Читать книгу Dr. Norden Extra Staffel 2 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 6
ОглавлениеGertraud Bergen sah Dr. Norden an.
Sie wirkte bedrückt und ratlos. »Sie müssen jetzt unbedingt einmal an sich selbst denken«, sagte Dr. Daniel Norden energisch, wenn auch voller Mitgefühl.
»Wenn das so einfach ginge«, flüsterte Gertraud.
»Es muß gehen«, sagte Daniel Norden bestimmt. »Ihre Schwiegertochter wird es lernen, sich um die Kinder und den Haushalt zu kümmern. Sie kann es nicht immer als selbstverständlich hinnehmen, daß Sie alle Arbeit tun und dabei Ihre Gesundheit ruinieren.«
Er kannte die Verhältnisse bei den Bergens zur Genüge. Dr. Johannes Bergen hatte es seinerzeit gut gemeint, als er seine Mutter in den neuerbauten schönen Bungalow holte. Er wollte ihr, die er sehr liebte und der er viel verdankte, einen geruhsamen Lebensabend im Kreis der Familie verschaffen. Seine kapriziöse Frau Karina sah das anders und machte für sich das Beste daraus. Sie überließ so nach und nach sowohl die Fürsorge der beiden Kinder Corinna und Mark als auch den Haushalt der Schwiegermutter und hatte so viel Zeit, sich ihren Interessen zu widmen.
»Ich könnte ja mal mit Ihrem Sohn reden«, warf Dr. Norden vorsichtig ein.
Gertraud schüttelte den Kopf. »Johannes hat genug um die Ohren und arbeitet von früh bis spät. Er soll wenigstens zu Hause seine Ruhe haben.«
Dr. Johannes Bergen hatte eine Spitzenfunktion in einem Elektronik-Konzern und war entsprechend gefordert.
Nun wurde es Dr. Norden zuviel. »Auch wenn ein Mann beruflich stark engagiert ist, hat er die Pflicht, sich um die Belange seiner Familie zu kümmern. Das geht mir nicht anders.«
»Ich möchte meinem Sohn keine Schwierigkeiten machen.«
»Sie machen ihm keine Schwierigkeiten, wenn Sie endlich an Ihre Gesundheit denken! Und dazu ist es jetzt höchste Zeit, denn die Untersuchungen sind nicht zu meiner Zufriedenheit ausgefallen. Ihr Herz ist nicht in Ordnung, die Nierenfunktion muß gründlich überprüft werden. Sie müssen dringend zu einem Check up in die Klinik gehen. Ich kann Ihnen Dr. Behnisch empfehlen, er ist mein Freund, und ich könnte Sie schon avisieren.«
»Gut«, sagte Gertraud. »Ich rufe Sie an.«
»Aber bald«, mahnte Dr. Norden, befürchtete aber, so schnell nichts von ihr zu hören. Wie kann man dieser Frau nur helfen, fragte er sich. Aber nun konnte er sich nicht mehr weiter mit ihr beschäftigen, denn Wendy brachte den nächsten Patienten herein. Das Wartezimmer war voll.
Am Abend sprach er mit Fee über diesen Fall. Die Kinder schliefen, nachdem sie mit dem Papi gespielt und geschmust hatten. Die Zwillinge Jan und Dèsirée waren außer Rand und Band gewesen, sie entwickelten sich zu den reinsten Temperamentsbündeln mit umwerfendem Charme. Anneka dagegen war das Schmusekätzchen der Familie. Die »Großen«, Danny und Felix, waren schon verständige Jungen.
Daniel war stolz auf seine Kinderschar, die ihm soviel Freude machte. Gewiß – es gab auch Probleme, wo gab es die nicht, aber er und Fee waren verständige Eltern. Die Kinder konnten mit ihnen über alles reden und taten es auch.
Nun aber saß er mit Fee zusammen, und das genossen beide. Sie waren ein harmonisches Ehepaar, wie es selten geworden war. Auch er konnte mit seiner Frau über alles reden, oft suchte er ihren Rat.
Als er über die Familie Bergen sprach, zog Fee die Brauen hoch. »Karina Bergen kenne ich, wie treffen uns gelegentlich beim Friseur. Sie ist ziemlich oberflächlich, wichtig ist ihr nur ihre Freiheit. Die Kinder überläßt sie frohgemut der Omi. Das jüngere der beiden Kinder ist übrigens gehbehindert, es soll mit besonderer Liebe an der alten Dame hängen. Das Kind paßt anscheinend nicht zu Karinas Prestigeempfinden. Ich kann verstehen, daß sich Frau Bergen ungern von der Familie entfernt, sie wird vor allem von den Kindern gebraucht und von der Schwiegertochter so richtig ausgenutzt. Sie müßte sich einmal richtig durchsetzen, aber wie kann man ihr dabei helfen?«
»Uns muß was einfallen, Feelein. Sie ist nicht gesund«, sagte er und nahm seine Frau in die Arme.
Dann dachten sie nur noch an sich.
Die Nordens ahnten nicht, daß sie sich umsonst Sorgen machten.
*
Daniel staunte, als schon zwei Tage später Frau Bergen anrief. Sie sei bereit, in die Klinik zu gehen. Ob Dr. Norden alles veranlassen könne?
Er konnte und tat es nur allzu gern.
Die Sprechstunde war zu Ende, und seine Sprechstundenhilfe Wendy legte ihm zwei Mappen heraus von Patienten, die von Dr. Norden in die Behnisch-Klinik überwiesen worden waren und über die er heute mit Dieter Behnisch sprechen wollte.
»Legen Sie mir bitte die Unterlagen von Frau Bergen heraus. Die nehme ich auch gleich mit.«
Dr. Behnisch runzelte die Stirn, als er später die Befunde von Frau Bergen durchsah. »Da liegt aber einiges im argen.«
Dr. Norden hatte ihm die Situation der Patientin geschildert. Dieter würde sich um sie besonders kümmern, und Daniel war gespannt, aus welchem Anlaß sie sich so plötzlich zu dem Klinikaufenthalt durchgerungen hatte.
»Wie geht es denn deinem Fernsehstar?« fragte Daniel.
Dieter Behnisch runzelte erneut die Stirn. »Sie macht mir immer noch Sorgen. Aber sie ist endlich aus dem Koma erwacht, das läßt uns hoffen.«
Cordula Bürgner war nicht die erste prominente Patientin, die die Behnischs betreuten. Ihre Klinik war über die Grenzen der Stadt hinaus bekannt.
»Es ist eine dramatische Geschichte«, sagte Daniel. Er hatte sie von Anfang an verfolgt.
»Wir sehen uns dann, wenn morgen etwas Besonderes mit Frau Bergen ist…«
»…sage ich dir Bescheid.«
Dieter Behnisch und Dr. Norden verabschiedeten sich. Die Zeit war knapp.
*
Cordula Bürgner nach drei Monaten aus dem Koma erwacht!lautete die Schlagzeile eines Boulevardblattes. Sie war fettgedruckt.
Dr. Jenny Behnisch hatte die Zeitung auf dem Schreibtisch liegen, und als Dr. Dieter Behnisch ihr Zimmer betrat, deutete sie darauf.
Sofort verdüsterte sich seine Miene. »Wer konnte da mal wieder den Mund nicht halten?« fragte er unwillig. »Jetzt werden wir uns vor Reportern nicht retten können. Es darf aber niemand zu der Patientin, auch die Verwandten nicht, bis sie ansprechbar ist und es selbst verlangt.«
»Dr. Marten hat schon angerufen, wann er dich sprechen kann«, sagte Jenny.
»Hast du ihm einen Termin gegeben?«
»Er hat es sehr dringend gemacht. Er kommt um elf Uhr.« Jenny sah ihren Mann fragend an, aber er nickte.
»Er ist schließlich ihr Anwalt und ein Freund des Hauses«, meinte er nur. »Ich gehe jetzt zu ihr.«
Er hatte nicht gelesen, was da gedruckt stand. Niemand wußte seit drei Monaten über Cordula Bürgner besser Bescheid als er. Daß sie überhaupt noch lebte, verdankte die junge Frau ihm.
Vor drei Monaten hatten andere Schlagzeilen über sie und den schweren Unfall berichtet, der das Leben des bekannten Fernsehstars verändern sollte. Sie hatte mit ihrem Mann, dem Fabrikanten Thomas Bürgner, und ihrem dreijährigen Sohn Ulrich einen Skiurlaub in der Schweiz verbracht. In ihrer Privatmaschine, die von Thomas Bürgner selbst geflogen wurde, hatten sie den Rückflug angetreten. Wegen eines Motorschadens, der noch immer Rätselraten verursachte, hatte die Maschine notlanden müssen, aber es war eine Bruchlandung geworden, bei der das Ehepaar schwerste Verletzungen erlitten hatte. Der kleine Ulrich war wie durch ein Wunder mit leichteren Verletzungen davongekommen.
Thomas Bürgner war noch am selben Tag gestorben, Cordulas Leben in der Behnisch-Klinik gerettet worden, aber sie lag seither im Koma. Die Verletzungen, so schwer sie auch waren, heilten, ihr Herz hielt allen Belastungen stand. Sie wurde künstlich ernährt, es wurde alles für sie getan, was ärztliche Kunst und Medikamente vollbringen konnten. Dr. Behnisch gab die Hoffnung nicht auf.
Sein Einsatz sollte belohnt werden!
Vor zwei Tagen hatte Cordula Bürgner die Augen aufgeschlagen. Sie hatte ihn angesehen und wohl auch erkannt, aber es war noch kein Laut über ihre Lippen gekommen, nur ein leises, schmerzvolles Stöhnen. Dr. Behnisch wußte, daß man ganz behutsam vorgehen mußte, denn ein neuer Schock konnte alles bisher Erreichte zunichte machen.
Er war erzürnt, daß die Öffentlichkeit schon informiert worden war, und Schwester Nora sah es ihm an, daß er gereizt war. Natürlich hatte sie die Zeitung auch schon gelesen.
»Wer hat wohl geschwätzt?« fragte Dieter Behnisch streng.
»Ich weiß es nicht, von uns will es niemand gewesen sein. Aber eine unbedachte Äußerung kann Wellen schlagen. Gestern haben wir Frau Lang am Blinddarm operiert. Ihr Mann ist bei der Zeitung.«
»Bei dieser Zeitung nicht, und er wird der Konkurrenz keine Informationen geben«, sagte Dieter Behnisch nachdenklich. »Aber wie ist es mit Lernschwester Ulla? Sie ist doch so eine kleine Wichtigtuerin.«
»Ich werde sie mal ins Gebet nehmen«, erklärte Schwester Nora.
»Jetzt ist nichts mehr zu ändern. Jedenfalls wird niemand zu der Patientin gelassen! Und ich will nicht gestört werden, solange ich bei ihr bin.«
Cordula lag mit geschlossenen Augen im Bett, aber als Dr. Behnisch nach ihrer Hand griff, hoben sich langsam ihre Lider.
»Wir kennen uns, Frau Bürgner«, sagte er. »Sie hatten einen Unfall.«
Sie schloß die Augen und öffnete sie wieder, was wohl ein Nicken, das ihr nicht möglich war, ersetzen sollte.
Ein kläglicher Laut kam über ihre Lippen. Als »Ja« konnte man es nicht deuten, aber es war die Bestätigung, daß sie nicht reden konnte. Es stimmte ihn besorgt. Aber hören konnte sie anscheinend. Er wollte die Bestätigung haben.
»Sie können mich verstehen, Frau Bürgner? Schließen Sie wieder kurz die Augen, und wenn Sie etwas nicht verstehen, tippen Sie auf meine Hand.«
Sie verstand ihn, aber ihrem gequälten Blick entnahm er, daß sie auch Fragen stellen wollte. Erfreulich war, daß ihre Gehirnzellen arbeiteten. Ihr Zeigefinger zeichnete jetzt ein »U« auf die Bettdecke. U für Ulrich… so deutete er es.
»Ihrem Sohn geht es gut. Er befindet sich bei Ihrer Schwester.«
Ihm schien es, als wäre sie erschrocken, und sie wurde auch unruhig. Was das bedeuten sollte, konnte er sich nicht erklären, aber dann kam es ihm in den Sinn, daß sie ja noch gar nicht wußte, daß ihr Mann tot war. Dr. Behnisch befand sich jetzt in einem Zwiespalt.
»Erinnern Sie sich an den Unfall?« fragte er. Sie bewegte leicht verneinend den Kopf, das ging wohl leichter als das Nicken.
»Das Flugzeug mußte notlanden, aber es ging zu Bruch.« Ihre Augen weiteten sich. Ihre Finger preßten sich in seinen Handrücken.
»Ulrich erlitt nur leichtere Verletzungen«, erklärte Dr. Behnisch stockend. »Ihr Mann hat nicht überlebt.«
Sie sah ihn jetzt mit einem Blick an, der Bände sprach, aber nicht von Schmerz und Trauer. Das berührte ihn seltsam.
Er ergriff jetzt ihre beiden Hände, in denen noch nicht viel Leben war, aber sie bebten jetzt.
»Ihr Zustand wird sich durch eine besondere Therapie weiterhin bessern, Frau Bürgner. Sie werden sicher auch bald sprechen können. Sicher wollen Sie Ihren Sohn sehen.«
Sie schloß die Augen, und nun kamen Tränen. Dr. Behnisch tupfte sie behutsam ab.
»Ich werde dafür sorgen, daß er Sie in ein paar Tagen besucht. Er befindet sich jetzt in Garmisch bei Ihren Verwandten.«
Ein trockenes Schluchzen schüttelte sie, und ihm wurde bange.
»Sie dürfen sich jetzt nicht aufregen, Frau Bürgner. Je schneller Sie gesund werden, desto eher werden Sie wieder mit Ihrem Kind zusammen sein. Sie müssen jetzt mithelfen. Sie können es!«
Da nickte sie, als wolle sie beweisen, daß sie nicht resignierte.
*
Schwester Nora setzte sich dann zu Cordula ans Bett, bis diese ruhig schlief. Sie bekam jetzt besondere Injektionen, die ihre Widerstandskraft stärken sollten. Sie zeigten bei ihr eine fantastische Wirkung. Dr. Behnisch rechnete es ihnen zu, daß Cordula aus dem Koma erwacht war. Aber was bedeutete die Angst, die in ihren Augen zu lesen gewesen war? Angst um ihr Kind? Glaubte sie es nicht, daß Ulrich lebte?
Dr. Behnisch war jetzt froh, daß Dr. Marten sich angemeldet hatte. Er beschloß, sich für ihn Zeit zu nehmen. Er nahm an, daß Dr. Marten Cordula besser kannte als sonst jemand. Er hatte sich auch laufend nach ihrem Befinden erkundigt, während Joana Heeren ihre Schwester anscheinend schon abgeschrieben hatte. Bei ihr lebte Ulrich. Sie selbst hatte keine Kinder und war mit einem Gastronom verheiratet.
Bisher hatte sich Dr. Behnisch um die Familienverhältnisse der schönen Schauspielerin keine Gedanken gemacht, aber jetzt ging ihm manches durch den Sinn.
Auf die Nachricht vom Tod ihres Mannes hatte Cordula starr reagiert. Es schien ihr auch nicht zu behagen, daß ihr Sohn jetzt bei ihrer Schwester lebte.
Dr. Behnisch hatte viel Lebenserfahrung, und er war ein guter Psychologe. Er konnte in den Gesichtern seiner Patienten lesen. Das mußte er auch können, denn viele verschlossen Schmerz und Kummer in sich und gefährdeten so ihre Genesung. Er machte jetzt seine Visite und konnte feststellen, daß Lisa Lang sich schon wieder erholt hatte von der Operation und viel unternehmungslustiger war, als sie eigentlich sein sollte.
Sie hatte ein Einzelzimmer. Mit ihr konnte er sich unterhalten. Sie hatte auch etwas auf dem Herzen.
Sie hatte nämlich auch die Schlagzeilen gelesen. »Ich möchte wissen, wie das so schnell publik werden konnte«, sagte sie. »Zu der Zeitung haben Sie gewiß keine Verbindung, Herr Doktor, oder?«
»Ich bin sehr verärgert«, gab er zu, »aber ich weiß nicht, wo die undichte Stelle ist.«
»Frau Frankl vielleicht? Sie liegt noch hier. Mein Mann hat es mir gesagt. Er hat ihren Schwager in der Halle getroffen, und der verkauft alles, was er nur in die Ohren kriegt. Aus zwei Worten macht er gleich eine wilde Story.«
»Danke für den Hinweis, aber jetzt ist es nun mal passiert. Es wird niemand an Frau Bürgner herankommen.«
»Das ist ja auch zu tragisch. Ich habe sie ein paarmal bei Premieren getroffen. Sie ist eine so charmante, geistreiche Frau gewesen, wirklich überhaupt nicht eingebildet! Verstanden hat man es nur nicht, daß sie ausgerechnet Thomas Bürgner geheiratet hat.«
»Warum meinen Sie das?«
»Er war doch nur ein eiskalter Geschäftemacher. Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, daß eseine Liebesehe war.«
Lisa Lang war keine Plaudertasche, sie sagte nur, was ihr in den Sinn kam. Sie war eine sehr sympathische Frau, und daß sie ihren Mann liebte und er sie, war offensichtlich. Daran zweifelte niemand. Und Lisa Lang erklärte Dr. Behnisch, daß sie spätestens am Samstag zu Hause sein wollte.
Es war dann bald elf Uhr. Dr. Behnisch hatte gerade Zeit, eine Tasse Kaffee zu trinken und Schwester Nora zu sagen, daß sie Frau Frankl mal ein bißchen auf den Zahn fühlen solle.
»Da fällt mir ein, daß sie mich heute schon aushorchen wollte wegen Frau Bürgner, aber ich sage nichts, das wissen Sie doch.«
»Die anderen haben aber auch gefälligst den Mund zu halten. Frau Bürgner ist für alle tabu. Nichts wird geredet.«
»Ich weiß Bescheid und werde alle anderen Schwestern dementsprechend unterrichten«, versicherte Nora.
Auf Nora konnte er sich verlassen, aber für wen sonst konnte er schon die Hand ins Feuer legen? Cordula Bürgner war nicht nur prominent, sie war auch ein interessanter Fall.
Seine Sekretärin meldete ihm Dr. Marten, und nun hoffte Dr. Behnisch, mehr über Cordula Bürgner und ihren Mann zu erfahren.
Constantin Marten, Rechtsanwalt und Syndikus der Bürgner AG, ungefähr vierzig Jahre und eine recht markante Erscheinung, wirkte sehr ernst.
Dr. Behnisch fand ihn sympathisch, denn es war nicht ihre erste Begegnung. Er war schon öfter hier gewesen und hatte sich eingehend nach Cordulas Befinden erkundigt.
»Stimmt es, was in der Zeitung steht, Dr. Behnisch?« fragte er.
»Ich muß gestehen, daß ich nur die Schlagzeilen gelesen habe. Ja, es stimmt, daß Frau Bürgner aus dem Koma erwacht ist, aber wir rätseln, durch wen diese Tatsache bekannt wurde. Jetzt ist es nicht mehr zu ändern, aber wir schirmen die Patientin ab. Besuch darf sie erst empfangen, wenn sie ihre Zustimmung gibt. Aber vorerst kann sie noch gar nicht sprechen.«
»Weiß sie, daß Thomas tot ist?« fragte Dr. Marten.
»Ich habe es ihr gesagt, und ich habe ihr auch gesagt, daß Ulrich lebt. Auf den Tod ihres Mannes hat sie nicht reagiert, als ich aber sagte, daß Ulrich bei ihrer Schwester sei, begann sie zu zittern. Das finde ich eigenartig.«
»Es ist ihre Halbschwester, und an sich haben die beiden Frauen sich nie besonders gut verstanden.«
»Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir mehr erzählen würden. Es kann für die Therapie nützlich sein. Wir wollen nichts falsch machen. Gerade wenn sich ein Patient nicht richtig artikulieren kann, ist es wichtig, wenn man ihm weiterhelfen kann – aber auch nichts Falsches sagt.«
»Nun, ich werde Ihnen sagen, was ich weiß: Cordula und Joana hatten einen Vater, aber zwei verschiedene Mütter. Cordulas Mutter war eine sehr vermögende Frau, und sie hielt den Daumen auf ihr Geld. Sie trennte sich von Cordulas Vater schon nach dreijähriger Ehe und heiratete wieder einen sehr reichen Mann. Irgendwie hatte es der Vater fertiggebracht, das Kind zugesprochen zu bekommen. Cordula hing wohl auch an ihm, soviel ich weiß. Jedenfalls noch bis zu dem Tag, an dem er wieder heiratete. Kurze Zeit später kam Joana zur Welt. Wie sich Cordula verhielt, weiß ich nicht, jedenfalls kam sie zu ihrer Mutter zurück, als sie zwölf war und Helenes Mann gestorben war. Sie lebte dann in sehr großzügigen Verhältnissen. Ihre Mutter hatte auch nichts dagegen, daß sie Ballett- und Schauspielunterricht nehmen wollte. Helene war eine sehr lebenslustige und weltoffene Frau.«
»Sie kannten sie persönlich?«
»Nein, mein Vater war ihr Anwalt. Ich kannte sie schon, aber ich war ja damals noch ein Junge. Cordula kenne ich von Jugend an. Als Cordulas Mutter starb, nahm Hollenstedt wieder engeren Kontakt zu dem Mädchen auf. Er dachte wohl auch, er würde von ihrem Vermögen profitieren, denn sie war ja Helenes Alleinerbin, aber Cordula war sehr distanziert zu seiner zweiten Frau und auch zu Joana, die die Ältere glühend beneidete. Ich muß es so sagen, obgleich sie es dann verstand, sich doch bei Cordula einzuschmeicheln. Cordula war großzügig, auch ihrem Vater gegenüber, der bei seinem Tod nicht viel hinterließ. Das Geld bekam alles Joana, so wollte es Cordula. Joana heiratete schließlich den Hotelier Jochen Heeren. Er scheint ziemlich unter ihrem Pantoffel zu stehen. Sie haben sich gleich bemüht, Ulrich zu sich zu nehmen, und sie wurden auch als einzige Anverwandte anerkannt. Ich hätte den Kleinen auch gern zu mir genommen, aber ich bin nicht verheiratet. Ich möchte nicht laut sagen, daß sie damit wohl auch finanzielle Interessen verbindet, aber aus purer Zuneigung hat sie es sicher nicht getan.«
»Und wie war es um die Ehe der Bürgners bestellt? Können Sie dazu etwas sagen?«
Dr. Marten blickte zu Boden. »Mein größter Fehler war, daß ich die beiden miteinander bekanntgemacht habe. Aber ich habe nicht gedacht, daß es zu einer Heirat kommen würde. Doch Cordula war überglücklich, als Ulrich geboren wurde. Ich hätte auch nie geglaubt, daß sie eine so gute Mutter sein würde. Fortan stand das Kind an erster Stelle.«
»Durch Sie haben sich die beiden also kennengelernt…« Dieter Behnisch sah Dr. Marten fragend an.
»Thomas besaß ein Landhaus, sehr idyllisch gelegen. Durch Zufall war es Cordula einmal aufgefallen, und sie fand es als Drehort für einen Film sehr geeignet. Damals dachte er nicht daran, das Haus zu vermieten. Er hatte es ja auch nicht nötig. Cordula hatte mich um Vermittlung gebeten, aber ich hatte eine Absage bekommen. Da wollte sie es selbst versuchen. Was sie sich mal in den Kopf gesetzt hatte, erreichte sie meistens auch. Ich machte sie also mit Thomas bekannt, und er wurde butterweich. Cordula hatte gerade eine ziemliche Enttäuschung erlebt und war wohl empfänglich für seine Art, um sie zu werben. Es wurde sehr schnell geheiratet – auch das machte Schlagzeilen.«
»Um solche Schlagzeilen habe ich mich nie gekümmert«, sagte Dr. Behnisch.
»Thomas hatte ihr das Landhaus zur Hochzeit geschenkt, und er überschüttete sie mit Geschenken. Aber er war krankhaft eifersüchtig. Er war fünfzehn Jahre älter als sie. Sie sollte nur noch für ihn und das Kind da sein. Aber Cordula war korrekt; sie hatte Verträge einzuhalten. Es gab bald Spannungen zwischen ihnen. Man kann wahrhaftig nicht sagen, daß es die ideale Ehe war. Cordula war an sich ein freier, kontaktfreudiger Mensch, sehr kollegial, und sie war auch außerordentlich beliebt. Thomas war das Gegenteil. Er war der Boß, er wollte alles bestimmen. Er wurde auch von den Angestellten mehr gefürchtet als respektiert. Es gefiel ihm schon, daß Cordula dem Namen Bürgner Glanz verlieh, aber es gefiel ihm gar nicht, daß sie in ihrem Beruf mit anderen Männern zusammenkam, die sie bewunderten, die sich wohl auch um sie bemühten. Es kam soweit, daß er so oft wie möglich bei den Filmaufnahmen dabei war, und er wollte sogar die Produktionsfirma kaufen, was ihm aber nicht gelang. Es war der erste längere Urlaub, den sie in der Schweiz verbrachten, der dann so schrecklich endete. Mir ist dieser Unfall unerklärlich. Thomas war ein guter Pilot. Ich bin oft mit ihm geflogen, nach Mailand, nach Brüssel, Hamburg und so weiter. Die Maschine war immer bestens gewartet.«
»Es wurde festgestellt, daß Bürgner neben den anderen schweren Verletzungen einen Herzinfarkt erlitten hatte. Ob erst bei der Bruchlandung oder schon früher, weiß man allerdings nicht. Es muß ja auch alles sehr schnell gegangen sein.«
»Aber man hat einen Motorschaden festgestellt«, warf Constantin Marten ein.
»Mag ja sein, daß er sich darüber aufgeregt hat«, sagte Dr. Behnisch ruhig. »Bürgner hatte schon einen Herzinfarkt hinter sich, und er hatte, laut Autopsie, ein Aneurysma. Die Rupturblutung aus der Aorta wäre auch ohne die anderen Verletzungen tödlich gewesen.«
»Das wußte ich bisher nicht«, sagte Constantin leise.
»Es ist gut, daß wir uns jetzt unterhalten… und daß Sie so offen sind, Dr. Marten. Es hilft mir, die Patientin auch in psychischer Hinsicht besser zu erfassen, wenn es zu Gesprächen kommt. Ich hoffe, daß es keine anhaltende Sprachlähmung sein wird.«
»Ich will nur hoffen, daß Cordula wieder soweit gesund wird, daß sie selbst für ihren Sohn sorgen kann. Ich glaube nicht, daß er bei Joana gut aufgehoben ist. Aber da ist meine ganz persönliche Meinung. Andere kann sie bestimmt täuschen.«
Dr. Behnisch betrachtete ihn nachdenklich. »Sie meinen also, daß das Kind nicht liebevoll genug versorgt wird?«
»Soweit kennt ich Joana, daß für sie nur finanzielle Vorteile zählen, daß sie wohl gar damit gerechnet hat, daß Cordula nicht überleben wird. Dann wäre Ulrich Alleinerbe, und er braucht natürlich Pflegeeltern und einen Vormund.«
Dr. Behnisch runzelte die Stirn. »Das sind natürlich auch Argumente, die Beachtung verdienen.«
»Und ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie Cordula bald zu einer Entscheidung über den Aufenthalt des Jungen bringen könnten.«
»Sie wird sich noch monatelang nicht um ihn kümmern können«, erklärte der Arzt. »Es sei denn, man könnte sie in absehbarer Zeit gemeinsam mit dem Kleinen in einem Sanatorium unterbringen. Da Sie der Anwalt und wohl auch beste Freund sind, kann ich Ihnen sagen, daß Frau Bürgner wieder schwanger war… etwa im zweiten Monat. Es könnte sein, daß es sie auch seelisch belasten würde, wenn wir ihr sagen müssen, daß sie das Kind verloren hat.«
Constantin war kreidebleich geworden.
»Sie war schwanger? Mein Gott«, sagte er bebend. »Sie ist so sensibel, Dr. Behnisch. Bitte, seien Sie ganz behutsam.«
»Das ist selbstverständlich.«
Constantin erhob sich geistesabwesend. »Ich darf sie doch hoffentlich wenigstens sehen?« sagte er leise.
»Bei Ihnen mache ich eine Ausnahme. Vielleicht können Sie mit zu einer rascheren Genesung beitragen.«
Davon sollte er am Krankenbett von Cordula Bürgner überzeugt werden, denn als Constantin ihre Hände küßte, schlug sie die Augen auf, und der Hauch eines Lächelns glitt über ihr Gesicht und verklärte es.
»Constantin«, sagte sie, und Dr. Behnisch stand starr vor Staunen, denn dieser Name war der erste Laut, der über ihre Lippen kam. Es war so, als hätte sich ein Kloß in ihrem Hals aufgelöst.
»Du mußt gesund werden, Cordula«, sagte Constantin. »Ulrich braucht dich… und ich auch.«
Seine Augen waren feucht, als er sich aufrichtete und Dr. Behnisch ansah, während Cordula gleich wieder eingeschlummert war.
»Sie hat mich erkannt«, murmelte er, »sie hat meinen Namen gesagt! Jetzt bin ich zuversichtlich.«
»Ich auch«, erwiderte Dr. Behnisch. »Es wäre gut, wenn Sie öfter kommen würden.«
»Jeden Tag, wenn es erlaubt ist.«
*
In Garmisch knallte Joana Heeren ihrem Mann die Zeitung mit der Schlagzeile auf den Tisch, als er mittags heimkam. Sie wohnten nahe beim Hotel in einem Einfamilienhaus.
»Ich habe es schon gelesen«, sagte er rauh, »es wird überall darüber gesprochen. Cordula ist schließlich noch nicht vergessen.«
»Und unsere Träume lösen sich in Wohlgefallen auf«, sagte sie gereizt.
»Deine Träume, Joana«, konterte er, »laß mich aus dem Spiel.«
»Profitiert hättest du aber gern«, zischte sie. »Ich bin wenigstens ehrlich. Meinetwegen hätte sie sterben können.«
»Aber der Junge ist dir doch jetzt schon lästig«, sagte er anzüglich.
»Was fängt man denn schon mit einem Kind an, das geistig zurückgeblieben ist«, sagte sie zornig. »Er redet kaum, er lacht nicht, er starrt mich immer nur so komisch an.«
»Er ist nicht geistig zurückgeblieben. Er hat den Schock noch nicht überwunden, hat Dr. Halmer gesagt.«
»Der redet viel, wenn der Tag lang ist. Er will ja nur mit seiner Therapie verdienen. Als ob ein Kind schon begreift, was autogenes Training und so ein Schmarren ist.«
»Du hast dem Kleinen eingeredet, daß Cordula tot ist. Er kann sich das nicht vorstellen. Das will er wohl auch nicht. Er vermißt auch seinen Vater und die gewohnte Umgebung.«
»Ach was, Kinder vergessen schnell. Er hat einen Gehirnschaden davongetragen, aber die Ärzte wollen davon ja nichts wissen.«
»Und du denkst nur daran, daß er der Erbe ist, wenn Cordula stirbt. Aber sie wird nicht sterben. Sie ist bei den besten Ärzten, und mir ist es so auch lieber.«
»Auf einmal«, sagte sie und drehte ihm den Rücken zu. »Früher hast du auch gesagt, daß ich benachteiligt bin.«
»Da habe ich auch noch nicht alles so genau gewußt. Du hättest mir von Anfang an reinen Wein einschenken müssen, Joana. Ich wußte ja nicht, daß du nur Cordulas Stiefschwester bist… und daß sie ihr Vermögen von ihrer Mutter hat, nicht von eurem Vater.«
»Du hättest mich wohl auch nicht geheiratet, wenn du es gewußt hättest«, stieß sie giftig hervor. »Für mich war Cordula jedenfalls immer meine Schwester.«
»Aber du sähest sie lieber tot«, entgegnete er. »Selber willst du keine Kinder haben, aber von Ulrich willst du profitieren.«
»Ich kann keine Kinder bekommen«, widersprach sie heftig.
»Das willst du mir einreden. Ich werde darauf bestehen, daß du dich untersuchen läßt, und ich kann den Befund verlangen. Jetzt weiß ich ja, worum es dir wirklich geht, da ich sehe, wieviel du für den Jungen übrig hast. Mir kannst du nichts mehr vormachen. Und jetzt…«, er deutete auf die Zeitung, »weiß ich es ganz genau.«
Ihre Augen wurden schmal. »Ich fahre mit Ulrich weg. Er braucht Luftveränderung, vielleicht geht es ihm dann besser. Und du wirst brav sein und deinen Mund halten, sonst könnte es dir plötzlich ganz dreckig gehen, mein Lieber. Ich brauche dich wohl nicht zu erinnern, was ich alles weiß von dir und deinen Grenzgeschäften.«
Und Jochen Heeren verfluchte wieder einmal den Tag, an dem er Joana kennenlernte und sich Hals über Kopf in sie verliebte. Aber natürlich hatte es da auch eine Rolle gespielt, daß sie Cordulas Schwester war, und der Name Cordula Hollenstedt war bekannt.
»Ich fahre mit Ulrich weg«, sagte sie noch einmal.
»Wohin?«
»Ich weiß es noch nicht. Aber ich packe gleich die Sachen.«
Er wagte keinen Widerspruch. Er kannte Joana. Sie würde ihre Drohungen wahrmachen.
»Du solltest alles reiflich überlegen«, sagte er eindringlich. »Man könnte dir daraus einmal einen Strick drehen.«
»Ich weiß, was ich tue«, erwiderte sie zynisch. »Auf deine Ratschläge kann ich verzichten.«
*
Ulrich saß in seinem Zimmer und spielte. Seine Spielsachen waren hergeholt worden, zwar nicht alle, aber doch eine ganze Menge.
Er blickte nicht auf, als Joana eintrat. Er drückte nur seinen Teddy an sich und murmelte etwas vor sich hin.
»Wir fahren weg, Ulrich« sagte Joana.
»Ich will zu Mami«, jammerte der Kleine statt einer Antwort.
»Du kannst nicht zu ihr, das habe ich schon oft gesagt. Wir fahren jetzt irgendwohin, wo es schön ist. Es wird dir gefallen.«
Er schüttelte den Kopf und legte sich auf den Boden, über die Plüschtiere.
»Dann will ich zu Papi«, sagte er.
»Dein Papi ist tot. Du weißt doch, daß ihr mit dem Flugzeug abgestürzt seid.«
Sie hatte es nie verstanden, auf das Kind einzugehen. Sie hatte nicht das geringste Gespür dafür, wie man auf ein Kind eingehen mußte, um Vertrauen zu gewinnen. Sie gab ihm Spielzeug, zu essen, Schokolade und wonach er verlangte, aber mütterliche Zärtlichkeit war ein fremder Begriff für sie.
»Stell dich jetzt nicht so an, wir fahren gleich«, sagte sie.
»Ich will nicht«, stieß Ulrich trotzig hervor.
»Und wenn ich dich zu deiner Mami bringe?«
Er starrte sie an. »Du hast gesagt, sie ist tot«, stieß er hervor.
Es war das erste Mal, daß er so reagierte. »Du hast das falsch verstanden, Ulrich. Der Papi ist tot, aber die Mami liegt immer noch in der Klinik. Sie schläft und kann nicht reden und essen. Das ist fast so wie tot. Sie weiß gar nicht mehr, daß es dich gibt, Ulrich.«
Der Junge preßte die Lippen aufeinander und sagte nichts mehr.
Joana packte zwei Koffer, und die brachte sie gleich zu ihrem Wagen. »Jetzt such dir aus, was du für Spielsachen mitnehmen willst«, sagte sie drängend. »Ich habe doch gesagt, wir fahren zu deiner Mami.«
Das war ein Zauberwort für Ulrich. Er nahm seinen Teddy, das Lämmchen und den Plüschhund und trottete hinter Joana her.
Es war erschütternd, wie entsagungsvoll das Kind gehorchte. Da war kein Trotz, kein Aufbegehren, nur Resignation wie bei einem Menschen, der alles Leid der Welt erlebt hatte.
Ulrich war noch keine vier Jahre alt. Er konnte noch nicht voll begreifen, was sein Leben veränderte, und dennoch ging in seinem kleinen Kopf schon vieles vor sich. Er war ein ganz besonders hübsches Kind, aber er wirkte jetzt wie eine aufgezogene Puppe. Vielleicht dachte er auch, daß nun doch wieder Abwechslung in sein Leben kommen würde. Aber wer hätte schon ergründen können, was wirklich in ihm vorging?
Joana setzte ihn auf den Rücksitz ihres Wagens und schnallte ihn an. Um sein Leben war sie schon besorgt, das wollte sie nicht riskieren, und jetzt dachte sie auch, daß es noch gar nichts besagte, daß Cordula aus dem Koma erwacht war. Ihr Verstand konnte ja gelitten haben, und sie würde vielleicht ewig ein Pflegefall bleiben, wenn sie trotzdem am Leben blieb.
Von ihr sollte man jedoch den Eindruck haben, daß sie alles für Ulrich tat und um seine Gesundheit sehr besorgt war.
»Wann darf ich zu Mami?« fragte Ulrich, als sie unterwegs waren.
»Das weiß ich noch nicht genau. Ich muß erst fragen, Ulrich. Sie wird dich vielleicht gar nicht mehr erkennen, und du sie auch nicht.«
»Ich kenne meine Mami«, erklärte er trotzig.
Joana konzentrierte sich auf die Straße. Erst, als sie schon über der Grenze war – man hatte sie durchfahren lassen, ohne nach dem Paß zu fragen –, entschied sie sich für Seefeld. Da war wenigstens etwas los, da fiel man nicht auf.
Außerdem gab es ein neues Hotel in der Nähe, sehr komfortabel und ein bißchen abgelegen. Das könnte gerade recht sein. Zu sparen brauchte sie ja nicht. Als Betreuerin von Ulrich hatte sie genug Geld bekommen, und für den Jungen brauchte sie nicht viel. Kleidung für ihn war genug vorhanden gewesen. Sie hatte ja alles holen können. Am liebsten wäre sie ja eingezogen in diese luxuriöse Villa, aber sie mußte ja den Schein wahren und allzu nahe wollte sie der Behnisch-Klinik auch nicht sein.
In der Überzeugung, daß Cordula die schweren Verletzungen nicht überleben würde, hatte sich Joana alles schlau ausgedacht. Unter Skrupeln hatte sie noch nie gelitten.
»Da sind viele Berge«, sagte Ulrich, der jetzt interessiert zum Fenster hinausblickte.
»Wo wir hinfahren, ist es schön«, sagte Joana.
»Und Mami ist auch da?«
»Wir können sie noch nicht gleich besuchen, Ulrich. Du mußt Geduld haben.«
»Was ist Geduld?« fragte er.
»Wenn man warten muß.«
»Ich habe schon lange gewartet.«
Soviel auf einmal hatte er in all den Wochen nicht gesprochen. Und es klang gar nicht so, als hätte er einen Gehirnschaden erlitten. Joana schöpfte Hoffnung, daß er nun zutraulicher werden würde. Jetzt wollte sie sich ja darum bemühen, um nicht alles aufs Spiel zu setzen.
»In Garmisch konnte ich die Berge gar nicht sehen«, sagte Ulrich.
»Du wolltest ja nie spazierengehen.«
»Weil immer so viele Leute da waren. Ich mag nicht reden mit Fremden.«
»Aber mit mir kannst du doch reden, Ulrich.«
»Nur, wenn du mich zur Mami bringst.«
»Ich verspreche es dir«, sagte sie.
*
In der Behnisch-Klinik wurde zu dieser Zeit ein fünfjähriger Junge eingeliefert, der Sohn des bekannten Fernseh-Regisseurs André Riedmann. Akute Blinddarmentzündung lautete die Diagnose.
Riedmann war schrecklich aufgeregt. Er wollte auch in der Klinik bleiben, bis der Junge operiert war. Schwester Nora hatte ihn unter ihre Fittiche genommen. Sie konnte am besten Trost spenden.
Dr. Jenny Behnisch stellte fest, daß der kleine Patient in höchster Gefahr schwebte.
»Wenn meinem Sohn etwas passiert, bringe ich sie um!« stöhnte indessen André Riedmann.
»Aber ich habe Ihnen nichts getan«, sagte Nora erschrocken, »und unsere Ärzte können auch nichts dafür, daß es ein akuter Blinddarm ist.«
»Ich meine auch nicht Sie und die Ärzte, sondern meine Frau«, stieß er zornig hervor. »Sie muß ja auf eine Modenschau gehen, anstatt das Fieber ernst zu nehmen. Und diese blöde Trine kocht ihm auch noch Schokoladenpudding.«
Nora seufzte in sich hinein. Ein akuter Blinddarm konnte schon gefährlich werden, wenn der Patient vorher auch noch gegessen hatte, aber aus André Riedmann war nicht herauszubringen, ob der kleine Benjamin etwas gegessen hatte. Er hatte Angst um seinen Sohn, er liebte ihn sehr, das merkte Schwester Nora.
»Wir werden sofort operieren«, sagte Jenny, »der Kleine ist sowieso fast bewußtlos.«
Das Team stand schon bereit. Der Junge wurde in den OP geschoben. Draußen wischte sich Riedmann kalten Schweiß von der Stirn, und Schwester Nora betrachtete ihn besorgt.
»Bitte, beruhigen Sie sich doch, Herr Riedmann«, sagte sie, »unsere Ärzte haben schon schlimmere Fälle hinbekommen.«
»Dem Jungen darf nichts passieren. Ich liebe ihn. Es ist doch alles, was mir bleibt! Meine Frau schert sich doch einen Dreck um uns. Und die Haushälterin…« Er stöhnte auf und rang nach Luft. Er war einem Kreislaufkollaps nahe, und Schwester Nora rief nach Dr. Werner, weil momentan kein anderer Arzt erreichbar war, da alle im OP waren.
Dr. Werner kam eilends herbei, und André Riedmann wurde ins Ärztezimmer gebracht. Er war halb ohnmächtig, aber er murmelte noch: »Helfen Sie meinem Jungen.«
Er bekam ein Kreislaufmittel injiziert, und Nora brachte ihm Mineralwasser. Es dauerte aber zehn Minuten, bis die Injektion wirkte, und indessen war die Operation schon im Gange.
Der Junge wirkte winzig auf dem Operationstisch. Für einen Fünfjährigen war er klein und viel zu zart, wie Dr. Jenny Behnisch feststellte. Die Anästhesie war sehr vorsichtig durchgeführt worden, und Jenny ließ keine Zeit verstreichen. Mit meisterhafter Sicherheit führte sie den Schnitt aus. Als sie an den vereiterten Wurmfortsatz herangekommen war, blickte sie kurz auf.
»Blutdruck?«
»Schwach.«
»Infusion und Blutkonserve bereitstellen«, sagte Jenny. Die Blutgruppe AB hatte André Riedmann noch sagen können. Er war ein Vater, der genau über sein Kind Bescheid wußte.
Die Infusion tropfte, Schwester Ingrid reichte die Instrumente fast lautlos an und war völlig konzentriert. Präzise wie ein Uhrwerk lief alles ab, dann war es geschafft.
»Es war höchste Zeit«, sagte Jenny. Sie war blaß. Man spürte, daß sie innerlich beteiligt war. Es war etwas anderes, ein Kind zu operieren, das am Anfang seines Lebens stand, als einen schon fast hoffnungslosen Fall, bei dem man nichts verlieren, aber alles gewinnen konnte. Bei dem kleinen Benjamin Riedmann hätte es so weit nicht kommen müssen, wenn er richtig beobachtet worden wäre.
Riedmann entspannte sich, als Jenny Behnisch ihm sagte, daß die Operation gut verlaufen sei.
»Aber die Gefahr ist noch nicht gebannt«, erklärte sie. »Der Blinddarm war kurz vor dem Durchbruch.«
»Oh, mein Gott! Hoffentlich geht noch alles gut. Sehen Sie, ich war in Wien zu Aufnahmen, und meine Frau hat es der Haushälterin überlassen, sich um das Kind zu kümmern. Sie ist ein gefühlloser Trampel. Benny sei wehleidig, sagte sie mir ins Gesicht, und wo sich meine Frau den ganzen Tag herumtreibt, weiß ich nicht. Aber es wird alles anders werden, ich habe es beim Leben meines Kindes geschworen.«
Er wollte in der Klinik bleiben, und es wurde ihm auch gestattet. Sonst waren es die Mütter, die blieben, diesmal war es der Vater. Er mußte sich nur noch gedulden, bis er Benny sehen durfte. Der Kleine war auf die Intensivstation gebracht worden.
Langsam konnte André Riedmann wieder klar denken. Jenny hatte Puls und Blutdruck gemessen und konnte mit beiden nicht zufrieden sein, aber André schluckte dann auch, wenn auch widerwillig, zwei Kapseln hinunter.
Schwester Nora war wieder bei ihm. Sie versuchte, ihn auf andere Gedanken zu bringen, als er wieder auf seine Frau zu schimpfen begann. Tessa Riedmanns Name wurde öfter in Gesellschaftsnachrichten erwähnt als der ihres Mannes. Sie war vor einigen Jahren ein Filmsternchen gewesen, aber ein Star war sie nicht geworden. Auch sonst hatte sich André wohl mehr von ihr und dieser Ehe versprochen.
Plötzlich fragte André nach Cordula Bürgner. »Stimmt es, daß sie aus dem Koma erwacht ist?« wollte er wissen.
»Ja, es stimmt, aber sie ist noch nicht ansprechbar.« Nora wollte ihn gern auf andere Gedanken bringen, aber nicht unbedingt über Cordula sprechen und ausgefragt werden.
»Sie ist eine großartige Schauspielerin und eine wundervolle Frau«, sagte er. »Ich hoffe, daß sie wieder ganz gesund wird. Unsere Kinder haben manchmal miteinander gespielt, aber sie lebte ja im allgemeinen sehr zurückgezogen.«
»Wir haben sie sehr ins Herz geschlossen«, sagte Nora nun doch.
»Wissen Sie, wie es ihrem Sohn geht? Man hat ja wenig gehört.«
»Er ist wie durch ein Wunder nicht schwer verletzt worden. Er lebt nun bei Frau Bürgners Schwester.«
»Bei Joana?« Seine Miene sprach Bände. »Sie ist auch so ein Typ wie Tessa, nur auf Vergnügen bedacht«, fuhr er vorwurfsvoll fort. »Entschuldigen Sie, wenn ich so kritisch bin, aber ich weiß, wieviel Liebe Kinder brauchen. Man traut es mir wohl nicht zu, aber mein Kind bedeutet mir mehr als alles andere auf der Welt. Ich müßte morgen eigentlich im Atelier stehen, aber ich sage alles ab, bis Benny wieder gesund ist. Ganz gleich, was passiert.«
»Das ist ja gut gemeint, Herr Riedmann, aber hier können Sie nicht viel ausrichten.«
»Aber wenn Benny die Augen aufschlägt, soll er wissen, daß sein Daddy bei ihm ist. Er weiß doch gar nicht, wo er sich befindet.«
»Ihre Frau wird ja wohl auch kommen«, sagte Nora.
»Das soll sie nicht wagen! Es ist aus, ein für allemal.«
Er hatte Temperament, und er war zornig auf seine Frau. Aber gegen sieben Uhr abends kam sie, sehr echauffiert und besorgt.
Aber da konnte man André Riedmann in Hochform erleben. Er sparte nicht mit Kraftausdrücken. Aber dann war er eiskalt.
»Du kannst gehen«, erklärte er kühl. »Laß dich nicht aufhalten, dir ist dein Vergnügen doch wichtiger als das Kind. Wäre ich nicht früher zurückgekommen, wäre Benjamin jetzt tot. Das verzeihe ich dir nie. Du kannst bitten und betteln, soviel du willst… ich will dich nicht mehr sehen.«
»Wir brauchen uns hier nicht so anzukeifen, André. Laß dir doch erklären… Ich konnte nicht ahnen, daß es der Blinddarm war!«
»Du hast dir ja nicht mal die Mühe gemacht, den Kinderarzt zu rufen. Mein Gott, was bist du für eine Mutter! Verschwinde jetzt, bevor ich dich eigenhändig hinausbefördere. Benny liegt auf der Intensivstation, und dich werde ich anzeigen wegen Verletzung der Aufsichtspflicht.«
O la la, es scheint ihm ernst zu sein, dachte Schwester Nora. Er redet nicht nur so daher, er meint auch, was er sagt. Und Tessa schien in sich zusammenzuschrumpfen. Vielleicht rechnete sie sich jetzt schon aus, was sie verlieren würde, wenn er sich wirklich von ihr trennte. Es war nicht das erste Mal, daß es zum Krach zwischen ihnen kam, aber so eiskalt und entschlossen hatte sie ihn noch nicht erlebt.
Es war ihr vor allem peinlich, daß sich die Szene vor den Augen und Ohren von Zeugen abspielte.
»Kannst du dich nicht endlich beherrschen«, fuhr sie ihn an, »was sollen die Leute von uns denken?«
»Das Richtige«, konterte er wütend. »Für so eine Mutter wie dich wird man hier auch kein Verständnis haben. Verschwinde endlich, bevor ich mich vergesse.«
»Benjamin ist auch mein Sohn, und ich werde ihn wohl sehen dürfen«, begehrte Tessa da auf.
»Nein, du wirst ihn nicht sehen. Du hättest dich früher um ihn kümmern sollen, als er Fieber und Schmerzen hatte, aber da hattest du ja etwas Besseres vor.«
Sie kniff die Augen zusammen, und ein frivoles Lächeln legte sich um ihren vollen Mund.
»Du willst mich wohl loswerden, weil du jetzt eine Chance siehst, bei Cordula Bürgner Händchen zu halten. In welchem Zimmer liegt sie denn? Hast du sie schon besucht?«
Nora merkte, daß André am Ende seiner Selbstbeherrschung war. »Frau Bürgner darf keinerlei Besuche erhalten«, warf sie ein. »Und solange Benjamin auf der Intensivstation liegt, gilt dasselbe auch für ihn. Ich darf Sie darauf aufmerksam machen, daß das Kind erst vor zwei Stunden aus dem Operationssaal gekommen ist.«
»Eine Blinddarmoperation ist heutzutage doch eine Routinesache«, sagte Tessa schnippisch.
»Aber nicht dann, wenn der Blinddarm beinahe durchgebrochen wäre«, erwiderte Nora nun barsch. Sie verstand André, daß er die Geduld verlor. Sie spürte auch Antipathie in sich aufsteigen, wenn sie in das hübsche, glatte und leere Gesicht Tessas blickte, das Gesicht einer oberflächlichen, eitlen Frau, die weder mit Intelligenz noch mit Gemüt gesegnet war. Und ihre anzüglichen Bemerkungen über Cordula paßten ihr schon gar nicht.
Nun gut, ich komme dann morgen wieder«, sagte Tessa, und ohne ihren Mann noch eines Blickes zu würdigen, ging sie zum Ausgang.
»Ich hätte mich fast vergessen«, stieß André hervor, »verzeihen Sie das bitte, Schwester Nora.«
»In manchen Fällen ist es besser, wenn man seinem Herzen gleich Luft macht«, meinte sie nachsichtig. »Man kann nicht alles hinunterschlucken.«
»Ich fühle mich endlich mal wieder verstanden. Aber damit Sie mich in bezug auf Cordula Bürgner nicht falsch verstehen nach diesen Anzüglichkeiten, möchte ich sagen, daß ich Cordula verehre und bewundere, daß aber sonst nichts zwischen uns ist. Tessa möchte mir ja liebend gern etwas anhängen, aber damit wird sie keinen Erfolg haben.«
Daraufhin verfiel er in Schweigen. Vielleicht wirkten jetzt die Beruhigungsmittel. Jedenfalls schlief er bald ein, und Nora konnte wieder zur Station gehen, wo man sie schon vermißt hatte.
*
Jenny Behnisch war bei dem kleinen Benjamin. Sie hielt die heißen Händchen, die so federleicht waren, daß man sie kaum spürte. Benny hatte die zweite Penicillin-Injektion bekommen. Die Ärzte hofften, daß das Fieber heruntergehen würde, denn viel hatte der kleine Bub nicht an Kraft zuzusetzen.
André Riemann war zum Glück für einige Zeit eingeschlafen. Um ihn mußten sie sich auch Sorgen machen. Selten hatte man hier einen so verzweifelten Vater gesehen. Aber sicher traf es ihn besonders hart, daß Benjamin von seiner Mutter im Stich gelassen worden war, als es ihm schlechtging.
Jenny blickte auf den Bildschirm, der die Herzschläge des Kindes aufzeigte. Eine leichte Besserung war schon zu verzeichnen. Aber der kleine Körper zuckte unruhig, und ein paar Laute kamen auch über die trockenen Lippen, die man als »Daddy« deuten konnte.
Welche tiefe, innige Bindung bestand zwischen Vater und Sohn! Und wie schön hätte dieses Familienleben sein können, wenn auch die Frau da hineingepaßt hätte.
Jenny machte sich darüber Gedanken. Sie hatte schon so manches hier in der Klinik erlebt. Man nahm sich ja noch Zeit für Patienten, auch für ihren seelischen Kummer. Hier waren die Patienten noch Menschen, keine namenlosen Fälle.
Schwester Beate hatte Nachtdienst auf der Station, und Jenny konnte sich jetzt mal um André Riedmann kümmern. Er schlief im Ärztezimmer und sah erschöpft aus. Bläulich schimmerten seine Lider. Er war ein interessanter Mann, und sicher hätte er auch eine bessere Frau verdient gehabt. Aber vielleicht ging man in diesem Beruf doch an jenen Frauen vorbei, deren Werte man nicht gleich erkennen konnte und ließ sich leicht von Äußerlichkeiten bestechen.
Riedmann war achtunddreißig, aber jetzt sah er älter aus. Seine Schläfenhaare waren schon ergraut, aber sonst war sein Haar schwarz. Er war ein leicht südländischer Typ, und über mangelndes weibliches Interesse hatte er sich nie beklagen können. Warum war er ausgerechnet an Tessa hängengeblieben, die eigentlich nur hübsch und eitel war?
Ja, das fragte man sich manches Mal, wenn man eine Ehe kennenlernte, in der nichts mehr stimmte.
Zur Ehe gehörte eben auch, daß man sich aufeinander einspielte. Liebe mußte immer wieder aufs Neue gepflegt und unter Beweis gestellt werden. Das Herumturteln in guten Stunden konnte schnell vorbei sein, wenn das Fundament des Vertrauens nicht vorhanden war.
Plötzlich schlug André die Augen auf und richtete sich erregt auf. »Ist etwas mit Benny?« fragte er heiser.
»Es geht schon ein bißchen besser, aber Sie sollten jetzt auch an sich denken, Herr Riedmann«, sagte Jenny.
»Ich bin doch nicht so wichtig!«
»O doch! Was soll denn Ihr kleiner Sohn mit einem kranken Vater? Benjamin wird noch einige Zeit brauchen, bis er wieder auf den Beinen ist. Deshalb sollten Sie sich jetzt gefallen lassen, daß auch etwas für Ihre Gesundheit getan wird.«
»Na schön, wie Sie meinen.« Er war ganz sanft und nachgiebig, so kannten ihn wenige. Er hielt auch nicht die Schwestern in Atem, wie man befürchtet hatte. Er saß still am Bett seines Kindes, mit gefalteten Händen und ganz in sich versunken, als wollte er beschwören, was er so heiß wünschte… nämlich, daß Benny bald die Augen aufschlagen würde.
Sein Wunsch ging in Erfüllung, als die Morgenvisite zu Ende war. Er hatte währenddessen seine Sekretärin angerufen und ihr gesagt, daß man an diesem Tag ohne ihn auskommen müsse.
An Anja Koenigs Stimme war zu hören, wie erschrocken sie war.
»Kam es so plötzlich, André?« fragte sie teilnahmsvoll.
Sie kannten sich schon vier Jahre. Sie duzten sich, wie alle, die zu seinem Team gehörten. Sie zogen ja alle an einem Strang, und eigentlich war Anja mehr Managerin als Sekretärin. Außerdem war sie ein guter Kumpel, wie alle immer wieder versicherten.
»Ich bin zum Glück früher heimgekommen, Tessa war mal wieder unterwegs. Ich muß jetzt bei Benny bleiben, bis er aufwacht. Später komme ich dann vielleicht mal, um alles zu besprechen.«
»Ich verstehe dich ja, André, aber ich möchte dich auch daran erinnern, wieviel für die anderen von der Produktion abhängt. Die Termine müssen eingehalten werden.«
»Ja, ich weiß, ich denke auch schon wieder klarer, da die Operation gelungen ist. Alles andere später, Anja. Ich kann mich doch auf dich verlassen? Notfalls kannst du mich ja auch vertreten.«
»Du traust mir viel zu«, sagte sie, und damit war das Gespräch beendet.
Ja, er traute ihr viel zu. Er kannte keine andere Frau, die so vielseitig und kreativ war. Durch sie war es ihm erst richtig bewußt geworden, wie hohl und oberflächlich Tessa war.
Er war glücklich und erleichtert, als Jenny Behnisch kam und sagte, daß es Benjamin schon viel besser gehe. Die größte Gefahr sei gebannt.
Und dann schlug der Kleine tatsächlich bald die Augen auf, große dunkle Augen, wie auch sein Vater sie hatte.
»Mein Butzerl«, sagte André zärtlich, »du hast mir einen schönen Schrecken eingejagt.«
»Kann doch nichts dafür, Daddy.« Kläglich klang sein Stimmchen, trocken und rauh. »Es hat doch keiner geglaubt, daß es mir weh tut. Und wo bin ich jetzt?«
»In der Klinik, und du bist gleich operiert worden, als ich dich hergebracht habe. Es war der böse Blinddarm.«
»Ich bin noch so müde«, murmelte Benjamin. »Bleibst du bei mir, Daddy?«
»Ich muß nur mal kurz weg, komme aber bald wieder. Aber es werden sehr nette Ärzte und Schwestern auf dich achtgeben. Du bist nicht allein, mein Schatz.«
»Tessa braucht nun aber auch nicht mehr zu kommen«, murmelte Benjamin. Er hatte nie Mama gesagt, gleich Tessa, und das auch erst, als er schon fast drei Jahre war, obgleich er sonst schon einen beträchtlichen Wortschatz gehabt hatte. Anfangs hatte er immer ›du da‹ gesagt, wenn er Tessa meinte. Sie hatte sich stets wenig um ihn gekümmert. Für Nebenrollen hatte man sie immer geholt, und so war Benjamin den Kindermädchen überlassen worden, die aber ständig wechselten, weil keine mit Tessa auskommen konnte… und auch nicht mit der Haushälterin Frau Schober, die Tessa alles recht machte und die gutbezahlte Stellung auch behalten wollte. Jetzt ahnte sie allerdings noch nicht, daß diese gute Zeit für sie bald vorbei sein würde.
Benjamin war wieder eingeschlafen, und André machte sich auf den Weg zum Studio.
Anja atmete auf, als er erschien. Sie war eine aparte Frau, aber sie wirkte vor allem durch ihre Ausstrahlung. Lebhafte graublaue Augen blitzten in einem schmalen, etwas herb wirkenden Gesicht. Aber die Strenge wurde durch den schöngeschwungenen, weichen Mund gemildert, der gern lächelte.
Zuerst erkundigte sie sich nach Benjamin, und ihr Gesicht hellte sich auf, als André sagte, daß das Schlimmste wohl überstanden sei. Über Tessa wollte er nicht viel reden. Er sagte nur, daß er jetzt endgültig mit ihr fertig sei.
Anja schaute ein bißchen skeptisch drein, denn sie kannte Tessa zur Genüge, aber sie sagte nichts. Die Arbeit war jetzt wichtiger.
*
Cordula dachte zu dieser Zeit an ihren Sohn, und sie verspürte einen stechenden Schmerz im Herzen. Drei Monate lag sie hier nun schon in der Klinik, und drei Monate waren für ein Kind eine Ewigkeit. Ob der Kleine überhaupt noch an sie dachte? Sie konnte sich vorstellen, daß Joana alles tat, um die Erinnerung an die Mutter in Ulrich auszulöschen, und Joana hatte wahrscheinlich auch gehofft, daß sie, Cordula, sterben würde.
Es tat weh, das zu denken, aber sie kannte Joana zu gut. Sie wußte, wie neidisch und intrigant ihre Halbschwester war.
Ich muß schneller gesund werden, dachte Cordula, ich muß etwas unternehmen, damit das Kind in eine andere Umgebung kommt. Ich muß Constantin sprechen, er wird mir helfen.
Constantin! Ein weiches Lächeln legte sich um ihren Mund. Warum hatte er ihr nicht früher gezeigt, daß er sie liebte? Und warum hatte sie nicht früher begriffen, was er ihr bedeutete? Er war so selbstverständlich in ihrem Leben gewesen, immer gegenwärtig, wenn sie ihn brauchte. Ihr bester Freund und Berater in allen Lebenslagen, zuverlässig und selbstlos. Zu selbstlos, wie ihr jetzt bewußt geworden war, denn nie hatte er ihrer Karriere im Weg stehen wollen.
Cordula sprach vor sich hin, so, wie sie es von früher gewöhnt war, wenn sie Sprechübungen machte. Sie lauschte auf ihre Stimme, die fremd und heiser klang. Ihre Kehle tat weh.
Sie drückte auf die Klingel und sofort kam Dr. Jenny Behnisch.
»Ich habe Durst«, sagte Cordula mühsam, »hier tut alles weh.« Sie deutete auf ihren Hals.
»Wir haben schon einen Spezialisten angerufen, Frau Bürgner. Er wird heute nachmittag kommen. Es ist Professor Eckert. Jetzt wird Ihnen Schwester Beate etwas zu trinken bringen. Aber bitte… kleine Schlucke. Sie bekommen dann wieder eine Infusion.«
»Aber ich will nicht schlafen, ich habe jetzt so viel zu denken«, murmelte sie. »Ich will meinen Sohn sehen!«
Jenny war es beklommen zumute. Wie sollte man es ihr beibringen, daß ihre Schwester mit dem Jungen verreist war? Würde das nicht einen gewaltigen Rückschlag in ihrem Befinden geben?
Ihr Blick ging ihr durch und durch, denn sie sah die Angst in ihren Augen. Sie ahnte, was in ihr vor ging.
Zu ihrer Erleichterung erschien jetzt Constantin Marten. Und Dr. Jenny Behnisch beauftragte Schwester Beate, Cordula Tee zu bringen.
Constantin brachte Cordula ein wunderhübsches Orchideengesteck mit.
»Ich weiß, daß man Blumen hier ungern in den Krankenzimmern sieht«, sagte er, »aber diese riechen nicht stark. Ich weiß ja nicht, womit ich dir sonst eine Freude machen kann, Cordula.«
»Mit deinem Kommen«, sagte sie. Und wenn die Worte auch undeutlich klangen, ein freudiger Schrecken war es für ihn doch.
»Es geht dir ja schon besser, Cordula«, sagte er zärtlich.
»Es tut noch weh, aber ich muß wieder ganz gesund werden.«
»Das wünsche ich auch.« Er küßte ihre Hände, und dann kam Schwester Beate mit dem Tee.
Ein paar kleine Schlucke nur trank Cordula, aber auch das tat weh. Constantin merkte, wie es sie anstrengte.
»Es wird mit jedem Tag besser werden«, tröstete er leise. »Professor Eckert wird dir bestimmt helfen können. Er ist eine Kapazität, und ich glaube fest, daß alles unternommen wird, um dir zu helfen, Cordula.«
»Du hilfst mir am meisten«, sagte sie mühsam. »Ulrich darf nicht bei Joana bleiben.« Flehend sah sie ihn an.
Er wußte genau, was sie bewegte, denn auch er kannte Joana recht gut, wenn er auch tunlichst jeden engeren Kontakt zu ihr gemieden hatte. Er ahnte Cordulas Befürchtungen und wußte doch nicht, was er diesbezüglich tun sollte.
Er brachte es nicht fertig, ihr zu sagen, daß Joana mit dem Jungen verreist war. Sie mußten vorerst eine Ausrede finden, und er wollte sich darüber mit den Ärzten abstimmen. Es mußte alles genau bedacht werden, damit es ja keinen Rückschlag in Cordulas Befinden gab. Er dachte genau wie die Behnischs, die sich jetzt schon den Kopf zerbrachen, womit man Cordula beruhigen könnte.
»Joana versteht doch nichts von Kindern, von Ulrich schon gar nicht«, fuhr Cordula mit größter Anstrengung fort.
Er streichelte ihre Wange. »Du darfst deine Stimme jetzt nicht so strapazieren, Cordula«, mahnte er besorgt. »Es ist auch besser, wenn wir noch etwas warten, bis Ulrich kommt. Er begreift sicher nicht, daß du immer noch in der Klinik bleiben mußt und daß du nicht richtig sprechen kannst. In ein paar Tagen kann alles schon viel besser sein.«
»Und wenn er mich gar nicht mehr erkennt?«
»So klein ist er nun auch wieder nicht mehr. Mach dir nicht solche Gedanken.«
»Ich weiß nicht, was Joana ihm alles erzählt hat!« Tränen liefen wieder über ihre Wangen. Er beugte sich zu ihr hinab und küßte sie weg. Sanft legte er dabei seine Hände um ihr Gesicht. »Es wird alles gut werden, Liebes. Das Schlimmste ist überstanden.«
Sie schloß die Augen. »Ich habe es ihm gesagt, Constantin«, murmelte sie, aber dann war ihre Kraft aufgebraucht. Sie sank zurück in den Schlummer, der ihre Gedanken auslöschte.
Sein Blick ruhte auf ihrem Gesicht, und bei aller Liebe und Zärtlichkeit, die er für sie empfand, hatte er doch Angst, daß auf diesem Unglücksflug etwas geschehen sein könnte, was ihr Bewußtsein belastete.
Wie hatte er um ihr Leben gezittert und doch nicht gewagt, sich jemandem mitzuteilen! Er hatte die Angst ganz allein ertragen müssen, weil niemand wissen sollte, wie er zu Cordula stand. Für Joana wäre es freilich ein gefundenes Fressen gewesen, wenn sie auch nur geahnt hätte, was ihn und Cordula seit einiger Zeit wirklich verband, wie nach all den Jahren plötzlich die Erkenntnis gekommen war, wieviel mehr als Freundschaft sie füreinander empfanden. Nein, es sollte niemand wissen. Es war ihr Geheimnis, bis Cordula es selbst lüftete.
Er streichelte ihre Hände mit dem Gedanken, ihr Kraft von sich zu geben. Er wußte, daß er nichts unversucht lassen durfte, um Ulrich zu seiner Mutter zu bringen. Er mußte Joana und den Jungen finden!
*
»Warum fahren wir nicht zu Mami?« fragte Ulrich zu dieser Zeit. Er hatte diese Frage schon mehrfach gestellt.
»Sie könnte dich doch gar nicht sehen und nicht mit dir reden«, erwiderte Joana gereizt. »Hör endlich mit dieser Fragerei auf!«
»Aber du hast gesagt, wir fahren zu Mami«, erklärte der Kleine trotzig. »Ich mag nicht so weit Auto fahren.«
»Wir werden bald am Ziel sein, und es wird dir gefallen«, sagte sie. »Wer weiß, ob deine Mami wieder richtig gesund wird und mit dir verreisen kann.«
Der kleine Junge blickte sie verstört an. »Wie kannst du so etwas sagen? Wie kannst du so böse sein?« stieß er hervor.
»Jetzt hörst du aber endlich auf!« rief sie schrill. »Ich bin nicht böse. Ich muß aber auf den Verkehr aufpassen, und du machst mich nervös.«
»Dann rede ich eben nie mehr«, sagte er trotzig.
»Du bist ein verzogener Bengel.«
Das hatte sie schon öfter gesagt, aber diesmal verhielt Ulrich sich ganz still. Seine Lippen preßten sich fest aufeinander. Er war entschlossen, nie mehr mit Joana zu reden.
Das wurde ihr nach einer Weile unheimlich.
Als Seefeld vor ihnen lag, sagte sie: »Nun wird nicht mehr geschmollt, Ulrich.«
Er blieb stumm. Sie hielt an.
»Schauen wir uns mal nach einem Hotel um«, sagte sie.
Kein Wort kam über seine Lippen.
Ein paar Leute gingen vorbei.
»Das Alpen-Hotel ist wirklich phantastisch«, sagte eine elegante junge Frau. »Das nächste Mal buchen wir auch dort, Schatz.«
Joana erinnerte sich daran, daß ihr Mann auch schon mal von diesem Haus gesprochen hatte, aber er hatte gemeint, daß es doch zu abgelegen sei, wenn es auch jeglichen Komfort bot. Aber Joana konnte das jetzt nur recht sein.
Also bugsierte sie den schweigsamen Ulrich wieder ins Auto, und weiter ging die Fahrt. Ulrich hätte gern etwas gefragt, aber er hatte geschworen, nicht mehr zu reden. Daran hielt er sich nun auch.
Joana war auf die kurvenreiche Straße konzentriert und achtete nicht mehr auf ihn. Er hatte sich auf die Rückbank gelegt und die Augen geschlossen.
Er öffnete sie auch nicht, als sie beim Alpenhotel angekommen und in die Tiefgarage eingefahren waren.
»Steig jetzt aus, Ulrich«, sagte sie streng und zog ihn am Arm.
Sie übersah den eigenartigen Blick des Portiers, der herbeigeeilt kam, aber Ulrich bemerkte ihn. Er betrachtete den schwarzhaarigen Mann mittleren Alters – allem Anschein nach ein Italiener, und die waren besonders kinderlieb – als Verbündeten und zwinkerte ihm ein bißchen zu. So, wie er es immer mit seiner Mami gemacht hatte, wenn sie sich mit den Blicken verständigen wollten. Zum Beispiel, wenn der Papi schlecht gelaunt gewesen war.
Er hatte den Papi gern gemocht. Er war zu ihm auch immer sehr nett gewesen, aber an der Mami, Ulrichs heißgeliebter Mami, hatte er öfter herumgenörgelt, vor allem im Urlaub, wo sie jeden Tag beisammen gewesen waren. Das hatte Ulrich nicht vergessen.
Joanas Stimme konnte er sowieso nicht leiden. Da kam er mit Onkel Jochen noch besser aus. Und seit Joana mal gesagt hatte, daß seine Mami sicher nicht wieder gesund werden würde, haßte Ulrich seine Tante, wenn er auch noch nicht begriff, daß es Haß war.
Nun waren sie mit dem Aufzug in die Halle gefahren, eine weite, prächtige Halle, aber Ulrich konnte dies nicht imponieren. Er war schon in mehreren Luxushotels gewesen. Seine Mami war nie ohne ihn gereist.
Joana wurde aufs höflichste informiert, und Ulrich wurde auch gefragt, wie er heiße. Aber er war entschlossen, weiterhin zu schweigen. Er sei müde von der Fahrt, erklärte Joana deshalb entschuldigend.
Sie fuhren mit dem Lift in den sechsten Stock zu einem wunderschönen großen Appartement. Da gingen auch Joana fast die Augen über. Ja, wenn Jochen solch ein Hotel besäße. Sie war wieder einmal von Neid erfüllt.
»Nun, gefällt es dir, Ulrich? Ist es nicht wunderschön hier?« fragte sie. Doch das Kind schwieg weiterhin.
»Du bist ein schrecklich verstockter Bengel«, herrschte sie ihn an, und schon gab sie ihm ein paar Ohrfeigen. Das hatte sie bisher noch nicht getan, und das hätte sie nicht tun dürfen, denn nun war Ulrich erst recht entschlossen, nicht mehr mit ihr zu reden.
»Zur Strafe bleibst du heute abend allein«, sagte sie. »Ich gehe nämlich aus.«
Eine Strafe war das nicht für ihn. Und in einem Hotel brauchte man sich nicht zu fürchten. Da gab es ein Zimmertelefon, und da konnte man anrufen, wenn man wollte, konnte sich auch Essen bringen lassen. Ulrich wußte das alles, so klein er auch noch war. Wenn er mit seiner Mami im Hotel wohnte, bekam er aber immer einen Babysitter, wenn Cordula zu tun hatte.
Joana hatte jedoch nicht die Absicht, einen zu bestellen. Zum Mittagessen war es bereits zu spät, zum Abendessen noch zu früh, also ließ sie Kaffee, Milch, Gebäck und Brötchen und eine kalte Platte heraufkommen.
Langsam wurde ihr das schweigsame Kind unheimlich, und so nahm sie einen erneuten Anlauf,
um ihn etwas versöhnlicher zu stimmen.
»Es tut mir leid, daß mir vorhin die Hand ausgerutscht ist, Ulrich«, sagte sie, »aber es wäre doch besser, wir würden uns wieder vertragen. Oder hast du die Sprache verloren?«
Er nickte. Das war mal ein neues Spiel für ihn.
»Na schön, wie du willst, mich kannst du jetzt nicht mehr reizen. Du kannst essen, und dann gehst du zu Bett. Und ich gehe aus, damit ich auch mal ein bißchen Abwechslung habe.«
Er nickte wieder. Sie kniff die Augen zusammen.
»Du nimmst das Bett und ich das andere, und schrei nicht das ganze Haus zusammen. Aber das kannst du ja gar nicht, wenn du stumm bist.«
Sie ging ins Bad. Ulrich hatte schon zur Kenntnis genommen, daß es ein sehr schönes Bad war. Er inspizierte indessen das Appartement, das in einen Schlaf- und Wohnteil unterteilt war. Auch einen Balkon gab es, von dem aus man einen herrlichen Blick auf die Gebirgskette hatte.
Einen Fernsehapparat und Radio gab es auch, und das Radio war am Bett. Ulrich war mit allen Errungenschaften der Technik aufgewachsen und mit ihnen vertraut. Sein Papi hatte ihm immer alles gezeigt und sich köstlich amüsiert, wenn er es im Handumdrehen begriffen hatte.
Ja, der Papi war stolz auf ihn gewesen! Ulrich hatte eine gute Erinnerung an ihn. Er war jünger als Benjamin, aber bedeutend selbständiger erzogen worden. An Benjamin hätte er sich auch sofort erinnert, wenn jemand über ihn gesprochen hätte, aber solange er bei Joana und Jochen war, hatte niemand mit ihm über andere Bekannte gesprochen, und er hatte ja dann auch nur noch Constantin gesehen.
Er hatte sich auf die Eckbank gesetzt und seinen Blick umherschweifen lassen. Er hatte Milch getrunken. In einen Hungerstreik wollte er schließlich nicht treten, und das Gebäck war lecker.
»Na, wenigstens ißt du«, sagte Joana lässig, »das freut mich.«
Sie ging in den Schrankraum und kleidete sich an. Er sah, daß sie ein elegantes Kleid angezogen hatte, wie wenn sie zu einer Party ging. Sie ging oft zu Partys.
Joana dachte schon ans Casino. In Garmisch konnte sie nicht so oft, wie sie wollte, dort erscheinen, weil man sie kannte, aber wenn sie an einen anderen Ort kam, wo es ein Casino gab, wollte sie es ausnützen.
»Du kannst noch essen, aber dann gehst du zu Bett«, sagte sie, »und vergiß nicht, die Zähne zu putzen.« Sie machte nicht erst den Versuch, ihm einen Kuß zu geben. Anfangs hatte sie es versucht, aber er hatte sich aggressiv verhalten.
Sie fuhr gleich bis zur Tiefgarage, und schon saß sie in ihrem Wagen.
Ulrich hatte ein Brötchen mit Wurst gegessen, und dann hatte er den Fernseher eingeschaltet. Es kamen gerade Nachrichten. Es war wieder ein Flugzeug abgestürzt, und da war ihm doch nicht so ganz geheuer. Er hatte zwar von der Bruchlandung nicht viel gemerkt, weil er benommen gewesen war, als ihn seine Mami so dick eingewickelt und ihm die Mützen über den Kopf gezogen hatte, aber er wußte, daß der Papi tot war und die Mami schwerverletzt in der Klinik lag. Er hatte auch zwei Wochen in der Klinik liegen müssen. Dann hatte ihn Joana abgeholt. Es war alles so schnell gegangen, er hatte seine Mami gar nicht sehen dürfen. Sie würde wohl auch sterben, hatte Joana nur mal gesagt.
»Meine Mami kommt wieder«, hatte er ihr jedoch widersprochen.
Weil er sehr müde war, schlief er auch bald ein. Das Weinen hatte er schon lange verlernt. Es hatte ja doch nie geholfen!
Joana kam weit nach Mitternacht zurück. Sie fluchte vor sich hin, aber Ulrich hörte es nicht. Er schlief. Joana jedoch dachte gar nicht an das Kind. Sie hatte verloren und war in übelster Laune. Sie konnte sich jetzt schon ausrechnen, daß ihr Geld höchstens noch drei Tage reichen würde. Und nicht ein einziger Mann hatte sich im Casino für sie interessiert! Alle waren nur vom Spiel besessen gewesen. Joana kam zu der trübsinnigen Feststellung, daß sie derzeit schlecht von den Sternen bestrahlt sei. Erst die Hiobsbotschaft, daß Cordula aus dem Koma erwacht war, und nun hatte sie auch noch solches Pech im Spiel und dabei nicht mal Glück bei einem Flirt…
Sie schleuderte ihre Sachen von sich und sackte aufs Bett, aber einschlafen konnte sie nicht gleich. Sie schrak zusammen, als sich Ulrich herumwarf und laut nach seiner Mami schrie. Er träumte, aber er war bald wieder still, und Joana dachte, daß es ihr eigentlich gar nichts bringen würde, wenn sie mit dem Jungen hierblieb und einen Haufen Geld ausgab. Ihr mußte etwas anderes einfallen, damit sie wenigstens noch so lange wie möglich monatlich die tausend Euro für den Jungen bekam.
Am Morgen war ihr Entschluß gefaßt. »Wir fahren nach Hause«, sagte sie zu Ulrich, der schon eine ganze Weile auf der Eckbank saß und zum Fenster hinausblickte. Der Himmel hatte sich eingetrübt, man konnte die Gebirgskette nur noch im Dunst sehen. »Was soll man hier unternehmen, wenn das Wetter schlecht ist«, fuhr sie fort.
»Ich will zu meiner Mami«, erklärte Ulrich kategorisch.
»Jetzt hast du ja wenigstens deine Sprache wiedergefunden«, meinte sie lässig. »Du wirst schon früh genug zu deiner Mami kommen.«
*
Constantin war am Nachmittag nach Garmisch gefahren. Er hatte vorher ein langes Gespräch mit den Ärzten geführt und auch einen Kollegen vom Vormundschaftsgericht getroffen. Mit seinen Argumenten konnte er zumindest Jochen Heeren einschüchtern.
Während er unterwegs war, saß André Riedmann wieder bei seinem Sohn, und Benjamin war zum Glück schon wieder recht munter. Es war erstaunlich nach dieser Operation.
Von Dr. Behnisch hatte André erfahren, daß Tessa dagewesen war. Er setzte sofort eine abweisende Miene auf.
»Wir können es Ihrer Frau nicht verbieten, Benjamin zu besuchen«, sagte Dr. Behnisch. »Schließlich ist sie die Mutter.«
»Und was für eine Mutter!« brauste André auf. »Ihr ist doch jeder Kaffeeklatsch wichtiger als Benny. Aber er wird ihr schon sagen, daß er sie nicht sehen will. Die Kinder sind heutzutage viel kritischer als früher. Wie ist es eigentlich mit Ulrich? Darf er schon zu seiner Mutter?«
»Momentan noch nicht«, erwiderte Dr. Behnisch ausweichend.
»Sonst hätte er Benny auch manchmal Gesellschaft leisten können. Die Buben haben sich gut verstanden. Es ist ja auch kein großer Altersunterschied«, meinte André.
»Benjamin wird ja noch einige Zeit bei uns bleiben müssen«, entgegnete Dr. Behnisch. »Vielleicht kommt der kleine Bürgner inzwischen doch her.«
»Ich bin ganz froh, wenn Benny ein bißchen länger bleibt, denn ich muß erst Ordnung in mein Privatleben bringen.
Meine Frau wird da nichts mehr zu sagen haben. Wenn ich momentan nur nicht so viel zu tun hätte! Übrigens wird meine Sekretärin, Frau Koenig, Benny besuchen kommen. Er mag sie sehr.«
Hoffentlich gibt es dann nicht erst recht Schwierigkeiten mit Frau Riedmann, dachte Dr. Behnisch, denn ihren Auftritt hatte er noch in schlechtester Erinnerung.
Zwischen Vater und Sohn ging es friedlich und liebevoll zu, da brauchte man sich keine Gedanken zu machen. Man mußte André Riedmann höchstens bremsen, daß er dem Jungen nicht zuviel mitbrachte.
Indessen war Constantin Marten in Garmisch angekommen, und Jochen Heeren hätte sich am liebsten in einem Mauseloch verkrochen, als er ihn entdeckte. Aber er konnte nicht mehr Reißaus nehmen, da Constantin ihn schon gesehen hatte und mit energischen Schritten auf ihn zukam.
Constantin gab sich verbindlich. Er merkte natürlich auch, daß Jochen Heeren unruhig und verlegen war.
»Hat sich Ihre Frau schon gemeldet, Herr Heeren?« fragte er betont harmlos.
»Nein, leider nicht. Ich kann Ihnen gar nichts sagen. Ich weiß nicht, wo sie sich jetzt aufhält.«
»Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß ich eine einstweilige Verfügung gegen Sie und Ihre Frau erwirken kann, wenn das Kind vorsätzlich von seiner Mutter ferngehalten wird.«
»Das erzählen Sie Joana! Ich habe damit nichts zu schaffen. Sie macht, was sie will!« begehrte Jochen auf. »Aber Sie können uns nicht nachsagen, daß der Junge hier schlecht behandelt wird. Niemand kann das.«
»Das behaupte ich auch nicht. Aber ich finde es merkwürdig, daß Ihre Frau ausgerechnet dann mit Ulrich verreist, wenn in der Zeitung steht, daß Frau Bürgner aus dem Koma erwacht ist.«
»Stimmt das denn überhaupt?« fragte Jochen. »Es wird ja viel geschrieben, was gar nicht stimmt.«
»Es entspricht aber der Wahrheit.«
»Und Cordula wird wieder ganz gesund werden?«
»Das hoffen wir sehr. Jedenfalls schreitet der Genesungsprozeß jetzt rasch voran.«
»Das freut mich. Aber Joana hängt inzwischen schon sehr an dem Jungen, das muß man verstehen.«
»Das werden Sie mir doch nicht weismachen wollen, Herr Heeren! Das Geld ist verlockend, aber es wird sofort storniert, wenn Ihre Frau den Jungen verborgen hält. Es ist bald der Erste. Eine Überweisung wird dann nicht mehr stattfinden. Und wenn dem Jungen etwas passieren sollte… ich möchte es nicht weiterdenken, aber Ihre Frau müßte es verantworten.«
»Ulrich ist wohlauf, das kann ich beschwören. Ich verstehe ja auch, daß Cordula ihn sehen will, und ich werde dafür sorgen, daß Joana mit ihm rasch zurückkommt, wenn sie etwas von sich hören läßt.«
»Und Sie wollen wirklich nicht wissen, wohin sie gefahren ist?«
»Ich weiß es nicht, mein Ehrenwort.«
Er schaute jetzt so unglücklich drein, daß Constantin ihm glaubte.
»Wir müssen Frau Bürgner irgendwie hinhalten, damit sie sich nicht aufregt, weil Ulrich nicht zu ihr gebracht werden kann. Ein Rückfall muß unbedingt vermieden werden. Wie gesagt, am Ersten wird die Zahlung eingestellt, wenn Ulrich bis dahin nicht bei seiner Mutter war und wir mit Ihrer Frau alles weitere abklären konnten.«
»Ich habe verstanden, aber ich kann Joana nicht verständigen, wenn ich nicht weiß, wo sie zu finden ist.«
»Sie rufen mich sofort an, ich möchte mich darauf verlassen können.«
Jochen Heeren stand wie ein begossener Pudel da. Er war kein unrechter Mensch, und mit einer anderen Frau als Joana wäre er wohl auch recht umgänglich gewesen. Nun, vielleicht zeigte er jetzt doch einmal Rückgrat, denn Constantin spürte, daß er mit der Handlungsweise seiner Frau nicht einverstanden war.
Constantin machte sich Sorgen um den Jungen. Er wußte, wie sensibel Ulrich war. Hoffentlich hatte er keinen seelischen Schaden davongetragen.
Er aß in einem kleinen Restaurant zu Abend, denn langsam hatte sich doch ein Hungergefühl bemerkbar gemacht. Dann fuhr er zurück.
*
Joana war mit Ulrich unterwegs. Im Hotel hatte sie gesagt, daß Ulrich sich nicht wohl fühle und wieder nach Hause wolle.
»Ich will nicht nach Garmisch, ich will zu meiner Mami«, hatte er wieder mit fester Stimme erklärt.
Gegen Mittag waren sie aufgebrochen. Auf direktem Weg wollte Joana allerdings nicht zurückfahren. Sie war auf den Gedanken gekommen, eine Bekannte in Innsbruck zu besuchen. Das wollte sie Ulrich vorher aber nicht sagen. Sie war froh, daß er wieder schwieg und keine Fragen stellte, aber er kannte die Gegend ja nicht und wußte nicht, wohin sie fuhren.
Ihre Bekannte war zwar zu Hause, zeigte sich überrascht, tat auch erfreut, sagte dann aber gleich, daß sie leider gar keine Zeit hätte, da sie eingeladen sei. Es wäre besser gewesen, Joana hätte sich telefonisch angemeldet.
Es sei ein ganz spontaner Entschluß gewesen, erwiderte Joana. Sie sei mit Ulrich unterwegs, um den Jungen abzulenken.
Ulrich wartete indessen im Auto und wunderte sich, daß Joana so schnell zurückkam.
»Meine Freundin muß gleich weg«, sagte sie erklärend. »Wir gehen jetzt essen.«
»Ich will zu meiner Mami!« stieß er wieder nur hervor.
»Kannst du denn überhaupt nichts anderes sagen?« fuhr sie ihn an.
»Nein«, erwiderte er lakonisch.
Sie ging mit ihm in ein Café. »Möchtest du Kuchen oder Eis?« fragte sie. Er entschied sich für Apfeltorte. Er hatte Hunger, sonst hätte er wieder nichts gesagt. Er trank dazu eine Tasse Kakao, schweigsam, ohne Joana einen Blick zu gönnen.
Sie aß Sachertorte und trank Kaffee. Mit ihren Gedanken war sie jedoch nicht bei der Sache. Sie hatte keine Neigung, nach Garmisch zu fahren und sich von Jochen dumm anreden zu lassen. Aber was blieb ihr sonst übrig? Sie hatte in Seefeld fünftausend Mark verspielt. Und ihr wurde bewußt, daß sie Ulrich bei Laune halten mußte, damit er Cordula oder Dr. Marten nicht sagte, es gefalle ihm nicht bei ihr. Aber wodurch konnte sie ihn bewegen, etwas anderes zu erklären?
*
Ihr würde schon noch einiges einfallen, um ihn noch zugänglicher zu stimmen, da war sie ganz sicher. Ihr Optimismus nahm immer mehr zu.
Als sie in Garmisch ankamen, war es schon fast zehn Uhr, da sie noch in einen Stau gekommen waren.
Jochen war erstaunt, als er seine Frau sah, aber dann kam für ihn auch schon das große Aufatmen.
»Gut, daß ihr kommt, sonst könnte so manches ganz anders für dich ausgehen, als du geplant hast«, sagte er. »Na, war es schön, mein Kleiner?«
»Nein«, erwiderte Ulrich. »Ich bin müde.«
»Ich bringe dich gleich zu Bett, mein Schatz«, sagte Joana, worauf sie einen erstaunten Blick von Jochen erntete.
Aber Ulrich sagte: »Ich bin nicht dein Schatz. Ich bin Mamas Schatz.«
Doch er war froh, wieder in einer halbwegs vertrauten Umgebung zu sein. Die Badewanne war nicht so riesig, er konnte an seinen Zahnbecher gelangen, und er konnte im Zimmer allein schlafen mit all seinen Wuscheltieren.
»Ist nun alles wieder gut?« fragte Joana. »Ich dachte, ich würde dir eine Freude machen mit der Reise.«
»War es aber nicht. Gute Nacht.«
Er dachte wirklich nicht daran, Zugeständnisse zu machen. Insgeheim hatte er schon seine eigene Meinung, die aus seinem kindlichen Instinkt entstanden war.
Während Joana den Jungen zu Bett brachte, rief Jochen schleunigst bei Constantin an. Der Anwalt war gerade erst von der Klinik nach Hause gekommen. Und nun war er auch erleichtert, als er erfuhr, daß Joana den Jungen morgen bringen würde.
»Ich rufe Sie an, wenn sie losgefahren sind«, sagte Jochen.
»Ich werde im Büro sein«, erwiderte Constantin und gab ihm die Nummer durch.
Gott sei Dank, dachte er, dann brauchen wir Cordula nicht zu belügen.
Gleich rief er in der Behnisch-Klinik an. Er wurde mit Schwester Nora verbunden, da Dr. Behnisch nicht anwesend war. Und andere Ärzte waren ja nicht eingeweiht.
Schwester Nora gab ihrer Freude auch Ausdruck, als er ihr berichtete, daß Ulrich morgen gebracht werden würde.
»Und vergessen Sie nicht, es Dr. Behnisch auszurichten«, mahnte er.
»Bestimmt nicht«, erwiderte sie.
Er trank noch ein kühles Bier und überlegte, was wohl Joana veranlaßt haben mochte, so schnell wieder heimzukehren. Wenn er es auch nicht erfahren würde – es war gut, daß sie den Jungen brachte. Er war für ein klärendes Gespräch mit ihr vorbereitet.
Es hatte mal eine Zeit gegeben, da Joana sich sehr um ihn bemüht hatte. Fast wäre Constantin ihr auf den Leim gegangen, aber dann hatte sie angefangen, gegen Cordula zu sticheln, und gleich hatte er auf stur geschaltet. Für ihn gab es keine Frau, die mit Cordula vergleichbar gewesen wäre. Joana bestimmt nicht. Aber er hatte sie nicht für so intrigant und hinterhältig gehalten, wie sich dann herausstellen sollte, und er war überzeugt, daß sie auch Jochen aufgestachelt hatte.
In dieser Nacht konnte er wenigstens fünf Stunden ruhig schlafen. In der Firma brauchte er seinen wachen Verstand jetzt auch, denn da hatte nun auch schon ein Konkurrenzkampf unter den leitenden Herren begonnen, da der Boß bei sehr wichtigen Entscheidungen doch fehlte. Er hatte bisher die Fäden nicht in die Hand nehmen wollen, damit es nicht heißen sollte, daß er alles an sich reißen wolle, bevor Cordula überhaupt mitreden konnte. Wenn sie auch nichts von dem Betrieb verstand, so war sie doch Hauptaktionärin geworden, und ohne ihre Zustimmung konnte nichts verändert werden.
Gestern nun hatte sie ihm die Generalvollmacht gegeben, in ihrem Namen zu entscheiden. Sie dachte dabei nicht an sich, sondern nur an Ulrich, für den alles erhalten werden sollte.
Was da so unterschwellig geredet wurde, ging bei Constantin zum einen Ohr hinein, zum anderen hinaus. Er tat alles für Cordula und Ulrich, was in seiner Macht stand. Ihm war es gleichgültig, was man über ihn redete. In dieser Hinsicht war er ein kühl denkender Jurist.
Es war nur so, daß er jetzt auch im Betrieb voll konzentriert sein mußte, denn er wußte, daß manch einer ihm gar zu gern ein paar Steine in den Weg werfen würde.
Er stand früh auf und war auch sehr früh im Büro. Der Nachtportier war noch nicht mal abgelöst worden. Aber bei den Angestellten war Constantin beliebter als jeder andere von den leitenden Herren.
»Wird sich viel ändern, Herr Doktor?« fragte der Portier.
»Nicht, soweit es zu verhindern ist«, erwiderte er. »Ich hoffe, daß ich alles einigermaßen unter den Hut bringe, wie es auch Herr Bürgner verstanden hat.«
»Für die Firma ist er ein großer Verlust, aber ohne Sie würde es doch gar nicht weitergehen.«
»Ich bleibe euch ja erhalten«, erwiderte Constantin lächelnd.
»Das wird ein Glück sein.«
Aber manchen mochte das doch nicht gefallen. Es herrschte gleich Aufregung, als er für den frühen Nachmittag eine Konferenz einberief.
Er hoffte jedoch, daß Joana mit dem Jungen bereits vormittags eintreffen würde.
*
Jochen hatte mit Joana am Abend noch eine lange Unterhaltung gehabt, nachdem sie den Jungen ins Bett gebracht hatte. Jochen hatte seiner Frau von Constantins Besuch erzählt und sie auf die Folgen aufmerksam gemacht, die es für sie geben könnte, wenn sie Ulrich nicht bald zu Cordula brachte.
Er spielte sich ganz schön auf, hatte Joana gesagt, aber nachdenklich war sie doch geworden. Schon um Ulrichs ständigem: »Ich will zu meiner Mami«, Einhalt zu gebieten, wollte sie gleich nach dem Frühstück losfahren.
»Du kannst also auch vernünftig denken«, sagte Jochen, als sie ihm von ihren Plänen erzählte.
»Vielleicht kriegt Ulrich solch einen Schock, daß er gern wieder mit zu uns kommt«, sagte sie leichthin. »Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, daß ein Mensch, der drei Monate im Koma lag, einen erfreulichen Anblick bietet und alles um sich richtig wahrnimmt.«
Ulrich war aufgeregt, aber auch sehr brav. Er sagte nur: »Wir fahren ganz bestimmt zu Mami?«
»Ich habe es dir doch versprochen«, erwiderte Joana.
»Dann ist es gut, dann frage ich auch nicht mehr.«
Der Morgenverkehr war schon vorbei, als sie losfuhren. Auf der Autobahn ging es zügig voran.
Aber dreißig Kilometer vor München wurde der Verkehr wieder dichter, und da waren auch viele Lastwagen unterwegs.
Bisher hatte Ulrich tatsächlich nichts mehr gesagt, aber plötzlich klopfte er Joana auf die Schulter. »Da hinten kommt einer angerast, paß bloß auf«, sagte er. »Überhol jetzt nicht.«
»Soll ich den Mief von dem Lastauto noch länger einatmen?« fragte sie, aber als sie zum Überholen ansetzte, scherte der Lastwagen auch plötzlich nach links aus, und dann ging alles so schnell, daß Ulrich gerade noch aufschreien konnte, dann krachte es.
Der Junge hatte sich instinktiv zusammengekauert, so, wie es ihm Cordula im Flugzeug gesagt hatte. Er wurde hin- und her geschleudert durch den Aufprall, aber als jemand ihn dann aus dem Wagen hob, starrte er den Mann an und begann jammervoll zu weinen.
»Ich will zu meiner Mami«, wimmerte er, dann verlor er das Bewußtsein.
Er, wie auch Joana und noch andere Verletzte, wurden in das nächstgelegene Krankenhaus gebracht…
*
Constantin hatte den erwarteten Anruf von Jochen bekommen, als Joana losgefahren war. Er hatte sich ausgerechnet, wann sie in der Behnisch-Klinik eintreffen würden.
Er hatte im Büro alles geregelt und war dann zur Klinik gefahren. Die Ärzte hatten noch gar nicht mit Cordula sprechen können, denn sie hatte lange geschlafen und dann war Visite gewesen. Gleich danach hatten sie wieder eine Blinddarmoperation ausführen müssen, die auch brandeilig war.
Constantin hatte plötzlich die Eingebung, Cordula noch nichts von dem bevorstehenden Besuch zu sagen, weil er Angst hatte, sie könnte sich vor lauter Freude aufregen. Später sollte es sich herausstellen, wie gut das gewesen war, denn um halb zwölf Uhr war Joana noch immer nicht da, und da fürchtete er schon, daß sie es sich unterwegs wieder anders überlegt haben könnte.
Gegen zwölf Uhr bekam Jochen den Anruf, daß seine Frau verunglückt sei und in Lebensgefahr schwebe.
Er war so entsetzt, daß er kaum ein Wort über die Lippen brachte.
»Und Ulrich?« fragte er aber doch bebend.
»Das Kind steht unter einem Schock, ist aber nicht allzu schwer verletzt.«
Ulrich muß eine ganze Kompanie von Schutzengeln haben, ging es Jochen durch den Sinn.
Er erklärte, daß er sofort kommen würde, aber auf jeden Fall müsse die Klinik benachrichtigt werden. Dort würde Ulrich Bürgner erwartet.
Bevor er losfuhr, rief er selber dort an, und er erreichte Dr. Behnisch, der gerade aus dem OP gekommen war.
Dem wurde es sekundenlang schwarz vor den Augen bei dieser neuen Hiobsbotschaft.
*
Eiligen Schrittes betrat Dr. Norden die Behnisch-Klinik. Dieter kam ihm entgegen, er eilte in die Aufnahme. Ein Unfallopfer war eingeliefert worden. »Du willst zu Frau Bergen?« fragte Dieter. »Sie hat alles bestens überstanden, aber sie hätte nicht viel später kommen dürfen. Die Berichte gibt dir Schwester Nora.«
»Wie geht’s Frau Bürgner?«
»Probleme über Probleme, jetzt mit dem Kind. Erzähle ich dir später.« Schon war er weg.
Dr. Norden war überrascht, wie gut Gertraud Bergen aussah. Heiter und gelöst lag sie in den Kissen. Dabei hatte sie eine nicht unkomplizierte Nierenoperation hinter sich, und das vor erst wenigen Tagen. Magengeschwüre waren auch diagnostiziert worden, aber die konnten medikamentös behandelt werden, das hatte Dieter Behnisch ihm schon berichtet.
»Ich habe das Gefühl, daß es Ihnen gutgeht«, meinte er lächelnd.
»Mir geht es sehr gut, Herr Doktor, da Sie mir so eindringlich ins Gewissen geredet haben. Es hat mir sehr geholfen, und Dr. Behnisch hat mir schon gesagt, daß ich viel zu lange gewartet habe, ich hätte mir viel Schmerzen ersparen können. Aber ich mußte eben erst den Mut finden, einiges in meinem Leben zu ändern, und dabei haben Sie mir geholfen!«
»Erzählen Sie.«
»Als ich nach unserer Unterredung nach Hause ging, wurde mir schlagartig bewußt, daß ich von Karina schamlos ausgenutzt wurde. Sie hatte nur ihr Vergnügen im Sinn, Termine über Termine, immer etwas anderes. Mama war ja da! Am selben Tag hab ich sie um ein Gespräch gebeten. Ich hab ihr klargemacht, daß ich mich weiterhin um Mark und Corinna kümmern wolle. Die Kinder hängen so an mir und ich an ihnen. Aber ihren Haushalt müsse sie selber machen.«
»Wie hat sie es aufgenommen?«
»Sie war verblüfft. Am Abend hat sie sich wohl bei Johannes beschwert, doch er hat ihr den Kopf zurechtgerückt. Am nächsten Abend haben wir uns alle drei zusammengesetzt. Ich habe ihnen gesagt, daß ich in die Klinik müsse, da waren doch beide erschrocken. Mein Sohn hat dann gesagt, daß Karina eine Hilfe bekommt, sich aber sonst um alles selbst zu kümmern habe.«
»Da hat sich Ihr Sohn endlich durchgesetzt, nicht wahr?«
Gertraud lachte. »So kannte ich Johannes gar nicht. Aber es hat Karina gutgetan. Sie hat wohl eingesehen, daß sie alles etwas überzogen hat.«
»Was fehlt eigentlich dem kleinen Mark?«
»Das linke Beinchen ist etwas verkürzt. Er ist so ein liebes Kind.«
»Und da kann man nichts machen?«
»Der Kinderarzt meint, ja. Er muß nur etwas älter werden, dann wäre eine Operation eventuell möglich. Corinna ist auch ein liebes Kind, sie beschäftigt sich viel mit ihrem kleinen Bruder.«
Hoffentlich wird die Großmutter den Kindern lange erhalten bleiben, dachte Dr. Norden.
»Danke, daß Sie mir so viel Zeit opfern, Herr Doktor. Sie waren mir eine große Hilfe.«
»Das ist gern geschehen, Frau Bergen. Sie werden bald wieder zu Hause sein, dann sehe ich Sie in der Praxis. Und bleiben Sie bei dem, was sie sich vorgenommen haben!«
»Worauf Sie sich verlassen können!«
*
Währenddessen hatte Constantin Cordula erzählt, daß er eine Konferenz einberufen hätte und am Nachmittag einige Entscheidungen fallen würden. Aber er saß wie auf Kohlen und wurde immer nervöser. Das merkte Cordula.
»Du brauchst doch vor den Herren Direktoren keine Angst zu haben. Du hast mein volles Vertrauen, und ich weiß, daß du alles richtig machen wirst.«
An sich selbst zweifelte er am wenigsten, aber wo blieb Joana?
Da kam Schwester Nora und bat ihn ans Telefon.
Das war, so meinte Dr. Behnisch, die beste Ausrede, denn Cordula sollte ja nichts merken. Aber Constantin war auch fast einer Ohnmacht nahe, als ihm Dr. Behnisch den wahren Grund sagte, warum man ihn aus dem Zimmer geholt hatte.
»Allmächtiger!« stöhnte er. »Nur gut, daß ich Cordula noch nicht gesagt habe, daß Ulrich heute kommen sollte! Ich muß gleich zum Krankenhaus fahren. Können wir den Jungen hierher verlegen lassen, Dr. Behnisch?«
»Das wird bestimmt zu machen sein, wenn er transportfähig ist.«
»Aber Cordula darf nichts erfahren«, sagte Constantin.
»Wir werden uns hüten!«
Constantin riß sich zusammen, bevor er wieder zu Cordula ging. »Ich muß leider ins Büro zurück, Liebes«, sagte er rauh. »Ich komme später wieder.«
»Du mußt nicht immer bei mir sitzen. Ich schlafe doch noch die meiste Zeit. Und die Arbeit sollst du nicht vernachlässigen.«
Ihre Stimme klang schon besser, und sie konnte sogar schon ein bißchen lächeln, und es war ihm schrecklich, wenn er daran dachte, daß dieses Lächeln schon bald wieder verlöschen könnte.
»Für die Konferenz drücke ich dir die Daumen«, sagte sie noch, und: »Ach, wenn ich doch nur nicht so hilflos wäre!«
»Nicht verzagen, Cordula«, sagte er, »es wird schon alles gut werden.«
Er fuhr los. Bis zum Krankenhaus war es nicht weit, nur eine Viertelstunde, und er kannte den Weg genau.
Aber in dieser Klinik ging es viel pedantischer zu als in der Behnisch-Klinik, denn er mußte alle Instanzenwege durchlaufen. So einfach kam man hier nicht an den Chefarzt heran und schon gar nicht zu den Patienten.
Doch Constantin verstand es, sich durchzusetzen. Er besaß eine natürliche Autorität. Endlich hatte ein Arzt für ihn Zeit.
»Es handelt sich ja nicht allein um das Befinden des Jungen, sondern es geht auch um seine Mutter, um Cordula Bürgner, deren Genesung durch einen neuen Schock gefährdet wäre«, erklärte er.
»Sie sagen, daß Cordula Bürgner die Mutter des Kindes ist? Aber die verletzte Frau heißt doch Heeren.«
»Sie ist Ulrichs Tante. Er wurde bei ihr untergebracht, weil es sonst keine Verwandten gibt. Sie sollten den Jungen heute zu seiner Mutter in die Klinik bringen. Ich möchte den Kleinen gern sehen.«
»Ich verstehe Ihre Erregung, aber der Junge ist außer Lebensgefahr, Herr Dr. Marten«, sagte der junge Arzt. »Es besteht kein Anlaß zur Sorge.«
»Dann könnte er also verlegt werden?«
»Das kann ich nicht bestimmen. Aber ich glaube nicht, daß dieses Ansinnen abgelehnt würde. Bei Frau Heeren besteht allerdings akute Lebensgefahr. Der Ehemann ist bereits benachrichtigt. Er wird bald kommen.«
»Ja, das weiß ich. Kann ich Ulrich jetzt sehen? Meine Zeit ist nicht unbegrenzt, ich bin auch noch verantwortlich für die Bürgner AG.«
»Ich werde Sie zu der Station bringen«, erklärte der Arzt. »Und ich werde den Chefarzt informieren.«
Ulrich lag in einem kleinen, schmalen Raum auf einer ebenfalls schmalen Liege. Man hatte hier anscheinend Platzmangel.
Blanke Furcht stand in den weitaufgerissenen Augen des Kindes.
»Ulli, erkennst du mich nicht?« fragte Constantin leise.
»Bist du wirklich da, Constantin?« schluchzte der Junge auf. »Ich hab’ solche Angst!«
»Du brauchst jetzt keine Angst mehr zu haben. Ich nehme dich mit«, sagte Constantin. »Kannst du aufstehen?«
»Ich weiß nicht. Wo ist Joana? Was ist denn mit dem Auto? Oder habe ich alles bloß geträumt?«
Er zitterte am ganzen Körper. Constantin nahm ihn in die Arme. Da ging die Tür auf, und der junge Arzt kam mit einem älteren Kollegen herein. Er gab sich reserviert, aber nicht abweisend.
»Sie kommen in Vertretung der Mutter?« fragte er.
»Ja, ich habe Generalvollmacht von Frau Cordula Bürgner. Sie können sich gern davon überzeugen.«
»Geh nicht weg, Constantin«, flehte der Junge.
»Sie wollen ihn in die Behnisch-Klinik bringen, zu seiner Mutter?« fragte der Chefarzt. »Nun, dem steht nichts im Wege. Innere Verletzungen hat er nicht – wie durch ein Wunder.«
»Er hat mehrere Schutzengel«, murmelte Constantin. »Er hat ja auch den Flugzeugabsturz nur leicht verletzt überlebt.«
»Der Schock könnte allerdings nachhaltig wirken. Meist stellt sich das erst nach Stunden oder am nächsten Tag heraus. Er muß schon beobachtet werden.«
»Er wird bestimmt bestens betreut«, versicherte Constantin ruhig. »Die Kosten für Ihre Betreuung kann ich sofort begleichen.«
»Sie bekommen eine Rechnung. Wenn Sie bitte die Adresse hinterlassen wollen… Die Schwester wird dann kommen und das Kind ankleiden.«
»Ich hole eine Decke aus dem Wagen«, sagte Constantin.
»Geh doch nicht fort, nimm mich bitte auch gleich mit«, schluchzte Ulrich.
»Der Junge wird mit dem Rollstuhl zu Ihrem Wagen gebracht werden«, sagte der Chefarzt. »Aber Sie übernehmen dann die weitere Verantwortung.«
»Worauf Sie sich verlassen können«, sagte Constantin.
Vorsichtig wurde Ulrich auf den Rücksitz gebettet. Ängstlich sah er den hochgewachsenen Mann an.
»Überholst du auch nicht, und fährst du auch nicht zu schnell?« flüsterte er.
»Ich fahre ganz vorsichtig, Ulrich«, versprach Constantin.
»Ich habe zu Tante Joana gesagt, sie soll nicht überholen. Das Auto kam so schnell!«
»Wir wollen sehr froh sein, daß dir nicht mehr passiert ist«, sagte Constantin heiser. »Und in der Klinik wirst du nicht allein sein, wenn die Mami schläft. Benjamin ist am Blinddarm operiert worden, und er freut sich bestimmt, wenn du kommst.«
»Benny… ich hab’ ihn schon lange nicht mehr gesehen. Ist Blinddarm schlimm, Constantin?«
»Das kann manchmal sehr schlimm sein.«
»Wo tut es dann weh?«
»Das zeige ich dir später. Jetzt lieg nur ganz ruhig, weit ist es nicht.«
Welch ein Glück im Unglück, dachte er für sich, und er schickte ein Dankgebet zum Himmel, daß Ulli so glimpflich davongekommen war.
Der kleine Junge schlief, als sie zur Klinik kamen, obwohl sie nur eine knappe halbe Stunde unterwegs gewesen waren. Er wachte auch nicht auf, als Constantin ihn hineintrug.
Dr. Behnisch kam.
Ulrich sollte nochmals gründlich untersucht werden. Äußerlich war, abgesehen von ein paar Prellungen, nichts festzustellen. Es war tatsächlich ein Wunder, das vielleicht auch mit dadurch zu erklären war, daß nur die linke Vorderseite des Wagens stark in Mitleidenschaft gezogen worden war.
Als Constantin die Fotos später sah, war er doppelt froh, daß Ulrich anscheinend geistesgegenwärtig reagiert hatte. Er hatte die Gefahr wohl instinktiv geahnt. Mochte das für ein vierjähriges Kind auch erstaunlich sein, so mußte man bedenken, daß er erst vor drei Monaten ein schweres Unglück überstanden hatte, das nicht so überraschend gekommen war, denn Cordula hatte Ulrich auf eine Notlandung vorbereitet.
Der Sinn des Jungen war für Gefahren geschärft worden, bei anderen mochte das Gegenteil der Fall sein, sie hatten nur noch Angst.
Dr. Behnisch stellte fest, daß eine leichte Gehirnerschütterung vorlag und der rechte Arm gestaucht war. Wie weit seine Beweglichkeit eingeschränkt war, konnten sie erst feststellen, wenn der kleine Patient wieder munter war.
Jedenfalls wollten sie Cordula erst unterrichten, wenn sie den Jungen wirklich sehen konnte…
Constantin mußte bald wieder in die Firma. Er konnte die Konferenz nicht mehr verschieben. Wichtige Entscheidungen, von denen viel abhing, sollten nicht aufgeschoben werden. Er wußte, daß man in der Behnisch-Klinik mit dem Jungen behutsam umgehen würde. Er besprach sich mit Jenny Behnisch, wie Ulrich noch zu beruhigen wäre bis zum Nachmittag, wenn Constantin wieder zurück sein würde.
Ulrich schlief ziemlich lange. Es war die Entspannung nach dem Schock und den aufregenden letzten Tagen. Er fragte aber sofort nach Constantin, als er die Augen aufschlug.
»Er mußte dringend ins Büro, aber er wird bald wiederkommen«, erklärte Jenny.
»Und wann darf ich zu meiner Mami?«
»Wenn Dr. Marten hier ist. Weißt du, sie würde sich sehr erschrecken, wenn sie von dem Unfall erfahren würde. Das wollen wir doch vermeiden, nicht wahr?«
Ulrich nickte. »Ich will meine Mami nicht erschrecken. Ich will ihr sagen, wie lieb ich sie habe und daß ich nicht mehr zu Joana will.«
»Du wirst jetzt erst einmal hierbleiben, Ulrich, okay?«
»Okay.« Seine Augen leuchteten auf. »Du bist nett.«
Er erkundigte sich dann nach Benjamin. »Constantin hat mir das mit dem Blinddarm erzählt«, erklärte er. »Zeigst du mir, wo der Blinddarm ist?«
Jenny zeigte es ihm geduldig und erklärte ihm, daß der Blinddarm möglichst rasch herausgenommen werden sollte, wenn man Schmerzen bekam.
»Sonst vereitert er, und dann wird es schlimm. So war es bei Benjamin.«
»Aber ihr macht ihn auch wieder gesund«, sagte Ulrich. »Und meine Mami auch, nicht wahr?«
Für ein vierjähriges Kind war er ungewöhnlich vernünftig, aber wie Dr. Jenny Behnisch feststellte, auch schon ein bißchen zu ernst.
»Hast du denn in Garmisch keinen Spaß gehabt?« fragte sie.
»Nein, es waren auch gar keine anderen Kinder da. Joana hat mich immer traurig gemacht, wenn sie gesagt hat, daß Mami nie mehr richtig gesund werden würde. Ich sollte für immer bei ihr und Onkel Jochen bleiben. Aber das wollte ich nicht. Nun muß sie auch im Krankenhaus liegen, da sieht sie, wie das ist. Ob es ihr gefällt, wenn jetzt einer sagt, daß sie nie mehr gesund wird? Aber vielleicht wird sie auch wieder gesund. Mein Papi ist aber tot«, schloß er ernst.
Jenny wußte nicht, daß Ulrich in dieser kurzen Zeit mehr gesagt hatte, als in Garmisch in einer ganzen Woche.
*
In der Zwischenzeit war Jochen Heeren im Krankenhaus angekommen. Er hatte schon erfahren, daß Ulrich abgeholt worden war. Ihm konnte das nur recht sein, denn er wollte sich keine Schwierigkeiten einhandeln. Ihm genügten alle Komplikationen, die er jetzt schon zu bewältigen hatte.
Mochte Joana sein, wie sie wollte… sie war seine Frau, und er hatte sie einst aus Liebe geheiratet. Er hatte ihr viel verziehen, weil sie in sein Leben gehörte. Als er sie nun völlig apathisch im Bett liegen sah, war er zutiefst deprimiert.
Der Chefarzt zuckte die Schultern, als er fragte, wie die Chancen stünden.
»Jetzt können wir noch gar nichts sagen. Wir müssen abwarten, ob die inneren Blutungen zum Stillstand kommen. Eine Notoperation haben wir schon vornehmen müssen. Und sonst… ich kann es nicht verschweigen, aber wenn Ihre Frau überlebt, wird sie behindert bleiben.«
Jochen schloß die Augen. »Dann würde sie sich wohl lieber wünschen, nicht mehr zu leben«, erwiderte er leise. »Und Ulrich ist nur leicht verletzt?«
»Ja, wir konnten ihn Dr. Marten mitgeben. Es war auch im Interesse seiner Mutter.«
»Es wäre wirklich schrecklich gewesen, wenn sie das Kind auch noch verloren hätte«, sagte Jochen leise.
Er hätte seines Lebens nie mehr froh werden können, das wußte er nun genau. Aber wenn Joana nun auch sterben würde? Heute morgen war er noch froh gewesen, daß sie das Kind zu Cordula bringen wollte. Und jetzt? Er fühlte sich ganz schrecklich hilflos. Hier konnte er gar nichts ausrichten, in Garmisch aber wurde er doch dringend gebraucht.
Er fragte, ob Joana nach Garmisch verlegt werden könnte. Daran wäre gar nicht zu denken, wurde ihm erwidert. Darüber könnte man vielleicht in einer Woche reden, wenn sie diese überlebt hätte.
»Ich habe ein Hotel«, erklärte er entschuldigend. »Es ist jetzt Hauptsaison, und ich kann nicht allzuoft abwesend sein.«
»Hier können Sie doch nichts ausrichten, Herr Heeren«, sagte der Chefarzt. »Wir können telefonisch in Verbindung bleiben.«
Er sagte es in einem Ton, als hätte er wenig Hoffnung.
Auch Jochen mußte dann noch zur Verwaltung, um die genauen Personalien anzugeben. Die Unterlagen von der Krankenversicherung hatte er schon mitgebracht. Als Geschäftsmann wußte er, was notwendig war. Es wurde ihm versprochen, daß Joana in ein Einzelzimmer gelegt werden würde, sobald dies möglich sei, aber vorerst müßte sie noch auf der Intensivstation bleiben.
Wieder draußen an der frischen Luft, mußte Jochen erst einmal tief durchatmen. Dann kam ihm in den Sinn, noch zur Behnisch-Klinik zu fahren. Man sollte nicht von ihm denken, daß Ulrich ihm gleichgültig sei.
Guter Gott, was hatte Joana gleich nach Cordulas Unfall für Träume gehabt! Er hatte sie immer gewarnt, vor all den Phantasien, und nun… Sollte das eine Strafe des Himmels sein?
Er war nicht abergläubisch, aber ihm kam es doch seltsam vor, daß Ulrich zweimal mit dem Leben davongekommen war, beide Male kaum verletzt.
Wenn man es aber so sehen wollte… für was sollte denn Cordula gestraft worden sein?
Es ist alles Schicksal, wies sich Jochen zurecht, wir können es nicht beeinflussen. Und dann erkundigte er sich, wie man zur Behnisch-Klinik kommen konnte. Es war nicht weit, also verlor er nicht viel Zeit, da er mit diesem Tag sowieso nichts mehr anfangen konnte. Er hoffte nur, daß in Garmisch alles glattgehen würde und die Gäste zufrieden waren. Sie waren verwöhnt. Man mußte schon allerhand bieten, um einen Gewinn zu machen. Der Winter war nicht ergiebig gewesen, zu warm und zu wenig Schnee. Er hatte dazu wahnsinnige Kosten gehabt durch einige Umbauten.
So seinen Gedanken nachhängend hätte er fast die Ausfahrt zur Behnisch-Klinik verpaßt, obgleich der Wegweiser unübersehbar war.
Diese Klinik wirkte ganz anders als das Krankenhaus, in dem Joana lag, schon vom äußeren Erscheinungsbild her. Man wurde hier auch weitaus persönlicher behandelt.
Auch Dr. Behnisch hatte ein paar Minuten Zeit für ihn. Ja, der Junge sei hier und auch bereits ärztlich versorgt. Man hätte Frau Bürgner noch nichts von dem Unfall erzählt, sagte er.
»Als ich im Krankenhaus ankam, war Ulrich schon nicht mehr da, deshalb wollte ich mich hier nach seinem Befinden erkundigen«, sagte Jochen stockend. »Ich bin sehr erleichtert, daß er nicht schwerer verletzt wurde.«
»Was ist mit Ihrer Frau?« fragte Dr. Behnisch.
»Es sieht sehr schlimm aus. Man kann noch nichts Konkretes sagen. Ich muß trotzdem wieder zurück. Ich habe ein Hotel und Personalmangel, da geht leicht was schief.«
»Es gibt ja Telefon«, sagte Dr. Behnisch. »Sie können hier auch anrufen.«
»Dr. Marten ist wohl nicht anwesend?«
»Er müßte bald kommen, aber von einem Besuch bei Ulrich sehen Sie bitte ab. Er könnte sonst meinen, Sie wollten ihn wieder mitnehmen.«
Jochen zuckte zusammen. »Hat er etwas Nachteiliges über uns gesagt?« fragte er beklommen.
»Er hat nur gesagt, daß er bei seiner Mutter sein will. Ich denke, so wird ihm, wie auch Frau Bürgner, geholfen.«
»Das hoffe ich auch. Ich könnte mich jetzt sowieso nicht viel um ihn kümmern.«
In diesem Moment kam Constantin herein. Erstaunt war er schon, Jochen hier zu sehen, aber er begrüßte ihn freundlich, und das beruhigte nicht nur Jochen, sondern auch Dr. Behnisch.
»Dann kann ich ja wieder an meine Arbeit gehen«, sagte er. »Ich komme später rüber, Herr Marten.«
»Und ich will mich jetzt auch gar nicht mehr lange aufhalten«, sagte Jochen. »Ich wollte mich nur nach Ulrichs Befinden erkundigen. Aber es scheint ihm tatsächlich schon ganz gut zu gehen.«
»Darüber bin ich auch sehr froh. Ich hatte am Nachmittag eine Konferenz und konnte nicht hierbleiben, aber nun werde ich gleich nach ihm sehen.«
»Ich hoffe, daß auch für Cordula alles gut wird«, sagte Jochen. »Würden Sie ihr bitte meine besten Grüße und Genesungswünsche ausrichten? Ich darf Sie doch ab und zu anrufen?«
»Selbstverständlich. Was sagt man über Joanas Zustand?«
Jochen blickte zu Boden. »Es sieht anscheinend schlecht aus. Wenn sie überlebt, wird sie behindert bleiben.«
So schnell kann alles gehen, dachte Constantin. Man soll anderen nichts Böses wünschen, vor allem nicht den Tod. Es scheint doch eine göttliche Gerechtigkeit zu geben.
Er war zuversichtlich. Die Konferenz war zu seiner Zufriedenheit verlaufen. Er konnte lächelnd zu Ulrich ans Bett treten.
»Was machst du mit dem Koffer?« fragte der Junge sofort ängstlich.
»Da sind nur Sachen für dich drin, Ulrich. Frau Werner hat sie gekauft, während ich in der Konferenz war.«
»Wer ist Frau Werner?«
»Weißt du das nicht mehr? Sie war bei deinem Papi Sekretärin, und jetzt ist sie meine.«
»Jetzt kann ich mich wieder erinnern. Aber ich habe sie nur ein paar Mal gesehen. Weiß sie denn, wie groß ich bin?«
»Ich habe es ihr genau gesagt. Du mußt doch hübsch und sauber aussehen, wenn wir deine Mami besuchen.«
»Jetzt?« fragte er aufgeregt.
»Ja, wenn wir dich angezogen haben. Dr. Behnisch hat es erlaubt. Aber du mußt mir versprechen, nicht zu weinen.«
»Warum sollte ich denn weinen?«
»Deine Mutter ist sehr verändert, Ulrich. Und ihre Stimme klingt auch anders als früher.«
»Hauptsache, ich kann bei ihr sein«, sagte Ulrich. »Ich bin ja auch schon wieder älter geworden.« Es klang wieder sehr ernst und wichtig.
Constantin strich ihm über das Haar. Du bist ein sehr lieber und vernünftiger Junge«, sagte er weich.
»Joana hat das nie gesagt. Nun weiß sie wenigstens auch mal, wie das ist, wenn man im Bett liegen muß. Dabei war sie selber mit schuld. Sie hätte besser aufpassen müssen. Mami war nicht schuld, daß wir abgestürzt sind.«
Er stand schon auf den Beinen, schwankte aber noch ein bißchen.
»Langsam, Ulrich. »Ich hole lieber die Schwester.«
»Mir ist bloß ein bißchen schwindelig.« Der Junge griff sich an eine Kopfseite. »Da tut es auch noch weh.«
Jenny Behnisch kam herein. »Wie, du bist schon aus dem Bett, Ulrich? Wie fühlst du dich denn?«
»Es geht schon. Ich will jetzt zu meiner Mami.«
»Wir können dich im Rollstuhl rüberfahren«, schlug sie vor.
»Was soll Mami denn denken? Wir wollen sie doch nicht aufregen.« Er dachte wirklich an alles, und auch die Ärztin staunte über seine Intelligenz.
»Aber bis vor die Tür können wir dich fahren«, sagte sie.
»Es geht schon. Ich muß mich jetzt anziehen. Constantin hat Sachen mitgebracht.«
»Aber du mußt sagen, wenn du dich nicht wohlfühlst und dir das Gehen schwerfällt«, ermahnte Jenny den Jungen.
»Constantin ist doch bei mir, da passiert mir nichts. Er ist unser allerbester Freund.«
Frau Werner hatte hübsche Sachen ausgewählt, natürlich auch
Jeans, wie ein richtiger Junge sie braucht. Die Größe stimmte auch. Ulrich bemerkte es anerkennend.
»Frau Werner hat auch Kinder«, sagte Constantin. »Sie sind jetzt zwar schon groß, aber sie waren auch mal klein, und Mütter vergessen das nicht.«
»Hast du sie gern?« fragte Ulrich stockend. »Vielleicht lieber als uns?«
»Du lieber Himmel, nein! Sie ist sehr nett und eine gute Sekretärin, aber mehr nicht.«
»Dann hast du Mami lieber?«
»Ja, Ulrich. Aber warum fragst du?«
»Weil Papi und Mami geredet haben, auch über dich. Ich habe es gehört. Ich konnte nicht schlafen. Da hat Papi gesagt, warum Mami eigentlich nicht dich geheiratet hat.«
»War er zornig?«
»Nein, sie streiten doch nicht. Sie haben bloß geredet.« Er schlang die Arme um Constantins Hals. »Ich habe dich mächtig lieb. Danke, daß du mich geholt hast.«
»Ich habe dich auch mächtig lieb, Ulli. So, und nun gehen wir zu deiner Mami.«
*
Cordula war zwischendurch schon mehrmals aufgewacht, aber sobald sie konzentriert über alles, was geschehen war, nachdenken wollte, war sie müde geworden.
Die Nachmittagsvisite war vorbei, sie hatte eine Infusion bekommen und fühlte sich danach frischer.
Ob die Konferenz schon zu Ende ist, überlegte sie jetzt. Ob Constantin alles erreicht, was er erreichen will? An ihm zweifelte sie keinen Augenblick, aber sie wußte, daß andere Leute Ärger bereiten konnten. Thomas hatte in letzter Zeit häufig Schwierigkeiten gehabt mit seinen Direktoren. Aber er war auch schneller erregbar und aufbrausender als Constantin.
Da hörte sie draußen Stimmen.
Dann ging die Tür auf. Ulrich kam an ihr Bett getrippelt. Er bekam schon einen Schrecken, als er seine Mami sah, obgleich er auf ihren Anblick vorbereitet war. Aber das merkte Cordula ja nicht. Sie sah nur ihr Kind.
»Mein Liebling, mein alles«, kam es bebend über ihre Lippen.
»Mami, mein Mamilein«, schluchzte Ulrich auf, »ich wollte immer zu dir. Es hat so lange gedauert.«
»Jetzt bist du bei mir.« Tränen rannen über ihre Wangen, ihre Hand tastete sich zu seiner Wange. Sie konnte ihn berühren. Er war da, er lebte! Immer noch hatte sie insgeheim gefürchtet, daß man sie nur täuschen wollte. Sie ahnte nicht, was am Vormittag geschehen war. Zum Glück ahnte sie es nicht, denn schon die Freude, das Glück des Wiedersehens war fast zuviel für sie.
»Constantin hat mich geholt, Mami«, erzählte Ulrich, »und nun bleibe ich bei dir. Ich brauche nicht mehr zurück.«
»Aber ich muß doch in der Klinik bleiben, Ulrich, mein Schatz.«
»Er wird auch hierbleiben, Cordula«, sagte Constantin, der nun auch an ihr Bett getreten war. »Er wird bei dir sein, wann immer du wach bist und ihn sehen willst.«
»Man kann das doch einem so kleinen Kind nicht zumuten, Constantin.«
»Ich bin nicht klein, und Benny liegt auch in der Klinik. Ihn kann ich auch besuchen, Mami, das ist alles schon klar. Ich bin sehr vernünftig, hat Constantin gesagt.«
»Und sehr lieb«, fügte der Mann hinzu.
»Ja, sehr lieb«, wiederholte Cordula. »Ich bin so dankbar, so unendlich dankbar!«
Constantin hob den Jungen empor. »So kannst du der Mami einen Kuß geben, Ulli«, sagte er.
»Tu ich ihr auch nicht weh?«
»O nein«, flüsterte Cordula, und ganz gelöst wirkte nun ihr Gesicht, als die weichen Kinderlippen ihren Mund berührt hatten. Sie lächelte, aber Ulrich blieb ernst und sehr nachdenklich. Seine Lippen zuckten. Er unterdrückte das Weinen, das ihm in die Kehle stieg. Cordulas Lider sanken wieder herab.
»Mami ist müde«, flüsterte Ulrich. »Wir müssen ganz leise sein.«
Er griff nach Constantins Hand. Es war eine Geste der Hilflosigkeit, denn für diesen kleinen Jungen war doch alles sehr schwer zu begreifen… vor allem, daß seine schöne, lebhafte Mami so blaß und schmal in dem großen Bett lag.
»Komm bald wieder, Ulli«, murmelte Cordula, und ihre Hand tastete über die Bettdecke. Ulrich legte sein Gesichtchen darauf und flüsterte: »Liebe Mami.«
Dann sah er Constantin an mit einem Ausdruck, der alles verriet, was in seinem Innern und in seinem Kopf vor sich ging. Seine Lippen waren aufeinandergepreßt, und Tränen stiegen in seine Augen.
»Komm jetzt, Ulli, Mami schläft«, sagte Constantin zärtlich. »Ich bleibe jetzt noch eine Weile bei dir.«
»Es ist doch schlimm«, murmelte Ulrich leise. »Mami ist ganz dünn. Es wird wohl noch lange dauern, bis sie wieder ganz gesund ist.«
Es ging Constantin zu Herzen, wie viele Gedanken sich das Kind machte.
»Wir müssen noch Geduld haben, aber es wird jetzt von Tag zu Tag bessergehen, wenn Mami dich immer sehen kann.«
»Du kommst aber auch, Constantin, nicht wahr?«
»Natürlich komme ich. Jeden
Tag, darauf kannst du dich verlassen.«
Auf dem Flur trafen sie André Riedmann. Der blieb überrascht stehen. »Ja, wen sehe ich denn da!« rief er erfreut aus. »Ulrich ist da! Willst du Benny besuchen?«
»Morgen, heute nicht«, erwiderte Ulrich. »Ich muß wieder ins Bett.«
André sah Constantin erschrocken an, aber der bedeutete ihm mit einer leicht verneinenden Kopfbewegung, daß er keine Fragen stellen solle.
»Sehen wir uns nachher vielleicht noch, Constantin?« fragte André.
»In einer Viertelstunde.«
»Okay. Und wir sehen uns morgen, Ulli?«
Der Junge nickte. »Schönen Gruß an Benny.«
Man spürte, daß Ulrich mit seinen Gedanken woanders war… Im Zimmer umarmte er Constantin. Er klammerte sich förmlich an ihn. »Du läßt uns nicht allein, Constantin, gell?«
»Wie kommst du denn auf solche Gedanken?«
»Ich weiß nicht, mir ist nur so bange.«
»Das ist noch der Schock von heute morgen, Ulli. Wenn du erst eine Nacht darüber geschlafen hast, ist alles besser.«
»Es hat so doll gekracht! Mir tut der Kopf auch wieder weh. Ich bin so traurig, daß es Mami noch so schlecht geht.«
»Es geht ihr nicht mehr schlecht, sie ist nur noch blaß. Und das kommt auch daher, weil sie so lange nicht mehr an der frischen Luft war. Wenn es ihr noch ein bißchen bessergeht, bringe ich euch beide in ein schönes Sanatorium, und da erholt ihr euch gründlich.«
»Kommst du dann auch mit?«
»Nicht die ganze Zeit, aber bestimmt ein paar Tage. Und natürlich besuche ich euch oft. Deshalb suchen wir auch eines aus, das nicht so weit weg liegt. Vielleicht nehmen wir eins am Tegernsee. Den kennst du doch, nicht wahr?«
»Ja, da ist es schön, da wollte Mami ein Haus kaufen, das weiß ich noch. Aber wie kommt es, daß ich so viel vergessen habe, Constantin?«
»Weil du noch ein Kind bist. Kinder vergessen manches schnell, was ihnen nicht so gut gefallen hat.«
Schwester Nora kam und fragte, ob sie helfen könnte.
»Wir kommen schon klar«, erwiderte Constantin freundlich. »Aber vielleicht können sie Ulrich noch ein Glas Milch bringen.«
»Er soll lieber Saft trinken, hat der Chef gesagt«, erklärte Nora. »Was für Saft möchtest du haben?«
»Orangensaft. Aber nicht so dicken.«
»Möchtest du noch etwas essen?«
Er schüttelte leicht den Kopf. »Höchstens Butterkeks.«
Er lag schon im Bett, als Nora mit dem Gewünschten kam. Er trank den Saft und aß einen Keks, aber ihm fielen gleich darauf die Augen zu. Es war ein anstrengender Tag in seinem jungen Leben gewesen.
Constantin erinnerte sich an seine Kindheit. Er war als Dreijähriger mal von einem Radfahrer angefahren worden und schwer gestürzt. Später hatte ihn seine Mutter immer wieder daran erinnert, wenn er zur Schule ging, aber er hatte keine Erinnerung mehr daran gehabt. Sie war nur immer wieder von seiner Mutter geweckt worden.
Ulrich aber sollte nie mehr an jene Geschehnisse erinnert werden, die sein junges Leben schon so einschneidend verändert hatten, das schwor sich Constantin. Er war überzeugt, daß Cordula mit ihm einer Meinung sein würde.
Es war noch keine Viertelstunde vergangen, aber André wartete schon im Gang auf ihn.
»Ich möchte mich doch mit Ihnen absprechen, Constantin«, sagte er. »Wir wollen keine Fehler machen, die Ulrich erschrecken könnten. Ich habe eben erfahren, was heute vormittag passiert ist. Das ist ja schrecklich! Das arme Kind hat zum zweiten Mal in Todesgefahr geschwebt. Hoffentlich war das kein Schock für Cordula.«
»Sie weiß es nicht… und soll es auch so bald nicht erfahren.«
»Das wird besser sein«, nickte André. »Joana soll ja schwer verletzt sein, wie mir gesagt wurde. Nun muß sie es am eigenen Leib erleben, wie das ist. Soll man das als ausgleichende Gerechtigkeit bezeichnen, oder ist das zu frivol?«
»Mir sind auch solche Gedanken gekommen«, gab Constantin zu. »Sie hat Cordula nichts Gutes gewünscht. Und wenn sie mit Ulrich sprechen, erwähnen Sie Joana am besten gar nicht. Die Kinder werden sich ja bestimmt ganz unbefangen unterhalten.«
»Es ist ein wahres Wunder, daß Ulrich nicht mehr abbekommen hat«, murmelte André.
»Ja, er muß mehrere Schutzengel haben.«
»Hoffentlich bleiben sie ihm zur Seite. Darf ich Sie fragen, ob Bürgner einen Infarkt hatte? Es wird recht viel gemunkelt.«
»Es könnte sein. Ich weiß aber auch nichts Genaues.«
»Aber mit der Firma ist doch alles in Ordnung, oder muß Cordula sich da auch Sorgen machen?«
»Nein, es steht sehr gut.«
»Es ist keine Neugier, wenn ich frage. Ich wäre immer bereit, Cordula zu helfen.«
»Ich auch«, erwiderte Constantin betont. »Aber finanzielle Sorgen wird sie nie haben.«
Die beiden Männer verließen die Klinik gemeinsam. »Noch eine Bitte habe ich, Constantin: Sollte Ihnen Tessa über den Weg laufen, sagen Sie besser, daß wir uns kaum sehen. Sie werden sie sonst nicht mehr los.«
Constantin lächelte flüchtig. »Eigentlich habe ich nie Zeit für eine Unterhaltung«, erwiderte er. Und dann schieden sie mit einem festen Händedruck.
*
Dr. Behnisch wurde anderntags von Tessa buchstäblich überrollt. Sie fände es unerhört, daß sie nicht zu ihrem Sohn gelassen würde, echauffierte sie sich. Immer, wenn sie käme, würde er schlafen.
Dabei war es heute das erste Mal, daß man zu dieser Ausrede gegriffen hatte, weil Anja Koenig bei ihm war. Die Hölle wäre los gewesen, wenn Tessa ihr begegnet wäre.
»Sie müssen das doch verstehen, Frau Riedmann«, sagte Dr. Behnisch. »Der Schlaf ist für den Jungen wichtig. Sie sind sich anscheinend noch immer nicht bewußt, in welch kritischer Situation er operiert werden mußte.«
»Aber deswegen hetzt ja mein Mann alle gegen mich auf und redet, als wäre ich eine Rabenmutter.«
Dr. Behnisch sah sie durchdringend an, und diesem Blick konnte sie nicht standhalten.
»Nun, immerhin ist es doch wohl eine Tatsache, daß Sie den Zustand des Jungen unterschätzt haben und trotz des hohen Fiebers nichts unternahmen«, sagte er ruhig. »Hinsichtlich dieser Tatsache kann ich Ihren Mann verstehen, wenn er Ihnen Vorwürfe nicht erspart.«
»Aber das dürfte wohl doch kein Scheidungsgrund sein«, stieß sie mit schriller Stimme hervor.
»Ich kann nicht beurteilen, wie viele Gründe es dafür gibt. Ich bin Arzt, kein Anwalt.«
Wenn Dieter Behnisch mal der Kragen platzte, kannte er kein Pardon. Er ließ Tessa einfach stehen, aber da sie sowieso nicht wußte, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollte, setzte sie sich in die Halle und beobachtete das Kommen und Gehen. Und da kam ihr Constantin Marten gerade recht.
Sie setzte ihre liebenswürdigste Miene auf, als sie auf ihn zuging.
»Dr. Marten, wie nett, Sie zu treffen«, sagte sie mit ihrer süßesten Stimme.
»Sie wollen sicher Cordula besuchen. Ach, das würde ich auch zu gern tun, aber ich werde nicht mal zu meinem Sohn gelassen. Was sagen Sie dazu?« Wie ein Wasserfall sprudelte es von ihren Lippen, und dann lege sie auch noch ihre Hand auf seinen Arm.
Er wich rasch zurück. »Ich habe leider auch keine Zeit für eine Unterhaltung, Frau Riedmann«, sagte er reserviert. »Und Cordula ist noch nicht in der Lage, Besuche zu empfangen.«
»Sie dürfen doch zu ihr«, sagte Tessa spitz.
»Ich vertrete die Firma«, erwiderte er kühl.
»Aber André darf doch sicher auch zu ihr, oder?«
»Nein, das darf er nicht.«
Als er versuchte weiterzugehen, lief Tessa neben ihm her. Constantin fragte sich, wie André diese Frau überhaupt Jahre hindurch hatte ertragen können.
»Niemand hat Verständnis für mich«, klagte sie, »als hätte niemand mal einen Fehler in seinem Leben gemacht. Wissen Sie eigentlich, wie man über Sie redet?«
»Es interessiert mich nicht.«
»Sie haben auch nicht nur Freunde. Man sagt, daß Ihnen Bürgners Tod nur willkommen sein konnte… in mancherlei Hinsicht.«
Er blieb stehen. »Ich bin nicht gern unhöflich, Frau Riedmann, aber würden Sie mich jetzt bitte mit Ihrem Geschwätz verschonen?«
Jenny war in Sichtweite. Sie eilte schnell von dannen. Sie wollte Anja Koenig warnen, da sie nicht wußte, wie weit Tessa zu gehen gedachte.
Anja schrak zusammen, als sie das Krankenzimmer betrat. Sie hatte Benny eine hübsche Geschichte erzählt, und der Junge war im Einschlafen begriffen.
Dr. Jenny Behnisch winkte ihr, und sie ging schnell zur Tür. »Ich möchte Sie vorwarnen, Frau Riedmann ist im Anrollen«, sagte sie leise. »Gehen Sie lieber schnell ins Ärztezimmer, Frau Koenig.«
Konsterniert folgte ihr Anja. Im Ärztezimmer angekommen, sagte sie: »Ich habe eigentlich keinen Grund, Tessa auszuweichen.«
»Da denkt Herr Riedmann aber anders«, erwiderte sie, aber dann erschraken beide, denn sie hörten Bennys Stimme.
»Sie bleiben hier«, sagte Jenny energisch, »wir wollen doch keinen Skandal heraufbeschwören!« Und schnell lief sie zum Krankenzimmer zurück.
Tessa lehnte an der Wand, nahe der Tür, und redete auf den Jungen ein. Benjamin aber saß im Bett und schrie: »Du sollst gehen, ich will dich nicht mehr sehen, nie mehr!«
Jenna packte Tessa am Arm. »Bitte, gehen Sie«, sagte sie energisch. »Sie machen doch alles nur noch schlimmer. Benny darf sich nicht so aufregen, die Wunde könnte aufbrechen.«
»Und an die Wunden, die mir geschlagen werden, denkt niemand«, empörte sich Tessa theatralisch, als stünde sie vor der Kamera.
Gewaltsam drängte die Ärztin sie aus dem Zimmer. »Sie sollten sich im klaren darüber sein, daß Benny noch nicht über den Berg ist, Frau Riedmann, und Sie haben gehört, was er sagte.«
»Er wurde aufgehetzt«, stieß sie hervor. »Man will mir meinen Sohn wegnehmen. Aber ich nehme es nicht hin, niemals!«
»Seien Sie doch vernünftig, Frau Riedmann. Sie sollten jetzt zu allererst an das Wohl von Benny denken…«
Jenny hätte ihr am liebsten ganz was anderes gesagt, aber das durfte sie ja nicht. Sie mußte sich beherrschen, so schwer es ihr auch fiel. Eine Mutter, die um das Leben ihres Kindes besorgt war, war Tessa ganz gewiß nicht, dafür hatte sie nun den endgültigen Beweis. Es war niemand dagewesen, der sich ihr in den Weg gestellt hätte, als sie zu dem Zimmer des Kindes ging. Jetzt war Jenny unsicher, ob sie vielleicht doch Anja Koenig bemerkt hatte. Aber diesbezüglich sagte Tessa nichts. Sie verlegte sich jetzt aufs Jammern, daß niemand sie verstehen und ihr glauben würde. Und sie sei verzweifelt, weil Benjamin so aggressiv reagiert habe.
»Bitte, überlegen Sie mal in Ruhe, was ein Kind empfindet, das krank ist, aber alleingelassen wird, Frau Riedmann«, sagte Jenny mit erzwungener Ruhe. »Da hat es bei dem Jungen einen Knacks gegeben. Sie sollten darüber mal in Ruhe nachdenken.«
»Meine Güte, für ihn hat doch immer nur sein Daddy existiert. Fragen Sie den doch, warum er nicht da war!«
»Ich denke, Ihr Mann hat einen Beruf? Aber ich möchte darüber nicht diskutieren. Würden Sie sich jetzt bitte von hier entfernen. Es ist nicht angenehmer, wenn andere Patienten auch noch aufgeschreckt werden.«
»Die Leute können ruhig hören, wie ich hier behandelt werde!« schrie sie wütend. »Ich denke nicht daran zu gehen. Ich werde hier auf meinen Mann warten. Haben Sie mich verstanden?«
»Es war ja nicht zu überhören«, erwiderte Jenny. »Aber begeben Sie sich bitte in den Warteraum. Ich habe zu tun.«
Da kam ihr ihr Mann zu Hilfe. »Bitte, kommen Sie in mein Büro, Frau Riedmann«, sagte er ruhig.
»Ich möchte jetzt aber lieber gehen«, erklärte sie, denn Dr. Behnisch hatte eine besondere Art, mit solchen Frauen fertig zu werden.
»Dann erübrigt sich ein Gespräch«, sagte er kühl. Da entfernte sie sich schnell, zutiefst beleidigt und sich unverstanden fühlend. Nichts traf sie mehr, als wenn sie von Männern so abgefertigt wurde, da sie doch meinte, unwiderstehlich zu sein.
Anja Koenig hatte zwar keine Angst vor Tessa, aber sie sagte sich jetzt auch, daß es wohl zu einem Skandal gekommen wäre, hätten sie sich hier getroffen. Sie konnte nun wieder zu Benjamin gehen und ihn beruhigen, denn mit dem Schlafen war es bei ihm vorerst vorbei.
Dann bekam er Gesellschaft, die ihn ablenkte.
Schwester Nora brachte Ulrich zu ihm. »Das ist toll«, freute sich Benjamin. »Mein Daddy hat mir schon erzählt, daß du mich besuchen kommst. Das ist Anja, sie ist nett.«
»Wir sind uns auch schon begegnet«, sagte Anja und sah den Kleinen voller Mitgefühl an, denn sie wußte ja, was er alles schon hatte durchmachen müssen.
Ulrich nickte, dann streichelte er Benjamins Hand. »War es schlimm?« fragte er mitfühlend.
»Ist schon vergessen«, erwiderte Benjamin. »Bleibst du jetzt auch hier?«
»Für eine Weile schon. Aber vielleicht fahre ich mit Mami dann in ein Sanatorium, hat Constantin
gesagt. Da bleibe ich dann auch bei ihr.«
»Du hast eine liebe Mami, und ich habe einen lieben Daddy«, meinte Benny. »Wir könnten uns eigentlich zusammentun.«
Anja erschrak bei dieser Bemerkung. Kinder konnten eigenwillige Wünsche durchsetzen, wenn sie auf Gegenliebe bei den Eltern stießen, aber da sagte Ulrich, daß Benjamin doch auch eine Mami hätte.
»Die will ich nicht mehr haben, die ist so gemein«, sagte Benjamin. »Die hat immer was anderes vor und hat mich nicht lieb.«
Erschrocken sah ihn Ulrich an. Er wußte jetzt nicht so recht, was er sagen sollte, denn er konnte es nicht verstehe, daß eine Mami nicht lieb sein konnte. Anja wußte auch nichts zu sagen.
»Spielen wir was?« fragte Benjamin ablenkend. »Anja hat mir zwei Spiele mitgebracht.«
Ulrich sah Anja fragend an. »Spielst du auch mit?«
»Ich muß jetzt wieder gehen, aber ihr könnt auch allein spielen. Das habt ihr schnell begriffen. Ich habe es Benny schon erklärt.«
»Ja, ich weiß, wie es geht«, sagte Benjamin eifrig. »Hoffentlich kommt Tessa nicht noch mal.«
»Sie ist gegangen, und ich gehe jetzt auch«, sagte Anja.
»Aber du kannst wiederkommen«, erklärte Benjamin.
Als sie gegangen war taute auch Ulrich auf. Kinder untereinander unterhielten sich ganz anders, wenn sie allein und unbeobachtet waren. Benjamin ließ sich erst noch einmal weidlich über Tessa aus. Ulrich dann auch über Joana. Sie waren sich schon einig, daß nicht alle Frauen so lieb waren wie Cordula und Anja, und Benjamin erklärte auch, daß er lieber eine von den beiden als Mami haben würde.
»Aber ich würde lieber Constantin als Papi haben«, erklärte Ulrich seinerseits.
Dann spielten sie friedlich miteinander. Es gab keinen Streit zwischen ihnen. Jeder wollte den anderen mal gewinnen lassen.
»Zwei goldige Kinder«, sagte Schwester Nora zu Jenny, als sie auf dem Weg zum Krankenzimmer war, um Ulrich zu holen, denn Cordula war jetzt munter und wollte ihren Sohn sehen.
*
Schwester Nora war zu Frau Frankl gerufen worden, die kurz vor ihrer Entlassung stand und gar zu gern noch etwas über Cordula in Erfahrung bringen wollte.
Sie stellte es ganz raffiniert an, aber Schwester Nora fiel nicht darauf herein. Da Frau Frankl aber schon auf den Fluren herumlaufen konnte, schnappte sie allerhand auf. Für eine Person, die so neugierig war, tat sich doch allerhand in der Klinik.
Sie hatte die erboste Tessa getroffen, und das war freilich schon Gesprächsstoff genug.
»Ich habe ja schon lange geahnt, daß es in der Riedmann-Ehe nicht stimmt«, sagte sie genußvoll, »aber ein Wunder ist es ja nicht, wie die sich benimmt! Vielleicht wird jetzt aus Riedmann und Cordula Bürgner ein Paar, wenn sie wirklich wieder gesund ist.«
»Wie kommen Sie denn darauf?« fragte Nora ironisch.
»Wäre doch ein gutes Gespann, der Filmemacher und die Diva.« Frau Frankl schwelgte förmlich schon in solchen Vorstellungen. »War die Operation bei dem Kleinen denn so schlimm, daß man Tessa nicht zu ihm läßt? Sie tat ja ganz verzweifelt, aber bei ihr darf man das nicht ernst nehmen.« Sie sah Nora erwartungsvoll an und hoffte, daß diese ihr nun auch etwas erzählen würde. Aber Nora schwieg.
»Kennen Sie auch Frau Bürgner? Ich möchte zu gern wissen, wie es ihr geht. Man kennt sich doch und nimmt Anteil.«
»Wir geben keine Informationen weiter«, erwiderte Nora. »Sie haben sicher Verständnis dafür, Frau Frankl. Es war peinlich genug, daß es gleich Schlagzeilen machte, daß Frau Bürgner aus dem Koma erwacht war.«
»Darüber hat man sich doch nur gefreut. Es müssen doch nicht immer negative Schlagzeilen sein.«
Wenn Frau Frankl erst mal ins Reden kam, hörte sie so schnell nicht wieder auf, aber Schwester Nora entfloh. Sie hatte schließlich anderes zu tun.
So suchte sich Frau Frankl ein neues Opfer. Das war Lisa Lang, die auch schon aufstehen durfte. Aber bei ihr kam sie an die falsche Adresse, denn Lisa wußte, was für eine Klatschbase Frau Frankl war. Sie erklärte auch sehr direkt, daß sie für Klatsch nichts übrig habe.
Davon unberührt genoß es Cordula, ihren Ulrich bei sich zu haben. Der Kleine konnte eine ganze Menge erzählen, von Benjamin, und was er über seine Mutter gesagt hatte. Von Anja, die Benjamin lieber hatte als die leibliche Mutter.
»Aber gell, du tust dich nicht mit Bennys Daddy zusammen, Mami?«
»Wie kommst du denn auf so was?« wollte sie erheitert wissen.
»Benny hat das gesagt. Er soll sich lieber an Anja halten, die ist wirklich nett. Ich möchte lieber, daß Constantin zu uns gehört. Er ist lieb.« Er sah Cordula bittend an. »Du hast ihn doch auch gern, Mami?«
»Ja, sehr gern«, erwiderte sie. »Und es macht mich froh, daß ihr euch so gut versteht.«
*
Ulrich hatte Cordula dann doch von dem Unfall erzählt. Nun wollte sie alles genau wissen, und es blieb Constantin nichts anderes übrig, als ihr reinen Wein einzuschenken.
Sie hörte mit ernster, nachdenklicher Miene zu. »Ob Joana jetzt nachdenkt, wie es ist, wenn man so hilflos ist und sich nicht rühren kann?« meinte sie.
»Wenn sie bei Bewußtsein ist, wird sie schon nachdenken. Sie hat ja viel Zeit.« Oder auch nicht mehr, dachte er weiter, aber darüber wollte er nicht sprechen. Er war noch nicht dazu gekommen, sich nach Joanas Befinden zu erkundigen.
Und schon sagte Cordula, daß er sich doch erkundigen solle, wie es um Joana stehe. »Es soll alles für sie getan werden, ich komme für die Kosten auf. Jochen ist sicher im Druck durch die Renovierung des Hotels.«
So war Cordula. Immer großzügig und nie nachtragend, wenn sie wahrhaftig auch allen Grund hatte, Joana nicht zu trauen. Wie oft hatte sich Joana unfair verhalten! Constantin wußte es!
»Ich rufe morgen bei Jochen an«, versprach Constantin, »mir werden sie im Krankenhaus keine Auskunft geben. Aber vielleicht kann einer der Ärzte auch von hier aus anrufen.«
»Es ist eine seltsame, tragische Verkettung.«
»Aber Ulrich hat mehrere Schutzengel, das habe nicht nur ich festgestellt.«
»Mögen sie ihn immer begleiten, Constantin. Es muß doch auch einmal wieder Freude in unserem Leben geben!«
»Bald, mein Liebes«, erwiderte er weich, »sehr bald.«
»Ich muß dir noch etwas sagen, Constantin. Ich habe mein Baby verloren. Es war unser Baby.« Ihre Stimme zitterte. »Ein neues Leben sollte beginnen mit diesem Kind. Ein neues Leben mit dir, wie ich es dir versprochen hatte.«
Er hielt ihre Hände an seine Brust gedrückt. »Jetzt nicht traurig sein, mein Liebes, es wird einen Neubeginn geben. Wichtig ist nur deine Gesundheit – und daß ich euch beide nahe weiß.«
»Ich habe es Thomas gesagt. Er hat es seltsam ruhig aufgenommen«, fuhr sie gedankenvoll fort. »Wenn ich daran denke, wie eifersüchtig er früher war, ist das um so erstaunlicher gewesen. Er war nicht mehr der alte Thomas, gesundheitlich angeschlagen, wohl auch impotent, wenn er das auch nicht zugeben wollte. Aber es war schon länger keine Ehe mehr in der wirklichen Bedeutung. Vielleicht hoffte er auf den Urlaub, aber er war deprimiert. Er fragte mich auch, warum ich eigentlich nicht dich geheiratet hätte.«
Also hatte Ulrich das richtig gehört! Constantin versank in Schweigen.
»Ja, warum eigentlich nicht?« fragte Cordula. »Warum hast du mich nie gefragt?«
»Ich habe mir keine Chance ausgerechnet. Ein nüchterner Jurist und ein erfolgreicher Fernsehstar – mir schien das nicht zusammenzupassen. Ich hatte auch nie das Gefühl, daß ich dir mehr sein könnte als ein guter Freund.«
»Und ich habe, offengestanden, nicht darüber nachgedacht, Constantin, das gebe ich zu. Und dann hat mich Thomas mit Aufmerksamkeiten und Liebesbeteuerungen überhäuft, und du hast zugeschaut. Du hast mich sogar mit ihm bekannt gemacht.«
»Wirf es mir nur vor! Ich war ein Narr, aber ich dachte nicht, daß du ihn jemals heiraten würdest.«
»Es war eine Stimmungssache. Ich hatte diese schlimme Grippe hinter mir und dachte darüber nach, was wohl werden würde, wenn ich keine Verträge mehr bekäme. Meine Stimme hatte auch damals gelitten. Liebe war für mich ein weiter Begriff, da ich in den Filmen so oft die Verliebte oder Liebende spielen mußte. Worte, nur Worte! Plötzlich spielte ich auch im Leben die Rolle. Ich will ehrlich sein: Was Liebe wirklich ist, begriff ich erst in jenen Tagen, als mir bewußt wurde, wieviel du mir bedeutest. Ich habe eben lange gebraucht, um in deinen Augen und deiner Seele zu lesen. Die Erkenntnis, daß ich eine Ehe führte, die auf tönernem Fundament stand und Thomas in meinem Leben nur eine Nebenrolle spielte, war so ernüchternd, daß mir plötzlich die Augen aufgingen. Du hattest begriffen, daß ich in einer seelischen Krise steckte, ohne daß ich ein Wort darüber verlor. Da wußte ich, daß du der einzige Mensch bist, den ich wirklich liebe, den ich nie verlieren will.«
»Du wirst mich nie loswerden«, sagte er voller Zärtlichkeit. Dann küßte er sie.
*
André war noch lange bei Benjamin gewesen, und der hatte ihm von Ulrich erzählt, aber nur wenig von Tessa. Von deren Auftritt hatte André von Dr. Jenny Behnisch erfahren. Mit Anja hatte er noch nicht sprechen können, mit ihr wollte er sich am Abend treffen.
Daß Tessa nicht so leicht loszuwerden war, ahnte er jetzt schon, deshalb hatte er sich entschlossen, eine Wohnung zu nehmen. Für ihn war das kein Problem, da Geld ja keine Rolle spielte. Bevor er nicht mit Anja gesprochen hatte, wollte er auch keine neuerliche Auseinandersetzung mit Tessa heraufbeschwören.
Der Anwalt hatte ihn davor gewarnt, zu rigoros vorzugehen, da Tessa möglicherweise dann den Spieß umdrehen könnte. Ganz sicher würde sie alles in Bewegung setzen, um das Sorgerecht für Benny zu bekommen – allein schon deshalb, um ihm damit eins auszuwischen. Sicher würde das nicht einfach für sie sein, da sie ihre Mutterpflichten ja nachweislich vernachlässigt hatte. Versuchen würde sie es auf jeden Fall.
Darüber war sich André allerdings auch im klaren. Er kannte ihre Boshaftigkeit, ihre Art, alles zu verdrehen. Auch was Anja betraf, mußte er äußerst vorsichtig sein, das hatte er nach dem heutigen Tag begriffen.
Anja war unbefangen und geradeheraus, weil sie meinte, nichts verbergen zu müssen. Tatsächlich bestand zwischen ihnen ein Freundschaftsverhältnis, obgleich André nicht leugnen wollte, daß Anja ihm sehr viel bedeutete.
Er war kein leichtlebiger Mann. Er besaß Verantwortungsgefühl, und um keinen Preis der Welt wollte er sein Kind an eine Frau verlieren, die diesem niemals eine liebevolle Mutter gewesen war, sondern immer nur ihren eigenen Vorteil im Auge gehabt hatte.
Er traf sich mit Anja in der Künstlerklause. So war es am unauffälligsten, denn es sah nicht nach Heimlichtuerei aus.
Anja war schon da und unterhielt sich mit ein paar Bekannten. André fürchtete schon, daß sie keine Gelegenheit zu einem privaten Gespräch haben würden, aber Anja erklärte ihm sogleich, daß sie schon allen erklärt hätte, daß sie noch etwas Dringendes zu besorgen hätten.
Sie hatten einen Zweiertisch, auch dafür hatte Anja gesorgt, so daß sich niemand zu ihnen setzen konnte.
»Nun, was hast du noch erfahren, André?« fragte sie.
»Daß Tessa sich schrecklich aufgeführt hat. Ich bin jetzt froh, daß Frau Dr. Behnisch dich so geistesgegenwärtig ins Ärztezimmer brachte.«
»Und was hat Benny gesagt?«
»Daß er sie nicht sehen will.«
Anja senkte den Blick. »Es ist schlimm, wenn ein Kind so über seine Mutter sprechen muß, aber es ist wohl zuviel geschehen in all den Jahren. Er kann so lieb und vernünftig sein. Ich bin froh, daß Ulrich ihn ablenken konnte, wenn er auch ein sehr ernstes Kind ist.«
»Vergessen wir nicht, was er alles mitgemacht hat. Es ist fast zuviel für solch einen kleinen Jungen. Aber dabei wird mir bewußt, was Benny schon alles erlebt haben mag, worüber er nicht gesprochen hat. Ich war ja auch oft weg, da hätte er um so mehr liebevolle Zuwendung gebraucht.«
»Machst du dir jetzt solche Gedanken?« fragte sie.
»Ja, das muß ich zugeben, Anja. Du weißt, wie sehr ich Benny liebe, aber ich habe nie darüber nachgedacht, daß er etwas entbehren könnte, da er ja alles bekam, was er haben wollte. Ich habe das auch zu sehr materiell gesehen, habe nur gedacht, daß er ein zufriedenes Kind ist. Cordula hat es wohl besser verstanden, auf Ulrichs seelische Bedürfnisse einzugehen, obwohl sie doch auch nur wenig Zeit für ihn hatte.« Er machte eine kleine Pause, dann sah er sie an. »Du weißt hoffentlich, wie gern Benny dich hat.«
»Es freut mich wirklich sehr. Ich würde ihn gern öfter besuchen, aber ich möchte dir damit keinesfalls noch mehr Schwierigkeiten bereiten.«
»Ich werde morgen eine klärende Aussprache mit Tessa herbeiführen.«
»Sie wird sich nicht ohne weiteres scheiden lassen.«
»Ohne weiteres nicht, aber ich werde ihr ein faires Angebot machen, und dann…« Er hielt inne.
»Was wolltest du sagen?« fragte sie.
»Wenn alles gut ausgeht, würde ich dich fragen, ob du dann das Leben mit uns verbringen willst, Anja. Wie stehst du dazu?«
»Ich werde es mir durch den Kopf gehen lassen«, erwiderte sie mit einem Lächeln, das ihn glücklich machte.
Er legte die Hand auf ihre. »Ich hätte dich früher kennenlernen müssen«, sagte er leise. »Warum bist du mir nicht früher über den Weg gelaufen?«
Gedankenvoll blickte sie ihm in die Augen. »Wahrscheinlich hättest du mich gar nicht beachtet, André. Man muß manchmal erst durch ein Tief gehen, um sehend zu werden, um zu erkennen, daß Äußerlichkeiten eigentlich nebensächlich sind.«
»Nun, ich meine, daß du dich durchaus sehen lassen kannst«, meinte er lächelnd. »Und ich schwöre dir, für mich wird es keine andere mehr geben.«
»Das kommt mir aber doch ein bißchen überraschend, Boß«, gab sie verschmitzt zurück. »Aber ich bin froh, wenn du nicht den Kopf hängen läßt.«
Dazu habe ich wohl keinen Grund«, erwiderte er. »Ich bin kein Feigling, Anja. Ich habe mir schon etwas ausgedacht, um Tessa bei Laune zu halten.«
»Hoffentlich nicht bei der miesen, die sie heute zeigte.«
»Ich verschaffe ihr eine Filmrolle.«
»Du lieber Himmel, meinst du, man nimmt sie?«
»Es ist eine, für die sie geschaffen ist: ein oberflächliches, flatterhaftes Gänschen, das sich einen Millionär angelt. Es wird sie inspirieren. Vielleicht findet sie sogar einen Mann im gesetzten Alter, den sie ausnehmen und betrügen kann.«
»Du hast aber überhaupt kein Mitgefühl!« Anja lachte leise.
»Es gibt genug Trottel. Ich war allerdings auch einer, und ich könnte es verstehen, wenn du zu mir ›nein danke‹ sagen würdest.«
»Tu ich aber nicht, weil ich deine guten Seiten kenne, André, und die überwiegen. Es wird mir sehr schwerfallen, dich weiterhin nur auf Distanz zu sehen.«
»Immer müßte das nicht sein. Wir werden schon Mittel und Wege zu trautem Beisammensein finden.«
In diesem Augenblick tauchte Tessa auf, und im Handumdrehen waren sie von ihr entdeckt. Aber sie reagierte geistesgegenwärtig.
»Ich habe es mir ja gedacht, daß ich dich hier finde«, sagte Tessa in ihrem arrogantesten Ton, »und natürlich in Gesellschaft. Aber mir willst du Vorschriften machen!«
»Wir hatten noch etwas zu besprechen«, sagte André.
»Und ich wollte mich gerade verabschieden«, schloß sich Anja an.
»Dann bis Montag, Anja«, sagte André lässig.
»Okay, Boß.« Sie nickte Tessa leicht zu und verschwand.
»Setz dich doch, Tessa«, sagte André. »Wir haben auch einiges zu bereden.«
Er spürte, daß sie unruhig wurde und sich umsah. »Oder bist du etwa anderweitig verabredet?« fragte er spöttisch.
»Ich will hier nicht mit dir reden«, erwiderte sie heiser. »Wir können nach Hause fahren.«
»Ich komme nicht nach Hause, ich wohne anderswo.«
»Und wo bitte? Bei Anja?«
»Natürlich nicht. Wie ich schon sagte, habe ich die Scheidung eingereicht. Ich hoffe, wir können uns freundschaftlich trennen.«
»Freundschaftlich!« höhnte sie. »Was verstehst du denn darunter?«
»Was würdest du sagen, wenn ich dir eine Filmrolle besorge?«
Ihre Augenbrauen ruckten empor. »Als Abschiedsgeschenk? Das ist doch nur eine Falle, damit ich keinen Widerspruch erhebe. Filmrolle gegen Benjamin?«
Sie war schlau. In ihren Augen blitzte es tückisch. Er ließ sich jedoch nicht aus der Ruhe bringen. Er kannte sie in- und auswendig.
»Wir sollten uns wirklich vernünftig unterhalten, Tessa. Es ist doch so, daß du immer lieber tun und lassen wolltest, was dir in den Sinn kam. Der Junge war dir eine Belastung, du konntest ihn ja nicht überall mit hinnehmen.«
»Er hatte ja Kindermädchen, und zuletzt war Frau Schober da. Es wird doch jetzt von dir alles verdreht.
Benny ist eigensinnig, er hat Frau Schober auch vor den Kopf gestoßen. Und als ich wegging, hatte er kein hohes Fieber. Er wollte nur nicht reden, weil sein lieber Daddy nicht da war. Er wollte in Ruhe gelassen werden.«
»Wir wollen doch nicht von dem einen Mal reden, obwohl es diesmal fast Bennys Leben gekostet hätte. Es hat sich so viel angesammelt, daß es für uns kein gemeinsames Leben mehr geben kann.«
»Vielleicht hast du recht«, meinte sie, »aber wie stellst du dir die finanzielle Regelung vor?«
»Das können wir noch aushandeln, doch nicht heute abend. Du kannst mal darüber nachdenken. Und vielleicht bist du interessiert daran, daß nicht zuviel schmutzige Wäsche gewaschen wird. Ein Stück davon kommt gerade und hält anscheinend Ausschau nach dir.«
Sie zuckte zusammen, aber da nahte er schon, blasiert und herausfordernd: Franco Tosso, Geschäftsmann, wie es allgemein hieß. Aber niemand blickte so recht durch, womit er Geschäfte machte.
»Ich störe hoffentlich nicht«, sagte er zynisch. »Ich wußte nicht, daß du deinen Mann mitbringst, Tessa.«
»Wir haben uns zufällig hier getroffen«, erklärte André sarkastisch. »Ich bin schon im Gehen begriffen. Noch viel Vergnügen.«
Tessa war momentan dieser Situation nicht gewachsen. »Mußte das sein?« zischte sie, als sich André entfernt hatte. »Er will sich scheiden lassen!«
»Das wolltest du doch wohl auch, oder hatte ich mich gestern verhört?«
»Aber er sammelt doch alles, was er gegen mich verwenden kann!«
»Man sollte Scheidungen diskret über die Bühne bringen, so kommst du bestimmt noch am besten weg.«
»Er will mir eine Filmrolle besorgen.«
»Ist doch wunderbar! Was willst du eigentlich noch? Dir war dieses Leben sowieso leid. Und ich biete dir einen Job als Repräsentantin meines Clubs in Menton. Oder wie wäre es mit San Remo? Du hättest da bestimmt genügend Abwechslung.«
»Ich überlege es mir. Wenn ich auch noch genug Geld bekomme, kann ich mich dafür erwärmen.«
Er lächelte hintergründig. »Und wohin gehen wir jetzt?«
»Das überlasse ich dir. Ich möchte mich mal wieder richtig amüsieren.«
Das wollte sie immer, aber mehr war sie für ihn auch nicht als ein Amüsement. Franco Rosso schuf sich keine Probleme mit einer festen Bindung. Scheidungen kosteten Geld, und das verbrauchte er lieber für sich selbst und seine recht kostspieligen Hobbys. Deshalb hielt er sich auch immer an Frauen, die selbst Geld hatten, an solche wie Tessa, die gelangweilt und unzufrieden waren und auch die Abwechslung liebten.
Er mochte auch keinen großen Schmus und ließ keine Unklarheiten und falsche Hoffnungen aufkommen. So handelte er sich selten mal Ärger ein. Aber auf eine bestimmte Art Frauen, zu denen auch Tessa gehörte, wirkte er unwiderstehlich.
*
Na also, dachte André, besser konnte es doch gar nicht gehen! Sie kann Anja nichts anhaben, da dieser Playboy aufgekreuzt ist, und irgendwie hatte es André sogar imponiert, wie Franco mit Tessa umgesprungen war.
Franco war ihm nicht unbekannt. Er tauchte überall dort auf, wo man »in« war. Wenn man auch nicht genau wußte, mit welchen Geschäften er Geld verdiente, so zweifelte doch niemand daran, daß er es hatte.
André fühlte sich ungeheuer erleichtert, denn keinesfalls wollte er Anja in die Klemme bringen. Er rief sie sofort an, um es ihr zu sagen.
»Da sie gut untergebracht ist, könntest du ja noch auf ein Stündchen zu mir kommen«, schlug sie vor.
»Wird hocherfreut und dankend angenommen«, erwiderte er. »Der Abschied kam doch ein bißchen zu schnell.«
Er war ein Optimist, und jetzt blickte er schon ganz zuversichtlich in die Zukunft. In eine Zukunft, in der auch Anja ihren Platz haben würde.
Ebenso dachte Cordula, die an diesem Abend noch nicht einschlafen konnte. Sie war geistig voll da, und nachdem Constantin gegangen war, ließ sie ihr Leben wie einen Film vor ihren geistigen Augen abrollen.
Sie konnte es nicht begreifen, daß sie Thomas geheiratet hatte, obgleich sie sich doch mit Constantin stets so gut verstanden hatte. Er war immer für sie dagewesen, sie hatte sich stets auf ihn verlassen können. Und dann hatte er ihr Thomas vorgestellt…
»Ein glühender Verehrer von dir, Cordula«, hatte er gesagt. Eine imponierende Erscheinung war Thomas Bürgner schon gewesen, ganz anders als der stille, intellektuelle Constantin, der im Grunde doch der klügere und liebenswertere Mann war.
Nein, sie wollte nicht behaupten, daß sie unglücklich in dieser kurzen Ehe gewesen wäre, denn abgesehen von Thomas’ Eifersucht hatte es kaum Differenzen gegeben. Allerdings waren sie auch viel getrennt gewesen, da sie selbst voll beschäftigt gewesen war.
Aber wie oft hatte sie in stillen Stunden ihren Mann mit Constantin verglichen! Dann war es doch geschehen, daß die Erkenntnis kam, wem ihr Herz wirklich gehörte. Es war, als würde ein Schleier zerreißen, als Thomas für eine Woche in Amerika war und Constantin ans Herz gelegt hatte, sich um Cordula und Ulrich zu kümmern. Sie waren an den Tegernsee gefahren und hatten ein Haus angeschaut, das Thomas kaufen wollte. Es hatte Cordula aber nicht gefallen. Es war ihr zu pompös. Es paßte nicht in die Landschaft. Sie wollte etwas ganz anderes und sie hatte auch ein Haus gesehen, das ihr zusagte – im ländlichen Stil mit viel Holz war es gebaut. Aber die Vorbesitzer konnten sich doch nicht zu einem schnellen Verkauf entschließen.
Sie hatten dennoch mit Ulrich einen herrlichen Tag verlebt, hatten eine Bootsrundfahrt über den See gemacht, und plötzlich war dieser elektrisierende Funke übergesprungen, als Constantin dem Arm um sie legte. Verträumt hatten sie zusammen über den See geblickt, der unter den Strahlen der Sonne geheimnisvoll glitzerte.
Sie hatten sich angeschaut, ihre Blicke waren ineinander versunken, und selbst jetzt, da Cordula daran zurückdachte, verspürte sie wieder dieses atemberaubende Gefühl, das sie einander buchstäblich in die Arme getrieben hatte.
Da hatte es dann auch kein Verleugnen mehr von Constantins Seite gegeben. Es waren die wundervollsten Stunden ihres Lebens gewesen, als sie begriff, daß sie endlich zu sich selbst und so auch zu ihm gefunden hatte.
Eine faire Lösung von Thomas hatte sie angestrebt, eine geschäftliche von ihm strebte Constantin an, und beide wurden sie von seiner Haltung überrascht, bevor sie überhaupt sagen konnten, worum es ihnen ging.
Constantin bekam zu hören, daß er mit allen Vollmachten ausgestattet würde und auch Teilhaber werden könnte, wenn er bleiben würde, denn er sei unersetzlich für ihn. Und als Cordula ihrem Mann gestand, daß sie doch einen neuen Vertrag unterschrieben hätte, begehrte er nicht auf wie sonst, sondern meinte, daß sie aber doch wenigstens mal einen gemeinsamen Urlaub mit Ulrich machen könnten.
Plötzlich befand sie sich in einem Zwiespalt, denn sie hatte Angst, daß er ihr Ulrich wegnehmen würde, wenn sie sich von ihm trennte und daß seine Loyalität für Constantin in Haß umschlagen würde, wenn er erfuhr, daß er der eigentliche Grund für ihre Entscheidung war.
Sie konnte Thomas nicht belügen, denn es würde ja doch herauskommen. Ihr konnte nur helfen, sich in aller Ruhe mit ihm auszusprechen. Und so hart es für Constantin auch war – er meinte auch, daß der Urlaub eine Klärung bringen könnte.
Thomas gestand ihr dann auch ein, daß er in Amerika gewesen sei, um Ärzte zu konsultieren, denn daß mit ihm einiges nicht in Ordnung sei, wäre ihr wohl auch nicht verborgen geblieben, da von einem Eheleben schon längere Zeit nicht mehr die Rede sein könnte. Wie gehemmt er war, verriet die Art der Umschreibungen, ohne das Problem direkt zu erwähnen. Doch Cordula wollte ihn nicht vor den Kopf stoßen. Er tat ihr leid. Aber sie hatte sich ein Herz gefaßt und über Constantin gesprochen.
Jetzt, da sie in ihrem Bett lag, sah Cordula diese Szene wieder ganz deutlich vor ihren Augen.
»Was würdest du sagen, wenn ich mich für Constantin entschieden hätte, Thomas?« hatte sie ihren Mann gefragt.
Er war nur leicht zusammengezuckt. »Eigentlich hätte ich mir so etwas schon lange denken können. Aber warum hast du ihn nicht geheiratet, sondern mich?«
»Weil ich mir über meine Gefühle nicht im klaren war. Ich mußte ständig in den Filmen die Liebhaberin spielen, so daß tiefe Gefühle in mir nicht aufkommen konnten. Wahrscheinlich hatte ich auch zu sehr meine Karriere im Sinn, und Constantin hat nie von Liebe gesprochen. Er war immer nur der gute, treue Freund. Ich will doch nicht sagen, daß ich dich nicht mag, oder daß ich dich aus materiellen Erwägungen geheiratet habe. Es hat mir schon gefallen, wie du mich umworben hast, und Constantin hat es hingenommen. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll, daß mir plötzlich bewußt wurde, was er mir tatsächlich bedeutet.«
»Vielleicht deshalb, weil ich dir nichts bedeuten konnte. Ich möchte dir auch deine Freiheit gestatten, Cordula, aber bitte, sprich nicht von Scheidung. Du und Ulrich, ihr bedeutet mir so unendlich viel. Vielleicht werde ich nicht mehr lange leben, dann bist du ganz frei.«
Es hatte in ihren Ohren theatralisch geklungen, aber als sie dann am nächsten Tag im Flugzeug saß und den Tod vor den Augen hatte, fragte sie sich doch, ob er sie und Ulrich nicht absichtlich mit in den Tod nehmen wollte, der ihm der einzige Ausweg zu sein schien.
War es so gewesen? Das war die Frage, die für Cordula offenblieb. Ob Constantin diese Frage auch beschäftigte? Sie hatte mit ihm noch nicht darüber gesprochen. Es war ein zu beklemmender Gedanke. Aber was mochte wohl in dem Kopf eines Menschen vor sich gehen, der möglicherweise unheilbar krank war?
Cordula erschrak, als die Tür aufging. Dr. Jenny Behnisch kam herein. Sie machte ihren üblichen Rundgang.
Sie fühlte ihren Puls. »Sie schlafen ja noch gar nicht«, sagte sie verwundert.
»Wahrscheinlich habe ich in den letzten Monaten zuviel geschlafen, und nun geht mir vieles durch den Sinn, das mich nicht zur Ruhe kommen läßt.«
»Aber Sie sollten sich nicht den Kopf zerbrechen, das schadet Ihnen nur«, mahnte Jenny.
»Ich glaube, ich bin über den Berg, und es ist ganz gut, wenn die Gehirnzellen wieder arbeiten.«
»Das freut uns. Allerdings sollten Sie nur an was Schönes denken.«
»Das ist nicht so einfach. Ich hätte eine Bitte, Frau Doktor. Könnten Sie mal im Krankenhaus anrufen und sich nach dem Befinden meiner Schwester erkundigen? Constantin wird ja wohl kaum Auskunft bekommen, und mein Schwager wird auch genug anderes zu denken haben.«
»Ich werde mich morgen erkundigen«, versprach Jenny.
»Danke. Ist mit Ulrich alles in Ordnung? Schläft er?«
»Wie ein Murmeltier.«
»Und wie geht es Benny?«
»Auch schon viel besser. Er bereitet uns keine Sorgen mehr. Die beiden Buben verstehen sich ja einmalig gut, so was hat man selten.«
»Das freut mich. Sie haben sich gleich gemocht, als sie sich kennenlernten.«
»Das ist gut für beide. Jetzt sollten Sie aber abschalten und schlafen, Frau Bürgner.«
»So langsam werde ich auch wieder müde.«
Gehorsam schloß sie die Augen, und ein schöner Traum machte diesen Schlaf doppelt erquickend.
*
Constantin hatte unterdessen mit Jochen telefoniert. Er konnte noch nichts Neues berichten. Joana war noch immer bewußtlos, und die Lebensgefahr war noch nicht gebannt.
Jochen Heeren war deprimiert. Er sah Joana anders als viele andere Menschen. Er hatte sie geliebt, und in seinem Leben gab es nur diese eine Frau. Er liebte sie mit all ihren Fehlern und Schwächen, trotz vieler Streitereien in letzter Zeit, wobei es immer um ihre Einstellung zu Cordula und Ulrich ging und sie nur ans Geld dachte.
Aber Jochen konnte sich einfach nicht vorstellen, daß nun auch sie so hilflos im Krankenbett lag und mit dem Tode rang. Er brauchte sich jedoch darüber keine Gedanken mehr zu machen.
In dieser Nacht tat Joana Heeren ihren letzten Atemzug. Eine Lungenembolie löschte ihr Leben aus. Ihr geschwächter Körper hatte keine Widerstandskraft mehr.
Jochen wurde vom Läuten des Telefons geweckt. Es war genau sechs Uhr morgens. Er war noch schlaftrunken, aber diese Nachricht begriff er doch gleich.
»Ich komme sofort«, sagte er. Nun, da das Ende da war, fühlte er sich kurzfristig wie gelähmt.
Er überlegte, was alles zu tun war, wenn er fast den ganzen Tag abwesend sein würde. Es kam ihm in den Sinn, daß Sonntag war, eine besondere Speisekarte schon gedruckt war und die Küche darauf eingestellt sein mußte. Dann kamen auch noch vier neue Gäste an. Es war nicht zu vermeiden, daß er mit ein paar Angestellten sprechen mußte, wenn es ihm auch schwerfiel. Er kleidete sich in Windeseile an. In der Küche herrschte schon Hochbetrieb. Das Frühstücksbuffet wurde hergerichtet. Daß er so früh erschien, war unauffällig, denn er war oft schon am frühen Morgen anwesend, um alles zu kontrollieren. Daß es heute einen besonderen Anlaß gab, sah man seiner Miene an. Erschüttert war dennoch niemand. Joana war nicht beliebt gewesen. Ihr herrisches Auftreten hatte ihr keine Freunde geschaffen. Den kleinen Ulrich hatten jedoch alle gemocht und ihn auch bedauert. Jetzt dachte mancher, daß dem Chef viel erspart bleiben würde. Und alle versprachen, ihr bestes zu tun, nachdem sie der Pietät halber ihr Bedauern ausgedrückt hatten.
Irgendwie spürte es Jochen schon, daß es keine echte Trauer war, und auf der Fahrt dachte er über Joana nach, über ihre Einstellung zu Cordula, ihren Neid auf die Halbschwester, die ihr immer nur Gutes getan hatte.
Ja, sie hatte gehofft, daß Cordula sterben würde, doch nun war sie selber tot. Und während Jochen das dachte, wurde ihm gar nicht bewußt, wie weit er sich innerlich schon von ihr entfernt hatte.
Im Krankenhaus sagte er dann, daß er seine Frau so in Erinnerung behalten wolle, wie sie vor dem Unfall war und man den Sarg schließen solle, der dann nach Garmisch überführt werden würde. Damit hatte er ein Bestattungsinstitut beauftragt.
Als er die Klinik verließ, begriff er es erst richtig, daß Joana tot war. Mittlerweile war es elf Uhr geworden. Er fuhr zu einem Restaurant, um einen Kaffee zu trinken und einen Happen zu essen, denn zu Hause hatte er sich die Zeit dazu nicht genommen. Und er wollte Constantin anrufen. Dort meldete sich aber niemand, und so nahm Jochen an, daß Constantin wohl schon in die Klinik gefahren sei. Die Nummer hatte er sich auch notiert. Aber jetzt wollte er erst etwas trinken. Seine Kehle war ganz trocken und rauh, das merkte er schon, als er seine Bestellung aufgab…
*
Bei der Morgenvisite in der Behnisch-Klinik hielt sich Dr. Dieter Behnisch an diesem schönen sonnigen Sonntagmorgen etwas länger bei Cordula auf, da Dr. Werner ihm berichtet hatte, daß sie noch recht lange wach gewesen sei. Sie sagte dem Arzt gleich, daß sie ihm gern einige Fragen stellen würde.
Aber dann war er doch überrascht, als sie ihn fragte, ob er wußte, an welcher Krankheit ihr Mann Thomas gelitten hätte.
»Er war nie Patient bei mir, Frau Bürgner«, antwortete Dr. Behnisch.
»Er hat sich in Amerika untersuchen lassen, das hat er mir gesagt, aber Genaueres nicht. Und ich mache mir jetzt Gedanken, daß es eine unheilbare Krankheit gewesen sein könnte, die ihn zu einer Verzweiflungstat getrieben hat.«
»Sie meinen die Bruchlandung?« fragte der Chirurg erschrocken. »Aber wenn er so was geplant hätte, wäre es für ihn doch ein Leichtes gewesen, die Maschine abstürzen zu lassen, so daß niemand eine Überlebenschance gehabt hätte.«
»Daran habe ich nicht gedacht«, gab Cordula zu, »aber Sie haben recht. Es hat doch sicher eine Obduktion stattgefunden.«
»Ja, das stimmt. Er hatte vorher schon einmal einen Herzinfarkt – oder auch zwei. Man nennt das stille Infarkte, weil man sie als solche nicht zur Kenntnis nimmt. Er litt an einer Verengung der Aorta. Die Bruchlandung war ganz sicher nicht beabsichtigt. Sein Herz hat nicht mehr mitgemacht.«
»Das erklärt dann auch, daß er mir noch eine Warnung zurief. Das hätte er sonst wohl auch nicht getan. Aber es beruhigt mich, daß mein aufkommender Verdacht absurd war. Thomas hat mir leider nicht gesagt, daß er Herzbeschwerden hatte.«
»Viele Menschen wollen das nicht wahrhaben, Frau Bürgner. Ach, das vergeht schon wieder von selbst, tröstet man sich, und dann ist es eines Tages doch zu spät. Sie brauchen sich keinen Vorwurf zu machen.«
»Mir geht so vieles durch den Sinn«, sagte Cordula leise.
»Sie sollten jetzt nur an ihre Genesung denken. Ihr Kind braucht Sie.«
Und dann kam Ulrich auch schon, diesmal sogar mit einem Blumenstrauß. Cordula bekam einen feuchten Kuß.
»Ich war schon mit Schwester Nora auf der Wiese und habe dir die Blumen gepflückt, Mamilein. Schwester Nora ist ganz lieb. Sie kann so schöne Geschichten erzählen. Die muß ich Benny dann auch gleich erzählen. Aber jetzt ist sein Daddy gekommen. Der möchte dich auch mal besuchen, Mami. Darf er?«
»Ja, er darf.«
»Aber du läßt dich nicht für einen Film beschwatzen, du mußt dich erst erholen.«
»Das wird noch lange Zeit brauchen, und ich werde wohl gar nicht mehr filmen, Ulli. Ich möchte lieber soviel wie nur möglich mit dir zusammen sein.«
Da ging ein strahlendes Lächeln über sein kleines Gesicht. »Das ist wunderschön, Mami, mehr wünsche ich mir gar nicht«, flüsterte er, und er bedeckte ihr Gesicht mit stürmischen Küssen. Da ertönte Constantins Stimme von der Tür her:
»Hoppla, junger Mann, nicht so stürmisch!«
»Ich halte es schon aus«, sagte Cordula glücklich. »Schau, ich darf mich schon ein bißchen aufsetzen.«
»Und bald wirst du mit uns spazierengehen, Mami«, sagte Ulrich. »Ich habe doch jeden Abend gebetet, und der liebe Gott hat es gehört. Weißt du schon, daß Mami nicht mehr filmen will, Constantin?«
»Bisher nicht, aber mich würde es freuen«, sagte Constantin mit dunkler Stimme. Und dabei sah er Cordula mit einem Blick an, der sie einhüllte in Liebe und Zärtlichkeit.
Doch schon bald wurde er ans Telefon gerufen. Als er kurze Zeit später zurückkam, war seine Miene ernst.
»Gehst du mal zu Benny, er hat nach dir gerufen, Ulli«, sagte er. »Er möchte dir etwas zeigen.«
»Aber ich komme bald wieder. Ich möchte nämlich lieber mit euch zusammen sein«, erklärte der Junge.
»Was hast du?« fragte Cordula, als das Kind draußen war.
»Joana ist gestorben. Er sollte es nicht gleich hören.«
»Sie ist gestorben…«, murmelte Cordula. »Und ich habe den Weg ins Leben zurückgefunden. Wer hat angerufen?«
»Jochen. Er ist sehr gefaßt. Ich soll dir sagen, wie froh er ist, daß du genesen bist, daß Ulrich seine Mami behalten wird.«
Eine Weile herrschte Schweigen zwischen ihnen. Dann sagte Cordula leise: »Es ist schwer vorstellbar, daß sie nicht mehr lebt. Sie hat doch so gern gelebt!«
»Aber du bist mir erhalten geblieben«, sagte Constantin innig, »und das allein zählt für mich.« Behutsam legte er die Arme um Cordula, und dann küßte er sie voller Zärtlichkeit.
*
André machte einen kurzen Besuch bei ihr, aber auf seine Frage, wann sie wieder zusammen arbeiten würden, winkte Cordula ab.
»Nie mehr, André, das ist vorbei. Ich bin nicht mal traurig. Wenn einem ein zweites Leben geschenkt wird, soll man es nützen und sich dankbar erweisen. Sag jetzt nur nicht, daß ich nicht zu ersetzen bin. Die Zeit ist so schnellebig, und man ist schnell vergessen.«
»Ich werde dich nie vergessen, Cordula.«
»Wir können doch Freunde bleiben, und dir wünsche ich, daß du viel Erfolg, aber auch Glück hast.«
»Es wird noch ein bißchen dauern mit dem Glück, aber ich erhoffe es auch für Benny und für mich. Und wo dein Glück liegt, ahne ich schon, Cordula.«
Sein Blick wanderte zu Constantin. »Haltet euch fest«, sagte er leise. »Manchmal muß man einen weiten Umweg machen.«
»Dann wird er seines wohl bei Anja finden«, meinte Cordula gedankenvoll. »Ich gönne es ihm. Er ist ein feiner Kerl, wie man sie in unserer Branche selten findet.«
»Und ein sehr liebevoller Vater«, fügte Constantin hinzu.
»Was ich dich fragen möchte, Constantin: was hat man damals eigentlich nach dem Unglück über uns geschrieben?«
»Zuerst gab es natürlich Schlagzeilen, und dann wurde über Cordula Bürgner in höchsten Tönen berichtet. Natürlich wurde auch überlegt, wie es zu diesem Unfall kommen konnte, da Thomas als erfahrener Pilot bekannt war.«
»Er hatte einen Herzinfarkt.«
»Ja, ich weiß. Es kam da einiges zusammen. Ich konnte ihn auch vor ein paar unüberlegten Abschlüssen bewahren. Aber zwischen uns gab es keinen Krach, Cordula. Er war immer fair zu mir. Und das Thema Cordula war tabu.«
»Es wird noch eine Weile dauern, bis ich sein Grab besuchen kann«, sagte sie leise.
»Wir werden es gemeinsam besuchen. Wir brauchen ihn nicht aus unseren Gedanken zu verbannen, wie es bei André in bezug auf Tessa sein wird. Aber in ein paar Wochen wird die Welt für uns ganz anders aussehen.«
*
Und auch diese Wochen vergingen, wenn sie Cordula auch manchmal endlos erschienen und ihr alles viel zu langsam voranging. Aber tapfer hielt sie die anstrengende Therapie durch.
Dann endlich kam der Tag, an dem Constantin sie und Ulrich abholen konnte aus der Klinik, die für den Jungen schon fast ein Zuhause geworden war. In den Kinderkliniken war es so, daß die Mütter bei ihren Kindern blieben, wenn sie krank waren, in diesem Fall war es so, daß Ulrich in der Nähe seiner Mutter bleiben konnte.
Die Schwestern liebten ihn und gingen abwechselnd mit ihm spazieren. Manchmal holten ihn Anja und Benny ab, und natürlich machte auch Constantin mal einen Ausflug mit ihm.
Aber nun sollten sie sich am Tegernsee erholen.
Während sie nun die ersten Schritte in ihr neues Leben tat, war man in der Behnisch-Klinik traurig, als ihnen Ulrich noch einmal zuwinkte. Aber versprochen war, daß sie öfter zu Besuch kommen würden.
Auch Dr. Behnisch sah ihnen sinnend nach. »Wunder geschehen doch immer wieder«, sagte er gedankenvoll. »Wer hätte für diese Frau einen Heller gegeben, als sie eingeliefert wurde!«
»Liebe macht stark und ist die beste Medizin«, sagte Schwester Nora, »ich muß das von Zeit zu Zeit sagen, ohne unseren Ärzten etwas wegreden zu wollen. Sie haben schließlich sehr viel dazu beigetragen. Aber nur wenn man weiß, wofür man leben will, wird alles Bemühen von Erfolg gekrönt.«
»Schön haben Sie das gesagt, Nora«, erwiderte Dr. Behnisch. »Nun wünschen wir ihnen weiterhin alles Gute.«
*
Bevor sie zum Sanatorium fuhren, machte Constantin vor dem hübschen Haus im ländlichen Stil Halt, das Cordula damals so gut gefallen hatte.
»Ist es immer noch zu haben?« fragte sie.
»Würdest du es denn auch jetzt noch haben wollen?«
»Es gefällt mir sehr. Es wirkt so anheimelnd. Ich denke, man kann sich sehr wohl fühlen.«
»Schau es dir innen an, Cordula«, sagte er. »Hast du so viel Kraft?« Er streckte ihr beide Hände entgegen.
»Ich kann mich ja auf dich stützten«, sagte sie mit einem besonderen Ausdruck. »Du gibst mir Kraft.«
»Constantin ist ja auch stark«, sagte Ulrich sofort. »Das Haus hat dir doch schon mal so gut gefallen, Mami. Aber jetzt sieht es noch schöner aus, wo die Rosen alle blühen. Sie duften ganz toll. Du hast Rosen doch so gern, Mami.«
Wie seine Augen strahlen konnten, wie fröhlich er nun wieder war! Es erfüllte Cordula mit einer tiefen Freude. Wie sehr hatte sie sich danach gesehnt, Ulrich wieder so unbeschwert zu sehen.
»Ja, dann schauen wir es uns einmal an«, sagte Constantin mit heiterem Lächeln.
Dann schloß er die Tür auf. Sie traten in eine helle Diele, die mit Bauernmöbeln ausgestattet war und sehr anheimelnd wirkte. Gleich darauf kam man in den großen behaglichen Wohnraum, der genauso eingerichtet war, wie Cordula es liebte.
»Es ist sehr hübsch«, sagte sie leise.
»Sogar ein Fernseher ist da«, rief Ulrich aus, denn neuerdings interessierte er sich auch schon für einige Sendungen.
»Könnten wir es mieten?« fragte Cordula stockend. »Es wäre doch schön für die Wochenenden und Ferien, im Sommer wie auch im Winter.«
»Du kannst es bestimmen, wie du willst, Cordula. Ich habe es für euch gekauft – damals schon. Aber nun bin ich glücklich, daß es bald bewohnt werden wird.«
Während Cordula all dies erst begreifen mußte, jubelte Ulrich schon los. »Das ist toll, da brauchen wir doch gar nicht mehr ins Sanatorium zu gehen!« rief er aus.
»Doch, das muß sein«, erklärte Constantin, »aber die vier Wochen werden auch vergehen, und dann mache ich mit euch Urlaub. Dann sind wir für immer zusammen.«
»Constantin ist lieb. Gell, Mami, nun heiratet ihr auch?«
Cordulas Augen standen voller Tränen. Sie umarmte Constantin und schmiegte ihren Kopf an seine Schulter.
»Du bist zu lieb«, flüsterte sie. »Ich danke dir für alles, Constantin. Ich weiß durch dich erst, was Liebe ist.«
*
Die vier Wochen im Sanatorium vergingen rasch. Cordula erholte sich prächtig, und Ulrich tat die Luft am Tegernsee auch gut, denn er war ein ganzes Stück gewachsen. Viel zuzusetzen hatte er sowieso nicht gehabt.
Sie bekamen Besuch von André, Anja und Benny, und auch bei ihnen ging nun alles in geregelten Bahnen. Tessa hatte bekommen, was sie wollte, und was sie nun aus ihrem Leben machte, war ihre Sache. André hatte das Haus verkauft. In Kürze wollten sie eines in einem anderen Vorort beziehen.
Natürlich kam Constantin, sooft er nur konnte. Da er in der Firma alles in den Griff bekommen hatte und mit den Mitarbeitern auch gut auskam, konnte er sich das Zusammensein mit Cordula und Ulli gönnen. Außerdem mußte das Haus fertig eingerichtet werden.
Die Hochzeit wurde auch bereits geplant, und sie sollte hier stattfinden. Cordula genoß es, Pläne zu machen. Sie konnte sich über jeden Tag freuen, und sie hatte nicht die geringste Sehnsucht mehr nach der schillernden Welt des Films.
Sie hatte sich sehr verändert, und Constantin fand sie schöner denn je mit dem verinnerlichten Ausdruck. Nichts bedeutete ihr jetzt mehr als das Leben mit Constantin und Ulli. Sie hatte keine Sehnsucht nach der weiten Welt, sie war in ihrer kleinen Welt glücklich und zufrieden.
Bei ihrer Hochzeit wurde es auch den anderen offenbar, daß sich hier zwei Menschen das Jawort gaben, die durch Höhen und Tiefen gegangen waren und nun in tiefer Liebe verbunden wurden.
»Es war eine schöne Hochzeit«, sagte Dr. Behnisch zu Dr. Norden. »Cordula Bürgner hat ihren Weg in ein glückliches Leben gefunden. Jenny und ich sind froh, daß wir helfen konnten.«
»Fee und ich freuen uns auch«, sagte Daniel.
Wie vielen Menschen schon hatten sie beistehen können. Der Dank war ihnen gewiß. Auch der von Gertraud Bergen, die regelmäßig zu den Nachuntersuchungen zu Dr. Norden kam. Sie war eine ausgeglichene Frau geworden. Karina Bergen hatte sich zwangsläufig eines Besseren besonnen und war ihren Kindern eine leidlich gute Mutter geworden. Aufs Spiel setzen wollte sie nichts.
Fee freute sich, wenn Daniel von Gertraud erzählte.
»Man darf die Hoffnung nicht aufgeben.«
»Das werden wir auch nie tun, Liebes«, sagte Daniel zärtlich.