Читать книгу Dr. Norden Bestseller Staffel 20 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 6

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Fee Norden war mit ihrem Töchterchen Anneka in die Stadt gefahren, um Winterkleidung für die Kinder zu kaufen. Sie hatte dafür den Dienstagvormittag gewählt, weil sie hoffte, dass da noch nicht so viel Betrieb sein würde. Die Buben Danny und Felix waren ohnehin nicht zu bewegen, mitzukommen und anzuprobieren, doch Anneka war inzwischen schon eine kleine Evastochter geworden und hatte auch nichts mehr dagegen, hübsche Kleidchen zu tragen.

Lange zu suchen brauchte Fee nicht. Sie hatte ihr Stammgeschäft. Dort war sie bekannt und wurde auch aufmerksam bedient. Aber diesmal vermisste sie die so besonders nette Verkäuferin Frau Weber, die sie deshalb so gut kannte, weil sie in ihrer Gegend wohnte und auch schon Patientin bei Dr. Norden gewesen war.

»Frau Weber ist schon den zweiten Tag nicht gekommen«, erklärte ihr die Geschäftsführerin. »Aber krank gemeldet hat sie sich noch nicht. Das sind wir gar nicht von ihr gewohnt. Ich habe angerufen, aber niemand hat sich gemeldet.«

»Sie ist doch sehr zuverlässig«, meinte Fee nachdenklich. Die Freude am Einkaufen war ihr schon fast vergangen, doch da sagte Anneka: »Schau doch mal, Mami, was das für hübsche Kleidchen sind.«

»Ihre Tochter hat einen guten Geschmack«, sagte die Geschäftsführerin. »Das ist die neue Kollektion von Viola Anderten. Sie macht jetzt auch Kinderkleidung.«

Anderten? Irgendwie kam Fee der Name bekannt vor, aber momentan konnte sie nicht nachdenken, weil sie sich über Frau Weber Gedanken machte.

»Das würde ich gernhaben, Mami«, sagte Anneka nun wie­der.

»Dann probier es an«, erwiderte Fee geistesabwesend.

Nun bemühte sich die Geschäftsführerin besonders. »Sie dürfen nicht denken, dass Frau Weber Ärger bekommt, Frau Dr. Norden«, sagte sie. »Wir sind ehrlich besorgt. Sie lebt ja allein, und während der letzten Wochen war sie manchmal so still und blass, wie wir es gar nicht gewohnt sind.«

»Ich werde bei ihr vorbeischauen«, sagte Fee. »Sie wohnt nicht weit entfernt von der Praxis meines Mannes.«

»Wenn sie krank wäre, hätte sie sich doch wohl an Dr. Norden gewandt.«

»Ich denke schon, aber sie könnte auch einen Unfall gehabt haben«, meinte Fee. »Wegen der Sachen für meine Buben werde ich ein andermal kommen. Anneka hat sich ja schon für das Kleid entschieden.« Eigentlich hatte sie für die Kleine auch noch mehr kaufen wollen, doch die Geschäftsführerin redete nicht auf sie ein.

»Ich darf Ihnen den Katalog von den Viola-Kindermoden mitgeben, Frau Dr. Norden?«, fragte sie. »Sie können ihn sich zu Hause in aller Ruhe anschauen. Und ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie etwas über Frau Weber erfahren könnten.«

»Ich hoffe, dass nichts Ernsthaftes vorliegt«, sagte Fee.

Anneka wunderte sich.

»Warum hast du nichts für die Brüder gekauft, Mami?«, fragte sie. »Du hast doch so viel aufgeschrieben.«

»Ein andermal, Schätzchen. Du kennst doch Frau Weber auch. Wir müssen jetzt mal zu ihr fahren.«

»Warum? Wenn sie nicht im Geschäft ist, kann sie doch nicht aussuchen helfen.«

»Sie könnte krank sein, und niemand kümmert sich um sie, Anneka.«

»Aber Papi würde sich doch kümmern«, sagte Anneka.

»Vielleicht ist sie so schwach, dass sie nicht anrufen kann«, erklärte Fee. Etwas anderes konnte sie sich jetzt nicht vorstellen, aber was sie dann erfuhr, regte sie schrecklich auf.

Frau Weber wohnte in einer Wohnanlage, die von einer Hausverwalterin betreut wurde. Wagenknecht hieß sie und war eine resolute Person.

Als Fee sich vorstellte und nach Frau Weber fragte, kniff sie die Augen zusammen.

»Die Polizei hat sie geholt«, sagte sie. »Warum, das weiß niemand. Eine ruhige, anständige Person, muss ich sagen, aber heutzutage ist man ja vor keiner Überraschung sicher. Gesagt hat mir ja keiner was, und die Leut’ hier, die scheren sich doch einen Dreck um die Mitmenschen. Ausgeschaut hat Frau Weber wie das Leiden Christi, als sie abgeholt wurde.«

Fee war bestürzt und aufgeregt. Sie brachte Anneka heim, ließ sie in Lennis Obhut zurück und fuhr in die Praxis.

Da riss Loni die Augen auf. Was Lenni im Privathaushalt der Nordens bedeutete, war Loni in der Praxis. dass Lenni eigentlich Gerda Kraft hieß und Loni Leonore Enderle, stand nur in ihren Ausweisen. Und wie sie zu den Nordens gekommen waren, wusste auch niemand, außer den direkt Beteiligten, denn jede von ihnen hatte Schlimmes erlebt und mit Hilfe von Daniel und Fee Norden wieder Freude am Leben gewonnen.

»Habt ihr etwas von Frau Weber gehört?«, fragte Fee.

»Von welcher Frau Weber? Wir haben drei Patientinnen dieses Namens«, erwiderte Loni.

»Wie heißt sie doch gleich mit dem Vornamen? Ich kann mich nicht erinnern«, sagte Fee. »Sie ist Verkäuferin in unserem Kinderladen.«

»Hilde Weber«, sagte Loni. »Nein, sie war nicht hier.«

»Die Polizei soll sie geholt haben«, murmelte Fee.

»Guter Gott, was soll diese Frau getan haben?«, rief Loni erschrocken aus.

»Ich weiß es nicht, Loni, aber ich muss es herausbringen. Hat sie hier mal über Angehörige gesprochen?«

Da kam Dr. Norden aus seinem Sprechzimmer. »Du hier, Fee«, sagte er überrascht. »Ist etwas passiert?«

Sie sagte es ihm überstürzt, und er runzelte leicht die Stirn. »Dieser Bursche wird doch nicht schon wieder etwas angestellt haben«, meinte er.

»Welcher Bursche?«

»Sie hat einen Pflegesohn. Ich kann dir das nicht alles mit ein paar Worten erklären. Geh zu Inspektor Heller, der kennt uns. Wir reden später darüber. Ich muss einen Patienten in die Klinik bringen. Verdacht auf Trichinose. Es ist sehr wichtig, weil auch andere befallen sein können.«

»Dir bleibt aber auch wirklich nichts erspart«, sagte Fee mitfühlend. Aber für sie war jetzt Hilde Weber noch wichtiger.

Sie suchte Inspektor Heller auf, und weil sie eben Fee Norden war, war der auch für sie zu sprechen.

»Worum geht es diesmal, gnädige Frau?«, fragte er, und sein Blick verriet, welche Bewunderung er für diese Frau empfand.

»Um Frau Hilde Weber. Ich möchte gern wissen, was man dieser Frau vorwirft.«

»Es ist kein Geheimnis, dass ihr Sohn eine Bank überfallen hat. Es stand in der Zeitung, Frau Doktor. Der Überfall war am Freitag. Der junge Mann hat immerhin vierzigtausend Euro erbeutet, und das Geld ist verschwunden.«

Fee sah ihn fassungslos an. »Sie glauben doch nicht, dass Frau Weber es hat, dass sie ihren Pflegesohn decken will. Ja, es ist ihr Pflegesohn. Ich wusste bis heute überhaupt nicht, dass sie einen hat. Ich habe es gerade erst von meinem Mann erfahren.«

»Frau Weber hüllt sich in Schweigen. Mehr kann ich Ihnen augenblicklich nicht sagen.«

»Kann ich mit ihr sprechen?«

»Derzeit nicht.«

»Hat sie einen Anwalt?«

»Sie hat keinen verlangt.«

»Sie hat damit nichts zu tun. Sie ist eine anständige Frau.«

Inspektor Heller gab sich jetzt ganz amtlich. Woher Fee Norden Frau Weber kenne, wollte er wissen. Sie erklärte es ihm. »Außerdem war sie Patientin von meinem Mann, und weil ich sie in dem Geschäft vermisste, dachte ich, sie wäre krank und wollte mich nach ihr erkundigen.«

Fee ging zur Tür. »Ich werde einen Anwalt schicken«, sagte sie ruhig.

Inspektor Heller war sichtlich nervös. »Ich habe keinen Einfluss auf diese Sache, Frau Doktor«, sagte er hastig. »Aber Frau Weber ist suizidverdächtig und wurde in die psychiatrische Klinik gebracht.«

Fee starrte ihn an. »Sie wollte Selbstmord begehen? Mein Gott, und das hat sie verdächtig gemacht?«

»Das will ich nicht sagen. Und ich kann Ihnen überhaupt nichts sagen. Der junge Weber hat eine Menge auf dem Kerbholz.«

Fee fühlte sich augenblicklich ziemlich hilflos. »Mein Mann wird sich darum kümmern«, sagte sie leise. »Und ich werde mich mit unserem Anwalt in Verbindung setzen. Ich glaube nicht, dass sich diese Frau etwas zuschulden kommen ließ.«

»Dann wird sie auch nicht angeklagt werden. Aber sie war zurzeit des Überfalls in der Bank, und sie hatte dort auch ihr Gehaltskonto. Aber mehr kann ich Ihnen wirklich nicht sagen.«

Fee ging. Sie konnte es jetzt kaum erwarten, mit ihrem Mann zu sprechen. Zu ihrer Erleichterung kam er mittags ziemlich pünktlich nach Hause. Doch in Gegenwart der Kinder konnte sie mit ihm über Frau Weber nicht sprechen.

Anneka erzählte von den hübschen Kleidern und sagte tröstend zu ihren Brüdern, dass die Mami ein andermal etwas für sie kaufen würde.

»Weil nämlich die liebe Frau Weber nicht da war«, erklärte sie.

Die Buben waren da recht desinteressiert. Sie zogen lieber ihre alten Klamotten an.

Da sich die Nebel gelichtet hatten und die Sonne wieder vom Himmel strahlte, waren sie auch gern bereit, gleich nach dem Essen im Garten zu spielen. Fee konnte mit ihrem Mann ungestört reden.

»Ein Teufelskreis«, sagte er gedankenvoll. »Sie wollte das Beste für das Kind und muss nun dafür büßen.«

»Was weißt du? Du hast darüber nie gesprochen, Daniel.«

»Sie hat sich mir anvertraut, Fee. Sie bat mich ausdrücklich, dir davon nichts zu erzählen. Sie kannte dich als Kundin, und sie lebte in der ständigen Angst, ihre Stellung zu verlieren, wenn etwas über Pauls Untaten bekannt wird. Er wohnte ja schon lange nicht mehr bei ihr.«

»Aber jetzt erzählst du mir alles«, drängte Fee.

»Ich weiß ja gar nicht viel. Ich weiß nur, dass Paul das unehelich geborene Kind ihrer Schwester war, die bei der Geburt starb. Frau Weber hat ihren Mann dann überredet, es aufzunehmen, obgleich er dagegen war. Aber da sie selbst keine Kinder bekommen konnte, war er schließlich damit einverstanden. Und da er sich dann auch recht nett entwickelte, haben sie ihn adoptiert. Die Sorgen kamen erst später, vor allem dann, als Herr Weber so plötzlich starb und sie sich eine Stellung suchen musste. Aber ich muss jetzt erst mal schauen, ob ich etwas für sie tun kann, Fee. Wir reden am Abend weiter.«

Fee fragte nichts mehr. Ihr war es auch wichtiger, dass Daniel etwas unternahm, um Frau Weber zu helfen. Sie wurde dann durch Anneka abgelenkt, die ihr den Prospekt brachte, den sie im Geschäft bekommen hatte. »Da schau, Mami, da sind auch Bubensachen drin, und die gefallen Danny und Felix sogar.«

Nun beschäftigte sich Fee damit, erst mehr, um sich abzulenken, doch plötzlich wurde ihr bewusst, woher ihr der Name Anderten bekannt war, vor allem in Verbindung mit dem Vornamen Viola, und als sie gelesen hatte, dass diese ihr Atelier im Ammerland hatte.

Viola und Ammerland, das war die Assoziation, und hinzu kam der Name Jardin. Viola Jardin, ihre Schulfreundin, die dann die Meisterschule für Mode besucht hatte. Und fast zur gleichen Zeit wie sie selbst hatte sie dann einen Dr. Anderten geheiratet. Hatte der nicht was mit der Raumfahrtforschung zu tun, überlegte Fee, aber so genau konnte sie sich doch nicht erinnern, denn von Viola hatte sie nach deren Heirat nichts mehr gehört.

Und jetzt stellte Viola Kinderkleidung her. War ihre Ehe etwa gescheitert? Oder brauchte sie dazu auch eine Selbstbestätigung? Warum hatte sie sich nicht mal gemeldet? Aber es gab ja so mancherlei Gründe, dass man sich aus den Augen verlor, ohne sich wegen irgend­etwas gram sein zu müssen.

Wenn mit Frau Weber alle klar ist, werde ich eben mal bei ihr anrufen, dachte Fee. Dann aber musste sie ihre Söhne ermahnen, dass sie auch mal an ihre Hausaufgaben denken müssten.

*

Hilde Weber hatte völlig apathisch eine lange Untersuchung über sich ergehen lassen müssen. Die Ärzte gaben sich freundlich, fast väterlich. Viele Fragen waren ihr gestellt worden, knappe, ausweichende Antworten hatte sie darauf gegeben.

Als Dr. Norden sich bei dem Kollegen nach Frau Weber erkundigte, hörte er von diesem, dass sie wohl kein Fall für den Psychiater sei, aber von schweren Gewissensbissen gequält würde, etwas bei dem Adoptivsohn versäumt zu haben, als sie nach dem Tode ihres Mannes wieder eine Stellung annehmen musste.

Es wurde Dr. Norden gestattet, mit Frau Weber zu sprechen. Sie schien es nicht glauben zu können, dass er bei ihr erschien.

»Woher wissen Sie, dass ich hier bin, Herr Dr. Norden?«, fragte sie. »Man war doch wohl so rücksichtsvoll, mich nicht namentlich zu erwähnen im Zusammenhang mit diesem Banküberfall.«

Jedenfalls schien sie wieder ganz klar denken zu können, und mit Dr. Norden konnte sie auch über manches reden, was sie sonst nicht hatte sagen wollen.

Dr. Norden hatte ihr erklärt, dass seine Frau alles ins Rollen gebracht hätte. Da waren Hilde Weber die Tränen gekommen.

»Ich wage mich ja nicht mehr ins Geschäft zurück«, flüsterte sie. »Ich werde ja sowieso entlassen werden. Aber Sie glauben doch nicht, dass ich bei dem Überfall was wusste und dass ich das Geld versteckt habe.«

»Wie konnte man überhaupt auf den Gedanken kommen, Frau Weber?«

»Ich wusste doch nicht, dass Paul so etwas vorhatte. Er kam am Donnerstag zu mir und sagte, dass er eine gute Stellung in einer Tankstelle bekommen könnte. Aber weil er schon mal vorbestraft gewesen sei, wollten sie eine Kaution von zweitausend Euro haben. Er bat mich, ihm das Geld zu leihen. Er machte einen sehr ordentlichen Eindruck und sagte mir auch, dass er bereue, mir so viel Sorgen bereitet zu haben. Ich kann ihn doch nicht vor die Hunde gehen lassen, Herr Doktor. Wenn mein Mann am Leben gewesen wäre, hätte es so weit mit ihm nicht kommen können. Da hätte ich ja nicht zu arbeiten brauchen, und er wäre nicht so viel sich selbst überlassen gewesen.«

»Es fehlt noch, dass Sie sich Vorwürfe machen, Frau Weber«, sagte Dr. Norden. »Paul war sechzehn, als Ihr Mann starb, und da fühlen sich die jungen Leute schon sehr erwachsen. Viele nehmen auch keine Rücksicht auf die Eltern, wenn es um die Verwirklichung ihrer Vorstellungen geht, wenn auch beide Eltern leben und die Mutter zu Hause ist. Erzählen Sie mir jetzt mal, was an diesem Tag geschah, damit ich Ihnen helfen kann.«

»Ich habe Paul gesagt, dass ich das Geld gegen vier Uhr von der Bank holen würde. Ich habe mir dafür extra frei genommen. Es sagte, dass halb fünf auch noch reichen würde, und dann wollte er mit mir gleich zu seinem zukünftigen Chef fahren, damit ich den kennen lernen solle. Er hätte sich einen Wagen von einem Freund geliehen. Es klang alles so vernünftig. Ich war richtig froh und voller Hoffnung, dass er nun doch den rechten Weg eingeschlagen hätte. Ich war dann auch pünktlich da und habe das Geld abgehoben, und da stand plötzlich ein vermummter Mann hinter mir und drückte mir etwas in die Rippen. Ich war wie gelähmt. Ich habe auch gar nicht begriffen, dass es Paul war. Sie müssen mir glauben, Herr Dr. Norden. Seine Stimme klang ja auch ganz anders, als er sagte, dass er mich erschießen würde, wenn er das Geld nicht bekäme. Sie haben es ihm gegeben und er sagte, dass er mich mitnehmen würde, und ich würde sterben, wenn sie die Polizei verständigen würden.

Draußen wartete ein Wagen. Ich habe vor Angst gezittert, aber als er losfuhr, hat er die Mütze vom Kopf gezogen und höhnisch gesagt, dass ich auch damit verwickelt sein würde, und ich solle gefälligst den Mund halten, dann würde ich auch was von der Beute abbekommen.

Da hat bei mir was ausgehakt. Ich muss irgendwann ohnmächtig geworden sein, und als ich zu mir kam, lag ich am Waldrand. Ich habe mich aufgerappelt und mich nach Hause geschleppt. Ich wollte Sie anrufen, aber ich hatte nicht die Kraft dazu. Ich hatte noch fünf Schlaftabletten, die habe ich geschluckt, aber es hat nicht gelangt zum Sterben. Ich habe einfach nur geschlafen, bis mich die Polizei geholt hat. Paul hatten sie schon geschnappt. Den Wagen hatte er auch gestohlen, und deshalb haben sie ihn so schnell gestellt. Nur das Geld haben sie nicht gefunden, aber mich. Denn auf der Bank hatten die Angestellten gesagt, dass Paul mich als Geisel mitgenommen hat, und die Beamten haben schnell herausgefunden, dass er mein Adoptivsohn ist.« Sie schluchzte trocken auf. »Ich hatte mir doch so ein Kind gewünscht, und Paul hat alles bekommen, was uns möglich war. Für mich ist eine Welt zusammengebrochen, Herr Dr. Norden. Jetzt werde ich verdächtigt, das Geld beiseite gebracht zu haben.« Sie brach in haltloses Schluchzen aus.

»Verzagen Sie nicht, Frau Weber. Wir werden Ihnen einen guten Anwalt schicken«, sagte Dr. Norden.

»Aber wenn Paul nicht verrät, wo das Geld ist, wird der Makel an mir hängenbleiben.«

Dass Frau Weber in eine schwierige Situation geraten war, konnte man nicht ableugnen, aber Dr. Norden war überzeugt, dass sie die Wahrheit gesagt hatte. Er hatte eine Mordswut auf Paul. Er kannte den Burschen. Er hatte ihn öfter behandelt, wenn er sich Verletzungen zugezogen hatte. Und plötzlich kam ihm ein Gedanke.

»War er nicht mit der Heike Demmler befreundet, Frau Weber?«, fragte er.

»Das ist schon Monate her. Ich war froh, als das vorbei war. Sie ist doch ein richtiges Flittchen. Er hat sich immer die falschen Freunde gesucht.«

Dr. Norden hatte Mitleid mit ihr. Bei allen andern suchte sie die Schuld an Pauls Versagen, auch bei sich, nur nicht bei ihm selbst. Man musste sie aufrütteln.

»Und Ihnen kommt nicht der Gedanke, dass er sich solche Freunde suchte, weil er sich von ihnen bestätigt fühlte? Sie müssen jetzt an sich denken, nicht an ihn.«

»Aber ich habe ihn doch aufgezogen, wie ein eigenes Kind«, flüsterte sie. »Er kann doch nicht wollen, dass ich vor Gericht komme.«

»Wenn Sie so edelmütig sind, ihn auch noch zu verteidigen? Vielleicht sagt er dann auch noch, dass er von Ihnen angestiftet wurde.«

Frau Weber sah ihn entsetzt an. »Das können Sie doch nicht denken, Herr Doktor.«

»Es kommt nicht darauf an, was ich denke, sondern darauf, dass Sie schnellstens von jedem Verdacht befreit werden. Ihnen traue ich so was wirklich nicht zu, Frau Weber!«

Zehn Minuten nach vier Uhr war er in seiner Sprechstunde, und da konnte er nicht mehr an Hilde Weber denken. Da hatten seine Patienten den Vorrang, aber als er dann endlich Schluss machen konnte, fuhr er zu einer kleinen Kneipe.

Fee hätte das kalte Entsetzen gepackt, wenn sie das gewusst hätte, denn in dieser Kneipe verkehrten Schläger und leichte Mädchen, und das war auch ihr bekannt.

Aber an der Bar gab es auch eine Heike Demmler, und die war schon öfter bei Dr. Norden gewesen, um sich die Pille verschreiben zu lassen.

Als er gemächlich auf die Bar zukam, von tückischen und lauernden Blicken verfolgt, zuckte sie zusammen.

»Was wollen Sie?«, zischte sie, aber es klang mehr Angst als Abweisung in ihrer Stimme. »Hier ist dicke Luft.«

»Geben Sie mir ’ne Cola«, sagte Dr. Norden gleichmütig. »Ich muss Sie sprechen, Heike. Wir kommen doch ganz gut zurecht.«

»Wegen Paul? Damit habe ich nichts zu schaffen.«

»Seine Mutter sitzt in der Klemme«, raunte ihr Dr. Norden zu.

»Ich kann jetzt nicht reden. Ich komme morgen in die Praxis. Brauch sowieso wieder was.«

Ein stämmiger Bursche schob sich heran. »Will er was von dir, Heike?«, fragte er.

»Quatsch, er ist mein Arzt. Halt dich raus.«

»Was fehlt dir denn? Ist es ansteckend?«, höhnte der Bursche.

»Halt die Klappe, sonst rufe ich Sammy«, sagte sie.

Der Bursche entfernte sich. »Bis morgen, ich komme bestimmt in meinem Interesse«, raunte Heike Dr. Norden zu.

»Tschüs denn«, sagte er und schob ihr ein Zwei­eurostück über die Theke.

Er war froh, als er wieder draußen war und beschloss, Fee davon nichts zu erzählen, aber sie hatten an diesem Abend ohnehin genug Gesprächsstoff.

Erst erzählte er von Hilde Weber, dann sagte er Fee, dass er den Anwalt Dr. Frey benachrichtigt hätte, und dass man nun abwarten müsse.

Dann fragte ihn Fee, ob er sich an Viola Jardin erinnern könne.

»Liebe Güte, wie kommst du denn darauf? Das Veilchen im Garten wurde sie doch genannt.«

»Du hast ein gutes Gedächtnis«, sagte Fee anerkennend. Jardin war die französische Bezeichnung für Garten, und zu Viola hatte dieser Name gepasst.

»Sie hat dann geheiratet«, fuhr Fee fort, »einen Dr. Anderten, und jetzt fabriziert sie Kinderkleidung.«

»Was du nicht sagst!«

»Das Kleidchen, das wir für Anneka gekauft haben, stammt aus ihrer Produktion.«

»Dann hat sie Talent und Geschmack.«

»Und es ist ein Grund, sie mal anzurufen.«

Daniel zwinkerte ihr zu. »Vielleicht bekommst du die Kindersachen dann billiger«, meinte er neckend.

»Das ist wirklich nicht der Grund«, widersprach Fee. »Je älter man wird, desto lieber erinnert man sich der Jugendzeit.«

»Fragt sich nur, ob sie auch so denkt.«

»Sie war sehr nett. Man merkt es ja, wie jemand auf so einen Anruf reagiert.«

»Ich will es dir ja auch nicht ausreden, Schatz.« Im Grunde war Daniel auch froh, dass Fee nicht nur über Hilde Weber sprach. Aber dann kam sie doch wieder darauf zurück.

»Da haben wir wieder ein Beispiel, wie schnell man in einen falschen Verdacht geraten kann. Und wenn sie dann noch dem Gerede ausgesetzt wird …« Fee unterbrach sich, »man kann sie doch nicht ewig festhalten, Daniel.«

»Morgen sehen wir weiter«, erwiderte er.

*

Heike Demmler kam tatsächlich zu ihm in die Praxis. »Weil Sie es sind, Herr Doktor«, sagte sie. »Sie waren ja auch immer anständig zu mir. Eine Schweinerei, was der Paul da gemacht hat. Ich meine nicht den Banküberfall. Es ist sein Bier, wenn er sich immer tiefer in den Dreck reitet, aber dass er seine Mutter, diese anständige Frau, da reingezogen hat, ist obermies. Wenn ich solche Mutter gehabt hätte, wäre ich bestimmt nicht in der Kneipe gelandet. Aber mit Paul bin ich schon lange fertig.«

»Ich habe Sie neulich mal mit ihm gesehen, Heike.«

»Er läuft mir ja noch dauernd nach. Und er hat mir was geflüstert, dass er bald zu Geld kommt und mit mir dann nach Australien will. Ich habe ihm was gehustet. Er weiß, dass ich langsam zu Geld komme, und das hätte er mir dann auch noch abgeknöpft.«

»Er hat vierzigtausend Euro erbeutet, aber das Geld ist verschwunden.«

Sie kniff die Augen zusammen. »Ich habe es nicht, da hätte ich nicht mitgemacht. Aber ich könnte Ihnen einen Tipp geben, wenn Sie nicht verraten, von wem Sie den haben. Der Dicke, der sich da gestern an die Bar gedrängt hat, Tucker nennt er sich, richtig heißt er Hermann Dieck, er hat Paul das Auto verschafft, und bestimmt nicht umsonst. Ich vermute da was, aber ich werde dazu nichts sagen. Ich will noch leben, da es mir jetzt schon finanziell ein bisschen besser geht.«

»Ist okay, Heike. Besten Dank vorerst.«

»Mir tut Frau Weber leid. Paul hat es doch wirklich gut gehabt.« Dann verabschiedete sie sich rasch. Aber der nächste Patient musste noch ein bisschen warten, denn Dr. Norden rief erst Inspektor Heller an.

Der wollte natürlich wissen, woher er diese Information bezogen hätte, doch Dr. Norden berief sich darauf, dass er sie von einem Patienten bekommen hätte, der da nicht hineingezogen werden wol­le.

Nun konnte er nur hoffen, dass Heikes Information von Erfolg gekrönt sein würde. Ganz konzentriert war er bei den nächsten Patienten nicht, aber deren Wehwehchen kannte er glücklicherweise schon ganz genau.

Fee hatte sich indessen entschlossen, ihr Vorhaben gleich an diesem Vormittag wahrzumachen, und sie wählte die Nummer von Viola Anderten.

»Viola-Kindermoden«, meldete sich eine Stimme.

»Fee Norden, ist Frau Anderten zu sprechen?«

»In welcher Angelegenheit?«

»In privater. Vielleicht melden Sie mich als Felicitas Norden, geborene Cornelius an.«

Ein paar Sekunden vergingen, dann tönte eine atemlose Stimme an Fees Ohr.

»Fee, ist das möglich? Mein Gott, ist das eine schöne Überraschung. Wem habe ich es zu verdanken, dass du dich meiner erinnerst?«

»Ich habe für meine Tochter Anneka ein Kleid von Viola-Kindermoden gekauft, und da waren die Erinnerungen wieder ganz gegenwärtig. Ist doch eigentlich blöd, dass wir so lange nichts voneinander gehört haben.«

»Ein Grund mehr, um alles nachzuholen. Ich bin gerade auf dem Sprung, um nach München zu fahren. Könnten wir uns nachmittags treffen?«

»Wie wäre es, wenn du zu mir kommen würdest?«

»Ich weiß ja nicht mal, wo ihr wohnt.«

Fee erklärte es ihr. »Das wäre nicht mal ein Umweg für mich«, sagte Viola. »Du, ich freue mich. Das ist mal wieder ein richtiger Lichtblick!«

Sie hat also doch Kummer, dachte Fee, als das Gespräch beendet war. Und unwillkürlich sah sie die junge, lebensfrohe, immer zu Späßen aufgelegte Viola vor sich, die gewiss kein Veilchen gewesen war, das im Verborgenen blüht. Konnten zehn Jahre einen Menschen völlig verändern?

Fee warf einen Blick in den Spiegel. Etwas reifer und fraulicher war sie freilich auch geworden, aber sie war eine vollkommen glückliche Frau.

Daniel kam mittags später heim als sonst. Aber er brachte auch eine gute Nachricht. Hermann Dieck war von der Polizei überrumpelt worden, und man hatte bei ihm tatsächlich den Koffer mit dem Geld gefunden.

Er war so davon überrascht worden, dass er glaubte, sein Kumpan Paul hätte ihn verraten, und er stieß wilde Drohungen gegen ihn aus.

Als Daniel Norden das erfahren hatte, war er zufrieden. Heike würde aus dem Spiel bleiben, und er war auch weiterhin nicht geneigt, Inspektor Heller zu verraten, woher er diese Information bekommen hatte. Schließlich war auch Heike der Polizei nicht ganz unbekannt.

»Frau Weber wird nun bald freikommen«, sagte er erleichtert.

»Sie wird noch einige Zeit brauchen, um darüber hinwegzukommen«, meinte Fee.

»Ich werde sie heute Abend besuchen. Jetzt wird man nichts mehr dagegen haben.«

»Viola besucht mich nachmittags«, sagte Fee. »Ich habe mit ihr telefoniert. Sie ist heute zufällig in München. Sie hat sich gefreut.«

»Na bitte, dann bist du ja zufrieden und wirst mich nicht vermissen«, sagte Daniel lächelnd.

»Natürlich vermisse ich dich. Allzu spät wirst du ja hoffentlich nicht kommen.«

»Mal sehen, wie lange es dauert, um der guten Frau Weber Mut zu machen, wieder in das Alltagsleben zurückzukehren.«

»Ich glaube nicht, dass sie wieder in das Geschäft gehen will«, sagte Fee nachdenklich. »Aber einfach ist es ja jetzt nicht mehr für eine Frau von Mitte vierzig, eine neue Stellung zu finden.«

Daniel warf ihr einen Seitenblick zu, der vieles sagte. »Dir wird bestimmt etwas einfallen«, meinte er lächelnd.

*

Viola Anderten hatte einiges erledigen müssen. Sie konnte sich vor Aufträgen kaum noch retten, doch ihr fehlte es an Arbeitskräften, um diesen Ansturm bewältigen zu können. Einen so schnellen Erfolg hatte sie nicht erwartet, denn billig war ihre Kollektion ja nicht gerade.

Als sie dann schließlich bei Fee ankam, machte sie einen recht gestressten Eindruck. Dennoch war sie noch immer die aparte Viola, wie Fee sie in Erinnerung hatte.

Mit einer innigen Umarmung wurde die lange Trennungszeit überbrückt. Beider Augen waren feucht, als sie sich dann lange musterten.

»Du bist noch schöner geworden, Fee«, sagte Viola leise.

»Wollen wir uns gegenseitig Komplimente machen?«, fragte Fee ablenkend. »Wir machen es uns lieber gemütlich, solange die Kinder noch in der Gymnastikstunde sind.«

»Wie viel Kinder hast du?«, fragte Viola.

»Drei, und du?«

»Zwei, Benny ist sechs und San­dra vier Jahre.«

»Und du hast doch noch Zeit für einen Beruf!«

»Thomas ist so oft im Ausland, da habe ich es wieder gepackt. Ich kann doch nicht mit den Kindern in der Welt herumirren. Sie brauchen ein Zuhause. Sie sind gesundheitlich auch zu anfällig, um ständigen Wechsel zu verkraften. Aber ein ehrgeiziger Mann hat dafür wenig Verständnis. Du hast es diesbezüglich besser getroffen, Fee.«

Es war nur eine Andeutung, aber Fee hatte schon ihre Ahnungen.

»Ich wollte auch wieder Fuß fassen, bevor ich zu alt werde«, fuhr Viola fort. »Dass es so einschlägt, hätte ich allerdings nicht gedacht.«

»Es sind ja auch besonders hübsche Sachen«, sagte Fee. »Ich muss dich bewundern.«

»Ach was, ich habe es ja gelernt, und zuerst habe ich nur für meine Kinder entworfen und auch selbst genäht. Und dann dachte ich …«, sie atmete tief durch, »ja, dann kam es mir in den Sinn, damit mein eigenes Geld zu verdienen, falls unsere Ehe schiefgeht. Du hast dir sicher schon so etwas gedacht, Fee.«

»Ich habe all die Jahre ja nichts von dir gehört, Viola, da kommen manche Gedanken.«

»Die ersten drei Jahre waren wir in Amerika. Dort ist auch Benny geboren. Dann bot sich für Thomas Japan an. Dahin wollte ich nicht mit dem Baby. Ich wollte auch meine Mutter wiedersehen, die schon einige Zeit krank war. So bin ich wieder heimgekehrt. Ich war schon wieder schwanger. Sandra kam zur Welt. Thomas sah sie zum ersten Mal, als sie bereits vier Monate alt war. Er verbrachte einen längeren Urlaub bei uns, aber Mutters Leiden ging ihm auf die Nerven. Damals, als wir geheiratet haben, wusste ich nicht, dass er so rastlos ist, und so wahnsinnig ehrgeizig. Sein Reden war immer, dass wir noch genug Zeit zum Ausruhen finden würden, wenn wir älter sind, und dann hätte er schließlich auch die Position, die uns gestatten würde, uns alles zu leisten. Als Mutter vor zwei Jahren starb, fand ich mich dann bereit, mit den Kindern zu ihm nach England zu gehen. Das war ja nicht gar so weit. Wir wohnten sehr schön, aber er hatte wenig Zeit für uns. Benny bekam das Klima nicht. Er ist asthmaanfällig. An dem Jungen hängt Thomas. Er regte sich auf, wenn Benny Atemnot bekam. Als wir im Ammerland lebten, hatte Benny das nicht, und so bestand ich darauf, dass wir zurückgingen. Es hat unserer Ehe nicht gutgetan, Fee. Gewiss ist es auch meine Schuld …« Sie kam nicht weiter, denn nun kamen die Kinder hereingestürmt, voran Anneka, die Viola sogleich versicherte, dass sie noch mehr so hübsche Kleidchen haben wolle.

Viola war abgelenkt, denn auch Danny und Felix taten kund, dass sie sich schon einiges aus dem Prospekt ausgesucht hätten.

»Es wird am besten sein, ihr kommt mit einer Mami mal nach Ammerland«, sagte Viola, die jetzt einen gelösteren Eindruck machte. »Wie wäre es mit Samstag?«

»Kann Papi da auch mitkommen, da hat er doch Zeit«, sagte Anneka.

»Natürlich kann er mitkommen, und meine Kinder freuen sich bestimmt sehr, wenn sie mal Gesellschaft haben.«

Da wollten die drei erst mal wissen, wie alt Violas Kinder wären und auch nach den Namen fragten sie, und es ging munter zu im Hause Norden, während Daniel nun schon bei Frau Weber weilte.

*

»Das habe ich doch nur Ihnen zu verdanken, dass ich nun bald hier heraus kann«, sagte sie bebend. »Wie haben Sie das bloß fertig gebracht, Herr Doktor?«

»Die Polizei schläft auch nicht, Frau Weber. Sie haben das Geld bei Pauls Kumpel gefunden. Kennen Sie diesen Dieck?«

»Dem Namen nach schon, aber er hat es doch nicht gewagt, solche Burschen mitzubringen. Wie es weitergehen wird, weiß ich aber immer noch nicht. Ins Geschäft kann ich nicht mehr zurück. Da würden sie doch fragen und auch alles herausbekommen. Und so einfach ist das auch nicht, immer ein freundliches Gesicht zu machen, wenn einem danach nicht zumute ist. So nette Kundinnen wie Ihre Frau gibt es auch selten.«

»Jetzt sind Sie erst mal krankgeschrieben worden, Frau Weber«, sagte Dr. Norden aufmunternd.

»Und im Haus? Da wissen sie doch alles, dass mich die Polizei geholt hat. Ich würde mich am liebs­ten irgendwo verkriechen.«

»Dann schicken wir Sie auf die Insel der Hoffnung. Da können Sie sich erholen.«

»Aber das kann ich nicht bezahlen. Dafür kommt die Kasse nicht auf.«

»Machen Sie sich darüber jetzt keine Gedanken, Frau Weber.«

»Da bin ich eigen, Herr Doktor. Mein Lebtag habe ich mir nichts schenken lassen, und dass Paul mir das angetan hat, dass ich auch noch in solchen Verdacht gerate, das kann ich nicht sobald vergessen.«

*

Inzwischen hatte Viola doch noch einiges über ihre Sorgen erzählen können, froh, sich darüber aussprechen zu dürfen.

»Sorgen um meine Existenz bräuchte ich mir nicht mehr zu machen, Fee, aber man bekommt so schwer Arbeitskräfte. Wenn ich wenigstens eine zuverlässige Frau für den Haushalt finden würde, damit die Kinder regelmäßig versorgt sind. Ich kann ja nicht überall gleichzeitig sein.«

Vielleicht wäre das etwas für Frau Weber, ging es Fee durch den Sinn. Dann wäre beiden geholfen.

»Ich werde mich mal umhören, Viola. Wir kommen dann am Samstag, es ist versprochen.«

Ein heller Schein flog über Violas Gesicht. »Ich bin so froh, mit dir sprechen zu können, Fee. Ein rechter Lichtblick ist das. Immer, wenn man denkt, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her, das scheint zu stimmen.« Sie drückte Fee einen weichen Kuss auf die Wange. »Die Sachen für die Kinder kannst du dann gleich bei mir aussuchen, da fällt die Handelsspanne weg.«

Noch ein Lächeln, eine Umarmung, dann kamen die Kinder und verabschiedeten sich. »Ich freue mich schon auf den Samstag«, sagte Viola.

Bald darauf kam Daniel heim. »Schade«, meinte Fee, »ein bisschen früher und du hättest Viola noch getroffen.«

»Aber wir fahren am Samstag zu ihr, wir alle«, warf Anneka sogleich ein.

»Soso«, murmelte Daniel, »alte Freundschaft rostet nicht.«

»Sie braucht auch ein bisschen seelische Aufrüstung«, sagte Fee, »und sie braucht eine Hilfe. Ich habe da an Frau Weber gedacht.«

»Ich sag’s ja, dir fällt immer etwas ein«, murmelte Daniel erfreut. »Aber es könnte ja sein, dass Viola Vorurteile hat.«

»Nicht, wenn ich ihr Frau Weber empfehle, Daniel.«

Über Violas Ehesorgen sprachen sie erst, als die Kinder im Bett waren.

»Ich sage es ja immer, dass es nicht gut ist, wenn Ehepaare zu lange getrennt sind. Wenn man nicht im Gespräch bleibt, richten sich Barrieren auf, Fee. Und wenn es keine gemeinsamen Interessen gibt …«

»Aber es sind doch zwei Kinder da«, fiel ihm Fee ins Wort.

Er sah sie nachdenklich an. »Viele Männer stehen noch auf dem Standpunkt, dass die Frau für den Haushalt und die Kinder zuständig ist, während sie selbst ihre Karriere im Auge behalten müssen. Und wenn sich dann die Frau erlaubt, sich selbst zu beweisen, werden sie sauer.«

»Würdest du auch sauer werden, wenn ich wieder in die Praxis einsteigen würde, wenn Anneka auch zur Schule geht?«

»Hast du das ins Auge gefasst? Nun, wir können darüber reden.«

Sie war überrascht, und als sie ihn so erstaunt ansah, lachte er leise.

»Ich kann mir recht gut vorstellen, dass es dir zumindest vormittags zu Hause zu langweilig werden würde, da Lenni ja sowieso alles macht. Aber wir werden uns darüber erst einigen, wenn das Thema akut wird. Einverstanden?«

Sie nickte. Daniel nahm sie in die Arme und küsste sie. »Unsere Interessen gehen ja nicht auseinander, mein Schatz.«

*

Viola wurde von ihren beiden Kindern, die schon recht müde waren, vorwurfsvoll begrüßt.

»Da bist du ja endlich«, sagte Benny, während Sandra sogar ein paar Tränen über die Wangen rollten.

»So spät ist es gar nicht«, sagte sie erschrocken. »Was ist denn los?«

»Die Marianne war wieder so eklig«, sagte Benny empört. »Sie ist um sieben gegangen, weil sie mit ihrem Freund verabredet war.«

»Und wir sind ganz allein«, schluchzte Sandra.

Viola blickte auf die Uhr. »Eine Viertelstunde«, sagte sie beklommen. »Solange hätte sie doch warten können.«

Nun hatte sie auch diese Sorgen. Als Marianne eingestellt worden war, hatte sie einen so guten Eindruck gemacht, aber als sie dann diesen jungen Mann kennen gelernt hatte, änderte sich das rasch.

»Nun bin ich ja wieder da«, sagte sie tröstend, »und am Samstag bekommen wir Besuch.«

»Kommt Papi?«, fragte Benny.

Er fragte oft nach seinem Vater, während Sandra dies nie tat.

»Nein, es kommt meine Freundin Fee mit ihren Kindern. Da könnt ihr schön spielen. Sie sind sehr lieb.«

»Lieber als wir?«, fragte Benny eifersüchtig.

»Für mich seid ihr die liebsten Kinder«, erwiderte sie zärtlich.

»Ist der Vater auch immer fort?«, fragte Sandra.

»Nein, er wird vielleicht auch mitkommen. Er ist Arzt, da muss er tagsüber in der Praxis sein.«

»Warum ist Papi nicht Arzt?«, fragte Benny.

Während Viola noch nach einer Antwort suchte, sagte Sandra: »Weil er lieber weit weg ist. Er mag uns nicht.«

»Das darfst du nicht sagen, Sandra«, widersprach Viola bestürzt. »Er hat eben einen Beruf, der von ihm verlangt, dass er sehr viel abwesend ist.«

»Und warum musst du Geld verdienen, Mami?«, fragte Benny.

»Ich muss nicht, ich möchte es.«

»Und warum möchtest du es?«

»Weil keiner so hübsche Sachen macht wie Mami«, sagte Sandra. »Hat doch Frau Töpfer auch gesagt.«

Und da wurde die Tür aufgeschlossen und Frau Töpfer, die Leiterin der Schneiderei, erschien.

»Sie sind ja da, Frau Anderten«, sagte sie erleichtert. »Marianne hat mir den Schlüssel gebracht, damit ich mal nach den Kindern sehe. Sie sagte aber, dass die beiden schon im Bett sind.«

»Wir sind aber wieder aufgestanden«, erklärte Benny trotzig.

»Marianne wird ganz schön dreist«, meinte Herta Töpfer. »Wenn ich gewusst hätte, dass die Kinder noch nicht schlafen, wäre ich schon früher gekommen.«

»Sie waren nicht lange allein«, sagte Viola entschuldigend. »Ich hatte mich etwas verspätet.«

»Und ich habe die Kollektion noch fertig machen wollen. Es ist bald nicht mehr zu schaffen, Frau Anderten, wenn ich das sagen darf.«

»Können Sie noch ein bisschen bleiben, Frau Töpfer?«, fragte Viola. »Ich bringe die Kinder jetzt ins Bett, dann könnten wir ja noch ein bissel was gemeinsam essen.«

Auf Herta Töpfer wartete niemand, sie nickte zustimmend. Die Kinder murrten nicht. Sie waren müde, und zu essen hatten sie wenigstens bekommen. Doch diesbezüglich war Benny auch sehr selbstständig. Er holte aus dem Kühlschrank, was ihm und Sandra schmeckte.

An diesem Abend wurde Viola jedoch wieder einmal von Gewissensbissen geplagt, da ihr plötzlich in den Sinn kam, dass ihr etwas passieren, dass sie einen Unfall haben könnte, und dann wären die beiden Kinder allein. Es war schwer, alles unter einen Hut zu bringen, aber was sollte sie denn tun, wenn Thomas sich ganz von ihnen trennte? Sie hatte so ein dumpfes Gefühl, das schmerzhaft und quälend war. Ihre Eltern hatten sich schon nach zehnjähriger Ehe getrennt, und die Mutter war darüber nie hinweggekommen. Nein, so wollte sie nicht leben, und sie wollte dann auch nicht mehr von seinem Geld leben. Sie war ungeheuer stolz. Aber warum dachte sie das?

Als sie sich zu Herta Töpfer setzte, vertrieb sie diese Gedanken. Sie sprachen vom Geschäft und auch davon, dass sie unbedingt eine zuverlässige Haushälterin brauchen würde, die auch Kinder mochte.

»Das werden Sie wohl müssen, Frau Anderten«, sagte Frau Töpfer bedächtig. »Wenn die Produktion weiter so floriert, müssen Sie gar schon ans Anbauen denken.«

»Nein, größer soll es nicht werden«, sagte Viola. »Ich muss auch noch Zeit für die Kinder haben. Ich muss das alles überdenken.«

Und ihr Mann wird ja wohl auch mal wieder heimkommen, dachte Frau Töpfer, aber sie wagte es nicht zu sagen, denn Viola sprach nie über ihren Mann.

Nein, das tat Viola nicht, es schmerzte sie zu tief, dass zwischen ihr und Thomas eine solche Entfremdung eingetreten war. Sie liebte ihn doch immer noch, und sie meinte, dass er, wenn er sie auch noch lieben würde, dies auch mal wieder zeigen könnte.

Aber Thomas Anderten sah sich seit einigen Wochen in eine so verzweifelte Situation gedrängt, aus der er keinen Ausweg wusste, dass er schon zehn Briefe an seine Frau angefangen und diese dann doch wieder zerrissen hatte. Und gerade an diesem Tag hatte er ein Telegramm bekommen, dessen Inhalt ihn kopflos werden ließ.

Da Du nichts von Dir hören lässt, werde ich mich an Deine Frau wenden. Sonja.

Er saß auf einer Insel in der Karibik über wichtigen und geheimen Forschungsaufgaben. Er konnte nicht telefonieren und durfte das Camp frühestens in einer Woche verlassen. Das waren die Bedingungen, die mit diesem Vertrag verbunden waren. Er hatte nur die immensen Vorteile gesehen, die seiner Karriere nützlich waren. Nicht einen Augenblick hatte er bedacht, was er auch verlieren könnte. Er hatte mit Besessenheit gearbeitet, doch in dieser Nacht dachte er nur an Viola und seine Kinder. Dann aber auch an Sonja, und trotz der Schwüle, die auch in der Nacht im Raum lastete, fröstelte es ihn. Das Telegramm war eine Drohung, und er wusste, dass Sonja diese Drohung wahrmachen würde.

*

Viola sollte das schon am nächsten Tag erfahren, der schon unfreundlich für sie begonnen hatte. Als sie Marianne Vorhaltungen machte, dass sie die Kinder allein gelassen hatte und erst am Morgen gekommen sei, schürzte sie dreist die Lippen.

»Ich habe einen Freund, der gern mit mir zusammen ist«, sagte sie, »und ich will nicht mal so allein herumhocken wie Sie. Wenn Ihnen was nicht passt, kann ich ja gehen.«

»Dann gehen Sie«, sagte Viola gereizt. »Ich kann niemanden brauchen, auf den nicht Verlass ist.«

Einen Augenblick war Marianne doch sprachlos, aber dann grinste sie frech. »Sie werden sich aber hart tun, hier jemanden zu finden, wenn Sie so kleinlich sind.«

»Das braucht Ihre Sorge nicht zu sein.« Wenn Viola mal der Gaul durchging, dann gab es kein Zurück mehr für sie, mochte kommen, was da wolle.

Damit hatte Marianne allerdings nicht gerechnet, aber es blieb ihr nun nichts anderes übrig, als ihren Koffer zu packen.

»Ich könnte ja auch vors Arbeitsgericht gehen«, sagte sie noch, als ihr Viola den Lohn auszahlte.

»Gehen Sie doch«, war alles, was Viola erwiderte. Es war dicke Luft. Sie spürte etwas noch nicht Greifbares auf sich zukommen. Sie hatte manches Mal solche Ahnungen.

»Jetzt hat Marianne aber dumm geguckt«, wisperte Benny. »Wer kommt denn nun, Mami?«

»Wir werden schon jemanden finden. Lasst mir mal ein paar Minuten Ruhe. Ich muss telefonieren.«

Sie rief zuerst beim Arbeitsamt an, ob man ihr jemanden für den Haushalt schicken könnte. Man konnte nicht.

Sie hatte es schon erwartet. Blieb jetzt Fee als Retterin in der Not. Sie hatte ja angedeutet, dass sie vielleicht jemanden wüsste.

Fee war gleich ganz Ohr. »Ich habe gerade Besuch bekommen, Viola«, sagte sie. »Ich rufe dich gleich wieder an. Vielleicht klappt es. Gedulde dich noch ein bisschen. Ich muss dir dann etwas erklären.«

Frau Weber war schon am frühen Morgen entlassen worden. Nachdem sie zu Haus ein Bad genommen und sich frisch gekleidet hatte, war sie gleich zu Fee gegangen, um sich bei ihr zu bedanken. Allerdings auch deshalb, weil Dr. Norden ihr eindringlich gesagt hatte, dass Fee möglicherweise eine gute Nachricht für sie hätte.

Die Hausmeisterin war zwar nicht ausgesprochen unfreundlich gewesen, aber doch sehr reserviert, und Frau Weber fühlte sich immer noch von einem Makel behaftet.

Ihr kamen die Tränen, weil sie von Fee so herzlich empfangen worden war.

»Mein Mann sagte mir, dass Sie ungern wieder ins Geschäft gehen würden, Frau Weber«, begann Fee behutsam.

»Das kann ich wirklich nicht, Frau Doktor. Dem fühle ich mich nicht gewachsen. Ein paar Kolleginnen sind ja nett, aber es sind auch welche da, die einem das Leben auch so schon schwermachen können.«

Dazwischen kam dann der Anruf von Viola, und nun machte Fee keine langen Umschweife mehr.

»Kennen Sie Viola Anderten, Frau Weber?«, fragte sie.

»Von Viola-Kindermoden? Persönlich nicht, aber es sind sehr hübsche Sachen, und sie werden viel gekauft.«

»Nun, Frau Anderten ist eine Schulfreundin von mir, und sie hat zwei Kinder, die gut betreut werden müssen, weil Viola die Arbeit über den Kopf wächst. Sie lebt in Ammerland. Dort wären Sie bestimmt keinem Gerede ausgesetzt.«

»Aber ob sie mich nehmen würde«, fragte Frau Weber bebend. »Der Paul heißt doch nun mal Weber.«

»Viele ehrbare Leute heißen Weber«, sagte Fee aufmunternd. »Ich werde Viola sagen, was Ihnen widerfahren ist. Lenni bringt Ihnen inzwischen eine Brotzeit, Frau Weber.«

»Ich kann mich doch nicht bedienen lassen«, murmelte Hilde Weber.

»Warum denn nicht?«, lächelte Fee. »Lenni tut das sehr gern. Sie müssen doch mal wieder was Kräftiges essen.«

Und das brachte Lenni, während Fee wieder mit Viola telefonierte.

Viola hatte schweigend zugehört. »Ich wäre ja heilfroh, Fee«, sagte sie, »aber wenn nun dieser Paul wieder freikommt?«

»So schnell nicht, Viola, und für Frau Weber würde ich beide Hände ins Feuer legen. Ich würde sie bestimmt nicht zu dir schicken, wenn ich einen Zweifel hätte.«

»Dann kann ich dir nur danken, Fee«, sagte Viola. »Du bist ein Schatz, ein ganz großer Schatz.«

*

Viola war erleichtert und widmete sich den Kindern. »Und wann essen wir?«, fragte Benny, der hungrig war.

»Du liebe Güte«, rief Viola aus, denn sie hatte nicht gedacht, ein Essen zuzubereiten. »Wisst ihr was, wir gehen zur Feier des Tages ganz groß essen.«

»Was für eine Feier?«, fragte Sandra.

»Wir bekommen eine ganz liebe Haushälterin. Sie kommt schon morgen.«

Die Kinder schauten skeptisch. »Na ja, wir werden sehen«, meinte Benny. Er freute sich jetzt darauf, sein Menü selbst aussuchen zu dürfen.

Sandra aß am liebsten Geschnetzeltes, weil sie da nicht selbst schneiden musste.

Jeder kam auf seine Kosten. Benny bemerkte, dass Marianne wirklich nicht besonders kochen konnte.

»Hoffentlich kann das die Neue«, sagte er hoffnungsvoll.

»Sie ist schon älter, und Fee sagt, dass sie eine gute Hausfrau ist«, erklärte Viola.

»Das ist wohl eine richtige Fee, Mami?«, fragte Sandra.

»Das kann man wohl sagen«, bestätigte Viola. »Ihr werdet sie ja morgen kennen lernen.«

Als sie heimkamen, stand ein Wagen vor ihrer Tür, der ihnen unbekannt war. Und eine junge Frau stieg aus. Viola erschrak, denn sie erkannte Sonja Bertram.

»Ist das die Neue?«, fragte Benny, »die ist aber noch jung.«

»Nein, das ist sie nicht«, erwiderte Viola heiser. »Geht ihr mal zu Frau Töpfer.«

Benny und Sandra hatten nichts dagegen. Fremden Leuten gegenüber waren sie recht reserviert.

»Guten Tag, Frau Anderten«, sagte Sonja mit einem spöttischen Unterton.

»Was wünschen Sie?«, fragte Viola. Das Unbehagen, das sie schon am Morgen empfunden hatte, war wieder da.

»Das ist nicht mit ein paar Worten gesagt«, entgegnete Sonja Bertram.

»Bringen Sie eine Nachricht von meinem Mann?«

»Nicht so direkt.« Sonjas Lächeln wurde frivol.

»Haben Sie ihn diesmal nicht begleitet?«, fragte Viola stockend.

»Nein, diesmal nicht. Ich erwarte nämlich ein Kind. Um es deutlicher zu sagen, ein Kind von Ihrem Mann.«

Viola wurde es schwarz vor den Augen, aber sie riss sich zusammen. Nur Haltung bewahren, mahnte sie sich.

»Bitte, treten Sie ein«, sagte sie kühl.

Sonja schien überrascht. Das boshafte Funkeln schwand aus ihren Augen, und ein gezwungenes Lächeln legte sich um ihren vollen Mund.

»Hat er es Ihnen schon mitgeteilt?«, fragte sie hastig.

»Nein, aber ich habe geahnt, dass recht enge Beziehungen zwischen Ihnen bestehen. Ist Thomas zu feige, um es mir zu sagen. Hat er Sie vorausgeschickt?«

Sonja legte den Kopf zurück. Jetzt hatte ihr hübsches Gesicht einen verkniffenen Ausdruck.

»Ich habe keine Antwort auf meine Briefe bekommen. Ich weiß nicht genau, wo er sich augenblicklich befindet. Sie werden es ja wohl wissen.«

»Bedaure«, erwiderte Viola lakonisch.

»Mir geht es nicht gut. Ich kann nicht mehr arbeiten. Ich brauche Geld«, sagte Sonja.

»Soll ich Ihnen das geben?«, fragte Viola nun sarkastisch. »Das wäre wohl ein bisschen zu viel verlangt. Das einzige, was ich dazu zu sagen habe ist: Wenn mein Mann die Scheidung haben will, kann er sie haben.«

»Und wenn er sie nicht will?«, fragte Sonja schrill.

»Dann werde ich sie einreichen. Sie können ihn haben, Frau Bertram. Und bezahlen muss er. Genügt Ihnen das?«

»Mein Gott, können wir uns nicht mal von Frau zu Frau unterhalten?«, sagte Sonja.

»Wozu? Ihr Interesse richtet sich doch wohl nur auf meinen Mann, und Sie haben erreicht, was Sie wollten.«

»Er wird doch nicht so ohne Weiteres auf seine Kinder verzichten.«

»Das wird er wohl müssen, und viel um die Kinder hat er sich bisher auch nicht gekümmert. Vielleicht wird das bei Ihrem Kind anders«, sagte Viola eisig.

»Wenn ein Mann fremdgeht, liegt es doch auch mit an seiner Frau«, stieß Sonja hervor. »Machen Sie sich darüber keine Gedanken?«

»Was ich mir für Gedanken mache, braucht Sie nicht zu interessieren. Ich denke, dass dieses Gespräch damit beendet ist. Verbindlichen Dank für die Aufklärung.«

Sie öffnete die Tür und machte eine Handbewegung, die man nicht falsch deuten konnte.

Sonja warf ihr einen giftigen Blick zu. »Sie brauchen sich doch wirklich nicht zu wundern, dass Thomas abgesprungen ist. Bei so viel Arroganz und Überheblichkeit …« Sie geriet ins Stocken, hatte den Faden verloren.

»Haben Sie erwartet, dass ich heule und Sie auf Knien anflehe, mir meinen Mann zu lassen? Wie Sie sehen, kann ich gut für mich und meine Kinder sorgen und brauche nicht andere anzubetteln. Und jetzt gehen Sie!«

Mit Violas Fassung war es nämlich vorbei. Ihre Selbstbeherrschung hatte Grenzen.

Sonja Bertram ging nun, und Viola sank kraftlos in einen Sessel. Sie schlug die Hände vor ihr Gesicht. So weit war es also gekommen. Das hatte ihr Thomas antun können! Viola fühlte sich erniedrigt und tief gekränkt. Da kamen die Kinder hereingestürmt. »Wer war denn das?«, fragte Benny.

»Was rein Geschäftliches«, erwiderte Viola tonlos.

»Frau Töpfer muss auch geschäftlich mit dir reden, Mami«, sagte Benny.

Was kommt denn nun noch daher, dachte Viola, aber was Frau Töpfer ihr zu sagen hatte, war erfreulich.

»Da hat eine Dame angerufen, Frau Anderten, ob wir interessiert wären an einer Fachkraft, die schon in einem großen Unternehmen tätig war. Joana Branko heißt sie. Ich war so frei, ihr zu sagen, dass sie ja mal ganz unverbindlich vorbeikommen könnte. Ein Dr. Norden hat ihr die Empfehlung gegeben.«

Viola kam wieder ganz zu sich. »Kommt sie vorbei?«, fragte sie.

»So gegen vier Uhr. Ich habe mir gedacht, dass wir dann ja nicht annoncieren brauchen, wenn sie etwas taugt. Aber wir schaffen es bald wirklich nicht mehr, auch wenn wir Überstunden machen und dazu sind die Näherinnen bereit. Ich meine, dass wir uns wirklich nicht über Arbeit beklagen brauchen, wo andere arbeitslos sind.«

»Wenigstens das ist erfreulich«, sagte Viola geistesabwesend.

»Wir werden uns Frau Branko anschauen.«

*

Daniel Norden hatte seiner Frau Fee beim Mittagessen von Joana Branko erzählt. »Sie ist überaus sensibel und hatte viel persönlichen Ärger in diesem Großunternehmen. Da kam mir in den Sinn, dass sie deiner Freundin Viola auch eine Hilfe sein könnte, Fee.«

»Du bist umwerfend, mein Schatz«, sagte Fee begeistert.

»Sie kommt aus Rumänien«, erzählte Daniel, da Fee mehr über diese junge Frau wissen wollte. »Hatte sich in einen Deutschen verliebt, der dort Urlaub machte, oder wohl besser noch er in sie.«

»Und sie sah die Chance, von dort wegzukommen?«, fragte Fee nachdenklich.

»Ganz so war es nicht. Sie hat Charakter, und sie lernte hier dann in ihm einen ganz anderen Menschen kennen. Sie ist attraktiv und hat eine makellose Figur.«

»Oh, là, là«, warf Fee ein.

Daniel lachte leise. »Sie braucht sich bei mir nicht auszuziehen, aber für diesen Mann sollte sie sich ausziehen, und nicht etwa als Ehefrau im Schlafzimmer, sondern für Pornofilme.«

»Guter Gott, was es alles gibt«, seufzte Fee.

»Ja, er wollte mit ihr das große Geld machen, aber sie wollte lieber in ihrem Beruf arbeiten. Er hat ihr dann große Schwierigkeiten bereitet, und deshalb hat sie auch die Stellung aufgegeben. Allerdings hat sie auch eine abschreckende Reaktion bei Angriffen auf ihr Intimleben. Sie bekommt am ganzen Körper einen Ausschlag, der sie für Nacktfotos auch nicht gerade attraktiv machen würde.«

»Eine gute Waffe«, stellte Fee fest.

»Ja, das meint sie auch, aber sie hat dabei einen höllischen Juckreiz und ihr sonst liebliches Gesicht sieht aus wie eine überreife Erdbeere.«

»Und gegen solche Allergie kann man überhaupt nichts machen«, sagte Fee.

»Du sagst es. Sie ist psychisch bedingt und in ihrem Fall tatsächlich eine Abwehrreaktion.«

»Ist das akute Stadium vorbei?«, fragte Fee.

»Ja, zumindest im Gesicht nicht mehr bemerkbar. Aber sie ist wirklich ein interessanter Fall. Sie reagiert nämlich nicht nur allergisch auf zudringliche Männer, sondern auch auf eine bestimmte Kategorie Frauen, wie sie mir erklärt. Aber sie ist intelligent und aufrichtig.«

»Primitive Menschen sind nicht allergisch«, sagte Fee. »Sie haben ein dickes Fell. Diese Joana interessiert mich auch. Wird sie sich bei Viola bewerben?«

»Ja, sie hat schon angerufen und teilte mir vorhin mit, dass sie heute Nachmittag dort persönlich vorstellig werden wird.«

»Diesmal hast du aber ganz schnell geschaltet, Daniel.«

»Man musste ihr ein bisschen Selbstvertrauen einflößen, wie auch unserer Frau Weber.«

»Viola wird staunen«, lächelte Fee.

*

Dazu war Viola jedoch viel zu deprimiert. Und in diesem Zustand völliger innerer Leere, war sie für jede Abwechslung dankbar, die ihr von Nutzen sein konnte.

Als dann Joana Branko pünktlich um vier Uhr erschien, löste sich in Viola die lähmende Beklemmung.

Große dunkle Augen blickten sie bittend an. Blauschwarzes Haar, zur Pagenfrisur geschnitten, gab dem herzförmigen Gesicht einen aparten Reiz.

»Ich bin Ihnen sehr dankbar, gnädige Frau, dass Sie mich empfangen«, sagte Joana leise. »Dr. Norden meinte, dass Sie möglicherweise noch Personal einstellen.«

»Sie sind mit den Nordens bekannt?«, fragte Viola.

»Ich war als Patientin bei Dr. Norden.«

Das Telefon läutete. »Entschuldigen Sie mich bitte einen Augenblick«, sagte Viola. »Ich habe zurzeit keine Hausangestellte.«

Es war Fee, die Viola doch noch schnell einen Hinweis bezüglich Joana geben wollte.

»Sie ist schon hier, Fee«, sagte Viola. »Danke für den Hinweis. Der erste Eindruck ist sehr gut. – Kommt ihr morgen bestimmt? Ich brauche einen Rat. Ich bin völlig down, Fee.«

»Ist was mit deinem Mann?«, fragte Fee.

»Es hängt mit ihm zusammen. Ich erzähle es dir morgen.«

Sie kehrte zu Joana zurück. Diese stand am Fenster. »Schön ist es hier, und so friedlich«, sagte sie gedankenverloren. »Ich bin auf dem Land aufgewachsen. Das Getriebe der Großstadt verursacht mir Beklemmungen.«

»Sie suchen deshalb einen neuen Wirkungskreis?«, fragte Viola.

»Nicht nur deshalb. Ich bin erst vor einem Jahr aus Rumänien gekommen. Ich habe nicht geahnt, dass diese Welt so verwirrend ist.«

»Sie haben Heimweh?«, fragte Viola sanft und nun ganz auf dieses zarte Geschöpf konzentriert.

»Nein, ich möchte nie mehr zurück. Aber ich möchte ganz frei sein und mein Leben nicht von anderen bestimmen lassen, was ich nicht gutheißen kann. Ich kann arbeiten, gnädige Frau, und ich möchte mir mein Geld immer ehrlich verdienen.«

»Sie sind gelernte Schneiderin?«

»Ja, ich kann aber auch stricken, sticken, häkeln und alles was dazugehört. Ich bin bereits neun Jahre im Beruf.«

»Darf ich fragen, wie alt Sie sind?«, fragte Viola staunend, denn sie hatte Joana auf höchstens zwanzig geschätzt.

»Fünfundzwanzig«, erwiderte Joana. »Ich wäre gern Modezeichnerin oder Designerin geworden, aber da hatte ich bei uns keine Chance. Meine Vorfahren sind Volksdeutsche. Ich weiß nicht, ob Ihnen das ein Begriff ist.«

»O ja«, erwiderte Viola. »Ich mache uns jetzt einen guten Kaffee, und dann erzählen Sie mir mehr von sich. Einverstanden? Wir sollten uns gleich ein bisschen kennen lernen, wenn wir schon zusammenarbeiten.«

Joanas Augen wurden ganz weit. »Sie würden mich nehmen?«, fragte sie bebend.

»Aber sicher, wenn Sie einverstanden sind mit den Bedingungen.«

»Ich bin mit allem einverstanden.«

*

Nach einer Stunde kannte Viola Joanas Lebenslauf. Ihr Vater war Schneidermeister, und in seiner Werkstatt hatte sie schon früh gelernt, Knöpfe sorgfältig anzunähen und Schnittmuster abzuzeichnen. Joana sprach liebevoll von ihren Eltern, ihrem Zuhause.

»Wenn sie nicht so früh gestorben wären, hätte ich sie nie verlassen«, sagte sie, »aber plötzlich war ich so allein, und dann lernte ich diesen Mann kennen.«

Auch das, was sie bereits Dr. Norden anvertraut hatte, erzählte sie. Und dann kamen ihr die Tränen.

»Ich weiß, wie das ist, wenn man sich plötzlich so gedemütigt vorkommt, Joana«, sagte Viola. »Ich denke, dass wir uns sehr gut verstehen werden. Sie können bei mir wohnen.« Ganz spontan sagte sie das, und Joana blickte sie an, als sei sie das Christkind persönlich.

»Sie sind sehr gütig, gnädige Frau«, flüsterte sie.

»Ich heiße Anderten, Joana.« Viola erhob sich. »Jetzt werde ich meine Kinder rufen, damit Sie die beiden gleich kennen lernen.«

Es war Viola auch wichtig, was die Kinder sagen würden. Schüchtern waren sie ja nicht, und Joana wurde eingehend gemustert.

»Ihr habt doch nichts dagegen, wenn Joana bei uns wohnt?«, fragte Viola.

»Mag sie Kinder?«, fragte Benny.

»Ich habe Kinder sehr gern«, erwiderte Joana.

»Hast du keine?«, fragte Sandra.

»Sie ist doch noch ein Mädchen«, warf Benny ein.

»Kannst du gleich bei uns wohnen?«, fragte Sandra.

Viola bereitete dem Fragespiel ein Ende. »Joana muss noch ihre Sachen holen. Aber mir wäre es recht, wenn sie bald zu uns kommt.«

»An mir soll es nicht liegen«, sagte Joana. »Ich kann am Montag anfangen.« Sie sah jetzt aus wie ein glückliches Kind.

»Dann kommen Sie am Sonntag«, sagte Viola spontan. »Morgen bekomme ich eine neue Haushälterin, dann können wir uns alle gleich ein bisschen aneinander gewöhnen.«

Sie begleitete Joana zur Tür. »Brauchen Sie einen Vorschuss?«, fragte sie.

»O nein, ich habe ganz gut verdient«, erwiderte Joana verlegen.

»Und darüber haben wir noch gar nicht gesprochen«, fiel es Viola jetzt siedendheiß ein.

»Es ist auch gar nicht wichtig. Sie sind eine so wundervolle Frau«, flüsterte Joana. »Mir genügt es, wenn ich nicht mehr zu frieren brauche.«

Und das war nicht auf die winterliche Kälte gemünzt, die jetzt spürbar wurde. Viola hatte es sofort begriffen. Da kam ein Menschenkind, das jene Wärme brauchte, die nur Verständnis und Liebe geben konnte. Ihr selbst wurde es jetzt auch wieder warm ums Herz. Ja, sie hatte auch gefroren, obgleich sie in einem warmen Haus saß und keine finanziellen Sorgen zu haben brauchte.

Wenn Thomas sein Herz an solches Mädchen verloren hätte, könnte ich ihn noch verstehen, dachte sie dann, aber diese Sonja Bertram, nein, das hätte er mir nicht antun dürfen.

»Joana ist aber sehr hübsch, Mami«, sagte Sandra.

»Und lieb ist sie auch«, meinte Benny. »Nicht so dämlich wie Marianne. Und schon gar nicht so zickig wie die andere, die vorhin da war. Die hättest du doch nicht genommen, Mami?«

Viola erschrak. Er ist doch erst sechs Jahre alt, dachte sie. Was geht in so einem Kinderköpfchen vor? Was wird er, was wird auch Sandra denken, wenn Thomas nicht mehr heimkommt?

»Die kommt doch nicht auch, Mami?«, fragte Benny jetzt wieder.

»Wer?«, fragte sie.

»Die Rothaarige.«

»Die mit dem Auto gekommen ist, wo du uns zu Frau Töpfer geschickt hast«, sagte Sandra.

»Nein, die kommt nicht«, erwiderte Viola.

»Da war Frau Töpfer nämlich bange, aber Joana, die mag sie«, erklärte Benny. »Da hat sie gesagt, dass du sie hoffentlich nimmst.«

»Nun kommt sie ja zu uns«, sagte Viola.

»Können wir es Frau Töpfer sagen, Mami?«, fragte der Junge.

»Ich werde es ihr selbst sagen. Und ihr müsst sehr lieb zu Joana sein. Sie ist in einem fremden Land aufgewachsen und hat hier noch kein richtiges Zuhause gefunden.«

»Jetzt kriegt sie doch eins«, meinte Benny unbefangen. Und Herta Töpfer strahlte, als Viola ihr sagte, dass Joana schon am Montag anfangen würde.

»So a liabs Dingerl«, sagte sie, »und was die alles kann. Da haben Sie einen guten Griff getan, Frau Anderten. Aber wenn sie in der Stadt wohnt, ist es jeden Tag ein weiter Weg.«

»Sie kann bei mir wohnen, das ist schon beschlossen, Frau Töpfer. Ich habe genug Platz. Mein Mann wird nicht mehr zurückkommen, Ihnen sag’ ich es, aber behalten Sie es bitte für sich.«

Herta Töpfers Gesicht versteinerte sich.

»Mit Verlaub gesagt, das versteh ich nicht, das muss ein Depp sein. Entschuldigen’s vielmals, dass mir das herausgerutscht ist.«

»Ich habe es überhört«, sagte Viola.

»Auf uns können Sie sich verlassen, Frau Anderten, das möchte ich aber auch sagen. Jetzt erst recht. Und was ich denke, behalte ich für mich.«

Da packten zwei Frauen an diesem Abend ihre Koffer. Hilde Weber wurde dabei nicht gestört. Sie hatte der Hausmeisterin schon gesagt, dass sie die Wohnung räumen würde.

»Meinetwegen bräuchten Sie das bestimmt nicht, Frau Weber«, hatte die gesagt. »Wenn alle Mieter so wären wie Sie, hätte ich keinen Ärger. Und dass Sie mit dem Burschen so viel Scherereien haben, ist schlimm genug. Aber die feinen Leute haben auch oft genug Ärger mit ihren Kindern. Sie haben den ja bloß adoptiert, das stand in der Zeitung. So was von Undankbarkeit, da kann man nur Mitleid für Sie haben.«

Und das wollte Hilde Weber am wenigsten hören. Nur weg, dachte sie, niemanden mehr sehen, der davon weiß.

Joana wurde auf andere Weise gestört, und erst dann, als sie beim Packen war. Es läutete. Sie begann zu zittern. Aber dann regte sich in ihr ein Gefühl des Aufbegehrens. Ihre Haut begann zu jucken, heiße Glut schlug in ihre Wangen, als sie die Tür öffnete.

Ein schlanker gut aussehender Mann stand vor ihr. »Sie?«, fragte Joana staunend.

Es war nicht der, den sie mit Furcht erwartet hatte, nicht Herbert Brandner. Es war der Verkaufsleiter der Firma, in der sie bisher gearbeitet hatte, Ulrich Boering.

»Wieso haben Sie gekündigt, Joana?«, fragte er. »Ich habe es gerade erst erfahren.«

»Ich will weg von München«, erwiderte sie stockend.

»Warum? Wenn Sie mehr Geld haben wollen, werde ich dafür sorgen.«

»Mir geht es nicht ums Geld. Ich möchte da arbeiten, wo ich akzeptiert werde.«

»Und wo werden Sie arbeiten?«

»Das sage ich nicht. Es ist meine Angelegenheit.«

»Seien Sie doch nicht so töricht, Mädchen«, stieß er hervor. »Sie hätten sich doch nur ein bisschen aufgeschlossener zeigen müssen.«

»In welcher Beziehung?«, fragte Joana kühl. »Ich lasse mich nicht von jedem betätscheln.«

Ulrich Boering wurde blass. »So habe ich das doch nicht gemeint. Bin ich Ihnen je zu nahe getreten?«

»Sie nicht, aber andere«, erwiderte Joana. »Und ich habe die Nase voll davon. Ich will auch nicht mehr hören, dass ich froh sein müsste, überhaupt hier leben zu dürfen, und dafür müsse man sich schon erkenntlich zeigen. Ist das deutlich genug, Herr Boering?«

Er starrte sie an. »Ich verstehe Sie, aber Sie missverstehen mich. Warum haben Sie nicht offen mit mir darüber gesprochen, Joana? Habe ich Ihnen nicht eine und mehrere Brücken gebaut?«

»Die Brücken kenne ich«, sagte sie ruhig. »Wenn man auf halbem Weg ist, fällt man in den Abgrund. Ich nicht, Herr Boering. Ich gehe einen Weg ohne Brücken, die mir von andern gebaut werden. Ich habe termingerecht gekündigt und trete am Montag eine neue Stellung an. Und da kann ich sicher sein, dass ich von keinem Mann belästigt werde.«

»Mein Gott, Sie verkennen mich«, sagte er tonlos. »Ich liebe Sie, Joana.«

»Gehen Sie, ich glaube keinem Mann mehr. Liebe, was versteht ihr denn schon unter Liebe? Ihr denkt doch nur, dass ein heimatloses Mädchen käuflich ist. Verschwinden Sie endlich.« Er wich zurück, und Joana schlug die Tür zu. Sie sah nicht, wie er verzweifelt seine Stirn an die kahle Wand des Treppenhauses legte.

Noch eine Nacht, noch einen Tag und noch eine Nacht, dachte sie, und dann habe ich ein Zuhause. Da ist eine Frau, die ich mag und zwei Kinder, mit denen ich vielleicht manchmal spielen darf. Da sind Wiesen und Wälder, in denen ich wieder frei atmen kann. Ich will doch leben, frei leben, nur hatte ich es mir anders vorgestellt. Aber jetzt habe ich wieder Hoffnung.

*

Des Menschen Schicksal liegt in Gottes Hand, sagt man, doch war es wirklich so? Sicher gab es viele Menschen auf dem Erdenrund, die daran zweifelten, und zu denen gehörten auch Viola, Joana und Hilde Weber, die an diesem Tag an einer Wende ihres Lebens standen aber auch bereit waren, dieser Wende gerecht zu werden aus eigener Kraft, mit neuem Mut.

Der Tag brachte Böses, aber auch Gutes, und was uns nicht umbringt, macht uns stärker, dachte Viola nun. Nur nicht verzagen, nicht bitter werden. Vielleicht braucht Thomas so eine Frau wie Sonja, die nur sexy ist.

Dann wanderten ihre Gedanken zu Joana, die ganz allein auf sich gestellt in einer noch fremden Welt, doch ihren Charakter bewahrt und keiner Verführung unterlag. Es lohnte sich, diesem jungen Menschen zu helfen. Und wie gut war es doch, dass sie sich eine eigene Existenz geschaffen hatte.

Fee ist gerade im rechten Augenblick wieder in mein Leben getreten, ging es ihr vor dem Einschlafen noch durch den Sinn, als wahrlich gute Fee. Und aller Sorgen zum Trotz schlief sie tief in den neuen Tag hinein.

Die Kinder weckten sie. »Es hat geschneit, Mami«, trompetete Benny, sodass Viola erschrocken emporfuhr.

»Kommt jetzt der Nikolaus?«, fragte Sandra.

»Doch nicht so bald«, murmelte Viola. »Du lieber Himmel, schon so viel Schnee«, rief sie dann aus, als sie zum Fenster hinausblickte.

»Kommt der Besuch jetzt nicht?«, fragte Benny.

»Der Schnee wird sie doch nicht hindern. Er taut sicher bald weg«, erwiderte Viola.

»Lieber nicht, dann können wir doch mit den Kindern keinen Schneemann bauen«, sagte Sandra.

Fee sagte zur gleichen Zeit, dass es gestern schon nach Schnee gerochen hätte.

Doch bei ihnen war nicht so viel gefallen wie in Ammerland.

»Und weil ich ein vorsichtiger Mann bin, habe ich die Winterreifen schon montieren lassen«, erklärte Daniel.

»Sehr gut«, lobte Fee, »aber wir werden ja kaum im Schnee stecken bleiben.«

»Lenni hat gesagt, dass wir einen langen Winter kriegen«, ließ Danny sich vernehmen.

»Keine erfreuliche Prognose«, meinte Daniel dazu. »Das Öl ist verflixt teuer.«

»Die Benzinpreise sind auch schon wieder gestiegen«, sagte Fee seufzend.

Auch solche Probleme wurden vor den Kindern erörtert.

»Und den Vögeln müssen wir auch wieder Futter kaufen«, sagte Anneka. »Kannst es aus meiner Sparbüchse nehmen, Mami.«

»Lenni hat doch gestern schon was mitgebracht«, sagte Felix. »Wir tun es gleich in die Vogelhäuschen, gell?«

Damit hatten sie es eilig, denn kein fröhliches Vogelgezwitscher war zu vernehmen, wie an den sonnigen Spätherbsttagen. Verschreckt wohl von der so plötzlich hereinbrechenden Kälte, versteckte sich die Vogelschar. Und die Kinder waren sehr enttäuscht, dass sie nicht sofort kamen, als dann die beiden Vogelhäuschen schon gefüllt waren.

»Sie müssen sich auch erst umstellen«, sagte Fee tröstend.

»Aber erfrieren brauchen sie doch nicht, Mami«, fragte Anneka ängstlich.

»So kalt ist es nicht, aber ihr werdet euch heute auch wärmer anziehen müssen.«

Und dabei konnte sie dann feststellen, wie viel größer die beiden Buben schon wieder geworden waren.

»Da kannst du ja gleich einkaufen«, sagte Daniel schmunzelnd. »Wie gut, dass es Viola gibt.«

Da sie jedoch nicht im Umfang zugenommen hatten, konnte Fee mit den drei Kindern auf dem Rücksitz noch ganz bequem sitzen, und Frau Weber, die sie dann abholten, wurde auf dem Beifahrersitz angeschnallt. Sie fühlte sich hochgeehrt, neben Dr. Norden sitzen zu dürfen, aber sonst war sie voller Hemmungen.

Und diese konnte ihr auch die herzliche Begrüßung von Viola nicht gleich nehmen. Aber da ging es erst mal recht lebhaft zu.

Von Benny und Sandra wurde Hilde Weber zuerst skeptisch gemustert, doch schnell fand sie Gnade vor ihren Augen, und dann wurde gleich Freundschaft mit den drei Norden-Kindern geschlossen.

Daniel hatte die Gabe, die Stimmung zu lockern, wenn Sympathie vorhanden war.

»Es freut mich, dich wiederzusehen, Viola«, sagte er lächelnd. »Da fragt man sich nur, wie rasch die Jahre vergehen. Ich werde mich mal ein bisschen umschauen, da die Damen sich ja sicher einiges zu sagen haben.«

»Du würdest dabei gewiss nicht stören, Daniel«, sagte Viola, »aber ihr könnt euch ja schon mal in der Werkstatt umschauen, was ihr für die Kinder braucht, während ich Frau Weber die Zimmer zeige. Sie soll sich aussuchen, was ihr zusagt. Morgen kommt Joana. Ich habe ihr angeboten, auch bei uns zu wohnen. Und ich denke, Frau Weber wird sich auch gut mit ihr verstehen.«

Frau Weber fasste sich jetzt ein Herz und sagte: »Dürfte ich darum bitten, dass Sie nur Hilde zu mir sagen, Frau Anderten? Der Name Weber hängt wie ein Bleiklumpen an mir.«

»Gern«, erwiderte Viola. »Den Kindern wird das auch lieber sein. Ich denke, wir werden uns gut verstehen.«

Sie sah Fee an, und die schenkte ihr ein liebes Lächeln. »Frau Töpfer ist in der Werkstatt, Fee. Sie kann euch alles zeigen. Die Kinder können auch anprobieren.«

»Ja, dann wollen wir mal, Fee«, sagte Daniel leichthin und blinzelte Viola zu. »Gute Organisation«, sagte er draußen zu Fee. »Viola hat das sehr geschickt gemacht.«

Dann kam ihnen schon Herta Töpfer entgegen, und wenig später konnten Daniel und Fee staunen, welches Ausmaß die Werkstätten hatten.

»Es wird gut sein, wenn wir Hilde bekommen«, sagte Frau Töpfer. »Ich weiß, dass Frau Anderten das Ihnen zu verdanken hat, Frau Dr. Norden, und auch Ihnen, Herr Doktor. Mit Joana bekommen wir ja eine erstklassige Fachkraft.«

»Und für den Haushalt eine sehr liebe Hilfe«, erklärte Fee.

Diesen Eindruck hatte Viola auch rasch gewonnen. »Sie sollen sich wohlfühlen, Hilde«, sagte sie herzlich. »Eine glückliche Fügung hat uns beiden geholfen.«

»Mir wurde sehr geholfen«, sagte Hilde leise.

»Und mir ebenso. Es gibt noch gute Menschen, das gibt doch Hoffnung.«

»Was kann ich jetzt tun?«, fragte Hilde. »Es ist bald Essenszeit.«

»Suppenfleisch kocht schon, und ein Braten brutzelt im Rohr«, erwiderte Viola, »aber alles, was so noch dazugehört, überlasse ich gern Ihnen, wenn Sie es gleich anpacken wollen.«

»Und wie gern«, sagte Hilde.

*

Als Viola in die Werkstatt kam, waren die Kinder schon beim Aussuchen und Anprobieren. Da hatten auch Danny und Felix nichts zu murren, denn hier drängten sich keine anderen Kunden, und keine Verkäuferin schwatzte auf sie ein.

Gegen Frau Weber hatten sie zwar nie etwas gehabt, aber da hatten sich oft auch andere eingemischt. Hier gaben nur Benny und Sandra gute Ratschläge. Es war putzig anzuschauen, wie eifrig sie bei der Sache waren.

Das machte auch Daniel Spaß.

Viola schob ihre Hand unter Fees Arm. »Die Kinder sind beschäftigt«, sagte sie leise. »Eine gute Gelegenheit zu einem Gespräch. Wer weiß, ob wir später noch dazu kommen.«

Sie führte Fee in ihr Atelier, in dem sie die Entwürfe machte und die Schnittmuster angefertigt wurden.

»Gestern war ein ereignisreicher Tag, Fee«, begann sie stockend. »Das Erfreulichste daran war Joana. Sie ist reizend.«

»Das freut mich. Ich kenne sie noch nicht persönlich, aber sicher werde ich sie auch bald kennen lernen. Daniel hat manchmal auch sehr gute Eingebungen.«

»Ihr seid glücklich wie eh und je«, stellte Viola gedankenverloren fest. »Ich werde mich scheiden lassen.«

»Neulich hast du noch nicht davon gesprochen«, sagte Fee erschrocken.

»Da wusste ich auch noch nicht, dass Sonja Bertram ein Kind von ihm erwartet.«

Fee wurde blass. »Du hast es gestern erfahren?«

Viola nickte. »Sie war hier. Sie ist Thomas’ Sekre­tärin.«

»Und Thomas hat es dir nicht gesagt?«

»Ich habe schon längere Zeit keine Nachricht von ihm. Er ist wohl mal wieder mit Forschungsarbeiten beschäftigt. Jedenfalls hat die Bertram ihn diesmal nicht begleitet, und scheint auch nicht zu wissen, wann er zurückkommt.«

»Also ist es auch noch nicht erwiesen, ob ihre Behauptung stimmt.«

»Sie kann das doch nicht behaupten, nicht aus der Luft greifen.«

»Intrigante Frauen sind zu allem fähig«, stellte Fee ruhig fest. »Wollte sie dich etwa erpressen?«

»Nein, so kann man es nicht nennen, aber sie sagte, dass sie Geld brauche.«

»Das ist doch schon Erpressung. Und eine Frechheit dazu, von dir Geld zu verlangen. Und du denkst sofort an Scheidung.«

»In unserer Ehe stimmt es schon länger nicht mehr, Fee, und ich habe auch geahnt, dass er was mit der Bertram hat. Es ist doch sinnlos, eine Ehe fortzuführen, wenn man sich so entfremdet hat. Ich werde auch etwas falsch gemacht haben, ohne mir dessen bewusst geworden zu sein.«

»Auf jeden Fall solltest du Thomas erst anhören. Es geht ja auch um die Kinder, Viola.«

»Die lasse ich mir nicht nehmen, aber schließlich habe ich auch meinen Stolz.«

»Und den brauchst du dir auch nicht nehmen zu lassen.«

»Was würdest du mir raten, Fee?«

»Ganz ruhig zu bleiben und abzuwarten, was Thomas sagen wird.«

»Und wenn er darüber gar nicht redet?«

»Dann fängst du eben damit an.«

»Wenn sie wenigstens Format hätte«, murmelte Viola.

»Dann wäre sie nicht hier erschienen. Aber du hast Format, du bist in der besseren Position. Manchmal rutschen Männer in so eine Affäre, die sie gleich wieder bereuen.«

»Und die Ehefrau soll vergessen und so weiterleben wie vorher?«

»Nein, das kann man wohl nicht«, meinte Fee sinnend. »Aber man kann einen Neubeginn finden auf einer besseren Basis. Es scheint doch so, dass Thomas bisher recht egoistisch an seine Karriere dachte und für dich allein die Rolle der Hausfrau und Mutter bestimmte. Es mag ihm nicht gefallen haben, dass du eine erfolgreiche Unternehmerin geworden bist.«

»Das gebe ich nicht mehr auf, nie mehr«, begehrte Viola auf. »Und jetzt bin ich doppelt froh, unabhängig zu sein. Es wäre gar zu demütigend, auf seine Unterhaltszahlungen angewiesen zu sein.«

Ja, stolz war sie schon immer, dachte Fee, und jetzt war sie erst recht nicht die Frau, die klein beigab, um ihre Ehe um jeden Preis zu retten, und dennoch …

»Nicht aus purem Trotz gleich alle Brücken abbrechen, Viola«, sagte Fee warnend. »Einer offenen Aussprache darfst du nicht aus dem Weg gehen.«

»Gut, ich werde alles überdenken.«

Daniel musste währenddessen seine Kinder bremsen, damit sie nicht Berge anhäuften mit all den Sachen, die ihnen gefielen. Aber für ihn war diese Begeisterung auch ein Beweis, wie gut sich Viola in Kinder hineinversetzen konnte und so den Geschmack hundertprozentig traf.

Qualität wurde bei den Stoffen großgeschrieben, die Farbzusammenstellung faszinierte auch ihn, und wenn auch modischer Schnickschnack einbezogen wurde, konnte man diesen als besonders ideenreich bezeichnen.

Als Fee und Viola nun zurückkamen, präsentierten sich alle fünf Kinder wie zur Modenschau.

»Bist du nun zufrieden, Mami?«, fragte Danny. »Hier kaufen wir immer ein, da macht es Spaß.«

»Aber nicht gleich zu viel auf einmal. Ihr wisst, wie schnell ihr aus allem herauswachst«, sagte Fee lächelnd.

»Dann kriegen unsere Waisenkinder aber auch hübsche Sachen«, sagte Felix.

»Welche Waisenkinder?«, fragte Benny.

»Die im Heim sind«, erwiderte Danny. »Da bringen wir alles hin, was uns nicht mehr passt. Die freuen sich vielleicht. Aber es sind ja sehr viele.«

»Warum sind sie im Heim?«, fragte Sandra.

»Weil sie keine Eltern mehr haben«, erklärte Felix.

»So arme Kinder«, flüsterte Sandra. »Nicht mal eine Mami haben sie? Da können wir unsere Sachen doch auch hinbringen.«

»Weihnachten machen wir immer ganz viele Pakete«, erzählte Danny. »Und Lenni backt Stollen und viele Plätzchen.«

»Machen wir das auch, Mami?«, fragte Sandra.

»Das wäre gleich ein bisschen viel für Hilde«, meinte Viola. »Aber Kleiderpakete dürft ihr auch machen. Bis Weihnachten ist ja noch Zeit.«

»Sechs Wochen noch«, sagte Danny. »In zwei Wochen ist schon der erste Advent, gell, das stimmt, Mami?«

»So ist es«, sagte Fee seufzend, »und dann ist bald wieder ein Jahr herum.«

Weihnachten, ein Zauberwort für die Kinder. Sie waren vollauf beschäftigt, sich gegenseitig ihre Wünsche aufzuzählen.

Und dann hörte Fee, wie Benny sagte: »Ich wünsche eigentlich bloß, dass Papi endlich mal wieder nach Hause kommt.«

Auch Viola hatte es vernommen. Sie zuckte zusammen und schloss die Augen.

*

Hilde Weber hatte sich mit der ersten Mahlzeit, die sie bereitet hatte, einen guten Einstand verschafft.

Die Grießnockerlsuppe war bestens gelungen und ebenso die hausgemachten Spätzle, mit denen sie den Geschmack aller Kinder getroffen hatte. Der Rostbraten war so zart, dass man nicht lange schneiden musste, und auch die Gemüsebeilagen waren appetitlich angerichtet.

Sie musste nur erst überredet werden, sich mit an den Tisch zu setzen. Viola sagte, dass sie das wünsche und dass dies auch beibehalten würde.

So konnte sie auch hören, mit welchem Lob ihre Kochkünste bedacht wurden, und ihre Wangen begannen zu glühen.

»Marianne konnte lange nicht so gut kochen, und sie hatte auch keine guten Manieren«, platzte Benny heraus. »Wir sind froh, dass wir dich haben, Hilde.«

Die Freundschaft war geschlossen, und die Nordens konnten sich beruhigt und zufrieden verabschieden, nachdem sie den Kofferraum vollgeladen hatten. Viola zögerte, den Scheck anzunehmen, den Daniel ausgeschrieben hatte.

»Dann kommen wir eben nicht wieder«, sagte er, »du hast die Wahl. Wir sind ja sehr gut weggekommen. Ausgenutzt wird Freundschaft nicht.«

»Ihr habt so viel für mich getan, was unbezahlbar ist«, sagte Viola leise.

»Sei nett zu Joana, sie wird dich nicht enttäuschen«, sagte Daniel noch. Fee und Viola umarmten sich. »Kopf hoch, Viola«, raunte Fee der Freundin zu.

»Kommt bald wieder«, riefen Benny und Sandra.

»Kommt ihr uns doch auch besuchen«, rief Danny zurück.

»Mami hat ja so wenig Zeit«, sagte Sandra bekümmert.

»Und wo ist eigentlich der Papi von Benny und Sandra?«, fragte Anneka auf der Heimfahrt.

»Im Ausland«, erwiderte Fee.

»Warum?«, fragte Felix, »wo sie doch hier genug zu tun haben.«

»Er hat einen anderen Beruf.«

»Ich wäre schön sauer, wenn unser Papi im Ausland sein müsste«, sagte Danny.

»Das würden wir uns nicht gefallen lassen«, brummte Felix.

»Kommt gar nicht infrage«, gab Anneka auch noch ihren Kommentar dazu.

Fee war still und nachdenklich. Erst, als die Kinder dann Lenni ausführlich berichteten, was sie alles erlebt hatten, konnte sie Daniel erzählen, was sie beschäftigte und beschwerte.

»Wenn Anderten so was macht, muss er saublöd sein«, sagte Daniel drastisch. »Aber manche Männer haben ja ein Brett vor dem Kopf.«

»Es muss ja nicht der Wahrheit entsprechen, Daniel. Es ist Viola unter die Haut gegangen, und sie ist total verschreckt. Also ist Thomas ihr nicht gleichgültig.«

»Wie würdest du dich denn verhalten, wenn dir so ein Biest ins Haus käme?«

»Ich würde sie freundlich bewirten, bis du nach Hause kommst und dann, mein Lieber, könntet ihr beide was erleben. Ja, früher, am Anfang unserer Ehe, hätte ich mich vielleicht auch ins Bockshorn jagen lassen, aber wenn man schon so lange verheiratet ist …«, sie geriet ins Stocken, und ein langes Schweigen folgte.

»Nun, mein Schatz, was hast du jetzt überlegt?«, fragte Daniel sanft.

»dass schon manche Ehe nach langen Jahren zerbrochen ist, weil es keine Gemeinsamkeit mehr gibt. Und vielleicht ist es doch besser, eine Trennung herbeizuführen, als sich anzuöden oder gar anzukeifen. Es ist nur ein Jammer, wenn Kinder darunter letztlich leiden müssen.«

»Kinder leiden oft mehr unter der Aggression zwischen den Eltern, die dann auch an ihnen abreagiert werden.«

»Das würde Viola niemals tun.«

»Sie wohl nicht, aber kennst du ihren Mann so gut?«

»Nein, ich weiß nur, dass Viola ihn sehr geliebt hat, und bei ihr ist das nicht so schnell vorbei.«

»Dann werden wir mal schön abwarten, wie sich das entwickelt. Jedenfalls ist sie jetzt entlastet. Frau Weber hat sich schnell in ihren neuen Wirkungskreis hineingefunden, der für sie befriedigender sein wird, als sich mit quengeligen Kundinnen zu befassen.«

»Sag ja nicht, dass ich quengelig bin.«

»Du bist eine rühmliche Ausnahme, in jeder Beziehung«, sagte Daniel zärtlich.

»Hast du an mir eigentlich nie was auszusetzen?«

»Lass mich mal überlegen.« Er sah sie eine Weile unausgesetzt an und runzelte dabei die Stirn. »Ich finde nichts, Feelein«, meinte er seufzend. »Untersteh dich, solche Ohrstecker zu tragen.«

»Ich trage doch gar keine«, erwiderte sie bestürzt.

»Wäre auch ein Jammer um diese hübschen Ohrläppchen«, sagte er mit einem leisen Lachen.

»Und dich soll man ernst nehmen«, scherzte sie.

»Ich bitte darum, Frau Norden. Es würde mich ernsthaft kränken, wenn du mich nicht ernst nehmen würdest.«

*

Für den Rest dieses Tages war auch Viola von trüben Gedanken abgelenkt. Die Kinder waren recht aufgedreht, beteuerten aber auch immer wieder, wie schön es gewesen sei, und auch Hilde bekam öfter gesagt, wie gut das Essen schmecken würde.

Am Abend hatte sie ihnen dann noch eine ganz köstliche Quarkspeise mit Früchten vorgesetzt, da dieser in Mengen vorhanden und Hilde als sparsame Hausfrau wusste, dass er nicht ewig halten würde.

Das sagte sie dann auch Viola. »Ich habe mich wenig darum gekümmert, Hilde«, gestand Viola ein, »und Marianne hatte wohl nicht den richtigen Überblick. Die Küche überlasse ich Ihnen gern ganz und auch das Einkaufen.«

»Wir sollten dann aber doch einen Essensplan machen«, schlug Hilde vor. »Ich weiß ja noch nicht, was Sie gern mögen.«

»So, wie Sie kochen, mögen wir bestimmt alles. Fragen Sie die Kinder.« Sie blickte auf. »Ich bin sehr froh, dass Sie zu uns gekommen sind.«

»Und ich bin glücklich, dass Sie mich genommen haben. Hoffentlich erfährt hier niemand etwas von Paul. Es ist so deprimierend.«

»Sie trifft doch keine Schuld, Hilde.«

»Die Psychologen sagen aber, dass nicht die Erbmasse, sondern die Umwelt den Charakter formt.«

»Ich meine, dass man damit sehr vorsichtig sein sollte. Wie kommt es dann, dass Geschwister, die unter den gleichen Bedingungen aufwachsen, sich so verschieden entwickeln können. Ich habe früher schon öfter solche Beobachtungen gemacht.«

»Paul hat sich ja erst so negativ entwickelt, seit er in diese schlechte Gesellschaft geraten ist. Und ich konnte mich nach dem Tod meines Mannes nicht mehr so viel um ihn kümmern. Ich überlege immerzu, wieso er so tief in diesen Dreck geraten konnte.« Ihre Stimme bebte. »dass er nicht ein bisschen daran dachte, was er mir antut.«

Ob Thomas auch nicht daran dachte, was er mir antut, fragte sich Viola.

»Man fragt sich manchmal, was einen Menschen verändert, Hilde«, sagte sie leise. »Man kann nicht alles verstehen, das wäre ja übermenschlich. Ich hoffe sehr, dass Sie bald wieder lachen können. Mit den Kindern brauchen Sie nicht zu nachsichtig zu sein. Sie sollen beizeiten lernen, dass sie nicht alles bekommen, was sie sich gerade mal wünschen. Und ich hoffe, dass Sie sich mit Joana gut verstehen werden. Sie hat viel durchgemacht und ist ein sehr liebes Mädchen.«

»Vielleicht wäre es besser gewesen, meine Schwester hätte ein Mädchen zur Welt gebracht«, sagte Hilde nachdenklich. »Mädchen lassen sich leichter erziehen.«

»Davon bin ich nicht überzeugt. Schauen Sie mal in die Zeitung, Hilde, wie viel Frauen kriminell werden. Denken Sie jetzt nicht mehr so viel nach. Nun schlafen Sie gut in der ersten Nacht im fremden Bett. Und merken Sie sich, was Sie träumen. Man sagt, es geht in Erfüllung.«

»Wenn ich träume, sind es nur schlechte Sachen«, erwiderte Hilde.

Aber in dieser Nacht träumte sie gar nicht, oder sie konnte sich am Morgen nicht mehr daran erinnern, weil sie so tief und gut geschlafen hatte, wie schon lange nicht mehr.

*

Joana hatte in dieser letzten Nacht in ihrem bescheiden möblierten Zimmer einen ganz seltsamen Traum gehabt, an den sie sich aber erst später erinnern sollte. Sie war jetzt viel zu aufgeregt, um sich erinnern zu wollen, was in dem Traum geschehen war.

Die Koffer waren gepackt, ihre Miete hatte sie bezahlt. Wie denn ihre neue Adresse sei, hatte die Vermieterin neugierig gefragt.

»Ich weiß es noch nicht«, redete sich Joana heraus. »Post bekomme ich ja sowieso nicht.«

»Na, dann viel Glück auf dem weiteren Weg«, sagte die Frau. Joana bedankte sich und schleppte die Koffer die Treppe hinunter. Sie waren verflixt schwer, denn nicht nur Kleider befanden sich darin, sondern auch einige andere Habseligkeiten, an denen ihr Herz hing.

Sie hatte Glück. Ein Taxi kam gerade vorbei und hielt an.

Sie ließ sich zum Bahnhof bringen. Dort bot ihr ein junger Mann seine Hilfe an, aber er schien Joana nicht vertrauenswürdig. Sie nahm lieber einen Kofferkuli und war dann heilfroh, als sie die beiden Koffer in den Waggon gehievt hatte.

Als sie am Ziel angelangt war, sah sie Viola und die Kinder am Bahnsteig stehen. Heiße Freude durchflutete sie. Damit hatte sie nicht gerechnet.

»Herzlich willkommen«, sagte Viola.

»Sie wussten doch gar nicht, mit welchem Zug ich komme«, stammelte Joana verlegen.

»Viel Auswahl gibt es ja nicht«, lächelte Viola, und als sie die beiden Koffer anhob, rief sie aus: »Liebe Güte, wie hätten Sie da weiterkommen wollen, Joana. Mit ist es heute Morgen in den Sinn gekommen, dass ich Sie auch in München hätte abholen können.«

»Sie sind zu liebenswürdig«, flüsterte Joana.

»Sie hätten natürlich auch ein Taxi auf Geschäftskosten nehmen können«, meinte Viola.

»Aber das wird doch entsetzlich teuer. Bis zum Bahnhof hat es schon mehr als zehn Euro gekostet.«

»Zehn Euro sind viel«, warf Benny ein. »Hier gibt es Taxis nur auf Bestellung.«

»Ja, am Sonntag möchte man meinen, wir wären am Ende der Welt«, sagte Viola lächelnd. »Haben Sie den Führerschein, Viola?«

»Nein, ein Auto hätte ich mir ja nicht leisten können.«

»Den Führerschein werden Sie bald machen. Hier werden Sie ihn brauchen. Nun, wir besprechen noch alles.«

»Gestern haben wir Hilde bekommen und heute Joana«, wisperte Sandra. »Hast du auch schon einen Freund, mit dem du abends ausgehst, Joana?«

»O nein«, erwiderte Joana errötend.

»Seid nicht so neugierig«, sagte Viola.

»Wir wollten ja bloß mal fragen. Aber so einer wie der von Marianne würde Joana nicht gefallen«, stellte Benny fest.

Was er sich schon alles denkt, ging es Viola durch den Sinn, und instinktiv hatte zumindest Benny es schon erfasst, dass Joana mit Marianne nicht auf eine Stufe zu stellen war.

Ein Zweifel konnte auch nicht mehr aufkommen, dass Hilde und Joana sich verstehen würden, als die beiden sich begrüßten. Ein mütterliches Lächeln legte sich um Hildes Mund.

Dann saßen sie gemeinsam am Tisch. Lecker hatte Hilde wieder gekocht. Mit den Zutaten brauchte sie hier ja nicht zu sparen, und da machte ihr das Kochen doppelten Spaß. Kuchen hatte sie auch gebacken. Der Duft zog durch das ganze Haus. Die Kinder schleckten sich schon die Mäulchen, obgleich sie wahrhaftig genug gegessen hatten.

Aber nun wurden erst Joanas Koffer hinaufgebracht in ihr Zimmer.

»Ist das hübsch«, sagte sie atemlos. »Und dieser herrliche Blick auf den Wald. Nicht mehr auf Mauern und Hinterhöfe«, fügte sie gedankenverloren hinzu.

»Ja, man kann sich wohlfühlen, und man gewöhnt sich schnell ein«, sagte Hilde.

»Jetzt packen Sie Ihre Koffer aus«, sagte Viola, »und nachher trinken wir dann gemütlich Kaffee.«

»Ich habe den Kindern etwas mitgebracht«, sagte Joana. »Hoffentlich gefällt es.«

Bezaubernde Wollmützen waren es, in einer ganz ungewohnten Strickart.

»Sagen Sie nur, dass Sie die selbst gemacht haben!«, rief Viola aus. »So was bekommt man doch nicht zu kaufen.«

»Ich habe mir gestern damit die Zeit vertrieben. Es geht ja rasch mit der Wolle.«

»Damit könnten Sie aber gut verdienen, Joana«, sagte Viola. »Das ist doch was Besonderes.«

»Solche Mützen hat schon meine Mutter gestrickt, aber viel hat sie damit nicht verdient. Wenn sie den Kindern gefallen, mache ich ihnen auch Jacken dazu.«

Viola schüttelte leicht den Kopf. »Wann denn, Joana? Sie werden hier genug zu tun bekommen und brauchen dann auch Ruhe.«

»Die Winterabende sind ja so lang, und hier ist es so warm und gemütlich.«

So viel Bescheidenheit gibt es also doch noch, dachte Viola.

Sie schenkte Joana ein weiches Lächeln.

Später konnte sich Joana über die Begeisterung der Kinder freuen, als sich die beiden die Mützen gleich aufsetzten.

»Sind die schön!«, rief Sandra aus.

»Und so weich und mollig«, schloss Benny sich gleich an.

Sie ist so hübsch und so geschickt, dachte Hilde, und noch so wundervoll jung. Ja, da kann man sich noch ein neues Leben aufbauen. Aber plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie doch auch schon dabei war, noch einmal ein neues Leben anzufangen, und dass sie früher auch so gern Handarbeiten gemacht hatte. Für Paul hatte sie auch noch gehäkelt und gestrickt. Würde sie je darüber hinwegkommen, dass der Junge sich so ganz anders entwickelt hatte, als sie hoffte? Nun ja, eigensinnig war er immer gewesen, aber das waren andere Kinder im Entwicklungsalter auch, ohne auf die schiefe Bahn zu geraten.

Benny kam zu ihr. »Warum bist du so traurig, Hilde?«, fragte er. »Weil du nicht solche Mützen stricken kannst, vielleicht? Dafür kannst du aber gut kochen und backen.«

Sie strich ihm durch das Haar. »Ihr seid lieb«, sagte sie leise.

»Kriegen wir nun endlich Kuchen?«, rief Sandra.

*

Ja, es war ein guter Anfang für beide geworden, und am nächsten Morgen stürzte sich Joana gleich voll in die Arbeit.

Herta Töpfer lächelte zufrieden, als sie mittags zu Viola ins Atelier kam.

»Ich habe ja gesagt, dass sie alles mitbringt«, erklärte sie. »Das flutscht nur so, da braucht man nicht viel zu reden.«

Viola blickte auf. »Sie sind zufrieden, ich bin zufrieden, was wollen wir noch mehr? Man kann ja auch mal Glück haben.«

Und für mich ist das vielleicht das Zuckerl, das mir der liebe Gott geschenkt hat, damit es nicht gar so hart wird, wenn Thomas für immer geht, dachte sie weiter. Aber warum hat er nicht den Mut, die Konsequenzen zu ziehen?

Wo ist er denn überhaupt? Ist er vielleicht krank und kann deshalb nicht schreiben?

Sie stützte den Kopf in die Hand. Jetzt fehlt es noch, dass ich mir Sorgen um ihn mache, dachte sie.

Zehn Jahre, wir kennen uns doch bereits zehn Jahre, dachte sie weiter. Und das angebliche verflixte siebte Jahr der Ehe haben wir doch schon hinter uns. Ach was, das ist alles hausgemacht. So ein dummes Gerede, das man sich zu eigen macht, und so manchmal schafft man sich dann selbst die Probleme, weil es eben zum siebten Jahr dazugehören soll. Ich habe da doch überhaupt noch nicht gedacht, dass es mit uns mal schiefgehen könnte.

Aber so, wie es in den letzten Monaten war, das war doch schon keine Ehe mehr. Ob es bei Männern auch eine Midlife-Krise gab? Thomas wurde nächstes Jahr vierzig, und er hatte sich zum Ziel gesetzt, da ganz oben zu sein. Ja, das hatte er früher manchmal gesagt. Wie hatte er es doch gesagt?

»Wenn man es bis dahin nicht geschafft hat, schafft man es nie, und dann wird man auch nicht mehr akzeptiert und schon bald zum alten Eisen geworfen.« Und gepasst hatte es ihm schon gar nicht, dass sie die Firma gegründet hatte. Hatte sie ihn dadurch erst recht von sich weggetrieben?

Als die Tür aufgestoßen wurde, schrak sie empor. Benny stand da.

»Das Essen ist längst fertig, Mami. Kommt ihr jetzt endlich? Wenn du nicht kommst, kommt Joana auch nicht. Alle machen schon Mittagspause, nur ihr arbeitet noch.«

»Ich habe vergessen, wie spät es ist«, erwiderte Viola.

»Deine Uhr geht aber richtig«, sagte Benny.

*

Herbststürme brausten durch das Land. Schnee und Regen und die Temperaturen wechselten von einem Tag zum anderen, und die Ärzte bekamen noch mehr zu tun. Da kamen nicht nur die Erkältungen, auch die Kreislaufstörungen machten sich mehr und mehr bemerkbar. Freilich konnte man viel auf das Wetter schieben, aber so mancher hatte auch vergessen, andere Anzeichen, die eine Warnung sein sollten, zu beachten.

Fee bekam ihren Mann tagsüber auch selten zu Gesicht, und manchmal war er abends so müde, dass er buchstäblich ins Bett fiel und im Handumdrehen einschlief.

Aber sie brauchte sich keine bangen Fragen zu stellen, wie Viola. Sie hörte immer wieder die paar Worte von ihm: »Endlich wieder zu Hause, wie gut das ist, Fee!«

Solche Worte hatte Viola von Thomas nie gehört. War er wirklich mal daheim gewesen, umkreisten seine Gedanken schon neue Pläne. Ja, es war seine Rastlosigkeit gewesen, die Viola schließlich veranlasste, ihm und sich selbst zu beweisen, dass man auch mit Besonnenheit erfolgreich werden konnte.

Vergebens wartete sie jedoch auch die nächste Woche auf eine Nachricht von ihm, und es gelang ihr, sich ganz auf die Arbeit zum einen und auf die Stunden mit den Kindern zum anderen zu konzentrieren. Aber dann kam das Telegramm, das sie in fieberhafte Unruhe stürzte.

Eintreffe 25.11. 13 Uhr München. Alles mündlich. Thomas.

Viola hatte solche Telegramme schon öfter bekommen, nachdem sie länger nichts von ihm gehört hatte, aber so lange wie diesmal hatte das Schweigen nicht gedauert, denn in der Vergangenheit waren zwischenzeitlich doch Briefe, wenn auch kurze, eingetroffen.

Den Kindern sagte sie nichts von dem Telegramm. Sie war entschlossen, pünktlich am Flughafen zu sein, um ihn dort zu empfangen, und auch gleich an Ort und Stelle alles zu klären. Sie wollte ihn anhören, aber die Kinder sollten davon nichts mitbekommen. Sie fragten jetzt nicht mehr, ob der Papi Weihnachten heimkommen würde. Seit Hilde und Joana im Haus waren, hatte sich manches verändert und nur zum Guten, wie Viola feststellen konnte. Und nun herrschte schon die Vorfreude auf das Weihnachtsfest, verbunden mit all den kleinen Heimlichkeiten. So aufregend schön waren die Tage für Benny und Sandra ja noch nie gewesen.

Da buk Hilde Plätzchen, und sie durften dabei helfen, da wurde mit Joana gebastelt, und die Mami sollte überrascht werden, und Hilde erinnerte sich gar all der alten Gedichte, die sie einmal als Kind gelernt hatte. Jetzt lernten Benny und Sandra eifrig.

Für Viola war Joana eine echte Entlastung, denn die Aufträge überfluteten sie förmlich. Allen Nachbestellungen konnten sie nicht mehr gerecht werden, aber Joana saß manchmal bis in die Nacht hinein selbst an der Maschine und ließ sich davon auch nicht abbringen.

»Zu Hause bei uns war es auch so«, sagte sie, wenn Viola sie ermahnte, endlich Schluss zu machen. »Sie sind so gut zu mir, ich bin dankbar, und wie soll ich es sonst beweisen?«

»Möchten Sie nicht mal ausgehen, Joana, wenigstens am Wochenende?«, fragte Viola.

»Da kann ich doch mit den Kindern spielen«, erwiderte Joana. »Ich habe hier viel Freude. Alle sind nett zu mir. Sie wissen doch, warum ich nach Deutschland kam. Da war ich voller Illusionen, aber hier bin ich glücklich.«

Wunschlos glücklich? Konnte man das mit fünfundzwanzig jungen Lebensjahren sein?

»Darf ich Sie etwas fragen, Joana?«

»Alles.«

»Haben Sie jenen Mann sehr lieb gehabt?«

Joanas Blick schweifte in die Ferne. »Er kam aus einer anderen Welt, von der man uns viel erzählte, und er konnte sehr gut reden. Ich hatte einen solchen Mann nie kennen gelernt. Es war neu und auch aufregend, aber ich ahnte ja nicht, was er mit mir vorhatte. Ich dachte tatsächlich, dass er mich liebt, aber er wollte nur meinen Körper vermarkten. Immerhin war er so fair, mich nur eine dumme Gans zu schelten. Ich habe inzwischen begriffen, dass mir Schlimmeres hätte geschehen können. In einem armen Land hat man ja keine Ahnung, was alles so vor sich geht in der Welt, in diesen großen Städten. Nach dem Schock kommt die Angst, verstehen Sie das?«

»Ja, ich verstehe das sehr gut, Joana, aber dennoch muss ich noch einmal eindringlich sagen, dass Sie nicht so viel arbeiten sollen.«

»Ich tue es sehr gern, und Sie bezahlen mich sehr gut dafür, aber mehr zählt doch, dass ich ein Zuhause gefunden habe, ein richtiges Zuhause.«

Thomas hatte ein Zuhause nicht vermisst, dachte Viola wieder, aber es wurde ihr nicht bewusst, dass sie sich mit solchen Gedanken schon wappnete, um dann, wenn er kam, die Kraft aufzubringen, es ihm auch so konsequent zu sagen, wie sie es sich vorgenommen hatte.

Sie führte an diesem Tag noch ein langes Telefongespräch mit Fee. Sie sagte, wie gut sie sich alle verstünden und wie fleißig Joana war.

»Sie ist nicht nur ein Talent, sie kann organisieren und rationalisieren. Ja, sie könnte diesen Betrieb leiten. Es ist ein großer Lichtblick in diesem Dilemma, Fee.« Und dann sprach sie über Thomas und wie sie es geplant hatte.

»Du willst ihn gar nicht zu den Kindern lassen?«, fragte Fee bestürzt.

»Wozu soll das gut sein? Es verdirbt den Kleinen die Weihnachtsstimmung. Sie sind jetzt so voller Vorfreude, und Hilde versteht es meisterhaft, sie zu beschäftigen. Dann bastelt Joana mit ihnen, und überhaupt sehe ich nichts Gutes, wenn Thomas pro forma Weihnachten dabei sein will.«

»Höre ihn an, Viola«, sagte Fee eindringlich. »Verschanz dich nicht hinter Trotz. Bedenke, dass sich alles anders verhalten könnte als die Bertram sagte.«

»Ich bin bereit, ihn anzuhören, aber alles schlucke ich nicht mehr hinunter, Fee.«

Nun, das konnte Fee ihr nicht verdenken. Alle Geduld, alle Toleranz hatte Grenzen. Sie würde wohl auch nicht anders handeln, aber sie war heilfroh, dass sie solchen Konflikten nicht ausgesetzt war. Sie konnte nicht verstehen, dass Thomas Anderten seine Ehe aufs Spiel gesetzt hatte.

*

Der entscheidende Tag war gekommen. Viola war pünktlich am Flughafen. Zuhause hatte sie gesagt, dass sie geschäftliche Dinge in der Stadt erledigen müsse. Sie wusste die Kinder gut behütet und die Werkstatt bestens betreut von Herta Töpfer und Joana. Zwischen den beiden gab es nicht die kleinsten Differenzen. Und nur Joana ahnte, dass Viola von zwiespältigen Gefühlen bewegt war, als sie wegfuhr. Sie hatte ein besonderes Gespür dafür, und sie wusste ja inzwischen auch schon, dass in dieser Ehe manches nicht stimmte. Ihre Zuneigung für Viola war so groß, dass sie voller Verachtung für Thomas Anderten war, ohne ihn zu kennen.

Für Viola jedoch brach die schwerste Stunde ihres Lebens an, als das Flugzeug gelandet war und sie nun die Minuten zählen konnte bis zum Wiedersehen.

Als sie Thomas kommen sah, setzte ihr Herzschlag aus. Sein Gesicht war gelblichfahl und übermüdet. Die Augen waren tief umschattet. Sie war so erstarrt, dass sie sich gegen seine Umarmung nicht wehren konnte.

»Lieb von dir, dass du mich abholst«, sagte er heiser.

»Ich wäre nicht hier, wenn es zwischen uns nicht etwas zu klären gäbe«, stieß sie hervor.

Er zuckte zusammen. »Ich konnte nicht schreiben, Viola«, murmelte er. »Wir waren abgeschirmt. Es war eine teuflische Zeit. So etwas mache ich nicht wieder mit.«

Sie merkte, wie nervös er war, wie er sich ängstlich umblickte, und das vertrieb die momentane Schwäche in ihr.

»Wir werden uns an einem ruhigen Platz unterhalten«, sagte sie mit gekünstelter Ruhe.

»Wollen wir nicht heimfahren?«, fragte er.

»Heim? Ist das je ein Zuhause für dich gewesen, Thomas?«

»Man könnte sagen, dass es vor allem dein Zuhause ist, dein ererbtes, vertrautes Zuhause«, erwiderte er.

Nun geht es los, dachte sie aggressiv. Jetzt schiebt er mir erst die Schuld zu.

Dann war er kurzfristig abgelenkt. »Du hast ja einen neuen Wagen«, stellte er fest, als sie die Tür aufschloss.

»Ja, der alte war schrottreif, und ich bin ziemlich viel unterwegs. Das Geschäft floriert.«

Vielleicht war es falsch, dass sie dies sobald sagte, aber sie machte sich jetzt darüber schon keine Gedanken mehr. Sie hielt vor einem hübschen Gasthof an. »Hier kann man sehr gut essen«, erklärte sie.

»Ich hatte mir alles doch ein bisschen anders vorgestellt«, sagte er heiser. »Warum hast du die Kinder nicht mitgebracht?«

»Sie sind gut aufgehoben. Ich habe eine neue, sehr zuverlässige Haushälterin. Warum hast du dich eigentlich nicht von Sonja Bertram abholen lassen?«

Er wich einen Schritt zurück. »Also deswegen bist du so aggressiv«, sagte er tonlos. »Sie war bei dir. Ich möchte es dir erklären, Viola.«

»Ja, darauf warte ich. Und deshalb sind die Kinder auch nicht mitgekommen. Sie wissen gar nicht, dass ich dich abhole.«

Dann herrschte Schweigen, bis sie sich an einem kleinen Tisch in einer Nische niedergelassen hatten.

»Du hast den Kindern nicht gesagt, dass ich komme?«, fragte Thomas stockend.

»Nein. Hätte ich ihnen vielleicht auch verkünden sollen, dass du in Bälde wieder Vater wirst, dieses Kind aber eine andere Mutter haben wird?«

Sie konnte ihr Temperament nicht zügeln. Der Stachel saß zu tief in ihr.

»Ich bedaure das, Viola«, murmelte er. »Es war eine blöde Situation. Ich hatte ein bisschen zu viel getrunken, und sie hatte es darauf angelegt.«

»Willst du es jetzt etwa als einen einmaligen Ausrutscher hinstellen«, stieß Viola hervor.

»Du würdest es mir ja doch nicht glauben, wenn ich das sage. Mein Gott, lass uns doch vernünftig darüber sprechen.«

»Haben die Herrschaften schon gewählt?«, fragte die Bedienung höflich.

Für Viola war es eine Ablenkung, um nun wieder ruhiger zu werden. Sie überflog die Speisekarte.

»Eine Lauchcremesuppe und das Rehfilet«, sagte sie.

»Mir bitte das Gleiche«, sagte Thomas.

»Getränke?«, fragte die Bedienung.

»Zwei Sherry und mir ein Mineralwasser«, erwiderte Thomas.

»Mir einen Edelzwicker«, sagte Viola.

»Seit wann trinkst du mittags Wein?«, fragte Thomas erstaunt.

»Warum nicht? Ich bin auf den Geschmack gekommen, aber du brauchst nicht denken, dass ich dem Alkohol verfallen bin vor lauter Kummer«, erwiderte Viola ironisch.

Er starrte sie an. »Du hast dich sehr verändert, Viola.«

»Du dich auch«, konterte sie. »Aber du brauchst nicht denken, dass ich in Tränen ausbrechen werde. Ich verlange auch keine Beichte. Du kannst die Scheidung haben, ohne jede Schwierigkeit.«

Ein Zucken lief über sein Gesicht. »Ich will keine Scheidung. Ich weiß ja gar nicht mal, ob es wirklich stimmt, dass Sonja ein Kind erwartet. Vielleicht wollte sie mir auch nur ein Kuckucksei ins Nest legen, um Geld herauszuschlagen. Das ist doch auch so eine Masche, die um sich greift, wenn ein Mann zahlungsfähig ist und einen Ruf zu wahren hat. Und sicher ist das auch schon anderen Männern widerfahren, ohne dass die Ehefrau davon informiert wurde, ohne dass die Ehe darunter litt.«

»Du hast eine seltsame Einstellung. Könntest du tatsächlich mit solcher Täuschung leben, Thomas? So, als wäre nichts geschehen?«

»Ich wollte ja mit dir darüber sprechen. Ich konnte nicht ahnen, dass Sonja mir zuvorkommen würde.«

»Sie braucht Geld«, sagte Viola kalt. »Sie dachte, ich würde ihr etwas geben, sie vielleicht sogar anflehen, das Kind abtreiben zu lassen. Sie hat recht dumm geschaut, als ich ihr sagte, dass sie dich haben kann.«

Ein Zucken lief über sein Gesicht. »So wenig bedeuten dir also die Jahre unserer Ehe, unserer Liebe«, stöhnte er.

»Ich habe dich nicht betrogen, Thomas.«

»Du hast dich als Unternehmerin bewiesen, um mir zu zeigen, dass du ohne mich auskommst.«

»Und ich bin froh darüber, dass ich unabhängig bin von deinem Geld. Du brauchst keinen Unterhalt für mich und die Kinder zu zahlen.«

»Mein Gott, denkst du, ich lasse mir die Kinder einfach wegnehmen, ganz und für immer?«

»Wann hast du dich denn schon um sie gekümmert? Dein Stippvisiten können wir ja mal zusammenzählen.« Sie unterbrach sich plötzlich, weil sie meinte, Fees mahnende Stimme zu vernehmen, Ruhe zu bewahren und ihn anzuhören. Aber dazu war es nun schon zu spät.

»Es hat keinen Sinn, dass wir jetzt streiten«, sagte Thomas ziemlich deprimiert. »Ich lasse mich nicht scheiden. Benny und Sandra sind nicht nur deine Kinder, sie sind auch meine Kinder, und ich will sie sehen.«

»Wenn du das versuchst, werde ich ihnen sagen, dass eine andere Frau ein Kind von dir erwartet, und das meine ich ernst, Thomas. Ich will nicht, dass die Kinder einen Knacks bekommen, aber vielleicht kommt es dir doch zu Bewusstsein, wie demütigend diese Affäre für mich ist. Ich denke, du solltest Frau Bertram aufsuchen, und dann wird sich schon herausstellen, was du zu erwarten hast. Ich fände es höchst unfair, wenn du die Kinder in diesen Schmutz auch noch hineinziehen würdest.«

»Du bist so unversöhnlich, so gar nicht bereit, zu verzeihen, Viola.«

»Ich habe dich geliebt«, sagte sie tonlos. »Ich habe dich wirklich geliebt und viel hingenommen. Aber das war zu viel. Ich gehöre nicht zu der Kategorie Frauen, die die Ehe als Versorgung betrachten und alles schlucken, um die finanzielle Sicherheit nicht zu verlieren. Und ich lasse mich nicht mit einer Sonja Bertram auf eine Stufe stellen.«

Schweiß trat auf Thomas’ Stirn. Seine Hand zitterte, als er mit dem Taschentuch darüber fuhr.

»Du bist so hart, Viola«, flüsterte er. »Ich habe einen entsetzlichen Fehler gemacht, das weiß ich, aber es war wirklich nichts als ein Ausrutscher. Ich kann nicht mal sagen, wie das geschehen konnte. Aber jetzt hat es wohl keinen Sinn, darüber zu sprechen. Ich kann dich nur bitten, alles nochmals zu überdenken. Ich denke jedenfalls nicht daran, in eine Scheidung einzuwilligen, auch nicht daran, Sonja zu heiraten. Niemand und nichts kann mich dazu zwingen. Und wenn sie wirklich ein Kind erwartet, werde ich feststellen lassen, ob ich tatsächlich der Vater dieses Kindes bin. Ich kann mich nicht einmal genau erinnern, was in jener Nacht geschehen ist. Wenn ich mich nur daran erinnern könnte!«

»Ich bin nicht neugierig, Einzelheiten zu erfahren«, sagte Viola.

Das Essen war fast unberührt geblieben. Die Bedienung erkundigte sich erschrocken, ob es den Herrschaften nicht geschmeckt hätte.

»Es fehlt am Appetit, es muss am Wetter liegen«, erklärte Viola.

»Ja, es klagen viele Gäste. Ist ja auch verrückt. Ein Tag so, den anderen so.«

Einmal so, einmal so, welch einfache Erklärung!

»Es gibt ja noch unsere Stadtwohnung, Thomas«, sagte Viola. »Ich bringe dich hin.«

»Danke, bemühe dich nicht, ich kann mir ein Taxi nehmen.«

Er machte einen kranken Eindruck. In Viola regte sich etwas wie Beklemmung.

»Sei nicht kindisch. Ich will doch nur, dass die Kinder aus dieser Geschichte herausgehalten werden«, sagte sie dennoch. »Und ich will nicht, dass schmutzige Wäsche gewaschen wird.«

»Du ahnst nicht einmal, wie mir zumute ist«, sagte er dumpf.

»Hast du darüber nachgedacht, wie mir zumute sein mag, wenn du immer so lange fern warst?«

»Es ist bitter, gerade zu dem Zeitpunkt, an dem man sein Ziel erreicht hat, einen solchen Schuss vor den Bug zu bekommen. Als ich das letzte Mal zu Hause war, hast du dich ja auch nur um dein Geschäft gekümmert. Für meinen Beruf hast du doch kein Interesse aufgebracht.«

»Ich weiß ja nicht mal, woran du arbeitest.«

»Ich darf darüber nicht sprechen.«

Ihre Augen wurden schmal. »An Vernichtungswaffen etwa? Ich habe mir schon Gedanken gemacht, Thomas. Aber ich habe auch überlegt, ob ein Mann, der Kinder hat, dafür so viel Zeit zu opfern, etwas zu entwickeln, das Leben vernichtet. Auf solchen Ruhm wäre ich nicht stolz.«

»Gib mir jetzt etwas Zeit, Viola«, sagte er leise. »Es ist alles ein biss­chen viel für mich. Ich verkrafte auch den Klima- und den Zeitunterschied nicht so rasch. Brich doch bitte nicht gleich alle Brücken zwischen uns ab. Ich liebe dich doch, und ich liebe die Kinder.«

»Und das fällt dir jetzt ein«, sagte sie. »Es ist sehr lange her, dass ich solche Worte hörte. Jetzt höre ich sie, allein mir fehlt der Glaube!«

»Und weißt du, was ich denke? Es spricht die Karrierefrau«, sagte er müde. »Schluss für heute. Am nächsten Taxistand steige ich aus.«

»Wie du willst«, sagte Viola.

*

Thomas hatte sich zur Stadtwohnung fahren lassen. Er hatte darauf bestanden, sie beizubehalten, als Viola sich entschlossen hatte, ihr Elternhaus als Wohnsitz zu nehmen. Damit die Kinder nicht die stickige Stadtluft atmen müssten, hatte sie gesagt, aber schon ein Jahr später hatte sie die Halle, in der ihr Großvater eine Weberei betrieben hatte, als Werkstatt umbauen lassen.

Die komfortable Dachterrassenwohnung war in ordentlichem Zustand, nur nicht gelüftet. Thomas riss die Fenster auf, aber es strömte so eisige Luft herein, dass er schnell fror. Er stellte die Heizung an. Das Wasser im Bad wurde auch nicht so schnell warm. Er hüllte sich in warme Decken und kroch ins Bett, unfähig, klare Gedanken zu fassen oder gar einen Entschluss.

Es erschien ihm alles auch so unwirklich, fast so wie ein schwerer Traum, und er war entsetzlich müde.

Bleiern schwer wurden seine Glieder, und dann fühlte und dachte er nichts mehr.

*

Wenn er nun krank ist und niemand sich um ihn kümmert, dachte Viola indessen. Schlecht hatte Thomas ausgeschaut, so gelb und faltig, viel älter geworden!

Da sie sich nun nicht mehr herausgefordert fühlte, kamen ihr Gewissensbisse. Was immer auch geschehen war, sie war acht Jahre mit ihm verheiratet, und zehn Jahre kannte sie ihn bereits, und er war der Vater ihrer Kinder, der Mann, der einzige Mann, den sie je geliebt hatte. Nicht mal richtig verliebt war sie gewesen, bevor sie Thomas kennen gelernt hatte.

Auf der Heimfahrt hatte sie überlegt, ob sie Fee aufsuchen solle, aber das hatte sie dann doch von sich gewiesen, denn Fee sollte nun nicht denken, dass sie von ihr als seelischer Mülleimer betrachtet würde.

Als sie dann aber heimkam, sagte Hilde, dass eine Frau Bertram angerufen hätte.

Unwillkürlich kam es Viola in den Sinn, dass Thomas schon mit Sonja gesprochen hätte, und wieder war sie voller Abwehr.

»Sie will später nochmals anrufen«, sagte Hilde. »Sie sehen so erschöpft aus, Frau Anderten. Wollen Sie sich nicht ein bisschen hinlegen? Die Kinder sind drüben bei Joana. Sie haben es jetzt schrecklich wichtig mit ihren Basteleien. Aber Sie brauchen nicht gleich zu erschrecken. Joana hat eine Engelsgeduld. Sie ist ja so ein liebes Geschöpf. Wenn ich doch solche Tochter gehabt hätte.«

Violas Blick wanderte in eine imaginäre Ferne. »Ihr beide seid für mich ein rechter Halt«, sagte sie leise. »Ja, ich lege mich eine halbe Stunde hin. Wenn diese Frau Bertram anruft, wecken Sie mich.«

Schlafen konnte sie aber nicht. Sie blickte immer wieder auf die Uhr, die auf der Konsole stand. Und dann hörte sie, wie das Telefon läutete.

Es war Sonja Bertram. Hilde stellte das Telefon durch. »Ich wollte Sie bitten, Thomas nichts von meinem Besuch bei Ihnen zu sagen, Frau Anderten«, sagte Sonja hastig. »Er muss dieser Tage zurückkommen. Ich denke schon, dass wir uns einigen können.«

»Tun Sie das, Frau Bertram«, sagte Viola. »Er ist heute Nachmittag angekommen, und Sie werden ihn wohl in der Stadtwohnung erreichen. Die Adresse dürfte Ihnen ja bekannt sein. Und mich verschonen Sie bitte künftig.« Dann legte sie den Hörer auf.

Nun ist mir der Gaul doch wieder durchgegangen, dachte sie. Viel zu impulsiv war sie immer noch. Das hatte ihr schon ihre Mutter vorgehalten, und Fee hatte es ihr auch zu verstehen gegeben. Aber sie konnte nun mal nicht aus ihrer Haut heraus.

Nun, warum sollte sie sich darüber auch Gedanken machen. Das war ja nun wirklich eine Sache, die Thomas mit Sonja Bertram allein ausfechten musste.

Doch kaum hatte sie das gedacht, regte sich wieder ihr Gewissen, dass Thomas tatsächlich krank sei und Hilfe brauchen könnte. Und nun wählte sie die Nummer der Stadtwohnung, aber sie vernahm das Besetztzeichen.

So schlecht kann es ihm also doch nicht gehen, dachte sie trotzig, nicht ahnend, dass Thomas jetzt gerade versuchte, Sonja anzurufen, um mit ihr klar zu kommen. Aber auch er bekam das Besetztzeichen zu hören, denn zur gleichen Zeit versuchte nun Sonja, ihn anzurufen. Es überschnitt sich, aber Sonja hatte keine Geduld. Ihr genügte es, zu wissen, wo sie ihn finden könnte. Sie setzte sich in ihren Wagen und fuhr los.

Thomas wurde es währenddessen in der Wohnung glühend heiß. Die Heizung dampfte, so hoch hatte er sie aufgedreht, und auch das Wasser im Bad kam fast kochend aus dem Hahn.

Er ließ Wasser in die Wanne laufen und nahm ein Bad. Dann fühlte er sich etwas wohler, obgleich er heftig nachschwitzte. In den Bademantel gehüllt, brachte er Wasser zum Kochen und bereitete sich einen Grog zu.

Er dachte unentwegt an Viola, und als nun der Türgong ertönte, begann sein Herz noch schneller zu schlagen in der Hoffnung, dass Viola kommen würde.

Aber dann stand Sonja vor ihm, und plötzlich kroch wieder ein Frös­teln durch seinen Körper.

»Woher weißt du, dass ich zurück bin?«, fragte er rau.

»Deine Frau war so freundlich, es mir mitzuteilen«, erwiderte sie mit einem frivolen Lächeln. »Und ich freue mich, Thommy.«

Sie wollte ihn umarmen, aber er wich zurück. »Warum hast du das getan?«, stöhnte er.

»Was denn schon?«

»Warum bist du zu Viola gegangen?«

»Ich habe es dir angekündigt, du hast dich nicht ge­rührt!«

»Ich konnte nicht schreiben. Wir hatten uns an die Bedingungen zu halten.«

»So kann man sich auch herausreden. Jedenfalls konntest du deiner Frau mitteilen, wann du zurückkommst.«

»Ich wollte zuerst mit ihr sprechen. Ich dachte nicht, dass du wirklich so gemein sein kannst, Sonja.«

»Gemein? Ich sitze in der Klemme. Sie haben mir gekündigt. Ich habe kein Geld mehr.«

»Du bist gekündigt? Weshalb?«

»Frag mich das doch nicht. Überall hagelt es Kündigungen.«

»Bei uns nicht.«

»Du hast ja keine Ahnung. Aber vielleicht erwischt es dich auch, und dann sitze ich da. Ich muss doch wissen, woran ich bin. Jetzt könnte ich noch eine Schwangerschaftsunterbrechung vornehmen lassen, wenn ich das Geld dafür bekomme.«

»Im vierten Monat?« Seine Gehirnzellen arbeiteten plötzlich wieder. »Nach deinem Brief müsste es doch schon der fünfte Monat sein.«

»So genau weiß ich es nicht.«

»Aber ich, Sonja. Ich weiß noch genau, wann dieses Fest war. Und als ich vor zwei Monaten nach Amerika ging, hast du noch nichts von einer Schwangerschaft gesagt.«

»Ich dachte doch, dass ihr mich mitnehmen würdet, wie das vorige Mal, und dann hatte ich auch keine Ahnung, dass du so lange bleiben würdest. Liebe Güte, es kann ja auch mal zu einer Fehlgeburt kommen und dann wäre aller Wirbel umsonst gewesen. Aber ich hatte einfach nicht die Nerven, etwas zu unternehmen.«

»Jetzt werde ich etwas unternehmen«, sagte Thomas. »Wir werden zu einem Arzt gehen und feststellen lassen, wann genau mit der Geburt zu rechnen ist. Ich möchte nämlich sicher sein, dass du inzwischen nichts unternommen hast, denn ansehen kann man dir ja noch nichts.«

Ihr Gesicht verzerrte sich. »Was willst du damit sagen, Thomas?«

»Dass ich Zweifel hege. Ich kann mich an den Verlauf jener Nacht nämlich nicht genau erinnern. Ich habe mehr zu verlieren als du.«

»Was denn schon? Deine Frau will doch eh nichts mehr von dir wissen. Sie hat dich schon abgeschrieben. Sie können ihn haben, hat sie mir kaltlächelnd ins Gesicht gesagt.«

»Ich kenne Viola. Ich kenne sie besser als du. Und ich habe bereits zwei Kinder, die mir viel bedeuten.«

»Was du nicht sagst! Wann hast du dich denn schon um diese Kinder gekümmert? Ich bilde mir auch nicht ein, dass du dich um mein Kind kümmern würdest, aber schließlich wird es auch Geld kosten.«

»Du wirst Geld bekommen, wenn es erwiesen ist, dass ich der Vater dieses Kindes bin. Aber heiraten werde ich dich nicht, damit das klar ist. Ich lasse mich nicht scheiden.«

»Du wirst nicht viel dagegen unternehmen können, wenn deine Frau die Scheidung einreicht«, sagte sie höhnisch. »Aber ich muss sagen, dass ich mir unser Wiedersehen auch etwas anders vorgestellt habe, Thomas.«

»Wie denn? Du hast Viola doch kennen gelernt. Meinst du etwa, dass man so eine Frau für dich aufgibt?«

Sie kniff die Augen zusammen. »Ich habe nicht vergessen, wie du in jener Nacht geklagt hast, wie emanzipiert sie sich plötzlich gäbe. Und jetzt«, sie lachte auf, »jetzt stinkt es dir, dass sie so ein Unternehmen aufgebaut hat, an dem sie dich nicht teilnehmen lassen will. Das ist es doch, was du nicht verkraftest. Viola-Kindermoden will jetzt jeder haben, der das nötige Geld dafür hat. Wofür du zwanzig Jahre gebraucht hast, hat sie in knapp zwei Jahren geschafft. Und nun schiebt sie dich ab.«

Ihm war es hundeelend zumute, aber er hielt sich aufrecht. »Immerhin scheinst du zu begreifen, wie tüchtig Viola ist«, sagte er mit klangloser Stimme. »Sie braucht keinen Mann, der für sie zahlt. Sie braucht auch keinen zu erpressen. Sie ist sogar bereit, für unsere Kinder allein zu sorgen. Du hättest das Format nicht.«

»Komm mir nur nicht auf diese Tour«, schrie sie ihn unbeherrscht an. »Zum Amüsieren war ich dir grad gut genug, jetzt ist sie wieder der Engel. Du willst dich nur drücken. Aber deine liebe, tüchtige Viola ist mit dir fertig, das weiß ich. Aber vielleicht hast du noch nicht daran gedacht, dass sie auch einen anderen haben könnte.«

Plötzlich war es ihm, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen. Alles um ihn herum begann sich zu drehen, und wie eine verzerrte Fratze tauchte nur immer wieder Sonjas Gesicht auf, sekundenlang, und dann wurde es Nacht um Thomas, und er sank lautlos zu Boden.

Schreckensstarr blickte Sonja auf ihn hinab, und starr lag auch Thomas da, wie tot. Angstbebend überlegte sie, was sie tun könnte, ohne selbst dabei in Erscheinung zu treten. Dann kam ihr ein Gedanke.

Sie griff nach dem Telefon und wählte Violas Nummer. Die hatte sie im Kopf. Für Zahlen hatte sie ein gutes Gedächtnis. Aber es war eine fremde Frauenstimme, die sich da meldete und ihr war das ganz recht. Sie gewann Zeit.

»Ist Frau Anderten zu Haus?«, fragte sie.

»Ja, aber im Augenblick nicht zu sprechen.« Es war Joana, die das sagte.

»Dann richten Sie ihr bitte aus, dass mit ihrem Mann wohl etwas nicht in Ordnung ist. Ich rief ihn gerade an. Er meldete sich, aber dann hörte ich einen dumpfen Fall. Und jetzt bekomme ich keine Verbindung mehr.«

»Würden Sie mir bitte Ihren Namen sagen?«, fragte Joana, aber Sonja hatte schon aufgelegt, und dann nahm sie den Hörer wieder von der Gabel.

Joana ging zu Viola, die die Kinder zu Bett brachte. Sie überlegte blitzschnell, was sie sagen sollte.

»Da ist ein dringender Anruf«, brachte sie stockend über die Lippen, »sehr dringend.«

»Ja, ich komme«, erwiderte Viola. »Schlaft schön, Kinder.«

»Ich soll Ihnen etwas ausrichten«, sagte Joana leise, als Viola die Tür zugemacht hatte. Und dann sagte sie es. »Ihren Namen hat die Dame nicht genannt«, fügte sie hinzu.

Viola sagte nichts. Sie griff zum Telefon und wählte die Nummer der Wohnung, aber die Leitung war tot.

Sie schloss die Augen und griff sich an die Kehle. »Ist Ihnen nicht gut?«, fragte Joana erschrocken.

»Ich muss noch mal wegfahren, Joana«, flüsterte Viola. »Nein, ich muss erst telefonieren.«

Sie wählte die Nummer von Dr. Norden. Fee meldete sich. »Was ist, Viola?«, fragte sie beklommen, als Viola unzusammenhängende Worte stammelte.

»Ich brauche einen Arzt für Thomas. Er ist in der Wohnung. Einen Arzt, der schnell dort sein kann. Der Hausmeister muss einen Zweitschlüssel haben. Bitte, Fee, benachrichtige einen Arzt. Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht. Ich fahre jetzt gleich los.«

»Die Adresse brauche ich«, sagte Fee.

Viola sagte sie. »Ich mache mir jetzt Vorwürfe«, murmelte sie noch.

Und zu Joana sagte sie nur: »Kein Wort zu den Kindern, Joana.«

»Bitte, fahren Sie vorsichtig«, sagte Joana bebend. Hilde kam aus der Küche, als die Haustür ins Schloss fiel. »Frau Anderten ist noch mal weg?«, fragte sie bestürzt. »Sie hat doch noch gar nicht gegessen.«

»Es muss sehr dringend sein«, erwiderte Joana stockend.

*

»Was sollen wir lange herumtelefonieren, ich fahre selbst«, sagte Daniel Norden zu seiner Frau. »So weit ist das doch gar nicht.«

Er war gerade erst nach Hause gekommen, und gegessen hatte er auch noch nicht, aber Fee war ihm für diese Entschlossenheit dankbar. Sie wusste, welche Schwierigkeiten es mit sich brachte, wenn der Notdienst zu Hilfe gerufen wurde und ungeklärte Verhältnisse vorfand.

Für Viola war es ein weiter Weg. Es war neblig, und die Straßen waren stellenweise gefährlich glatt.

Daniel Norden hatte es leichter. Er war schnell in Nymphenburg. Der verwirrte Hausmeister, den er vom Fernseher weggeholt hatte, sagte, dass er Herrn Dr. Anderten noch gar nicht gesehen hätte. Aber dann fand er sich doch bereit, mit Daniel hinaufzufahren zur Dachterrassenwohnung. Er schloss die Tür mit dem Zweitschlüssel auf und stieß einen Schreckensschrei aus. Thomas lag noch immer an der Stelle, an der er zusammengebrochen war.

Beklommen kniete Daniel neben ihm nieder und fühlte nach dem Puls.

»Er lebt«, sagte Daniel. »Bringen Sie mir bitte Decken.«

»Wollen wir ihn nicht ins Bett legen?«, fragte der Hausmeister.

»Nicht gleich. Ich muss erst das Herz genau untersuchen.« Gewissenhaft lauschte er die Herztöne ab. Sie waren nicht gerade kräftig, aber es ließ doch nichts darauf schließen, dass ein Infarkt vorliegen könnte. Er zog eine Injektion auf.

Der Hausmeister hatte Decken gebracht.

»Ich hatte überhaupt keine Ahnung, dass er wieder mal da ist«, murmelte er. »Sie müssen verstehen, Herr Doktor, die Wohnung steht ja meistens leer. Man kann sich nicht um alles kümmern. Wer hat Sie denn benachrichtigt?«

»Frau Anderten. Wir sind befreundet. Sie hat vergeblich versucht, ihren Mann anzurufen.«

»Das Telefon liegt ja am Boden«, sagte der Hausmeister. »Herr im Himmel, er hätte hier sterben können, und niemand hätte es gemerkt.«

»Nun, es ist nicht so. Er wird nicht sterben«, sagte Daniel zuversichtlich. »Aber Dr. Anderten ist krank. Ich werde ihn in die Klinik bringen lassen, wenn seine Frau eingetroffen ist. Jetzt können wir ihn ins Bett legen. Haben Sie Kraft?«

»Daran mangelt es noch nicht«, brummte der kräftige Mann. »So schwer ist der Herr Doktor ja nicht. Gott, wie schlecht er aussieht. Kaum zum Wiedererkennen.«

Es war gewiss keine vorübergehende Schwäche, das wusste der erfahrene Arzt.

Es war ein totaler Zusammenbruch, ein schwerer Erschöpfungszustand.

»Versuchen Sie doch mal, ob das Telefon noch intakt ist«, sagte Dr. Norden.

Der Mann hob es auf und schüttelte es leicht. Er nickte. »Jetzt kommt wieder das Freizeichen«, sagte er.

»Gut, dann kann ich von hier aus anrufen.«

»Brauchen Sie mich noch?«, fragte der Hausmeister.

»Jetzt nicht. Warten Sie bitte unten. Vielleicht hat Frau Anderten keinen Schlüssel, und einen Krankenwagen werde ich auch kommen lassen.«

»Der Stress macht die Leute kaputt«, murmelte der Mann, »diese Rumreiserei. Die gnädige Frau hat es ganz recht gemacht, dass sie mit den Kindern aufs Land gezogen ist. Was nutzt so eine schöne Wohnung, wenn man nur auf ein Häusermeer schaut.«

Ja, was hat Anderten nun davon, dass er so rastlos dem Erfolg nachjagte, sich dabei vielleicht sogar einen Gesundheitsschaden einhandelte, der nicht mehr zu beheben ist. Jetzt hatte Dr. Norden nicht die Möglichkeit, ihn gründlich zu untersuchen. Er rief Fee an und sagte ihr, dass er noch bleiben müsse.

»Ist es sehr schlimm?«, fragte Fee.

»Schlimm genug, aber er muss erst durchuntersucht werden. Geh zu Bett, Feelein, es wird spät werden.«

*

Endlich kam Viola. Sie war kreidebleich und hatte einen angstvollen, gehetzten Ausdruck in den Augen.

Sie starrte Thomas an, und nun füllten sich ihre Augen mit Tränen.

»Er lag bewusstlos an der Tür«, sagte Daniel, »das Telefon lag am Boden. Wer hat dich benachrichtigt, Viola?«

»Es muss Sonja Bertram gewesen sein. Joana hat das Gespräch entgegengenommen. Er hätte sich gemeldet, dann gestöhnt und die Verbindung wäre unterbrochen gewesen. Oder so ähnlich. Ich bin ganz durcheinander, Daniel.«

»Wir lassen ihn in die Behnisch-Klinik bringen, wenn es dir recht ist. Er muss durchgecheckt werden. Nervlich und seelisch scheint er am Ende zu sein.«

»Ich war sehr direkt, sehr hart«, murmelte sie. »Das habe ich nicht gewollt. Ich bin nun mal für Offenheit.«

»Mach dir jetzt keine Vorwürfe. Er ist auch körperlich in einem desolaten Zustand.«

Es dauerte nicht mehr lange, bis der Krankenwagen kam. Thomas merkte nichts davon, dass er auf die Trage gehoben wurde. Dr. Norden und Viola fuhren mit dem Lift abwärts und beobachteten ihn.

»Tut mir so leid, gnädige Frau«, sagte der Hausmeister. »Hoffentlich geht es dem Herrn Doktor bald besser.«

»Willst du nicht mitfahren, Viola?«, fragte Daniel drau­ßen.

»Ich brauche doch meinen Wagen«, erwiderte sie. »Ich fahre dem Krankenwagen nach.«

»Und ich fahre voraus, damit keine Zeit verloren geht.«

In der Behnisch-Klinik trafen sie sich dann wieder. Thomas war schon in den Untersuchungsraum gebracht worden, als Viola die Halle betrat. Sie sah auch aus, als würde sie jeden Augenblick umfallen.

»Setz dich erst mal«, sagte Daniel. »Schwester Martha bringt dir einen Kaffee.«

Sie blickte zu ihm auf. »Er wird doch leben, Daniel?«, fragte sie tonlos.

»Es war kein Herzinfarkt«, erwiderte er ausweichend, doch bewegt von der Sorge, dass Thomas eine andere Krankheit in sich tragen könnte. »Ich gehe jetzt dort hinein. Willst du warten?«

»Selbstverständlich.«

Ja, jetzt war es ihr wieder selbstverständlich, in seiner Nähe auszuharren. Jetzt wurde ihr wieder bewusst, dass sie diesen Mann nicht so einfach aus ihrem Leben verbannen konnte, so weh er ihr auch getan hatte.

Ich liebe dich, hatte er gesagt, und ich liebe die Kinder. Vielleicht war es ihm auch erst jetzt bewusst geworden, was sie verband, jetzt, da er fürchten musste, alles zu verlieren.

Dann, als sie wartete und die Minuten dahinschlichen, kamen ihr auch andere Gedanken. Warum hatte Sonja bei ihr angerufen? Warum war sie nicht selbst zu Thomas gefahren? Eine Erklärung dafür konnte sie nicht finden.

Als Daniel dann vor ihr stand, schrak sie zusammen. »Es besteht keine Lebensgefahr, Viola«, sagte er beruhigend. »Er muss ein paar Tage ganz ruhig gestellt werden. Er ist entkräftet und wird Infusionen bekommen. Es scheint so, als hätte er sehr wenig gegessen und noch weniger geschlafen. Willst du mit zu uns kommen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich muss doch nach Hause«, sagte sie schleppend.

»Ich möchte nicht, dass du jetzt noch fährst. Du kannst bei uns schlafen und morgen früh fahren.«

»Ihr meint es sehr gut mit mir.«

»Das ist doch selbstverständlich. Du kannst von uns aus anrufen, dass du erst morgen kommst.«

»Kann ich Thomas noch sehen?«, fragte sie bebend.

»Jetzt nicht.« Er wusste, dass sie maßlos erschrecken würde, wenn sie ihn jetzt mit all den Schläuchen und Kanülen sehen würde, durch die seinem geschwächten Körper stärkere Medikamente zugeführt wurden. Er verschwieg ihr auch, dass Thomas die Nacht wohl nicht überlebt hätte, wenn ihm nicht so rasch Hilfe zuteil geworden wäre.

Fee war natürlich nicht zu Bett gegangen, aber das hatte Daniel schon geahnt. Als er mit Viola kam, atmete sie auf.

»Das ist eine gute Idee, Viola. Natürlich bleibst du hier. Glatteis ist angesagt.«

»Ich möchte gleich zu Hause anrufen«, sagte Viola leise.

»Da ist das Telefon, ich habe schon Teewasser aufgesetzt.«

Hilde und Joana hatten sich die Zeit des Wartens mit Handarbeiten vertrieben, aber so ganz waren sie an diesem Abend nicht bei der Sache. Gesprochen hatten sie auch nicht viel. Als das Telefon läutete, sprangen sie beide gleichzeitig auf.

»Gehen Sie lieber, Hilde«, sagte Joana leise.

Hilde wäre es wiederum lieber gewesen, Joana hätte sich gemeldet, aber sie zögerte dann doch nicht.

Viel sagte sie dann auch nicht, als das Gespräch beendet war.

»Frau Anderten bleibt über Nacht bei Dr. Norden. Herr Anderten ist krank zurückgekommen und liegt jetzt in der Klinik.«

»Hoffentlich wird alles gut«, sagte Joana leise.

»Bei Dr. Norden ist man gut aufgehoben, das wissen wir zwei ja auch, Joana.«

*

Benny und Sandra hatten ziemlich lange geschlafen, und als sie unten erschienen, war Joana schon in der Werkstatt.

»Ist Mami auch schon drüben?«, fragte Benny.

»Ohne mit uns zu frühstücken?«, wunderte sich Sandra.

»Die Mami ist in der Stadt geblieben bei Dr. Norden, weil es so eisig geworden ist«, erklärte Hilde.

»Wir sollten die Nordens mal besuchen«, meinte Benny. »Mit den Kindern können wir schön spielen.«

»Anneka ist jetzt nämlich meine Freundin, Hilde«, sagte Sandra.

»Die Mami nimmt euch sicher mit, wenn sie wieder hinfährt.« Von Thomas wollte sie lieber nichts sagen, denn in letzter Zeit erwähnte sogar Benny seinen Vater nicht mehr.

Viola hatte einigermaßen ruhig geschlafen, wenn man den Umständen Rechnung trug. Sie war voller Unruhe, aber auch das war verständlich.

»Ich bringe dich dann zur Klinik, Viola«, sagte Fee, als Viola sich erinnerte, dass ihr Wagen noch dort stand, da sie in der Nacht mit Daniel hergekommen war.

»Muss Daniel immer so früh weg?«, fragte Viola, da sie ihn gar nicht mehr gesehen hatte.

»Nicht immer, aber heute muss er noch bei zwei Schwerkranken Hausbesuche machen, bevor er in die Praxis fährt.«

»Viel Privatleben habt ihr auch nicht«, stellte Viola nachdenklich fest.

»Das war mir klar, als ich einem Arzt das Jawort gab.«

»Und du hast dann gar nicht mehr praktiziert?«

»In der ersten Zeit habe ich Daniel schon noch geholfen, aber als dann die Kinder kamen, blieb keine Zeit mehr dafür. Damals hatten wir ja Lenni noch nicht, sondern unser gutes Lenchen, und sie war zu alt, um drei lebhafte Kinder zu betreuen. Das heißt, sie wäre zu alt gewesen, denn alle drei hat sie ja nicht mehr erlebt.«

»Und ihr hattet Glück und habt dafür gleich Lenni bekommen.«

»Nicht gleich. Das hat der Himmel gefügt, Viola. Ihr eigentlicher Name ist Gerda Kraft, sie hatte ihren Mann und ihre Mutter bei einem sehr tragischen Unfall verloren, den ein anderer verschuldet hatte. Sie war restlos verzweifelt und nahe daran, ihrem Leben ein Ende zu machen. Davor konnten wir sie bewahren. Psst, sie kommt.«

An jene schreckliche Zeit, die nun schon Jahre zurücklag, sollte Lenni nicht erinnert werden, und für sie selbst hatte das Leben so viel Inhalt bekommen, dass der Schmerz verklungen war, dass das Leben sie wieder freute.

Davon sprach Fee dann auch, als sie Viola zur Behnisch-Klinik brachte. »Du siehst, dass man selbst Zeiten tiefster Verzweiflung überwinden kann«, bemerkte sie. »Die Zeit heilt viele Wunden.«

»Es bleiben Narben«, sagte Viola sinnend.

»Die man eines Tages auch nicht mehr sieht, weil man daran gewohnt ist, Viola. Man darf sie nur nicht mit der Lupe suchen.«

»Stehst du schon über den Dingen?«

»Ich bemühe mich, zu verstehen und Erklärungen zu suchen, Viola. Ich habe das Glück, einen Mann zu haben, mit dem ich über alles sprechen kann, aber so etwas ist nicht selbstverständlich. So frage ich mich immer wieder, wie Konflikte zwischen Menschen entstehen können, die sich doch lieben oder geliebt haben.«

»Wenn dich dein Mann betrügen würde, Fee, was würdest du dann tun?«

»Ja, das frage ich mich auch, seit ich von deinen Problemen weiß, und ich kann nur hoffen, dass es nie eintritt. Es würde sicher viel in mir zerstören, aber ich würde mich auch fragen, ob es sich nicht doch lohnt, wieder zueinander zu finden, wenn auf beiden Seiten die Bereitschaft dazu vorhanden ist.«

»Daniel würde dich niemals betrügen.«

»Man muss es ja nicht gleich als Betrug einordnen, Viola. Wir haben diesbezüglich schon so manche Ehekrise miterlebt, die aus Missverständnissen entstanden.«

»Thomas sagte, dass es ja noch nicht einmal erwiesen ist, dass er der Vater von Sonjas Kind ist, falls sie überhaupt eins bekommen sollte.«

»Nun, dann traut er ihr schon Übles zu, und das beweist doch auch, dass Gefühle da kaum mitspielen.«

»Ich will, dass er gesund wird und wir dann einen Weg aus dieser Misere miteinander suchen«, sagte Viola leise.

»Das ist gut«, erwiderte Fee erleichtert. »Vergiss deinen Stolz, diese Kränkung. Zeig dich so, wie du wirklich bist, Viola.«

»Wie bin ich denn?«

»Großmütig und hilfsbereit. Du hast es doch bewiesen, als du Hilde und Joana sofort aufgenommen hast.«

»Sie werden mich nicht enttäuschen, das weiß ich jetzt schon.«

»Sie sind dir dankbar, Viola, aber denke bitte, dass auch diese beiden Menschen Veränderungen unterworfen sind, dass ihnen eines Tages etwas doch wichtiger sein könnte, als mit dir und für dich zu arbeiten. Joana ist jung, und es könnte ein Mann kommen, der sie auch vor eine Entscheidung stellt. Würdest du dann sagen, dass sie dich enttäuscht oder gar betrogen hat?«

»Aber nein.«

»Und nehmen wir mal an, dir würde ein Mann begegnen, dem du Liebe schenken könntest …«

»Nein, nein«, fiel ihr Viola ins Wort, »ich werde nie einen anderen Mann lieben als Thomas. Deshalb tut doch alles so weh.«

»Herrgott, dann beweis es doch, beweis es dir auch selbst und überlass ihn nicht kampflos einer anderen Frau, für die er anscheinend nicht das geringste empfindet. Ein Abenteuer ist doch was anderes als Liebe, und Liebe hat mit Sex auch nichts gemein. Warum gehen denn so viele Ehen so früh wieder kaputt? Weil der Reiz so schnell vorbei ist, weil sie sich dann anöden, und wenn dann sogar die Finanzen nicht mehr stimmen, kommt die Ernüchterung, und danach leider allzu oft neue Affären, die genauso ausgehen. Was meinst du, was Daniel alles erfährt in seiner Praxis, und«, sie lächelte nachdenklich, »vielleicht hat auch das dazu beigetragen, dass er gefeit ist gegen Versuchungen.«

»Er weiß genau, dass er solche Frau wie dich nie wieder finden würde.«

»Er hat seine Erfahrungen vor der Ehe gesammelt«, sagte Fee gelassen, »und ich kann dir sagen, dass ich vor Eifersucht manchmal fast geplatzt bin.«

»Seltsam, ich habe nie darüber nachgedacht, was vor unserer Heirat war«, sagte Viola.

»Siehst du, das ist es.«

»Thomas hat auch nie darüber gesprochen.«

»Dann hättest du nachhaken sollen. Vielleicht hast du ihm das Gefühl gegeben, dass du überhaupt nicht eifersüchtig sein kannst, dass es dir in gewissem Sinn sogar gleichgültig ist.«

»Ich habe mich daran gehalten, dass Liebe Vertrauen verlangt und Eifersucht ein Übel ist.«

»Es ist schon viel dummes Zeug von weisen Leuten verzapft worden«, sagte Fee. »Aber ich meine, dass diese weisen Leute sich allzu erhaben dünkten. Menschen mit Herz, Seele und Geist sind der leidenschaftlichsten Gefühle fähig. Aber sie können einen Menschen, den sie lieben nicht gleichzeitig hassen. Du kannst Thomas nicht hassen, Viola. Du hast Angst um sein Leben.«

Und welche Angst! Sie stand ihr im Gesicht geschrieben, als Dr. Jenny Behnisch sie zu Thomas’ Zimmer führte.

»Sie dürfen nicht erschrecken, Frau Anderten, wir müssen ihn jetzt noch künstlich ernähren«, sagte Jenny. »Aber die Gehirnströme sind intakt, und das EKG ist beruhigend ausgefallen, auch die Nierentätigkeit ist wieder intakt.«

»Aber er ist immer noch nicht bei Bewusstsein«, flüsterte Viola.

»Er schläft jetzt ganz normal. Er wird viel Schlaf nachzuholen haben. Aber das hilft ihm auch.«

»Sie sagen mir bitte Bescheid, wenn er bei Bewusstsein ist?«

»Aber gewiss, Frau Anderten. Sie können jetzt ganz beruhigt heimfahren.«

Was sollte sie nun den Kindern sagen? Wie es weitergehen würde, wusste sie ja noch nicht. Es gab immer noch eine Son­ja Bertram, die Ansprüche geltend machen würde.

Und so war es auch. Nachdem Sonja ihren Schrecken überwunden und eine Nacht darüber geschlafen hatte, machte sie sich wieder auf den Weg zu Thomas’ Wohnung.

Sie erkundigte sich bei dem Hausmeister, ob Dr. Anderten zurückgekehrt sei. Sie hätte es wohl anders formulieren sollen, denn der Mann musterte sie jetzt forschend und nachdenklich.

»Dr. Anderten ist gestern Nacht ins Krankenhaus gebracht worden, aber so weit ich mich erinnere, sah ich Sie doch gestern Abend bereits hier.«

Das behagte Sonja nun gar nicht, doch sie machte einen weiteren Fehler. »Sie müssen sich geirrt haben«, erwiderte sie abweisend. »Danke für die Auskunft!« Und schon entschwand sie wieder.

»Sie war doch hier«, murmelte der Mann, »ich habe mich nicht geirrt. Warum gibt sie es nicht zu?« Da kamen auch ihm ganz seltsame Gedanken. Er war noch draußen bei den Garagen gewesen. Er hatte ihren Wagen kommen sehen, und sie war ausgestiegen. Und dann war sie ziemlich lange im Haus. Er hatte freilich nicht gewusst, zu wem sie wollte. Hier kamen und gingen auch Besucher, und er hätte auch nicht mehr über sie nachgedacht, wenn sie nicht nach Dr. Anderten gefragt hätte und dann leugnete, hier gewesen zu sein.

Er war ein sehr gewissenhafter Mensch und meinte, Frau Anderten davon unterrichten zu müssen.

Viola hatte den Kindern gerade mitgeteilt, dass der Papi krank von seiner Reise zurückgekehrt sei und nun einige Zeit in der Klinik liegen müsse.

»Warum muss er denn auch immer so weit wegfahren«, sagte Benny. »Vielleicht hat er jetzt die Nase voll.«

Gedanken eines Kindes, das nichts von den anderen Problemen wusste. Sandra fragte nur, ob es ansteckend sei.

»Können wir ihn besuchen, Mami?«, fragte Benny.

»Damit müssen wir noch ein Weilchen warten.«

»Ich weiß schon gar nicht mehr, wie er aussieht«, sagte Sandra.

Nun läutete das Telefon, und Hilde sagte, dass ein Herr Wuttke am Telefon sei.

Wuttke? Viola musste sich erst erinnern, dass der Hausmeister so hieß. Allgemein wurde er mit seinem Vornamen Rudolf angeredet.

Was er ihr erzählte, machte sie stutzig. »Sie meinen, dass Sie sich nicht irren?«, fragte sie.

»Ich bin ganz sicher, dass sie gestern hier war. Eine knappe Stunde, bevor der Arzt kam. Gestern Abend wusste ich bloß nicht, zu wem sie wollte. Ich kann doch die Leute nicht einfach fragen.«

Viola kam ein Gedanke. »Haben Sie die Dame schon früher mal gesehen, Herr Wuttke?«

»Nein, daran kann ich mich nicht erinnern, aber wenn sie schon mal da gewesen wäre, hatte ich sie schon wiedererkannt, auch ihren Wagen. Ich habe ein gutes Gedächtnis, Frau Anderten.«

Viola dachte lange nach, als sie den Hörer aufgelegt hatte. Sonja war also bei Thomas gewesen. Sie hatte nicht nur mit ihm telefoniert. Aber es konnte ja auch möglich sein, dass er schon vorher zusammengebrochen war und ihr die Tür nicht mehr öffnen konnte. Aber wieso sollte sie dann auf den Gedanken kommen, dass etwas passiert sein könnte?

Sie ging zu Joana, die gerade beim Zuschneiden war. »Können Sie sich genau erinnern, was die Frau gestern Abend am Telefon sagte, Joana?«, fragte sie.

»Wie ich es Ihnen schon sagte, Frau Anderten. Sie hätte angerufen, dann hätte sie ein Stöhnen gehört und ein dumpfes Geräusch und dann wäre die Verbindung unterbrochen gewesen.«

Und so war es nicht, dachte Viola jetzt. Sie war bei ihm. Sie muss anwesend gewesen sein, als er zusammenbrach, und sie hat ihn liegen lassen. Vielleicht dachte sie, dass er tot sei und wollte nicht hineingezogen werden.

Er hätte sterben können, dachte sie weiter. Sie wollte es mir überlassen, mich um ihn zu kümmern.

Vielleicht dachte sie gar, ich würde nichts unternehmen.

Würde es Sonja Bertram wieder wagen, sie hier aufzusuchen oder anzurufen? Oder würde sie gar zur Klinik fahren?

Einstweilen wusste Sonja jedoch noch gar nicht, in welcher Klinik Thomas lag. Sie war in Unruhe gebracht worden durch die Bemerkung des Hausmeisters, doch kaltblütig wie sie war, redete sie sich rasch ein, dass ihr gar nichts zu beweisen wäre.

Unterlassene Hilfeleistung könnte man ihr vorwerfen, aber Thomas würde sich wohl hüten, dies zu tun.

Aber es ging ihr auch nicht aus dem Sinn, was er ihr gesagt hatte, sie zweifelte nicht daran, dass er es fertig bringen würde, mit ihr zu einem Frauenarzt zu gehen, um feststellen zu lassen, ob er als Vater des Kindes überhaupt infrage käme, und was dabei herauskommen würde, musste ihre Pläne endgültig zunichte machen. Diese Pläne waren letztlich darauf aufgebaut, dass Thomas seine Ehe nicht gefährden wollte. Er hätte gezahlt für ihr Schweigen und sie hätte sich zu einer Abtreibung bereit erklärt. Zu einer Abtreibung, die gar nicht stattzufinden brauchte.

Wenigstens das sah Sonja ein, dass sie einen gewaltigen Fehler gemacht hatte, als sie Viola aufsuchte, dass sie dabei nicht einkalkuliert hatte, dass diese sofort Konsequenzen ziehen würde.

Was nun? Wie konnte sie sich aus dieser Situation herauslavieren? Immerhin blieb die nackte Tatsache, dass sie kein Geld und keine Stellung hatte, und die Stellung hatte sie durchaus nicht freiwillig aufgegeben. Sie hatte diese aus sehr gewichtigen Gründen aufgeben müssen, und nun musste sie auch noch fürchten, dass Thomas auch dies erfahren würde, bevor sie Geld hatte, um sich abzusetzen.

Aber warum sollte sie allein über die Klinge springen? Wer hatte denn dieses Spiel eingefädelt, überzeugt, dass dabei nichts schiefgehen könnte? Warum sollte nicht der bezahlen? Sonja sah einen Silberstreifen am Horizont.

Wenn Herbert Brandner schon meinte, sie in der Hand zu haben, warum sollte sie ihren Trumpf nicht ausspielen? Sie musste es nur ganz vorsichtig anfangen. Jetzt durfte ihr kein Fehler mehr unterlaufen.

*

Viola hatte einen Anruf von der Behnisch-Klinik bekommen, dass Thomas nach ihr und den Kindern gefragt hätte.

Sie instruierte Joana, was in ihrer Abwesenheit getan werden sollte. »Sie sind ja schon so fit, dass ich Ihnen das Feld überlassen kann, Joana. Wenn Anrufe kommen, sagen Sie einfach, dass ich geschäftlich unterwegs bin. Sollte sich jemand nach meinem Mann erkundigen, wissen Sie überhaupt nichts. Sie können das besser als Frau Töpfer.«

Und Herta Töpfer war heilfroh, dass Joana auch das Telefon übernehmen sollte, denn sie redete nicht gern mit Leuten, von denen sie nur die Stimme hörte.

Viola wollte sich nur noch umkleiden und dann fahren. Kaum hatte sie die Werkstatt verlassen, läutete dort schon das Telefon. Joana nahm den Hörer auf und meldete sich mit »Viola-Kindermoden«.

Sie ließ beinahe den Hörer fallen, als eine Männerstimme an ihr Ohr tönte. »Hier Brandner, ich möchte Frau Anderten sprechen.«

Joana zitterte am ganzen Körper. Mühsam sagte sie, dass Frau Anderten geschäftlich unterwegs sei. »Kann ich etwas ausrichten?«, fragte sie dann noch heiser.

»Nein, ich muss Frau Anderten selbst sprechen. Wann kann ich sie erreichen? Oder können Sie mir sagen, in welcher Klinik Dr. Anderten liegt?«

»Nein, das ist mir nicht bekannt.« Ihre Stimme hatte überhaupt keinen Klang, sie war ihr selbst völlig fremd.

»Gut, ich rufe wieder an«, sagte der Mann.

Schnell eilte Joana hinaus, als sie den Hörer aufgelegt hatte, und sie erwischte Viola gerade noch, als diese eben ihren Wagen aus der Garage fuhr.

»Einen Augenblick«, flüsterte Joana aufgeregt. »Eben kam ein Anruf. Brandner war am Apparat. Ich dachte, er hätte mich gefunden.«

Viola sah, wie sie bebte, und Joanas Augen waren voller Angst. »Er wollte Sie sprechen. Er hat gefragt, in welcher Klinik Dr. Anderten liegt.«

»Warum regen Sie sich so auf, Joana? Brandner war früher mal ein Kollege von meinem Mann, bis er sich selbstständig machte. Aber warum er sich jetzt für Thomas interessiert, weiß ich auch nicht. Wieso kann er überhaupt wissen, dass mein Mann in der Klinik ist?«

»Brandner ist der Mann, der mich hierher gelockt hat«, erwiderte Joana, und erst jetzt begriff Viola, was Joana gleich anfangs gesagt hatte.

»Brandner? Sind Sie sicher, Joana?«

»Ich kenne seine Stimme. Ich hoffe nur, dass er meine nicht erkannt hat, aber die war mir ja selbst fremd.«

»Guter Gott, welcher Zufall«, sagte Viola nachdenklich, »aber das erklärt noch nicht, warum er sich für Thomas interessiert. Mein Gott, Sie zittern ja. Sollte er wieder anrufen, stellen Sie zu Hilde durch und informieren Sie sie kurz. Auf Hilde ist Verlass. Aber der Name Brandner ist hier nicht selten.«

»Herbert Brandner«, murmelte Joana.

»Ja, ich erinnere mich«, sagte Viola bestürzt. »Er war im Marketing tätig. Es ist fast unfassbar. Ich muss jetzt fahren, vielleicht kann ich etwas von Thomas erfahren.«

»Und wenn er herkommt«, flüsterte Joana voller Angst.

»Hilde soll ihn abwimmeln, und in die Werkstatt darf er nicht. Dafür wird Frau Töpfer sorgen.«

*

Diesmal wurde Viola von Dr. Dieter Behnisch empfangen. »Ihr Mann ist wach, sogar hellwach«, sagte er, »aber bitte, besprechen Sie nichts mit ihm, was ihn erregen könnte, und bleiben sie nicht zu lange. Er braucht immer noch viel, sehr viel Schlaf.«

»Ich werde mich danach richten«, sagte Viola geistesabwesend.

Zögernd betrat sie das Krankenzimmer. »Endlich«, seufzte Thomas auf. »Endlich sehe ich dich wieder.«

»Ich bin froh, dass es dir besser geht«, sagte sie leise.

»Wie geht es den Kindern? Ich möchte sie so gern sehen.«

»Du musst dich erst noch erholen, Thomas. Ich habe dir die neuesten Fotos mitgebracht.«

»Wie groß sie schon sind«, murmelte er. »Du musst mir glauben, dass ich euch sehr vermisst habe, Viola. Ich werde nie wieder an so einem Projekt mitarbeiten, das verspreche ich dir. Ich weiß nicht, wie ich diese Wochen überstanden habe.«

Viola wusste nicht, was sie sagen und was sie denken sollte. Konnte er einfach aus seinen Gedanken ausschalten, was er nicht wahrhaben wollte, oder gab es da doch so etwas wie einen Gedächtnisschwund?

Plötzlich wechselte sein Mienenspiel. »Es war doch nur ein Traum, dass du die Trennung willst«, sagte er heiser. »Sag, dass es ein Traum war. Ich kann Traum und Wirklichkeit nicht unterscheiden.«

»Wir werden uns nicht trennen, Thomas«, sagte sie leise, »aber wir müssen diese Geschichte mit Sonja Bertram regeln.«

»Es ist alles Lüge. Ich finde nur nicht die Zusammenhänge, Viola, nicht das Konzept. Es muss geplant gewesen sein an jenem Abend. Ich habe es immer wieder überlegt, bin aber zu keinem Ergebnis gekommen. Ich hatte kein Verhältnis mit Sonja. Wenn jemand mir doch weiterhelfen, einen Hinweis geben könnte. Bei mir dreht sich alles im Kreis. Ich werde verrückt, wenn ich nicht endlich dahinterkomme, was da gespielt worden ist.«

Was darf ich sagen, ohne ihm zu schaden, dachte Viola. Dann raffte sie sich auf. »War Sonja Bertram bei dir neulich abends, Thomas?«

Er starrte sie fragend an. »Neulich abend, wann war das, wie lange ist das her, Viola?«

»Vorgestern«, erwiderte sie.

»Mir kommt es vor, als würde ich ewig hier liegen. Ja, sie war bei mir. Du hilfst mir, ich kann mich erinnern. Ich habe ihr gesagt, dass ich mit ihr zum Arzt gehen werde, um festzustellen, wann das Kind kommt und ob ich der Vater sein kann.« Seine Stimme bebte. »Ich weiß jetzt, was du mir vorgeworfen hast. Ich weiß jetzt alles, Viola«, stöhnte er. »Der Schleier ist gerissen.«

»Du darfst dich nicht aufregen, Thomas. Ich war ungerecht, es tut mir leid. Ich bin jetzt bei dir und bleibe bei dir. Diese Geschichte wird uns nicht trennen, was auch geschehen sein mag.«

»Ich kann mich an diesen Abend aber überhaupt nicht mehr erinnern, Viola. Du warst nicht bei mir.«

»War Brandner dabei?«, fragte Viola jetzt spontan.

»Brandner? Wie kommst du ausgerechnet auf ihn? Ja, er war dabei. Er hat alle eingeladen auf seinen ersten großen Erfolg.«

»Auf welchen Erfolg?«

»Der Film. Er hat einen Film gedreht. Er muss groß im Geschäft sein.«

»Woher kann er wissen, dass du zurück bist?«, fragte Viola gedankenverloren.

»Weiß er das?«

»Er hat bei mir angerufen. Er wollte wissen, in welcher Klinik du liegst. Ich dürfte dir das nicht sagen, Dr. Behnisch will das nicht. Aber es wäre gut für mich, wenn du Zusammenhänge finden könntest. Hattest du mit Sonja einen Streit?«

»Ich habe mich aufgeregt. Sie schien verblüfft, als ich sagte, ich würde mit ihr zum Arzt gehen. Nein, sie hatte plötzlich Angst und plapperte alles Mögliche. Und dann sagte sie, wie unabhängig und emanzipiert du bist, und dass du einen anderen hast, da …, von weiß ich nichts mehr.«

»Es gibt keinen anderen, Thomas. Sie war also bei dir. Mir sagte sie am Telefon, dass sie nur mit dir telefoniert hätte und die Verbindung dann plötzlich abgerissen sei.«

»Sie war bei mir, das kann ich doch nicht geträumt haben«, murmelte er.

»Nein, du hast es nicht geträumt. Herr Wuttke hat sie gesehen. Ich werde schon dahinterkommen, was da sonst noch gespielt wurde.«

Er griff nach ihren Händen. »Aber du musst mir glauben, dass ich mich an jene Nacht nicht erinnern kann, Viola. Vielleicht hatte ich zu viel getrunken, weil ich meinte, dass dir dein Geschäft jetzt wichtiger wäre als unsere Ehe, vielleicht hatte ich selbst auch ein schlechtes Gewissen. Aber es gab bis dahin nichts zwischen Sonja und mir, ich schwöre es dir. Sie war doch mit Brandner liiert.«

»Mit Brandner«, wiederholte Viola. »Er muss die Schlüsselfigur sein.«

»Ich kann nicht mehr denken, Viola. Ich werde so schnell müde«, flüsterte er. »Bleib bei mir, verlass mich nicht.«

»Ich werde für dich denken, Thomas«, sagte sie leise. »Ich kann nicht immer hier sein, aber meine Gedanken sind bei dir, und die Kinder werden dich bald besuchen. Du musst gesund werden, dann werden wir alles erklären.«

Er hatte die Augen geschlossen. Sie spürte, wie ihn der Schlaf überkam, aber jetzt war sie ganz ruhig. Sie zweifelte nicht mehr an seinen Worten. Sie wusste jetzt, dass sie beide das Opfer einer Intrige geworden waren, und nun hing da Joana auch dazwischen. Joana, die der Name Brandner allein schon in Panik versetzen konnte.

Aber Sonja war aus einem andern Holz geschnitten als Joana, ihr konnte man es zutrauen, dass sie mit diesem Mann gemeinsame Sache machte. Es fragte sich nur, warum sie ausgerechnet Thomas als Opfer ausgesucht hatten.

Für Joana brachte dieser Tag noch eine Überraschung besonderer Art. Herta Töpfer kam gleich nach der Mittagspause zu ihr ins Atelier.

»Ein Herr Boering möchte Sie sprechen, Joana«, sagte sie.

»Boering?« Joana wurde blass. »Nein, ich habe keine Zeit.«

»Es handelt sich aber um Papiere«, sagte Herta. »Sie brauchen doch keine Angst zu haben. Er ist sehr vertrauenswürdig.«

»Er war mal mein Chef, Herta«, sagte Joana leise.

»Und jetzt ist Frau Anderten Ihre Chefin. Aber er sieht nicht aus, als wolle er Ihnen Ärger bereiten. Er ist sehr sympathisch.« Dabei funkelte es listig in Herta Töpfers Augen.

»Na gut, dann bringe ich das auch noch hinter mich«, sagte Joana.

Als Ulrich Boering eintrat, sah sie ihn abweisend an. »Was wollen Sie? Wie haben Sie mich gefunden?«, fragte sie.

»Glücklicherweise konnte ich das auf Grund der Sozialversicherungen in Erfahrung bringen, Joana«, erwiderte er. »Immerhin habe ich ja die Personalabteilung unter mir. Warum wollen Sie sich denn verstecken? Warum haben Sie zu mir kein Vertrauen gehabt?«

»Vertrauen«, wiederholte sie spöttisch. »Hier habe ich Vertrauen, und das lasse ich mir nicht kaputt machen.«

»Das will ich doch nicht, Joana. Ich verstehe ja, dass es Ihnen hier besser gefällt, aber mir gefällt halt kein Mädchen so gut wie Sie. Ich meine es ernst, auch wenn Sie es nicht verstehen wollen. Und ein bisschen Hoffnung sollten Sie mir lassen.«

Er sah sie so bittend an, dass das zornige Funkeln aus ihren Augen verschwand.

»Soll ich mich geehrt fühlen?«, fragte sie dennoch anzüglich.

»Nur umworben, ernsthaft umworben, Joana. Ich bin so froh, dass ich Sie gefunden habe. Bitte, ergreifen Sie nicht wieder die Flucht.«

Er versuchte, ihren Blick einzufangen, aber der schweifte ab. »Ich bin nicht vor Ihnen geflohen«, sagte sie leise.

»Das habe ich mir auch nicht eingebildet. Ich weiß, vor wem Sie geflohen sind. Dieser Brandner sucht Sie.«

Joana erschrak maßlos. »Er sucht mich? Wieso kennen Sie ihn?«

»Er war bei mir. Er wollte herausfinden, wo Sie geblieben sind. Ich habe es ihm nicht gesagt. Ich hätte es ihm auch nicht gesagt, wenn ich es da schon gewusst hätte. Erinnern Sie sich nicht, dass ich Ihnen half, als er Sie vor ein paar Wochen belästigte?«

»Doch, ich war Ihnen sehr dankbar. Aber vielleicht würden Sie sich nicht um mich bemühen, wenn Sie alles wüssten, Herr Boering.«

»Es interessiert mich nicht, Joana. Ich verlasse mich auf meine Menschenkenntnisse, und die brauche ich für meinen Beruf. Aber vielleicht ergibt sich eine Gelegenheit, dass Sie mich über diesen Herrn Brandner aufklären, damit ich ihm ordentlich mal eins auf die Nase geben kann, falls er Sie wieder mal belästigt.«

Joana zuckte zusammen, als das Telefon läutete. Es war aber Viola.

»Ich bin gerade nach Hause gekommen, Joana«, sagte sie. »Ich komme nicht mehr rüber. Brandner wird in etwa einer halben Stunde hier sein. Lassen Sie sich nicht blicken.«

»Sie müssen vorsichtig sein, Frau Anderten«, sagte Joana erregt. »Er ist hinterhältig und gefährlich.«

»Ich bin gewappnet«, sagte Viola. »Wir sehen uns abends. Ich sage Bescheid, wenn er weg ist.«

*

Zufrieden konnte jetzt nur Sonja sein. Herbert Brandner hatte ihr Geld gegeben. »Verschwinde, und überlass alles andere mir«, sagte er, als sie mit ihm gesprochen hatte. »Ich hätte mir denken können, dass du zu blöd bist, um die Sache durchzuziehen.«

»Ich kann doch nichts dafür, dass ich von dem Projekt nichts erfahren habe. Sie haben mich doch wegen dieser Verbindung zu dir entlassen, Herbert. Du warst doch für sie der Buhmann.«

»Mir konnte niemand was nachweisen, und es wird auch niemandem gelingen. Ich mache meine Filme und verdiene gutes Geld, und wenn du es genau wissen willst, mich reizt Viola Anderten. Sie ist clever und hat Format. Und du hast es wenigstens geschafft, dass sie sauer auf Thomas ist. Dafür hast du dein Honorar bekommen.«

»Wenn du meinst, dass du bei ihr landen kannst, lass es mich wissen. Ich schicke Blumen«, sagte Sonja zynisch.

»Du verschwindest, sonst passiert was«, fuhr er sie an, und sie wusste, dass sie solche Drohungen ernst nehmen musste.

Aber nun war Herbert Brandner in seinem Cabriolet der Luxusklasse bereits in Ammerland angekommen. Niemand hätte ihm absprechen können, dass er ein attraktiver Mann war und mit seinem weltmännischen Auftreten schüchterte er die gute Hilde gewaltig ein.

Wäre Viola nicht durch Joana so voller Misstrauen gewesen, hätte sie sich wohl auch bluffen lassen.

»Liebe Viola, ich bin so völlig fassungslos von allem, was mir zu Ohren kam, dass ich Sie unbedingt sofort aufsuchen musste«, sagte Herbert Brandner im genau richtigen Tonfall. Und wieder dachte Viola an Joana. Wie musste ein Mädchen, das in einer engen Welt aufgewachsen war, streng erzogen, fleißig und darauf bedacht, voranzukommen, mit der Sehnsucht im Herzen, mehr von der Welt zu sehen, auf einen solchen Mann reagieren?

»Was ist Ihnen zu Ohren gekommen?«, fragte Viola, auf alles vorbereitet, zurückhaltend.

»Einmal, dass sich Thomas bedauerlicherweise durch diese Sonja Bertram ganz schön in die Klemme gebracht hat, zum anderen, dass man ihn wohl auch in die Wüste schickte, weil man ihm nicht mehr vertraute. Ich hoffe, Sie damit nicht zu verletzen, da Sie ja bereits von seinem Verhältnis mit Sonja wissen. Aber eine Frau wie Sie wird von guten Freunden nicht im Stich gelassen. Sie können über mich verfügen.«

»Ich bin angenehm überrascht«, sagte Viola lässig. »Ich kann Hilfe brauchen.« Sie war auf der Hut, aber sie wollte doch herausbringen, was er eigentlich wollte. »Wenn es stichhaltige Beweise dafür gibt, dass Thomas mit der Bertram ein Verhältnis hatte, würde es die Scheidung beschleunigen.«

»Hat er Ihnen nicht gesagt, dass sie ein Kind erwartet?«

»Sie hat Ihnen gesagt, dass sie bei mir war?« Viola freute sich darüber, dass sie ihn aufs Glatteis geführt hatte, denn jetzt wurde er nervös.

»Ich dachte, Sie wüssten es von Thomas«, sagte er hastig. »Ich kann mir gut vorstellen, dass es für Sie, für eine Frau in Ihrer Position sehr peinlich wäre, wenn einige Sachen publik würden. Da wären zum Beispiel einige Fotos, die recht kompromittierend sind.«

»Die Sie mir verkaufen wollen?«, fragte Viola jetzt eisig.

»Ich doch nicht. Sonja hat da allerdings keine Skrupel.«

Viola mahnte sich zur Ruhe. »Wenn solche kompromittierenden Fotos existieren, müssen sie ja von jemandem aufgenommen worden sein«, erklärte sie. »Nun, ich halte nichts von Erpressungen dieser Art. Sie können Frau Bertram ausrichten, dass ich in solchem Fall die Polizei einschalten werde.«

»Sie missverstehen mich, Viola. Ich wollte Ihnen meine Hilfe anbieten, diese Angelegenheit diskret zu regeln. Es geht ja nicht nur darum, sondern auch um sehr wichtige Papiere, die durch Thomas in falsche Hände gelangt sind. Es könnte ihn seine Stellung kosten …«

Viola machte eine abwehrende Handbewegung. Sie war erschrocken, aber sie sagte heiser: »Das interessiert mich nicht. Beenden wir das Gespräch.«

»Nein, wir beenden es noch nicht«, sagte er nun im drohenden Ton.

*

Drüben in der Werkstatt war Joana unruhig geworden. Und ganz plötzlich kam ihr jener Traum in den Sinn, den sie in der letzten Nacht geträumt hatte, bevor sie hierher kam.

»Ich muss hinüber«, stieß sie hervor. »Wenn Sie wollen, können Sie jetzt beweisen, dass Sie es ehrlich mit mir meinen, Herr Boering.«

Hilde war maßlos erschrocken, als die beiden hereinkamen. »Er ist noch drin«, flüsterte sie. »Mir ist bange.«

Joana stürzte zur Tür und stieß sie auf, und sie sah, wie Brandner Viola festhielt und eine Injektionsspritze in der Hand hielt.

»Nein!«, schrie sie gellend, und das jagte Brandner solchen Schre­cken ein, dass er Viola losließ. Und schon stürzte sich Ulrich Boering auf ihn und riss seine Arme mit so schmerzhaftem Griff rückwärts, dass Brandner nicht mehr reagieren konnte. Aber der war so voller Entsetzen, als er Joana erblickte, dass er momentan sowieso wie gelähmt war.

»Herr Brandners Methode, sich seine Opfer gefügig zu machen, ist mir bekannt«, flüsterte Joana bebend. »Hat er Sie verletzt, Viola?«

Viola schüttelte den Kopf. Sie zitterte wie Espenlaub, aber sie brachte die Kraft auf, zum Telefon zu greifen und die Nummer der Polizei zu wählen.

Da machte Brandner einen verzweifelten Versuch, sich aus Ulrichs Griff zu befreien, doch der versetzte ihm einen Kinnhaken, dass er benommen zusammensackte.

»Wieso bist du hier?«, lallte er noch, als er am Boden lag, aber dann schwanden ihm die Sinne, und das war gut so.

»Wie kommt es, dass du hier bist?«, fragte Viola fassungslos, ohne sich bewusst zu sein, dass sie Joana jetzt duzte.

»Ich habe das geträumt«, murmelte Joana, und dann fuhr ihre Hand zum Gesicht, das sich jetzt scharlachrot färbte.

»Und jetzt kommt wieder die Allergie«, stammelte sie. »Schauen Sie mich bloß nicht an.«

»Warum denn nicht?«, fragte Ulrich leise. »Ich habe sie doch nicht hervorgerufen.«

Viola sah, wie er den Arm um Joana legte, dann aber kam die Polizei, und allein die Kinder verfolgten mit staunenden Blicken, wie der immer noch benommene Brandner abgeführt wurde.

»Wollte er was klauen, Mami?«, fragte Benny.

Viola nickte geistesabwesend.

Was sollte sie sagen.

Was Brandner noch mit ihr vorgehabt hatte, konnte sie noch nicht erklären.

Joana konnte es, als Hilde die Kinder mit hinausgenommen hatte.

»Dieses Zeug betäubt«, sagte sie. »Man schläft nicht ein, aber man kann sich auch nicht mehr wehren. Mich hat meine Allergie gerettet. Ich muss wirklich abschreckend aussehen. Jetzt juckt es schon am ganzen Körper. Es ist kaum auszuhalten, aber Dr. Norden könnte mir helfen.«

»Dann nichts wie hin«, sagte Ulrich.

»Ich komme mit«, stammelte Viola. Tränen perlten über ihre Wangen, als sie Joanas Hand ergriff. »Was musst du durchgemacht haben, Joana. Jetzt begreife ich es. Und wenn du nicht gekommen wärest …«, sie unterbrach sich. »Aber warum das alles, warum nur? Wissen Sie etwas?«, richtete sie das Wort an Ulrich.

»Nein, davon nur, was Joana betrifft. Mein Interesse galt wirklich nur ihr, Frau Anderten.«

»Aber Sie waren gerade zur rechten Zeit da, um auch mir zu helfen. Es ist unbegreiflich, wie sich das alles ergeben hat.«

*

Dr. Norden bekam einen gewaltigen Schrecken, als Ulrich Boering Joana brachte. Viola hatte sie schon vorher bei der Behnisch-Klinik abgesetzt.

»Wer ist denn diesmal schuld, Joana?«, fragte er dann aber schnell gefasst.

»Wieder derselbe«, erwiderte sie leise. Und dann berichtete sie von dem Vorfall.

»Die Vorsehung treibt schon ein seltsames Spiel«, sagte Dr. Norden gedankenvoll, »aber den Zufall schickt uns Gott.«

»Und manchmal gehen Träume in Erfüllung«, sagte Joana nachdenklich.

»Dann kann ich nur hoffen, dass mein Traum, mit dir vor dem Traualtar zu stehen, in Erfüllung geht«, sagte Ulrich.

»Ich kann Viola doch jetzt nicht im Stich lassen, da ich ihr so viel zu verdanken habe«, flüsterte Joana.

»Wir werden schon eine Lösung finden, die alle befriedigt«, meinte Ulrich zuversichtlich. »Vielleicht hilft uns Dr. Norden dabei auch. Jetzt siehst du ja schon wieder bedeutend besser aus, Joana.«

»Wenn man weiß, wodurch etwas entsteht und womit man helfen kann, braucht man nicht lange zu leiden«, sagte Dr. Norden.

Auch für Viola war der größte Schrecken vorbei, als sie mit Thomas gesprochen hatte. Er konnte jetzt schon ein bisschen mehr ertragen.

»Es war also ein abgekartetes Spiel zwischen Brandner und Sonja«, sagte er stockend. »Ja, es sind damals Unterlagen verschwunden, aber daraufhin wurden einige Veränderungen vorgenommen. Deshalb mussten wir auch unter strengster Geheimhaltung weiterarbeiten, Viola. Und wahrscheinlich wurde Sonja deshalb entlassen. Da ist ihr dann die Idee mit dem Kind gekommen, um mich so unter Druck zu setzen. Jetzt fügt sich alles zusammen.«

»Und ich weiß jetzt, wie man dich außer Gefecht gesetzt hat«, sagte Viola leise. »Kannst du mir verzeihen, dass ich so ungerecht war?«

»Du hast keine Schuld. Ich habe zu wenig überlegt, welche Konflikte ich mit meinem verdammten Ehrgeiz heraufbeschwören könnte, und wie wenig beruflicher Erfolg letztendlich zählt, wenn man alles andere verloren hat. Wie heißt es doch: Liebe will gepflegt sein. Gibst du mir Zeit, es dir jetzt zu beweisen?«

»Für den Rest unseres Lebens«, erwiderte sie, und dann küsste sie ihn zärtlich auf die blassen Lippen. »Jetzt musst du aber bald gesund werden, Liebster.«

»Das will ich. Jetzt weiß ich wieder, wofür ich lebe.«

*

Für Benny und Sandra gab es augenblicklich noch etwas Wichtigeres. »Nun hat Joana doch einen Freund«, meinte Benny unwillig. »So schnell geht das.«

»Aber er ist nett«, sagte Sandra. »Er mag Kinder. Und Mami mag ihn auch.«

»Sie reden dauernd geschäftlich.«

Ja, das taten sie allerdings, und es wurden große Pläne geschmiedet, schließlich ging es auch darum, dass Viola eingesehen hatte, dass sie Zeit für ihren Mann und ihre Kinder haben musste, wenngleich auf Hilde weiterhin zu rechnen war.

Aber Ulrich hatte die Idee gehabt, in die Firma »Viola-Kindermoden«, einzusteigen. Er war ja mit der Branche vertraut, und Joana hatte schon bewiesen, dass sie alles mitbrachte, Viola voll zu ersetzen. Das war ja auch wichtig, denn nach seiner Genesung wollte Thomas erst mal einen langen Erholungsurlaub mit seiner Familie verbringen.

Zwei Wochen musste Thomas noch in der Klinik bleiben, aber er erholte sich schneller, als die Ärzte gedacht hatten. Viola und die Kinder besuchten ihn oft, und wenn Viola allein mit ihrem Mann sprechen wollte, denn es gab ja noch vieles, was der Klärung bedurfte, dann konnten Benny und Sandra mit den Norden­Kindern spielen, und das gefiel ihnen doch besser, als am Krankenbett des Papis zu sitzen, obgleich sie ihn nun voll akzeptierten. Große Pakete durften sie dann auch ins Waisenhaus bringen, denn das hatten sie nicht vergessen, dass es auch Kinder gab, die keine Eltern hatten.

Fee und Daniel waren heilfroh, dass auch in Ammerland der Familienfrieden zu Weihnachten gesichert war. Für Hilde Weber wurde es das schönste Weihnachtsfest ihres Lebens, für Joanna und Ulrich, die dazugehörten, der Beginn ihres gemeinsamen Lebens, denn Ulrich steckte Joana den Verlobungsring an den Finger. Und für Viola und Thomas zählte nur das Glück, wieder vereint zu sein, voller Dankbarkeit, die bedrohliche Krise überwunden zu haben.

Nach dem Urlaub, den sie in den Bergen verbrachten, übernahm Thomas die leitende Position in der Forschungsabteilung, die er angestrebt hatte. Sandra war auch mit ihrem Papi versöhnt, aber sie versicherte ihm auch energisch, dass sie bitterböse sein würde, wenn er wieder so lange fortgehe.

»Nie mehr«, versprach er.

Im Mai heirateten Ulrich und Joana, und dass sie einmal eine so große Hochzeit feiern würden, hätte sich Joana gewiss nicht träumen lassen. Ihr Brautkleid war von Viola entworfen und in der Werkstatt gefertigt worden, und jeder der Näherinnen hatte dazu beigetragen, dass es ein Gedicht wurde. Sie hatte sich auch deren Herzen erobert, aber nun bekam sie auch einen Mann, dessen Liebe sie sicher sein konnte. Und es gab niemanden, der ihr dieses Glück nicht gönnte.

Von Herbert Brandner hörte man nichts mehr. So töricht war er doch nicht, dass er Rachegelüste hegte, nachdem er aus der Haft entlassen war. Er setzte sich ins Ausland ab und ward nie mehr gesehen. Aber auch von Sonja Bertram hörte man nichts mehr, und niemand fragte nach ihr.

Was blieb, war die Freundschaft mit Fee und Daniel Norden, die innige Bindung zu Joana und Ulrich, die Erkenntnis, dass Liebe alles Leid vergessen ließ.

Dr. Norden Bestseller Staffel 20 – Arztroman

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