon, daß es etwas Besonderes ist, wenn es um außergewöhnliche Menschen geht«, erwiderte Jean Pierre. »Ich glaube wirklich, daß ich Anouk besser verstehen könnte, wenn ich länger mit Ihnen reden dürfte.«

»Aber das dürfen Sie ja«, erwiderte Cordula. »Doch zunächst ist Ihr Vater wichtiger. Ich verstehe eine solche Beziehung. Ich liebe meinen Vater auch sehr.«

Es war für sie ungemein beruhigend, daß er über eine andere Frau mit ihr gesprochen hatte, die ihm doch viel zu bedeuten schien. Er war ihr noch sympathischer geworden, und ihr hätte es leid getan, wenn er ein so großes Interesse an ihr gezeigt hätte, daß sie auf Distanz hätte gehen müssen. So jedoch war zwischen ihnen tatsächlich schon ein freundschaftliches Verhältnis entstanden.

Alles in allem kam es ihr bei längerer Überlegung doch seltsam vor, wie sehr sich ihre Wege kreuzten und daß die Behnisch-Klinik in gewisser Weise zu einem schicksalhaften Ort für sie geworden war.

Die Baronin war dort gestorben, und nun war dort auch Jean Claude Morrell. Cordula kam der merkwürdige Gedanke, daß sich ein Ring schloß.

Jedoch schien Jean Pierre im Gegensatz zu Leon keine Ahnung von der Verbindung zwischen seinem Vater und Henriette zu haben. Oder wollte er dies nicht preisgeben?

Nein, er schien diesbezüglich völlig unbefangen zu sein, aber manchmal war es ja auch so, daß man Ahnungen von sich wies, nicht wahrhaben wollte, was andere vielleicht doch schon mal angedeutet hatten. Schließlich hatte er ja gewußt, daß sie mit Leon verheiratet gewesen war, er hatte auch zugegeben, daß er auf diese Ähnlichkeit schon öfter angesprochen worden war. Aber es konnte auch sein, daß sein Vater seine Beziehung zu Henriette verschwiegen hatte, daß er gar nichts wußte von deren Sohn Leon.

Dr. Behnisch war maßlos überrascht, als sie mit Jean Pierre eintraf. Ihm stockte wieder der Atem, und Cordula merkte es. Sie konnte in seiner Miene lesen.

»Ich habe Herr Morrell begleitet«, sagte sie, »und ich würde gern mit Ihnen sprechen, wenn Sie ein paar Minuten Zeit haben.«

»Selbstverständlich«, erwiderte Dr. Behnisch mit belegter Stimme. »Herr Morrell könnte jetzt mit seinem Vater sprechen. Er ist bei Bewußtsein.«

»Das ist eine gute Nachricht«, sagte Jean Pierre hastig. »Sie verstehen, Cordula…«

»Aber selbstverständlich! Sie wissen, wo Sie mich erreichen können. Alles Gute, vor allem für Ihren Vater.«

Er verabschiedete sich mit einem Handkuß von ihr. Dr. Behnisch nickte ihm kurz zu. »Wir sehen uns später«, sagte er.

Nun konnte sie mit Dr. Behnisch reden, der sogleich entschuldigend erklärte, daß er sehr überrascht gewesen sei, sie mit Jean Pierre Morrell zu sehen.

»Und die Ähnlichkeit mit Leon überrascht Sie doch wohl auch«, sagte Cordula gleich ganz direkt.

»Ich kann mir diese nur schwer erklären.«

»Ich wüßte schon eine Erklärung, wenn diese auch etwas delikat ist. Aber ich möchte mit Ihnen darüber sprechen, wenn Sie einverstanden sind.«

»Sogar sehr einverstanden«, erwiderte er.

Sie gingen zu seinem Zimmer.

»Haben Sie eine Meinung zu dieser Ähnlichkeit?« fragte sie dann mit einem flüchtigen Lächeln. »Aber ich will Ihnen die Antwort abnehmen, denn Sie haben sich bestimmt Gedanken gemacht. Ist Herr Morrell senior wirklich rein zufällig hier?«

»Von uns aus gesehen schon. Was ihn allerdings bewegte, wissen wir noch nicht. Aber vielleicht wissen Sie ein bißchen mehr und können mir weiterhelfen.«

»Eigentlich bin ich gekommen, um mir selbst weiterzuhelfen, denn seit ich Jean Pierre kenne, kreisen meine Gedanken unaufhörlich.«

»Und wie haben Sie ihn kennengelernt?«

»Er hat mir einen riesigen Auftrag gebracht. Er wußte aber auch, daß ich mit Leon verheiratet war. Und ich wußte von Leon, daß seine ach so ehrbare Mutter eine sehr enge Beziehung zu Jean Claude Morrell hatte, bevor sie seinen Vater geehelicht hat. Auf Befehl der Familie. Nehmen Sie es mir bitte nicht übel, wenn das zynisch klingt, aber in mir sitzt der Stachel immer noch, daß man mein Kind – Leons Kind – nicht akzeptiert hat. Ich selbst hatte kein Interesse an dieser Familie. Ich war bis über beide Ohren in Leon verliebt, doch unsere Ehe war ein Fiasko, ich leugne es nicht. Nun, nach dem Tode seiner Mutter, bemüht sich Hanno um Kontakte zu uns. Er hat es auch früher schon versucht, das muß ich zugeben, aber ich war sehr ablehnend, sicher auch ungerecht ihm gegenüber. Nora mag ihn, und deshalb möchte ich Ordnung in unsere Beziehungen bringen, da ich auch Verständnis für den Baron aufbringen kann… wenn es sich so verhält, wie ich vermute.«

»Und was vermuten Sie, Frau von Ahlen?« Dr. Behnisch nannte sie mit Absicht so, aber sie schien es gar nicht zu hören.

»Ich vermute, daß Henriette von Ahlen ein sehr intimes Verhältnis mit Jean Claude Morrell hatte… und daß Leon sozusagen dem Baron als Kuckucksei untergeschoben wurde, was er womöglich später auch bemerkte. Schließlich sind die beiden Brüder ja auch grundverschieden.«

»Sie denken doch nicht, daß der Baron einen solchen Betrug schweigend hingenommen hätte?«

»Ganz gewiß nicht, aber bei seinem Hochmut würde er das niemals in aller Öffentlichkeit zugegeben haben. Ich muß es so sagen. Sie kennen meine Einstellung zu dieser Familie.«

»Nein, zugegeben hätte er es nicht, aber die Ehe wurde fortgeführt.«

»Ich denke, daß es keine Ehe mehr war. Leon hat sehr drastisch darüber gesprochen. Wenn es bei uns auch in mancher Hinsicht nicht stimmte… es herrschte Offenheit. Und heute weiß ich genau, daß er unter diesen Spannungen, diesen Verhältnissen gelitten hat und zu einer wirklichen Liebe gar nicht fähig sein konnte, weil er auf einem Pulverfaß groß wurde. Er wagte zwar den Absprung, aber er blieb in sich zwiespältig. Ich kann mir sehr gut vorstellen, daß der Baron seine Frau so unter Druck setzte, daß sie nur noch kuschte, um von ihm nicht an den Pranger gestellt zu werden.«

»Was im Grunde aber gar nicht in seiner Absicht lag, weil er sich selbst damit zum Gespött hätte machen können«, sagte Dr. Behnisch.

»Genau das glaube ich auch. Ich bin froh, mit Ihnen darüber sprechen zu können. Mit Paps habe ich das Thema auch schon erörtert, aber er hatte Leon wirklich sehr gern, und er plädiert auch für eine bessere Beziehung zu Hanno. Er soll nicht für etwas gestraft werden, was in der Vergangenheit geschah, zu der Überzeugung bin ich inzwischen gekommen.«

»Und was ist mit Jean Pierre Morrell?« fragte Dr. Behnisch vorsichtig.

»Ich denke, daß wir mal recht gute Freunde sein können, wenn alles geklärt ist. Doch es scheint so, als wüßte er nichts von dem Verhältnis, das seinen Vater mit Henriette verband. Und er hat keine Ahnung, worüber wir gesprochen haben, Dr. Behnisch. Ich habe ihm nur gesagt, daß ich Sie gut kenne und mit Ihnen darüber sprechen will, daß sein Vater wirklich auf das Beste versorgt werden wird. Gibt es für ihn eine Rettung?«

»Vielleicht für ein paar Monate. Er hat Magenkrebs. Sein Sohn wird das heute auch erfahren. Er muß darauf vorbereitet sein.«

»Er hängt sehr an seinem Vater«, sagte Cordula leise.

»Aber Wunder geschehen in solchen Fällen selten. Übrigens hat er nach einer Anouk Angers verlangt. Wir haben sie bereits verständigt.«

Cordulas Augen weiteten sich. »Das scheint eine Freundin von Jean Pierre zu sein. Er hat jedenfalls mir gegenüber eine Anouk erwähnt. Wird sie kommen?«

»Ja, sie hat zugesagt. Sie nimmt das nächste Flugzeug von Genf.«

»Ich würde gern mit ihr sprechen«, sagte Cordula. »Vielleicht kann ich da eine Brücke schlagen.«

»Wie meinen Sie das?« fragte Dr. Behnisch überrascht.

»Sie hat vielleicht nicht die richtige Einstellung zu Jean Pierre.«

»Und da wollen Sie sich einmischen?«

»Nein, das nicht, nur aus dem Schatz reicher Erfahrungen einen kleinen Hinweis geben.«

»Das ist wirklich sehr anerkennenswert.«

»Ich will Jean Pierre nicht an mich binden, lieber Dr. Behnisch. Ich mag ihn, aber mehr ist da nicht. Und ich wollte Sie auch noch etwas anderes fragen, wenn ich darf.«

»Ich bin ganz Ohr.«

»Es geht da um eine gewisse Sonja Keller, die behauptet, von Leon einen Sohn zu haben. Die Affäre war vor unserer Heirat, aber wir hegen Zweifel, daß Leon der Vater ist. Was kann man tun, um Klarheit zu schaffen?«

»Beweise verlangen, das Gericht einschalten. Aber das sollten Sie wirklich den direkten Betroffenen überlassen.«

»Sie schlug mir vor, gemeinsam gegen den Baron vorzugehen.«

»Ganz schön frech! Sie waren ja Leons Frau, und Ihre Tochter ist ehelich geboren.«

»Und auch unverkennbar seine Tochter. Sie hat sogar sein Muttermal geerbt. Es ist sogar an der gleichen Stelle, nämlich am rechten Oberarm.«

»Vielleicht sollte man da von einem Vatermal reden«, sagte Dr. Behnisch. »Herr Morrell hat nämlich auch eines. Es wurde sehr beachtet, weil sich bei Krebserkrankungen solche Male verändern.«

Cordula setzte der Herzschlag aus. »Mein Gott«, flüsterte sie, »dann wäre er ja Noras Großvater!«

»Eine logische Schlußfolgerung«, sagte Dr. Behnisch.

»An die ich momentan nicht gedacht habe. Aber wenn das alles herauskommt…«

»Nora braucht es nicht zu erfahren«, erklärte Dr. Behnisch rasch.

»Aber Hanno, sein Vater… irgendwie tun mir die beiden leid.«

»Es mag sein, daß auch Herr Morrell Mitgefühl verdient. Vielleicht hat er nie erfahren, daß er noch einen Sohn hat.«

Cordula legte die Hände vor ihr Gesicht. Ihre Augen brannten, füllten sich mit Tränen.

»Ich bin ganz benommen«, flüsterte sie. »Es ist ein Drama.«

»Aber zwei Hauptpersonen leben nicht mehr«, warf Dr. Behnisch ein.

»Ich frage mich nur, wie eine Frau so überhaupt leben kann«, flüsterte Cordula.

*

Cordula war heimgefahren, Jean Pierre war immer noch bei seinem Vater. Viel hatte der Ältere noch nicht gesprochen, aber Jean Pierre war zufrieden, daß er überhaupt mit ihm reden konnte. Freilich drehten sich Jean Claudes Gedanken hauptsächlich um anstehende geschäftliche Dinge.

»Du brauchst dir wirklich keine Gedanken zu machen, Papa«, sagte Jean Pierre, »ich weiß über alles Bescheid. Sag mir lieber, warum du ausgerechnet zur Behnisch-Klinik wolltest.«

»Sie ist gut, hat den besten Ruf. Mir war so übel.« Seine Lider hatten sich gesenkt, sein Gesicht war verschlossen. »Sie ist hier gestorben«, murmelte er.

»Wer?« fragte Jean Pierre.

»Henriette. Ich wollte mit dir darüber reden, aber ich bin so müde. Sie hat mir kein Glück gebracht, ich habe sie auch nicht geliebt. Ich habe nur deine Mutter geliebt, Jean Pierre, glaube es mir. Ich werde glücklich sein, wenn ich mit ihr vereint bin, mit meiner Angelique. Ich wünsche dir eine solche Frau, mein Sohn. Ich weiß, daß du ein guter Sohn bist.«

Jean Pierre hielt den Atem an. Was ist nur mit Papa, dachte er, so hat er doch nie geredet! Phantasiert er? Er bekam Angst und läutete nach dem Arzt.

Dr. Hansen kam, und ihm nach gleich Schwester Anne mit dem Medikamentenwagen.

»Ihr Vater bekommt jetzt wieder eine Infusion, Herr Morrell«, sagte Dr. Hansen, »er wird dann schlafen.«

»Weiß er, was er redet?« fragte Jean Pierre leise.

»Das kann man so genau nicht sagen. Er wechselt zwischen Traum und Wirklichkeit«, erwiderte Dr. Hansen. »Jetzt gleitet er schon in den Schlaf zurück.«

»Wie krank ist er?«

»Darüber wird der Chefarzt mit Ihnen sprechen, Herr Morrell«, erwiderte Dr. Hansen. »Sie können schon zu ihm gehen.«

Was Jean Pierre dann hören mußte, ließ ihn erstarren. Der Boden schwankte unter seinen Füßen, und graue Nebelschwaden wallten vor seinen Augen.

»Wußten Sie nicht, daß Ihr Vater sehr krank ist?« fragte Dr. Behnisch.

»Ich wollte es nicht glauben… und er hat es weggeredet. Mit der Bauchspeicheldrüse sei etwas nicht in Ordnung, und mit den Knochen hätte er Schwierigkeiten.«

»Das sind schon Nebensymptome. Es ist Magenkrebs, das steht einwandfrei fest nach allen Untersuchungen.«

»Aber man kann doch operieren«, murmelte Jean Pierre.

»In diesem Stadium nicht mehr. Es ist ohnehin sehr erstaunlich, wie er seine Umgebung so lange täuschen konnte. Er hat jedoch ein recht starkes Herz. Ich muß Ihnen diese Wahrheit sagen, da ja sehr viel auf Ihren Schultern lasten wird, Herr Morrell. Leicht fällt es mir gewiß nicht, Angehörigen solche Tatsachen mitzuteilen, aber Ihr Vater scheint es zumindest zu ahnen, daß seine Zeit begrenzt ist. Und wenn es Ihnen ein kleiner Trost sein kann, dann sollten Sie ihm einen schnellen Tod vergönnen.«

»Wird er jetzt nicht mehr aufwachen?« fragte Jean Pierre beklommen.

»O doch, es bleibt ihm schon noch eine Zeit, aber wenn es noch etwas Wichtiges zu regeln oder zu erörtern gibt, müßten Sie diese nützen.«

Jean Pierre blickte erst sekundenlang zu Boden, dann aber sah er den Arzt voll an. »Ja, das werde ich tun«, erwiderte er tonlos. »Ich komme morgen vormittag. Sollte etwas sein, rufen Sie mich bitte an. Ich hinterlasse die Telefonnummer.«

*

Cordula dachte daran, daß Jean Claude Morrell Krebs hatte, genau wie Henriette, als sie sich von einem Taxi nach Hause fahren ließ. Und auch er war in der Behnisch-Klinik gelandet. So konnte das Schicksal spielen.

Indessen sprach Jean Pierre mit Dr. Behnisch, der sehr deutlich spürte, wie nahe diesem jungen Mann das Leiden des Vaters ging.

»Aber es gibt etwas, was ich sehr gern mit Ihnen unter vier Augen erörtern würde, Herr Dr. Behnisch, wenn ich Sie um vollste Diskretion bitten darf.«

»Das ist selbstverständlich, Herr Morrell.«

»Es geht dabei um Henriette von Ahlen. Ich weiß, daß sie Henriette hieß und eine geborene von Aurelius ist, wie meine Mutter übrigens auch, die eine Kusine von der Baronin war. Allerdings wurde diese Verwandtschaft nie erwähnt, da mein Großvater mit der deutschen Verwandtschaft nichts zu tun haben wollte. Er war Franzose aus Überzeugung, nachdem er eine Französin geheiratet hatte. So erzählte es mir meine Mutter. Mein Vater hat sie sehr geliebt. Er sprach vorhin davon. Er sprach aber auch von Henriette, und mir geht schon seit einiger Zeit vieles durch den Sinn, das ich nicht in einem Zusammenhang bekomme. Vielleicht können Sie mir weiterhelfen, Herr Dr. Behnisch.«

»Was wollen Sie wissen?« fragte der Arzt.

»Cordula war mit Leon von Ahlen verheiratet. Sie werden ihn kennengelernt haben.«

»Ja, ganz kurz. Sie wissen um die Ähnlichkeit mit ihm?«

»Ja, das wurde mir öfter gesagt, und deshalb war ich neugierig geworden, bevor ich noch von der Verwandtschaft zwischen seiner und meiner Mutter wußte. Ich habe meinen Vater einmal diesbezüglich gefragt, aber er reagierte so abweisend, wie ich ihn sonst nie kannte. Er wollte mit dieser Sippschaft nichts zu tun haben, hat er gesagt. Also dachte ich, daß es da schwere Differenzen gegeben haben müsse. Ich stellte auf eigene Faust Nachforschungen an und stieß auf Cordula, die ja einen sehr guten Namen als Architektin hat. Ich brauchte gerade einen Architekten und setzte mich mit dem Büro in Verbindung. Und ich erfuhr dann bald von ihr, daß sie mit den von Ahlens auch nichts zu tun haben wollte und lieber unter ihrem Mädchennamen tätig war. Also meinte ich, daß mit der Familie tatsächlich etwas nicht stimmen könne. Aber ich wollte in Erfahrung bringen, woher diese Ähnlichkeit, die ich mit Leon doch unzweifelhaft habe, stammt. Ich sehe meinem Vater unheimlich ähnlich, aber nicht ein bißchen meiner Mutter. Könnten Sie mir sagen, wie die Baronin aussah?«

»Ich kann sie schlecht beschreiben. Sie wirkte unscheinbar, als ich sie kennenlernte. Vielleicht war sie als junge Frau hübsch. Aber auf keinen Fall hat sie Ähnlichkeit mit Ihnen oder mit ihren Söhnen. Vielleicht ein bißchen mit Hanno, der aber in gewisser Weise auch seinem Vater ähnlich ist. Die Schlußfolgerungen müßten Sie selbst ziehen, Herr Morrell!«

»Diese wäre, daß mein Vater auch Leons Vater war. Leon war drei Jahre älter als ich. Aber warum hat mein Vater das nie zugegeben? Ich bin doch kein Moralist!«

»Vielleicht hat er es gar nicht gewußt«, sagte Dr. Behnisch. »Vielleicht war er auch froh, daß es nie bekannt wurde. Der Baron scheint darüber auch froh gewesen zu sein… wenn man den Begriff ›froh‹ überhaupt gebrauchen kann. Jedenfalls wurde diese Ehe nicht getrennt, wenn wohl auch getrübt.«

»Und meinen Vater hat es hierher gezogen, um auch etwas in Erfahrung zu bringen, was er nicht wußte. Er hat die Todesanzeige der Baronin zugeschickt bekommen, das weiß ich. Ich habe ihm einige Fragen gestellt, denen er auswich. Er sagte nur, daß sie die Kusine von Mama gewesen sei. Und vorhin sagte er schon halb bewußtlos, daß Mama, seine Angelique, die einzige Frau gewesen sei, die er geliebt hat. Er muß einen Grund gehabt haben, das zu betonen. Und ich darf sagen, daß ich immer ein besonders gutes Verhältnis zu meinem Vater hatte.«

»Sie haben keine Geschwister?«

»Doch, eine Schwester. Sie ist in England verheiratet, ein paar Jahre jünger als ich. Sie ist nur auf ihren Mann und seine Familie fixiert. Sie hat auch schon zwei Kinder. Ich werde ihr nicht mitteilen, daß Vater so krank ist, wenn er nicht ausdrücklich darum bittet, Laura zu sehen.«

Offene Worte waren gewechselt worden, aber stellten sie Jean Pierre zufrieden?

»Darf ich Ihnen auch eine Frage stellen, Herr Morrell?« Dr. Behnisch sah den Jüngeren forschend an.

»Selbstverständlich«, erwiderte Jean Pierre.

»Hatte Ihr Großvater nichts dagegen, daß seine Tochter Angelique einen Bürgerlichen heiratete?«

»Überhaupt nichts. In unserer Familie steht die Liebe an erster Stelle, Herr Dr. Behnisch. Und wir nehmen die Liebe sehr ernst.«

»Es wäre gut, wenn viele Menschen so dächten«, sagte Dr. Behnisch. »Aber was die Baronin Ahlen betrifft… sie ist tot, und Leon ist auch tot. Und Hanno sieht Ihnen kein bißchen ähnlich.«

»Aber es ist eine ungewöhnliche Situation, und ich bin es gewohnt, alles bis ins letzte Detail zu ergründen.«

»Wem nützen Sie damit, wenn Ihr Vater bald auch nicht mehr leben wird, Herr Morrell?«

»Vielleicht kann er leichter sterben, wenn ich ihm sage, daß ich ihm alles, aber auch alles verzeihen würde. Was geht es mich denn an, wie er lebte, bevor er Mama kennenlernte? Ich weiß doch, wie er sie angebetet hat, wie wir sie geliebt haben. Laura allerdings nicht so sehr, weil Mama soviel schöner war als sie. Töchter sind da wohl eifersüchtiger. Ich will ja auch nichts gegen Laura sagen. Sie paßt nach England, sie ist eine Lady, sie spielt in der Gesellschaft die Rolle, die sie schon immer spielen wollte.«

»Und nun meinen Sie zu wissen, daß Leon Ihr Halbbruder war?«

»Wollen Sie es mir ausreden?«

»Nein, ich habe mir auch Gedanken gemacht, und ich habe auch mit Cordula darüber gesprochen. Sie sollten mit ihr ganz offen reden. Sie konnte sich ja schon eine Meinung über Leons Eltern bilden. Aber da gibt es eben noch Hanno, der wenigstens Leons Tochter Onkel sein möchte. Vielleicht sollten Sie auch mal mit ihm reden. Sonst kann ich Ihnen keine Ratschläge mehr erteilen.«

»Aber es waren sehr gute Ratschläge, Herr Dr. Behnisch, und ich bin dankbar, daß Sie mir so viel Zeit gewidmet haben.«

»Das habe ich sehr gern getan, weil es Ihnen und auch Cordula nützen könnte. Sie hegt keinen Groll gegen den toten Leon, aber so ganz hat sie es nie verwunden, von seiner Familie nicht akzeptiert worden zu sein.«

»Was mir unbegreiflich ist«, meinte Jean Pierre nachdenklich. »Sie bringt doch wahrhaftig alles mit, was eine Frau liebens- und begehrenswert macht.«

»Was aber bei den Ahlens wohl nicht geschätzt wurde.«

»Und Sie meinen, daß der Baron unbelehrbar ist?«

»Vielleicht käme er zu sich, und zu anderen Erkenntnissen, wenn er Sie kennenlernen würde.«

Jean Pierre schüttelte leicht den Kopf. »Ich möchte ungern Anlaß zu einem Schock sein.«

Dann wollte er noch einmal zu seinem Vater gehen. »Vielleicht dürfte er länger leben, wenn wir schon früher hierhergekommen wären«, sagte er leise.

»Denken Sie das jetzt nicht. Es ist alles irgendwie doch vorbestimmt. Und es ist wohl doch ein höherer Wille, der bestimmt, wann eine Lebensuhr abgelaufen ist.«

»Mein Vater ist ein guter Mensch. Er hat nie einem anderen etwas

zuleide getan. Warum muß er leiden? Wie soll man da an Gottes Willen glauben?« sagte Jean Pierre tonlos.

»Es wird immer einiges geben, was wir nicht begreifen können, manchmal wohl auch nicht begreifen wollen«, erwiderte Dr. Behnisch mit ernstem Nachdruck, und für sich dachte er, daß man auch nie genau wüßte, ob ein Mensch einem anderen nicht Leid zugefügt hatte. Wie mochte es zwischen Jean Claude Morrell und der Baronin gewesen sein? Würde es sein Sohn jetzt erfahren? Oder würde man es überhaupt erfahren, was damals wirklich geschehen war, daß sie dann doch Johann von Ahlen geheiratet hatte?

Jedenfalls war es ein bewegendes Schicksal, mochte man es nun negativ oder positiv betrachten.

*

Im Hause Mohl hatte sich während Cordulas Abwesenheit auch Aufregendes ereignet. Das Telefon hatte geläutet. Hans war gerade mit Dorle im Garten, weil sie seinen Rat wollte wegen des Gemüsegartens. Natürlich war dann gleich Nora zum Telefon geflitzt. Sie war im Telefonieren eigentlich schon fast perfekt, wenn sie auch manchmal auf stur schaltete, wenn sich eine ganz fremde Stimme meldete. Diesmal jedoch tat sie es nicht, obgleich die Stimme fremd war. Aber sie hatte einen Namen genannt, der ihr nun schon sehr geläufig war.

»Von Ahlen!«

»Ich bin die Nora«, sagte sie. »Bist du vielleicht mein Großvater?«

Sie konnte natürlich nicht sehen, wie bestürzt er war, wie er nun nach Worten rang, wie ungläubiges Staunen sich auf seinem strengen Gesicht abzeichnete.

Und dann sagte er, was er selbst gar nicht begreifen konnte, was ein fremder Zwang ihm in den Mund zu legen schien: »Ich denke, du bist erst vier Jahre?«

»Bin ich auch, was denkst du? Weil ich telefonieren kann? Das kann ich schon lange. Ich habe mich auch mit Nora gemeldet, aber ich muß ja immer Mohl sagen, wenn ich auch Ahlen heiße. Stimmt’s?«

»Und warum mußt du dich mit Mohl melden?« fragte er rauh.

»Weil Mami es so will, und weil meistens nur geschäftliche Anrufe kommen. Weißt du das auch nicht? Meine Mami hat nämlich viel zu tun. Ist eigentlich Hanno zu Hause? Ich würde ihn sehr gern sprechen.«

»Er ist leider nicht zu Hause«, erwiderte er da doch tatsächlich. »Aber ich würde gern deine Mami sprechen.«

»Sie ist leider noch nicht da, aber ich kann ja ausrichten, daß sie zurückruft, wenn es recht ist. Meinen Opi willst du wohl nicht sprechen, Großvater von Ahlen?«

Doch da stand Hans schon in der Terrassentür, und ihm stockte der Atem.

Nora nahm seine Anwesenheit nicht zur Kenntnis, sondern fuhr gerade fort:

»Gut, dann sage ich Mami, daß du später noch mal anrufst. Inzwischen kannst du Hanno schöne Grüße von mir bestellen. Ich mag ihn gern, und vielleicht mag ich dich auch, wenn ich dich kennenlerne. Okay?«

»Okay«, erwiderte er unwillkürlich, und dann zitterte seine Hand so stark, daß der Hörer fast von selbst auf die Gabel fiel. Er starrte vor sich hin, legte die Arme auf den Schreibtisch und die Stirn auf seine Hände.

Momentan war alles wie ein Traum für ihn, zu unwirklich, um alles begreifen zu können. Aber die zarte Kinderstimme, so unbekümmert und ohne Hemmungen, klang in seinen Ohren fort. Es war wie ein Wunder, das ihn verzauberte, ein Wunder, wie er es noch nie im Leben erlebt hatte.

Er hörte nicht, daß die Tür leise geöffnet wurde, dann aber vernahm er Hannos Stimme, der besorgt fragte, ob ihm etwas fehle.

Er richtete sich langsam auf. »Ich habe eben mit meiner Enkeltochter telefoniert«, sagte er schleppend. »Ich soll dich grüßen, und sie mag dich, Hanno.«

Hanno sah seinen Vater fassungsLos an. Er brachte kein Wort über die Lippen.

»Ich will sie kennenlernen, vielleicht mag sie mich auch«, sagte Johann da gedankenverloren. »Ja, vielleicht kann sie mich dann auch mögen. Was ist das für ein Kind!«

»Ein bezauberndes Kind, Vater«, erwiderte Hanno.

»Ein Wunder, ein lebendiges Wunder«, murmelte Johann von Ahlen. »Daß es so etwas gibt.«

»Sie hat auch eine wundervolle Mutter, Vater«, erwiderte Hanno verhalten. »Es macht mich froh, daß du sie kennenlernen willst.«

»Wirst du es arrangieren?«

»Ja, das werde ich tun«, versprach Hanno.

*

Cordula war völlig konsterniert, als Nora ihr frisch von der Leber weg erzählte, daß sie mit dem Großvater telefoniert hatte. »Mit dem von Ahlen«, erklärte sie pfiffig, »er wollte eigentlich dich sprechen, aber wir haben uns dann ganz gut unterhalten. Er ruft dich noch mal an. Und er hat okay gesagt.«

»Wozu?« fragte Cordula fassungslos.

»Daß wir uns mal kennenlernen. Er war wirklich ganz nett, wenn seine Stimme auch nicht so lieb ist wie die von Hanno. Aber er hat ja auch zum ersten Mal mit mir geredet, und wir müssen uns auch erst mal beschnuppern.«

»Das ist ein Kind!« stöhnte Cordula, als sie mit ihrem Vater sprach. »Was soll ich nun bloß machen? Wie soll ich mich verhalten?«

»Vielleicht schafft sie, was dir nicht beschieden war, nämlich diesen eigensinnigen Despoten umzuprogrammieren. Mich hat es fast umgeworfen, wie sie mit ihm geredet hat. Dabei habe ich nur den Schluß mitbekommen. Und vielleicht ist das auch erst möglich nach dem Tode seiner bigotten Frau.«

»Wie kommst du auf bigott?«

»Das ist doch vornehm ausgedrückt… und man kann es verschieden deuten. Jedenfalls bin ich nach allem, was ich jetzt weiß, überzeugt, daß sie scheinheilig war, die treue, devote Ehefrau spielte… dabei aber eine zweifelhafte Vergangenheit hatte!«

»Sag das doch nicht gleich so hart, Paps.«

»Wie soll man es sonst nennen? Sie hat sich doch nicht zu ihrer ersten und angeblich großen Liebe bekannt. Und eine Frau, die ihrem Ehemann das Kind eines andern unterjubelt…«

»Woher nimmst du die Gewißheit, Paps?« fragte Cordula.

»Wir haben doch darüber geredet, und ich habe mir alles durch den Kopf gehen lassen, zudem mit allem kombiniert, was mir Leon erzählt hat.«

»Was hat er dir erzählt?«

»Was in der Ehe seiner Eltern alles nicht stimmt. Er war in sich zerrissen, Cordula, deshalb hat er gar keine intensive Beziehung zu einer Frau aufbauen können. Er hat seine Mutter verachtet.«

»Warum hast du nie mit mir darüber gesprochen?«

»Weil er doch für dich sowieso ein Buch mit sieben Siegeln war.«

»So kann man es nicht nennen, Paps. Ich wußte einfach nicht, was bei ihm echt oder falsch ist. Warum hat er nie mit mir geredet, Paps, so wie mit dir?«

»Weil er zu Frauen eine besondere Einstellung hatte… eben durch die Beziehung zu seiner Mutter. Er hat mir gesagt, daß er alles nur deshalb von ihr bekam, weil er keine Fragen stellen sollte.«

»Was für Fragen?«

»Bezüglich der Ehe seiner Eltern. Er hat mich gefragt, wie es bei uns war. Einen Glorienschein konnte ich ja wahrhaftig nicht um mein Haupt legen, aber ich konnte wenigstens mit dir offen sprechen. Das war bei Leon nicht möglich. Er sagte glatt, daß seine Eltern scheinheilig-verlogen wären. Deshalb gebrauchte ich auch das Wort bigott, das etwas dezenter ist.«

»Er war doch auch nicht offen«, sagte Cordula mit einem Anflug von Bitterkeit.

»Er war das Produkt dieses Familienlebens. Er hat keinen geliebt, seinen Vater nicht, seine Mutter nicht, und seinen Bruder auch nicht. Und jetzt haben wir die Erklärung: Er gehörte nicht in diese Familie, da bin ich ganz sicher.«

»Aber seine Mutter hat ihn zur Welt gebracht«, beharrte Cordula.

»Jedoch unter welchen Voraussetzungen? Voller Angst und Sorge, daß ihre Affäre mit allen Folgen bekannt würde, daß sie tatsächlich an den Pranger gestellt würde. Daß sie die einmalige Chance; die ihr die Ehe mit dem reichen Ahlen bot, nicht nutzen könnte. Sie muß schon ganz schön berechnend gewesen sein. Vielleicht hat Morrell das schnell herausgefunden, nachdem er mal kurz in sie verliebt war.«

»Jedenfalls scheint Jean Pierre nicht sehr viel zu wissen«, erklärte Cordula. Dann erzählte sie ihrem Vater ausführlich, daß sie die Zeit mit Jean Pierre eigentlich nur in der Behnisch-Klinik verbracht hatte.

»Ich habe auch mit Dr. Behnisch gesprochen. Er macht sich ebenfalls Gedanken wegen der Ähnlichkeit. Er war völlig verblüfft, als er Jean Pierre kennenlernte, das hat er mir gesagt.«

»Und wann lerne ich ihn kennen?« fragte Hans stockend.

»Sicher bald, Paps, aber du kannst ganz beruhigt sein: Wir werden bestimmt gute Freunde, jedoch mehr nicht. Ich werde sogar versuchen, eine Brücke zu seiner Freundin zu schlagen.«

»Du scheinst doch schon recht vertraut mit ihm zu sein, Cordula.«

»Wir verstehen uns, und ich glaube, er braucht mich irgendwie, Paps.«

Hans nahm seine Tochter in die Arme. »Laß dein Herz sprechen, mein Liebes«, sagte er weich. »Kapsele dich nicht ein. Du kannst soviel geben, Cordula!«

»Aber jetzt muß ich erst mal mit meiner so einfallsreichen Tochter klarkommen, die bestimmt nicht lockerlassen wird, bis sie den Großvater von Ahlen in Augenschein genommen hat. Nun, dann lerne ich ihn wohl doch noch kennen.«

*

Jean Pierre lernte an diesem Abend ebenfalls jemanden kennen, und das war in dieser Geschichte wohl der irrsinnigste Zufall.

Er hatte nur eine Kleinigkeit essen wollen und war dazu in ein ganz unscheinbares Restaurant in der Nähe seines Hotels gegangen, weil er dem feudalen Getriebe in diesem entfliehen wollte.

Er hatte das Restaurant gerade erst betreten, als die junge Frau am Tresen einen schrillen Schrei ausstieß und dann auf ihn zugestürzt kam.

»Leon, du lebst!« stieß sie hervor. »Du bist gar nicht tot! Mein Gott, haben sie dich auf mich gehetzt? Ich konnte das doch nicht ahnen, bitte, tu mir nichts.«

Sie hatte anscheinend schon einiges getrunken, aber Jean Pierre wußte natürlich nicht, was er denken sollte!

Aber er hatte den Namen Leon vernommen und konnte kombinieren, und er war klug genug, diese Frau mit einer Ablehnung nicht vor den Kopf zu stoßen, weil er hoffte, von ihr mehr erfahren zu können.

Er faßte sich an die Stirn. »Kannst du mir mal weiterhelfen? Mein Gedächtnis funktioniert nicht gut«, sagte er.

»Ich bin doch Sonja, Sonja Keller. Du mußt dich erinnern! Bestimmt hat dein Vater gesagt, daß ich wegen des Kindes bei ihm war. Bitte, laß dir alles erklären. Aber wieso bist du gar nicht tot?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Jean Pierre. »Ich weiß gar nichts. Ich heiße auch nicht Leon, sondern Jean Pierre.«

»Dann hast du anscheinend ein ganz tolles Ding gedreht«, sagte sie, »aber ich bin dabei«, fuhr sie kichernd fort. »Ging es vielleicht um die Versicherung, und hat deine hochnäsige Frau da mitgespielt? Ich habe wegen des Jungen bei deinem Vater und ihr angeklopft.«

»Um was für einen Jungen geht es?« fragte Jean Pierre.

»Um meinen Sohn. Du wirst es natürlich auch leugnen, daß du der Vater bist, aber ich dachte, daß dein stinkreicher Vater ruhig was blechen könnte. Verstanden haben wir uns doch mal ganz gut.«

Sie sah ihn verführerisch an, und sie legte ihre Hand auf seine Schulter. Jean Pierre fand das Spielchen interessant, besonders deshalb, weil sie ihn tatsächlich für Leon zu halten schien.

»Jean Pierre gefällt mir auch«, sagte sie da girrend. »Du wirst schon wissen, was du tust. Wir müssen uns unbedingt aussprechen. Ich wollte dich ja wegen Juan nicht zur Kasse bitten, aber deinem Vater dürfte es doch nicht wehtun! Vielleicht können wir da was gemeinsam drehen. Oder weiß er schon, daß du lebst?«

»Ich heiße Jean Pierre Morrell«, sagte er, da es ihm nun doch mulmig wurde.

»Ist ja okay, der Name gefällt mir auch«, sagte sie, »und du gefällst mir noch viel besser als früher. Setz dich an den Tresen, da können wir reden.«

Jean Pierre war sprachlos. Seine Gedanken überstürzten sich. Sollte er Leon tatsächlich so ähnlich sehen, daß auch sehr gute Bekannte ihn verwechseln konnten? Interessant war auch, daß die Frau überzeugt schien, daß sein Tod nur ein Gerücht gewesen sei.

Nach diesen Überlegungen hatte er sich entschlossen, dieses Spiel nicht zu weit zu treiben.

»Bleiben wir mal bei den Tatsachen«, sagte er ruhig. »Leon ist tot, und ich heiße tatsächlich Jean Pierre Morrell.«

Nun schien auch sie zu überlegen. Sie kniff die Augen zusammen. »Dann mußt du ein Zwillingsbruder sein«, murmelte sie. »Solche Ähnlichkeit gibt es sonst nicht.«

»Ich bin mit Sicherheit kein Zwillingsbruder«, erwiderte er ruhig. »Aber wir können uns ruhig unterhalten. Leon von Ahlen interessiert mich sehr. Wie lange haben Sie ihn nicht gesehen?«

Sie sah ihn jetzt fast ängstlich an. »Könnte ich mal Ihren Ausweis sehen?« fragte sie heiser.

»Aber gern.« Er reichte ihr den Paß über den Tresen, der ihn als Schweizer Staatsbürger auswies, in dem auch sein Geburtsdatum stand.

Ungläubig und verwirrt schüttelte sie den Kopf. »Das darf doch nicht wahr sein«, murmelte sie, »dann sind Sie ja jünger als Leon! Er hatte im November Geburtstag. Also ist er wirklich tot.«

»Das ist doch wohl amtlich bestätigt«, stellte Jean Pierre fest.

»Nun, es war wohl sein Wagen, aber es hätte ja ein anderer drinsitzen können. Leon war für jeden makabren Scherz gut.«

»Wie gut haben Sie ihn gekannt, und wann?« fragte Jean Pierre. »Es wäre nett, wenn Sie mir ein bißchen mehr erzählen würden. Ich werde mich auch erkenntlich zeigen.«

Er hatte sie richtig eingeschätzt, denn in ihren Augen blitzte es auf, als er ihr diskret einen Hundertmarkschein über den Tresen schob.

»Ach, wissen Sie, Leon war ein lustiger Knabe, bevor er diese hochnäsige Person geheiratet hat. Aber anscheinend war sie dem Baron nicht mal recht. Wir waren auch öfter zusammen. Der Junge ist jetzt sechs, aber ich kann leider nicht beweisen, daß Leon der Vater ist. Ich habe ja von ihm nichts in den Händen.«

»Aber Sie haben doch sicher mit Leon darüber gesprochen«, sagte Jean Pierre.

»Er war ja immer unterwegs, nie zu erreichen. Und natürlich hat er es dann bestritten, als ich ihn mal traf.«

Jean Pierre warf ihr einen schrägen Blick zu. »Ich erinnere mich, was Sie vorhin sagten, Sonja. Hand aufs Herz: Leon war gar nicht der Vater. Mir können Sie es ja eingestehen. Ich mache keinen Gebrauch davon.«

»Ich hatte manchmal so eine Wut«, gab sie zu. »Immer wird man ausgeschmiert, und dann sitzt da so ein stinkreicher alter Knilch, dem es wirklich nicht weh täte, ein paar Tausender herauszurücken. Wissen Sie, damals habe ich mal mit der Baronin gesprochen. Sie hat mir wenigstens ein paar Schmuckstücke gegeben, die ich verscheuern konnte, damit ich ja nichts von dem Kind sagen sollte. Und sie hat mir gesagt, daß sie an Geld überhaupt nicht herankommt. Das ist doch niederträchtig, wenn so ein reicher Mann nicht mal seiner Frau etwas gibt zur freien Verfügung.«

»Aber zu Leon hatten Sie keinen Kontakt mehr, oder?«

Sie zuckte die Schultern. »Ich war eine Zeit im Ausland, habe da ganz gut verdient, und er war dann ja auch verheiratet. Ich lasse mir doch nicht nachsagen, daß ich eine Ehe auseinanderbringe! Ich habe ihn einmal getroffen, aber da war ich auch in Begleitung. Sie wissen ja wohl, wie das so ist. Na ja, und weil es mir jetzt nicht gerade gutgeht, habe ich gedacht… aber eigentlich hat sich das Charly ausgedacht, daß ich mal bei dem Baron vorspreche. Es hat nicht so hingehauen. Er ist knallhart und eisig, von ihm kann man was lernen. Aber von den Reichen kann man ja sowieso lernen, das sind doch alle Geizkragen.«

»Es gibt auch Ausnahmen«, erwiderte Jean Pierre mit einem flüchtigen Lächeln. »Danke für die Auskünfte«, und er schob ihr noch einen Geldschein zu.

Eigentlich hatte er ja hier etwas essen wollen, aber das wollte er nun doch lieber nicht tun.

Über Johann von Ahlen und über Leon hatte er nun schon von verschiedenen Seiten gehört, aber übereinstimmend herrschte die Meinung, daß er hart und geizig sei, wenngleich Cordula dies bedeutend diskreter ausgedrückt hatte.

Was ihn selbst bedrückte, war die Tatsache, daß diese Ähnlichkeit kein Zufall sein konnte, daß diese auch nicht von der Familie Aurelius herkam.

Und plötzlich hatte er das Bedürfnis, Anouk zu sprechen, wenigstens am Telefon. Aber der Versuch war umsonst. Es meldete sich niemand. Er war enttäuscht.

*

Johann hatte nicht noch einmal bei Cordula angerufen, aber Hanno, und sie war selbst am Apparat gewesen. Es durchströmte sie ein seltsames Gefühl, als seine warme, dunkle Stimme an ihr Ohr tönte.

Ob es nicht möglich wäre, daß sie sich einmal in aller Ruhe unterhalten könnten, meinte er, und er würde auch als Vermittler zwischen seinem Vater und Nora einiges zu sagen haben. Mit ein wenig gegenseitiger Bereitschaft könne man sich doch verständigen.

Cordula gab ihre Zustimmung und sie verabredeten sich für den nächsten Tag.

Sie hatte ihn fragen wollen, ob er Leons Doppelgänger schon kennengelernt hatte, aber dann ließ sie es doch. Sie konnte dann wohl persönlich mit ihm reden.

Und so begann auch für sie ein aufregender Tag, nicht nur für Nora, die ganz quirlig wurde, als sie hörte, daß Hanno kommen würde.

»Ich möchte aber erst mit ihm sprechen, Nora«, sagte Cordula mahnend.

»Kannst du ja, aber du mußt nett zu ihm sein, Mami. Er ist ein ganz Lieber, so einen gibt es so schnell nicht wieder.«

Das klang Cordula allerdings recht verdächtig, aber unwillkürlich kam es ihr in den Sinn, was Nora wohl sagen würde, wenn Jean Pierre käme.

Dann rief Dr. Behnisch an, um ihr zu sagen, daß Anouk Angers in der Klinik eingetroffen sei. Sie hätte jetzt noch eine knappe Stunde Zeit, um mit ihr zu sprechen, überlegte Cordula rasch. Und Dr. Behnisch sagte, daß sich das gut träfe, weil Herr Morrell die übliche Morgentherapie bekommen würde.

Nora war entsetzt, als Cordula ihr erklärte, daß sie noch mal wegfahren müsse.

»Ist doch nicht schlimm, inzwischen kannst du dich mit Hanno unterhalten… und Opi ist doch auch da«, meinte Cordula. »Ich bin bestimmt bald zurück.«

»Ehrenwort?« fragte Nora.

»Ehrenwort«, erwiderte Cordula.

Es herrschte kaum Verkehr, und sie war schnell in der Behnisch-Klinik.

Dort lernte sie dann eine aparte, reizvolle junge Frau kennen, die keineswegs konsterniert zu sein schien, daß eine Fremde mit ihr reden wollte.

Wieder einmal sollte Cordula allerdings davon überzeugt werden, wie voll die Welt von Zufällen war.

»Hat Leon über mich gesprochen?« fragte Anouk ganz direkt, als sie sich begrüßt hatten, und Cordula hielt den Atem an.

»Leon? Nein, Jean Pierre hat über Sie gesprochen«, erwiderte sie konsterniert.

»Sie kennen ihn also, und die Ähnlichkeit hat Sie sicher auch irritiert«, sagte Anouk mit einer Ruhe, die Cordula bewunderte.

»Ich muß gestehen, daß ich momentan mehr verwirrt über Sie und Ihre Reaktionen bin. Ich hatte keine Ahnung, daß Sie Leon kennen.«

»Kennen wäre auch zuviel gesagt. Ich werde es Ihnen erklären, Cordula. Vielleicht ist es gut, wenn wir miteinander sprechen und ich über meine inneren Ängste reden kann. Und da Leon wohl nicht über die Begegnung in Genf gesprochen hat, bleibt es an mir hängen, alles zu erklären. Er lief mir vor drei Jahren dort in den Weg. Ich hatte Jean Pierre gerade erst kennengelernt, und ich blieb vor Leon stehen und sagte ›Jean Pierre‹. Er starrte mich an, dann nannte er seinen Namen: Leon von Ahlen. Seine Stimme war anders als die von Jean Pierre. Es war so seltsam, aber wir setzten uns in ein Cafe, und ich sprach über diese verblüffende Ähnlichkeit.

Ich habe ihm alles erzählt, was ich über die Morrells wußte. Und ich hatte das Gefühl, daß ihm der Name Morrell nicht unbekannt war. Dann aber, und das berührte mich seltsam, bat er mich, über unsere Begegnung nicht zu sprechen und auch nicht über die Ähnlichkeit, die er mit Jean Pierre hätte. Ich hatte ihm ein Foto von ihm gezeigt. Er sagte mit einem seltsamen Ausdruck, daß dadurch vielleicht noch mehr Unglück über einige Menschen kommen könnte. Er sagte, daß er verheiratet sei und eine Tochter hätte und seine Frau sehr liebe.«

Anouk sah Cordula an, die nun rasch die Augen schloß, weil sie zu brennen begannen.

»Ich verstehe, Cordula, daß er Sie geliebt hat, und es hat mir einen Stich versetzt, als ich von seinem Unfall las. Aber mit Jean Pierre habe ich nie über diese Begegnung gesprochen. Ich habe aber oft gedacht, welches Geheimnis die Familien Ahlen und Morrell wohl trennen mag. Ich habe gedacht, daß Jean Pierre einmal mit mir darüber sprechen würde, aber er tat es nicht, und ich wollte nicht fragen. Ich dachte stets, daß er kein Vertrauen zu mir hätte… und daß dieses Geheimnis immer zwischen uns stehen würde.«

»Mein Gott, was haben sie nur angerichtet, daß auch die Jungen darunter leiden müssen«, sagte Cordula leise. »Jean Pierre konnte doch gar nichts sagen, weil er nichts weiß. Auch jetzt noch nicht, Anouk. Und ich kann Ihnen auch nur das sagen, was wir alles vermuten. Aber da Sie so gut zu schweigen verstehen, kann ich es Ihnen ja anvertrauen, damit Sie einen Weg finden, Jean Pierre zu helfen. Ich weiß, daß er Sie liebt, aber auch gewisse Zweifel hegt, weil Sie sich innerlich distanzierten.«

Und dann erzählte sie, wie sie Jean Pierre kennengelernt hatte und daß sie inzwischen schon gute Freunde geworden waren.

»Und ich hoffe, daß wir uns auch verstehen, Anouk. Vielleicht wird Jean Claude Morrell im Angesicht des Todes auch sprechen.«

»Er wird sterben? Er muß wirklich sterben?« flüsterte Anouk bebend. »Ich wußte das doch nicht! Ich habe ihn so lieb! Er ist ein so guter Mensch, Cordula.«

»Dann werden Sie ihm wohl eine große Freude bereiten, wenn Sie ihm sagen, daß Sie Jean Pierre auch liebhaben und ihn vielleicht auch heiraten werden. Ich will ja nichts vorwegnehmen, aber ich denke, daß dies auch Jean Pierres größter Wunsch ist.«

Was kann Schweigen für Barrieren schaffen, ging es ihr durch den Sinn, als sie heimwärts fuhr. Und was mochte Leon damals, als er Anouk traf, bewegt haben? War er hinter das Geheimnis gekommen, wer sein Vater war? Aber er hatte ja auch geschwiegen. Warum nur, dachte Cordula weiter. Aber Leon konnte ihr keine Antwort mehr geben.

*

Sie sah das fremde Auto schon auf der Straße stehen und wußte, daß Hanno gekommen war. Er war von Nora bestens unterhalten worden, und es war bereits verabredet, daß er sie mit zu dem fremden Großvater nehmen würde, der sie gern kennenlernen wollte.

Hans sah seine Tochter ängstlich an, als Nora dies sehr direkt verkündete, und er wunderte sich, daß Cordula keinen Widerspruch erhob.

Sie hatte Hanno die Hand gereicht, und dann sagte sie, daß ihr nun wohl gestattet sein würde, mit Hanno allein zu sprechen.

Niemand erhob Einwände, und was Hanno dann von ihr erfuhr, brachte ihn völlig aus der Fassung, denn Cordula machte keine langen Umschreibungen, die ihr nun wirklich nicht mehr angebracht erschienen.

»Und das alles sagst du mit solcher Gelassenheit, Cordula?« murmelte er tonlos.

»Sollen wir den Kopf noch länger in den Sand stecken, Hanno? Jean Pierre ist doch der lebendige Beweis, daß sich da etwas abgespielt hat, das man nicht wegreden kann. Ich hoffe, du wirst nicht so schockiert sein, daß du dem armen Morrell alle Schuld zuschiebst.«

»Das werde ich bestimmt nicht tun. Vater hat mir ja schon Andeutungen gemacht, aber wenn ich überdenke, welche Folgen für uns alle dies hatte, bin ich sehr betroffen. Ich darf doch auch sagen, daß du zu den am meisten Betroffenen gehörst.«

»Wieso ich, Hanno?«

»Weil ich meine, daß Vater wußte, daß Leon nicht sein Sohn ist… und daß er deshalb auch dich und das Kind nicht akzeptiert hat.«

»Und nun will er Nora plötzlich akzeptieren? Wie soll ich das verstehen?«

»Es ist schwierig zu verstehen, das gebe ich zu, aber es zeugt doch davon, daß er nachgedacht hat. Er hat Leon als Sohn anerkannt. Er hat den Namen Ahlen getragen… und Nora ist mit diesem Namen zur Welt gekommen. Vater hat all die Jahre hindurch nichts dagegen unternommen. Erst mit Mutters Tod hat sich etwas in unserem Leben geändert. Aber bitte, sieh in mir nicht den Feigling, Cordula. Ich habe mich immer bemüht, Kontakte herzustellen, doch jetzt wissen wir ja, warum das nicht möglich war.«

»Und fast hätte Leon damit auch Anouk um ihr Glück gebracht«, sagte Cordula leise. »Er hat sich nichts dabei gedacht, zumindest nicht, was sie betraf. Bitte, verzeih, wenn ich ungerecht war, Hanno.«

Sie streckte ihm beide Hände entgegen, die er an seine Brust zog, und sie spürte unter ihren Fingern den Schlag seines Herzens.

»Ich bin dankbar, Cordula, daß wir uns jetzt auf einer anderen Basis begegnen können«, sagte er verhalten, und dann küßte er ihre beiden Hände.

Aber sie küßte ihn spontan auf die Wange, und dann legten sich ebenso spontan seine Arme um sie. Stumm umarmten sie sich, aber schon war ein Hauch von Glück da, der sie umfing.

Mit gespitzten Ohren hatte Nora gelauscht und ihren Opi immer wieder angeschaut, der auch nicht zum Reden aufgelegt schien.

»Sie streiten nicht, Opi, das ist sehr gut«, stellte Nora fest. »Ich bin froh. Du sagst doch selber auch, daß Hanno sehr lieb ist.«

»Und das wird deine Mami inzwischen wohl auch begriffen haben«, meinte er mit einem verschmitzten Lächeln.

»Und wenn ich mit dem Großvater auch gut reden kann, bist du nicht böse, gell?«

»Nein, mein Schatz, nur vergessen darfst du mich nicht dabei.«

Ganz empört schüttelte sie den Kopf. »Wie kannst du bloß so was denken? Dich kenne ich doch von Anfang an!«

Dann schmusten sie noch eine Weile, wobei Hans zu der Erkenntnis gelangte, daß er ihre Zuneigung nun wohl doch teilen müßte, wenn auch nicht so stark mit dem Baron, aber doch wohl mit Hanno.

Nora strahlte vor Begeisterung, als Cordula nun sagte, daß sie mit Hanno fahren dürfe.

»Kommst du nicht mit, Mami?« wollte sie wissen.

»Nein, ich habe noch zu tun, aber du verstehst es allein ganz sicher besser, dich mit Hanno und seinem Vater zu unterhalten.«

»Aber Hanno bleibt doch bei mir«, sagte Nora zögernd.

»Natürlich bleibt er bei dir.«

»Ganz allein wäre es mir doch bange«, gab sie zu, und Cordula tauschte mit Hanno noch einen langen verständnisinnigen Blick.

Dann aber fuhren die beiden davon, und Cordula berichtete ihrem Vater über ihre Aussprache mit Anouk.

»Es ist doch eine verrückte Welt«, sagte Hans nachdenklich. »Manchmal sind die Menschen wirklich selber schuld, wenn sie nicht auf die Zeichen schauen, die ihnen der Himmel schickt.«

»Wir wollen es nicht übertreiben, Paps, daran hast du doch nie geglaubt«, sagte Cordula.

»Vielleicht fange ich jetzt damit an. Man wird nicht nur älter, man wird auch weiser.«

*

Anouk war eine Viertelstunde durch den Park gewandert, nachdem sie sich von Cordula verabschiedet hatte. Plötzlich vernahm sie Schritte hinter sich. Sie drehte sich um und sah Jean Pierre in die Augen.

»Du bist hier«, sagte er leise. »Ich wollte dich gestern anrufen.«

»Da war ich schon unterwegs«, erwiderte sie, und dann umarmte sie ihn, ohne noch eine Sekunde zu überlegen. »Ich habe jetzt unentwegt an dich gedacht, und nun bist du da«, sagte sie leise.

Ein Staunen war in ihm, und er legte seine Hände zart um ihr Gesicht. »Es ist schön, daß du gekommen bist.«

»Dein Vater wollte es.«

»Ich hätte dich nicht zu bitten gewagt.«

»Das ist es eben. Wir haben aneinander vorbeigeredet. Cordula hat mir das klargemacht.«

»Cordula? Wie kommst du zu Cordula?«

»Das werde ich dir sofort erklären. Geheimnisse da bitte nichts hinein. Ich finde es jetzt nämlich ziemlich blöd, wie ich mich verhalten habe. Aber ich werde dir alles sagen, und in Zukunft wird es keine Heimlichkeiten mehr zwischen uns geben.«

»Ich habe dir nie etwas verheimlicht, Anouk. Es gab auch keinen Anlaß dazu.«

»Aber für mich gab es einen Anlaß, dir etwas zu verheimlichen, und ich dachte, daß du den gleichen Grund hattest. Aber Cordula hat mir klargemacht, daß man sich dadurch alles verbauen kann.«

»Erklärst du mir das bitte?«

»Das will ich ja. Setzen wir uns in eine ruhige Ecke. Wenn es möglich ist, solltest du auch mit deinem Vater darüber sprechen. Er ist sehr krank, aber vielleicht wird er innerlich ruhiger, wenn er mit dir reden kann, Jean Pierre. Ich wußte doch nicht, daß er nicht mehr gesund werden wird.«

Er nahm ihre Hand. »Ich wußte es auch nicht, Anouk, aber es sollte wohl so sein, daß er hierher gelangt, damit sich für mich, für dich und auch für Cordula die Rätsel lösen, warum ich Leon so ähnlich bin.«

»Ich weiß es«, sagte sie leise, und dann hatten sie Zeit, über alles zu sprechen.

*

Hanno war mit Nora zur Villa gefahren. Das hatte Johann freilich nicht erwartet, aber gegen seine sonstige Gewohnheit hielt er sich in dem parkähnlichen Garten auf. Mit gesenktem Kopf, die Hände auf dem Rücken verschränkt, wanderte er umher.

Hanno hatte ihn gleich entdeckt. »Da ist dein Großvater, Nora«, sagte er leise. »Vielleicht solltest du allein mit ihm sprechen, du kannst das doch so gut.«

»Vielleicht«, schränkte sie ein. »Aber wenn er nun böse wird?«

»Ich bleibe ja in der Nähe. Aber ich glaube nicht, daß er böse wird«, erwiderte Hanno.

»Ich versuche es mal«, erklärte sie tapfer. Dann blickte sie zu ihm auf. »Aber wenn er mich nun nicht mag und ich ihn auch nicht, dann bleibst du doch mein Freund, Hanno, gell?«

»Das ist versprochen, Nora. Und mit deiner Mami werde ich mich auch gut verstehen. Wir streiten bestimmt nicht.«

»Das ist gut«, wisperte sie, und dann legte sie den Finger auf die Lippen und ging langsam auf Johann zu.

»Hallo, Herr Großvater«, sagte sie stockend, aber deutlich, und er blieb stehen und schaute um sich, als würde er träumen. Aber dann sah er das kleine Mädchen.

»Ich bin die Nora von Ahlen«, sagte Nora. »Hanno hat mich hergebracht. Guten Tag.«

Er fuhr sich über die Augen, als könne er es immer noch nicht glauben.

»Und du hast keine Angst vor mir?« fragte er rauh.

»Warum denn, du bist doch nicht böse! Ich habe dich bloß ein bißchen verschreckt, das tut mir leid. Und du bist sehr groß, da kannst du leicht über mich hinweggucken.«

Er hatte nämlich noch nicht ihre ausgestreckten Händchen gesehen, aber nun sah er es, und in seinem Gesicht vollzog sich eine Wandlung. Er nahm die kleine Hand fester und fragte: »Gehen wir ein Stück? Und würdest du mir etwas von dir erzählen, Nora?«

»Du kannst mich auch fragen, dann weiß ich, was du gern hörst. Mami sagt nämlich, daß ich manchmal sehr geschnappig bin. Weißt du, was das ist?«

»Nicht so genau.«

»Wenn man viel redet und ein bißchen zu erwachsen, sagt Opi. Aber ich sage nur, was ich denke.«

»Und den Opi hast du sehr lieb.«

»Ich hatte ja bis jetzt nur ihn, und ich habe ihn wirklich sehr lieb. Du solltest ihn kennenlernen. Er ist sehr klug, und er ist kein armer Schlucker.«

Das ging Johann schon ein bißchen unter die Haut, denn dieses pfiffige Kind sagte sicher so manches, was sie nebenbei mitgehört hatte. Und Nora fuhr auch sogleich fort: »Wir haben es nämlich auch nicht nötig zu betteln. Mami verdient sehr gut, und wir haben auch eine Dorle, die den Haushalt macht, und Opi hat eine Resi. Und jeder von uns hat ein schönes Haus, da brauchst du bloß Hanno zu fragen, der weiß es. Ich will kein Geld von dir haben, Großvater. Ich will dich bloß kennenlernen, weil ich mich an Papa doch nicht mehr erinnern kann. Und er hat auch ganz anders ausgeschaut als du, wirklich ganz anders. Aber Hanno sieht schon ein bißchen aus wie du, finde ich.«

Er blickte auf sie hinunter. »Und du siehst sicher so aus wie deine Mami«, sagte er.

»Sagen alle, aber ich bin lange nicht so schön wie sie. Sie ist wunderschön, Großvater, das darfst du glauben, und sie ist auch tüchtig und klug. Opi ist sehr stolz auf seine Tochter, und ich auf meine Mami.«

»Du bist aber auch schon sehr gescheit für deine vier Jahre, und auch sehr hübsch«, sagte er. Die Kinderaugen strahlten.

»Das kommt davon, wenn man meistens nur mit Erwachsenen zusammen ist, die auch vernünftig mit einem Kind reden. Dorle hat immer gemeint, daß ich noch nicht verstehe, aber Mami hat ihr dann gesagt, daß sie richtig mit mir reden soll und nicht so herumdatschen, und das hat sie dann auch gemacht. Und ich muß ja auch sehr oft telefonieren, auch mit fremden Leuten.«

»Das habe ich gemerkt, ich habe ja auch mit dir telefoniert.«

»Aber ich habe sofort gewußt, daß du der Großvater bist«, erklärte Nora, »und nun kann ich dich auch anschauen. Das ist sehr gut.«

»Findest du, daß wir uns auch gut unterhalten können?«

»Das klappt doch prima«, sagte sie. »Ein bißchen bange war ich schon, aber jetzt werden wir sicher öfter miteinander reden.«

»Möchtest du dir auch das Haus anschauen, Nora?« fragte er.

»Doch, sehr gern. War mein Papa eigentlich sehr schwierig?«

Johann zuckte zusammen. »Wie kommst du darauf, Nora?«

»Weil er mich nie mitgenommen hat zu dir, wie Hanno.«

»Er ist ja auch nicht mehr gekommen«, erwiderte Johann.

»Überhaupt nicht? Auch nicht allein?« staunte Nora. »So was kann ich gar nicht verstehen. Mami will Opi besuchen, auch wenn sie mächtig viel zu tun hat.«

»Bei euch war eben alles anders, aber ich kann dir nicht erklären, warum es bei uns nicht so war, Nora.«

Das Kind überlegte ein paar Sekunden. Was in ihrem Köpfchen vor sich ging, konnte er aber nicht von ihrem Gesicht ablesen.

»Ich werde dich jedenfalls oft besuchen, wenn du nichts dagegen hast«, erklärte sie dann.

»Das würde mich sehr freuen.«

»Aber du darfst auch nichts dagegen haben, wenn Hanno uns besucht.«

»Ich habe nichts dagegen. Aber vielleicht bringst du deine Mami auch mit hierher, wenn ich sie herzlich darum bitte.«

›Herzlich‹, hatte er gesagt, und Hanno hatte es gehört. Er konnte es nicht so recht glauben, aber er hörte dann auch, wie Nora sagte: »Mami läßt mit sich reden, Großpapa.«

»Und du bist eine gute Diplomatin«, erwiderte er.

»Was ist das, bittschön?« fragte das Kind.

»Sagen wir es mal so; du findest genau die richtigen Worte, um auch sture Menschen zu überzeugen.«

Mit einem schelmischen Lächeln blickte sie zu ihm empor. »Du warst wirklich ganz schön stur«, meinte sie, »aber jetzt haben wir miteinander geredet und verstehen uns schon besser.«

Hanno hatte das alles mitgehört, und er konnte es nicht recht begreifen, wie es dieses Kind fertiggebracht hatte, in kurzer Zeit Mauern niederzureißen. Aber wer sollte ihr denn widerstehen? Man brauchte sie nicht in Einklang mit ihrem Vater zu bringen, nicht nach Ähnlichkeiten zu suchen, die Beklemmungen erweckten.

Sie war ein umwerfend fröhliches, unbefangenes Kind, das mit seinem Lächeln, seinen Blicken Herzen gewinnen, aber auch erweichen konnte. Diesen Beweis hatte Hanno jetzt bekommen, und dann gesellte er sich auch zu ihnen.

Und Nora schenkte ihm ihr reizendstes Lächeln. »Es ist alles gutgegangen, Hanno«, sagte sie, »wir brauchen nicht mehr bange sein. Man kann sehr gut mit Großpapa reden.

Und jetzt schaue ich mir das Haus an.«

»Danke, Vater«, sagte Hanno im Vorübergehen leise.

Nora hörte es nicht, denn sie

betrachtete eben schon ein paar

Hirschgeweihe und sagte unwillig, daß man arme Tiere nicht erschießen dürfe, und sie finde es gar nicht schön, wenn man die Geweihe auch noch an die Wand hänge.

»Mami würde diese Diele wunderschön machen«, fuhr sie fort, »viel heller und freundlicher. Sicher hast du sehr schöne Bilder, wie dieses dort an der Treppe. Daran hat man doch mehr Freude. Ich male dir auch gern ein paar Bilder, wenn du keine hast, Großpapa.«

Aber sie konnte doch viele schöne Bilder betrachten, und dann auch eine Ahnengalerie, die aber doch nicht gleich ins Auge fiel. Sehr nachdenklich betrachtete sie die Männer in den vergoldeten Rahmen.

»Hat es bei euch nie Frauen gegeben, die hübsch waren?« fragte sie mit umwerfendem Charme.

»Warum denkst du das?« fragte Hanno anstelle seines wieder einmal verblüfften Vaters.

»Weil man doch bloß hübsche Frauen malt, aber ich sehe keine einzige an den Wänden, und die Männer finde ich auch gar nicht so hübsch.«

»Jetzt werden wir auch nicht mehr gemalt«, erklärte Johann.

Sie blinzelte ihm zu. »Hier ist ja auch kein Platz mehr. Aber du solltest wirklich mal mit Mami reden. Man kann alles viel gemütlicher machen. Dann bist du auch fröhlicher, Großpapa. Du mußt mal zu uns kommen oder mit zu Opi, dann weißt du schon, was ich meine.«

Sie bringt es fertig, dachte Hanno, sie bringt alles fertig. Aber sie war eben die Tochter ihrer Mutter, und über sie sprachen Anouk und Jean Pierre schon die ganze Zeit, nachdem Jean Pierre ein langes Gespräch mit seinem Vater gehabt hatte, das ihm bestätigte, daß dieser von Leon keine Ahnung gehabt hatte und erst durch einen Brief von Henriette, der ihm nach ihrem Tode von dem Anwalt zugestellt worden war, von Leons Existenz und seinem frühen Tod unterrichtet worden war. Sogar über den Tod hinaus hatte Henriette ihm nicht verziehen, daß er sie verlassen hatte. Aber solange sie lebte, hatte sie Angst gehabt um ihren Ruf, ihre Ehe, für die sie dann alle Unbill auf sich genommen hatte.

»Und du wolltest mir nicht mal von der Begegnung mit Leon erzählen«, sagte Jean Pierre nachdenklich zu Anouk.

»Weil du nicht gesprochen hast. Ich konnte doch nicht ahnen, daß du nichts wußtest!«

Sie hatte geweint bei dieser Erklärung. Aber er hatte sie liebevoll in die Arme genommen.

»Jetzt wissen wir, wie trennend solches Schweigen und Verschweigen sein kann, Anouk«, sagte er. »Nie mehr soll das zwischen uns stehen.«

»Wir haben Cordula viel zu verdanken«, sagte Anouk. »Wir werden doch Freunde bleiben, Jean Pierre?«

»Mit Cordula schon, aber von dir erhoffe ich doch mehr, Anouk. Jetzt endlich kann ich hoffen.«

»Jetzt weiß ich ja auch, was trennend zwischen uns stand. Ich dachte immer, es wäre eine andere Frau.«

»Und irgendwie war es ja auch so, aber sie ist nicht mehr, diese Henriette Aurelius, deren Leben eine einzige Lüge gewesen war. Mir tut jetzt nur noch Hanno leid.«

*

Aber Hanno war so glücklich wie selten zuvor. Für ihn hatte ein anderes Leben begonnen. Ein Leben voller Freude mit Nora, auch immer öfter mit Cordula.

Und sie hatte auch Johann die Hand gereicht. Sie konnte sogar mit ihm über die Morrells sprechen, nachdem Jean Claude sechs Wochen später in Frieden entschlummert war, tief betrauert von seinem Sohn und Anouk. Aber er hatte wenigstens noch erfahren, daß die beiden heiraten wollten.

Hanno hatte sich mit Jean Pierre und Anouk getroffen. Freilich mußte auch Cordula dabeisein. Sie hatten einen langen Abend gemeinsam verbracht, und sie waren sich sehr nahe gekommen.

»Ihr werdet hoffentlich zu unserer Hochzeit kommen«, hatten Jean Pierre und Anouk gesagt. »Nora natürlich auch.«

»Wenn Cordula kann und will«, hatte Hanno erwidert.

»Ich überlege erst, wie wir es Nora beibringen, daß Jean Pierre Leon so ähnlich sieht«, sagte Cordula.

»Das werden wir schon hinkriegen«, meinte Hanno, aber als er Cordula heimbrachte, fragte er: »Und wie bringen wir es ihr bei, daß ich euch gern heiraten möchte, Cordula – dich und Nora?«

Er hielt sie schon in seinen Armen und küßte sie, als sie ihm nur ein Lächeln schenkte.

»Wie ich meine Tochter kenne, wird sie begeistert sein«, erwiderte sie.

»Unsere Tochter«, sagte er leise, »und sie braucht nicht mal den Namen zu ändern. Aber ich hoffe, daß du den Namen Ahlen nicht mehr als Last empfinden wirst.«

»Es war keine Last, Hanno. Ich wollte nur frei sein. Ihr solltet nicht denken, daß ich darauf poche. Aber was sollen wir noch darüber reden, es ist doch alles ganz anders geworden. Nora hat zwei Großväter, und die raufen sich auch langsam zusammen. Und manchmal ist Johann schon ganz menschlich. Mit Nora ist er ja wirklich sehr lieb, das gebe ich zu.«

»Und vor dir hat er eben noch immer höllischen Respekt, aber ich denke, daß er sich auch mehr traut, seine Gefühle zu zeigen, wenn du meine Frau bist.«

»Und diesmal hat er nichts dagegen?« staunte sie.

»Er hat nur Angst, daß du nein sagen könntest.«

Sie schmiegte sich in seine Arme. »Ich habe nie gedacht, daß ich noch einmal ja sagen könnte, und dann ausgerechnet auch noch zu dir! Aber Nora hat wieder mal recht, du bist der einzige Mann, der zu uns paßt.«

»Und das macht mich unsagbar glücklich«, sagte er zärtlich.

»Aber ich werde auch weiterhin meinen Beruf ausüben«, fuhr sie fort, »zumindest so lange, bis es bei uns vielleicht auch Nachwuchs gibt.«

»Da du genauso hinreißend bezaubernd bist wie Nora, sehe ich diesbezüglich keine lange Wartezeit«, erwiderte er.

Sie konnten ganz unbeschwert lachen. Er hatte viel Humor, aber sie hatte diesen erst wecken müssen. Sie hatte es verstanden, einen lebensbejahenden Mann aus ihm zu machen, und er hatte ihr auch eingestanden, wie sehr er Leon stets um sie beneidet hatte.

Aber sie lebten in der Gegenwart, und die Vergangenheit sollte vergessen sein.

Er hatte das Mädchen oder besser gesagt, die Frau, gefunden und bekommen, die er liebte.

*

Sonja Keller war nie mehr aufgekreuzt, und ihren Sohn bekamen sie auch nie zu sehen.

Zur Hochzeit von Jean Pierre und Anouk fuhren sie mit Nora nach Genf.

Sie hatten Nora erklärt, daß Jean Pierre Leon deshalb so ähnlich sähe, weil sie gemeinsame Vorfahren gehabt hätten, aber als die Kleine Jean Pierre zum ersten Mal sah, war sie überhaupt nicht beeindruckt. Wenigstens nicht von der Ähnlichkeit.

»Ich weiß wirklich nicht mehr, wie Papa ausgeschaut hat, Mami«, sagte sie, »und außerdem ist jetzt Hanno mein Papi. Die Leute brauchen doch nicht wissen, daß ich mal einen anderen hatte.«

Sie fand die Hochzeit wunderschön, aber für sie war es der allerschönste Tag ihres jungen Lebens, als­ sich Hanno und Cordula das ­Jawort gaben, weil nun wirklich alles seine Ordnung hatte, wie sie erklärte.

Gemeinsam hatten Johann und Hans dieses Fest ausgerichtet, und Nora fand es viel schöner als die große Hochzeit von Jean Pierre und Anouk, die aber auch gekommen waren. Nora saß zwischen ihren beiden Großvätern, ein glückliches Kind, das mit sich und der Welt zufrieden war.

Dr. Norden Extra Staffel 1 – Arztroman

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