Читать книгу Dr. Norden Extra Staffel 2 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 9

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Besorgt sah Franzi Buchholz, wie sich ihr Chef Dr. Derksen schon zum zweiten Mal an den Kopf griff und ein Stöhnen unterdrückte.

»Fehlt Ihnen etwas, Herr Doktor?« fragte sie leise.

»Es ist dieser verdammte Föhn!« stieß er hervor. »Machen wir für heute Schluß.«

»Vielleicht sollten Sie doch besser zum Arzt gehen. Ich könnte Ihnen Dr. Norden empfehlen.«

Er versuchte ein Lächeln, das aber verzerrt wirkte. »Ich kenne Dr. Norden. Vielen Dank, Franzi. Sie scheinen sich aber auch nicht wohl zu fühlen.«

Ihm war es aufgefallen, daß sie schon ein paar Tage nicht mehr die frische Farbe hatte, wie er es gewohnt war.

Er mochte die junge Frau. Franzi Buchholz war schon vier Jahre bei ihm. Gleich nach der Handelsschule war sie als Auszubildende in sein Ingenieurbüro gekommen. Er hatte bald erkannt, daß sie nicht nur vielseitig interessiert war, sondern auch als technische Zeichnerin überdurchschnittlich begabt. Außerdem war sie in allen Büroarbeiten perfekt.

So bekam sie auch von ihm ein überdurchschnittliches Gehalt, und das konnte sie brauchen. Sie mußte für ihre kränkelnde Mutter sorgen.

Daß sie es nicht leicht hatte, wußte Frank Derksen von Dr. Norden. Er hatte aber bisher Franzi gegenüber noch nie erwähnt, daß er den Arzt sehr gut kannte.

Franzi hatte auf seine Bemerkung nicht reagiert. Es stimmte, daß sie sich nicht wohl fühlte, aber das hatte Gründe, die sie lieber für sich behalten wollte. Dr. Derksen verabschiedete sich freundlich und wünschte ihr ein erholsames Wochenende. Sie sah ihm dann noch nach, als er zu seinem Wagen ging. Da fiel ihr auf, daß er das rechte Bein nachzog. Wenn er sich verletzt hat, kann er es doch sagen, dachte sie. Aber die Kopfschmerzen konnten davon doch wohl nicht kommen. Sie hatte schon oft über ihn nachgedacht, und obgleich sie seit vier Jahren mit ihm zusammenarbeitete, wußte sie nicht viel über ihn, eigentlich nur, daß er in einem Haus allein lebte, das der Familie Derksen schon in der dritten Generation gehörte und er einen jüngeren Bruder hatte, der ihm einige Sorgen bereitete. Das hatte sie irgendwann durch Zufall erfahren.

Hoffentlich fehlt ihm nichts Ernsthaftes, ging es ihr durch den Sinn, als sie heimwärts fuhr.

Sie fuhr heim, Frank Derksen fuhr zu Dr. Norden, der schon in seiner Praxis auf ihn wartete. Frank hatte ihn vom Autotelefon aus angerufen. Den Freitag nachmittag hatte Dr. Norden seinen Stammpatienten vorbehalten, für die er mehr Zeit haben wollte, als es in der normalen Sprechzeit möglich war.

»Es ist wieder das Bein, Daniel«, sagte er. »Der Schmerz geht mir bis in den Kopf. Heute war es besonders schlimm.«

»Ich habe dir gesagt, daß du dich nach dem Sturz hättest auskurieren müssen, aber du hast ja behauptet, daß alles wieder okay sei.« Sie duzten sich schon seit der Studienzeit. Frank war zwar drei Jahre jünger als Daniel Norden, aber sie hatten öfter zusammen Sport getrieben und sich gut verstanden. Allerdings war Frank der sportlichere von beiden.

Daniel Norden gehörte zu den wenigen Menschen, die Frank recht gut kannten. Er wußte auch, warum Frank bisher nicht geheiratet hatte.

»Franzi hat mir heute empfohlen, doch einmal Dr. Norden zu konsultieren«, scherzte Frank. »Sie ahnt nicht, daß wir befreundet sind, und ich möchte auch, daß es so bleibt.«

»Ich rede nicht von meinen Patienten zu anderen.«

»Franzi ist in letzter Zeit ziemlich blaß.«

»Sie kommt ja auch wenig an die frische Luft. Ihre Mutter ist ziemlich krank, aber mehr erfährst du von mir nicht.«

»Ich weiß, daß sie für ihre Mutter sorgen muß. Das Mädchen hat überhaupt nichts von seiner Jugend. Es ist immens tüchtig, und falls mir etwas passieren sollte, möchte ich es versorgt wissen.«

»Was hast du denn jetzt für pessimistische Gedanken. Das gefällt mir nicht, Frank. Ich bin dafür, daß du ein paar Tage gründlichst klinisch untersucht wirst.«

»Könnte das nicht am Wochenende stattfinden? Ich habe dringende Aufträge zu erledigen.«

»Wenn du nicht auch an deine Gesundheit denkst, werden die sowieso bald von einem anderen erledigt werden müssen.«

»Das klingt auch nicht aufmunternd.«

»Ich will dir nur klarmachen, daß man es mit der Arbeitswut auch übertreiben kann, wenn es auf Kosten der Gesundheit geht. Hättest du den Sturz nicht auf die leichte Schulter genommen, hättest du dir sicher die Schmerzen erspart. Jedenfalls will ich, daß du gründlichst geröntgt wirst. Ein Notfall wird auch am Wochenende behandelt.«

»Und wohin verfrachtest du mich?«

»Zuerst mal zu Dr. Behnisch.«

»Na, dann warten wir nicht länger.«

»Daniel war nun doch überrascht, daß er so schnell einwilligte, aber es verriet ihm auch, daß Frank sehr starke Schmerzen haben mußte. Ohne Röntgenaufnahmen konnte er nichts feststellen, und bei Frank mußten diese überaus sorgfältig durchgeführt werden.

Er brachte Frank Derksen selbst zur Behnisch-Klinik.

Seine Freunde Dieter und Jenny brauchte er nicht zweimal zu bitten, wenn er ihnen einen Patienten brachte. Es ging niemals um Lappalien.

Frank war bereit, alles über sich ergehen zu lassen, denn manchmal hatte er in den letzten Tagen schon mit seinem Leben abgeschlossen.

*

Franzi war indessen daheim von ihrer jammernden Mutter empfangen worden. Franzi kannte sie seit Jahren nur jammernd. Dabei wußte sie, was ihr auch Dr. Norden bestätigt hatte, daß ihr Leiden sich erst durch ihre negative Einstellung verschlimmert hatte. Von vornherein lehnte sie jede Medizin mit der Bemerkung ab, daß sie doch nicht helfen würde. Auch Franzi war zu der Überzeugung gelangt, daß ihre Mutter gern krank war, einfach krank sein wollte.

»Wenn du dir nicht helfen lassen willst, Mutter, mußt du eben Schmerzen leiden«, sagte sie, weil sie dieses Wehklagen einfach nicht mehr ertragen konnte.

Sie hatte keine körperlichen Schmerzen, einfach nur Angst. Seit Tagen fühlte sie sich verfolgt. Sie wußte auch, wer sie verfolgte, aber sie hatte niemanden, mit dem sie darüber reden konnte. Ihre Mutter würde einen hysterischen Anfall bekommen und von ihr verlangen, die Wohnung nicht mehr zu verlassen.

»Wir haben keinen Tee mehr, und für das Wochenende mußt du auch noch einkaufen«, sagte Waltraud Buchholz im klagenden Ton.

»Das mache ich morgen, Mutter.«

»Ich möchte aber meinen Tee haben, und Butter brauchen wir auch. Das Brot ist auch schon alt.«

»Ich mache heute abend eine Suppe. Es ist noch Fleischbrühe da.«

»Ich mag keine Suppe«, nörgelte Waltraud. Und sie schaffte es, daß Franzi dann doch ging, nur um diesem Genörgel zu entfliehen.

Die Dämmerung sank schon herab, die Geschäfte würden bald schließen. Sie mußte sich beeilen und lief im Eilschritt zum Einkaufszentrum. Es waren noch viele Kunden anwesend, und da fühlte sie sich sicher.

Dann sagte eine helle Stimme: »Hallo, Franzi, sieht man dich auch mal wieder?«

Ihre Schulfreundin Susanne Schade kam auf sie zu, hübsch, selbstbewußt, schick gekleidet.

»Bist du wieder im Lande?« fragte Franzi. Sie wußte, daß Susanne Verwandte in Kanada besucht hatte.

»Schon zwei Monate, aber dich bekommt man ja nirgends zu Gesicht. Was ist los mit dir?«

»Meine Mutter ist krank, ich muß sie versorgen«, erwiderte Franzi.

»Tut mir leid, aber ein bißchen Freizeit mußt du doch haben. Bist du eigentlich noch bei Dr. Derksen?«

»Ja. Ich hoffe, daß ich auch bleiben kann.«

»Ist er nicht Junggeselle?«

Das klang sehr anzüglich.

»Er ist ein sehr sympathischer Chef«, erwiderte Franzi kühl.

»Ich habe neulich seinen Bruder kennengelernt, ein flotter Bursche.«

»Ich kenne ihn nicht persönlich.«

»Und ich würde ihn gern näher kennenlernen.« Susanne lachte. »Hast du einen festen Freund?«

»Nein. Ich habe auch keine Zeit. Ich muß nach Hause.«

»Können wir uns denn nicht mal treffen? Wir haben uns doch immer gut verstanden, Franzi.«

Aber jetzt trennen uns Welten, dachte Franzi. »Wenn es meiner Mutter bessergeht«, erwiderte sie ausweichend. »Ich rufe dich an.«

»Vergiß es nicht.«

Franzi ging schnell zur Kasse, und da hatte sie wieder das Gefühl, beobachtet zu werden. Aber sie wollte nicht darüber nachdenken, sie hastete davon. Inzwischen war es schon dunkel geworden. Sie meinte Schritte zu hören, die ihr folgten, und sie lief schneller, aber die Schritte wurden auch schneller.

Dann packte sie eine kräftige Hand am Arm. »Lauf mir nicht immer davon, Franzi«, sagte eine spöttische Männerstimme, »wir können doch wenigstens miteinander reden.«

»Es gibt nichts zu reden, laß mich in Ruhe!« stieß sie hervor.

»Sei bloß nicht so zickig. Früher konntest du nett sein.«

»Da habe ich mich auch nicht belästigt gefühlt. Ich will mit dir nichts zu tun haben, Manfred.«

»Du wirst noch eine alte Jungfer werden«, höhnte er. »Stell dich nicht so an.«

Er packte sie noch fester und wollte sie in ein Haus ziehen. Sie wußte, daß er dort wohnte. Doch da kam jemand die Treppe herunter. Es war auch ein junger Mann.

»Hilfe, bitte…«, stammelte Franzi, und der junge Mann sah sie bestürzt an.

»Laß das Mädchen los, Fred«, sagte er unwillig. »Du siehst doch, daß sie sich wehrt.«

»Misch du dich nicht ein, hau ab.« Aber da versetzte ihm der andere einen Kinnhaken, und unwillkürlich ließ er Franzi los, als er zurücktaumelte. Aber gleich wollte er wieder auf den anderen losgehen.

»Laufen Sie«, rief der Franzi zu, aber sie war wie gelähmt und voller Angst, daß Manfred Köhler ihren Retter zusammenschlagen könnte. Sie wußte, wie gewalttätig er war, sie hatte es schon einmal zu spüren bekommen.

Doch nun wurde es lebendig um sie herum.

Andere Hausbewohner kamen, Manfred Köhler wurde von zwei jungen Burschen in eine Wohnung gezerrt. Der fremde junge Mann, der ihm den Kinnhaken versetzt hatte, griff nun nach Franzis Tasche, die sie vor Schreck fallen gelassen hatte.

»Sie wohnen doch nicht hier«, stellte er fest, nachdem er sie im Schein der Straßenlaterne betrachtet hatte.

»Aber nicht weit entfernt. Er ist mir gefolgt.«

»Sie kennen ihn?«

»Von früher, von der Handelsschule.«

»Ich bringe Sie nach Hause, mein Wagen steht da drüben.«

»Nein, danke, das ist sehr nett, aber ich habe es nicht weit. Vielen Dank für die Hilfe. Schon lief sie davon. Er blickte ihr noch nach, ging dann aber zu seinem Wagen.

Franzi war schon um die Ecke geeilt, und atemlos kam sie zu Hause an.

»Wo warst du solange?« wurde sie empfangen.

»Einkaufen, ich kann nicht fliegen«, erwiderte sie, »und außerdem hat mich Manfred Köhler wieder belästigt. Ich gehe abends nicht mehr zum Einkaufen, damit du es weißt.« Sie konnte nicht anders, ihre Erregung mußte sich entladen.

»Die Köhlers sind anständige Leute, und sie haben Geld, aber du wartest wohl auf einen Märchenprinzen«, bekam sie zu hören.

»Bestimmt nicht auf einen, der mich verfolgt und mich gewaltsam ins Haus zerrt. Ich verstehe dich nicht, Mutter.«

»Du hattest doch früher nichts gegen ihn.«

»Da gingen wir zur Schule, und er hat sich nicht so unverschämt benommen. Er ist in schlechte Gesellschaft geraten und hatte schon mit der Polizei zu tun. Gefällt dir das etwa?«

»Davon weiß ich nichts, und in diesem Ton brauchst du nicht mit mir zu reden. Was ist nur in dich gefahren?«

»Ich fühle mich nicht wohl, und ich habe Angst vor diesem Kerl, auch wenn du das nicht begreifen willst.«

»Ich will jetzt meinen Tee haben«, sagte ihre Mutter.

Wie soll das nur weitergehen, dachte Franzi. Wie lange kann ich Dr. Derksen noch ein heiteres Gesicht zeigen? Sie fühlte sich leer, ausgebrannt und unsagbar müde.

*

Frank Derksen lag in einem weißen Bett und wartete, daß Dr. Behnisch kommen und ihm sagen würde, daß er nun wieder aufstehen und nach Hause gehen könnte. Er erinnerte sich plötzlich, daß sein Bruder Jürgen am Abend zu ihm kommen wollte.

Was mochte er diesmal wieder von ihm wollen? Wenn Jürgen doch nur ein bißchen strebsamer wäre, dachte er. Er ist so talentiert, und er verplempert so die Zeit.

Er hatte Vaterstelle an ihm vertreten müssen, und als dann auch die Mutter starb, die ihn so sträflich verwöhnt hatte, konnte er nicht so streng mit ihm sein, wie es nötig gewesen wäre. Jürgen war acht Jahre jünger als er, ein Nachkömmling. Seine Geburt hatte die Mutter zuviel Kraft gekostet.

Was wird aus ihm werden, wenn ich sterben muß, dachte Frank. Warum war er nur so pessimistisch? Warum wurde er diesen Gedanken nicht los?

Dr. Behnisch kam endlich herein. Frank sah ihn forschend an. »Ist es ein Tumor?« fragte er heiser.

»Möglicherweise, aber nach den bisherigen Befunden kein bösartiger. Es handelt sich um eine Kontraktur des Hüftgelenks. Sie haben sich bei dem bösen Sturz eine Hüftverletzung zugezogen, verbunden mit einem Bluterguß, dem eine Entzündung folgte. Man sollte sich nach solchen Stürzen gleich gründlich untersuchen lassen.«

»Es war in Cortina, und der Arzt stellte nur eine Gehirnerschütterung fest. Ich fühlte mich danach auch bald wieder wohl. Die Schmerzen beim Gehen kamen erst später. Was wird nun gemacht?«

»Wir sollten baldmöglichst operieren. Sie sollten es nicht mehr hinausschieben.«

»Ich muß einiges regeln. Ich habe ein paar sehr wichtige Sachen in Arbeit. Meine Mitarbeiter und meine Assistentin müssen genau informiert werden.«

»Könnten Sie das nicht ausnahmsweise morgen gleich tun? Dann kommen Sie am Sonntag und wir können am Montag gleich operieren.«

»Ich werde es versuchen. Ich sage Ihnen morgen Bescheid.«

Er erhob sich und zuckte zusammen, als er den Fuß aufsetzte. »Habe ich eine echte Chance, daß ich wieder normal gehen kann?«

»Aber sicher. Warum so skeptisch?«

»Ich dachte, daß es das Ende sein könnte.«

»Also schon Weltuntergangsstimmung. Sie sind doch nicht labil.«

»Aber diese Kopfschmerzen.«

»Sie haben Ihrem Kopf nach der Gehirnerschütterung eben gleich wieder zuviel zugemutet, das rächt sich. Sie werden sehen, daß sich Ihr Gesamtzustand bessern wird.«

»Das wäre sehr erfreulich. Dann werde ich mal sehen, auf wen ich mich verlassen kann.«

*

Sein Bruder Jürgen wartete bereits auf ihn. »Wo hast du denn so lange gesteckt?« fragte er. »Sonst bist du doch immer der Pünktliche.«

»Darüber reden wir. Frau Lania ist gegangen?«

»Ich habe sie heimgeschickt. Sie ist es anscheinend nicht gewohnt, daß du so spät kommst. Wie kommst du mit ihr klar?«

»Sehr gut, sie ist fleißig und zuverlässig. Sie ernährt ihre ganze Familie in Griechenland mit dem, was sie bei mir verdient.«

»Höre ich da den leisen Vorwurf, daß ich nicht mal fähig bin, meinen eigenen Unterhalt zu bestreiten?«

»Ich mache dir keinen Vorwurf, ich hoffe nur, daß du mir jetzt hilfst und dein Studium nicht ganz umsonst war. Ich muß operiert werden.«

Jürgen wurde blaß, und seine Augen weiteten sich schreckensvoll. »Operiert, wieso?« fragte er tonlos.

»Mein Sturz beim Skifahren hat Spuren hinterlassen, dieser Raser scheint auf eine empfindliche Stelle gestürzt zu sein.«

Er versuchte es herunterzuspielen, weil Jürgen gar so betroffen aussah.

»Du hättest ihn anzeigen müssen.«

»Wie denn, wenn ich ihn nicht kannte. Ich war auch so benommen, daß ich ihn nicht mal richtig beschreiben könnte. Ich sah nur eine gezackte Narbe auf seiner Hand.«

»Eine gezackte Narbe«, wiederholte Jürgen rauh.

»Komisch, daß so was einem doch auffällt, auch wenn man nicht ganz da ist. Dieser Rowdy war dann jedenfalls weg, und ich mußte warten, bis mir andere halfen.«

»Und nun mußt du dich operieren lassen«, sagte Jürgen schleppend.

»Was hat sich denn herausgestellt?«

»So genau weiß ich das auch nicht. Dr. Behnisch hat was von Kontraktur geredet. In der Medizin weiß ich leider nicht Bescheid, aber ich werde mich damit befassen. Hier muß es aber weitergehen. Kress und Neubert sind in Ordnung, aber sie brauchen Anweisungen. Franzi weiß zwar bestens Bescheid, aber zwei alte Hasen lassen sich ungern etwas von einem jungen Mädchen vorschreiben.«

»Und du traust mir zu, daß ich dich vertrete. Welche Ehre.« Das war keineswegs spöttisch gemeint. »Ich weiß nicht, ob ich dazu fähig bin, Frank.«

»Du kannst es versuchen. Ich zeige dir morgen die Pläne. Und wenn etwas schiefgeht, kann ich es auch nicht ändern. Wenn ich sterben würde, ginge es ja auch nicht mehr weiter.«

»Rede nicht solchen Unsinn«, erregte sich Jürgen. »Du wirst nicht sterben, und wenn es dich beruhigt, werde ich mir die größte Mühe geben, dich nicht zu enttäuschen.«

Vielleicht kommt er dadurch zur Vernunft, dachte Frank. Er scheint den guten Willen zu haben. Ich bin für ihn doch nicht der schreckliche Bruder, wie ich gefürchtet habe.

»Darf ich fragen, was du die letzte Zeit getrieben hast, Jürgen?«

»Ich habe mit der Hockeymannschaft trainiert, und ich habe da und dort ausgeholfen.«

»Solide Sachen?« fragte Frank beiläufig.

»Ich lasse mich nicht mehr auf krumme Sachen ein, das brauchst du nicht zu fürchten. Eine Erfahrung hat mir gelangt. Ich bin dir dankbar, daß du mir herausgeholfen hast. Ich bin jetzt dabei, krumme Sachen zu verhindern, aber manche sind unbelehrbar.«

Frank sah ihn nachdenklich an. Es schien tatsächlich so, daß Jürgen vernünftiger geworden war. Sein Gesicht hatte auch energischere Züge bekommen. Er sieht einfach zu gut aus, ein richtiger Frauentyp, dachte Frank. Das war eine große Gefahr für ihn gewesen. Leider war er gleich an zwei raffinierte Frauen geraten, die ihn in eine dubiose Gesellschaft gezogen hatten. Aber darüber schien er nun doch hinweg zu sein.

»Mir wäre es auch recht, wenn du hier wohnen würdest, Jürgen. Du brauchst dich ja nicht bevormundet zu fühlen, wenn ich in der Klinik bin.«

»Mir wäre es lieber, wenn du zu Hause wärest und mich bevormunden würdest, Frank. Ich habe mich ekelhaft benommen. Dafür kann ich dich nur um Verzeihung bitten.«

»Mir genügt es schon, wenn du es einsiehst, Jürgen. Dann reden wir morgen über das Geschäftliche. Jetzt essen wir noch was, und dann verziehe ich mich ins Bett. Es war sehr anstrengend in der Klinik.«

Am nächsten Morgen überlegte Frank, ob er Franzi anrufen solle, damit sie bei dem Gespräch mit Jürgen gleichfalls informiert wurde, aber dann dachte er auch daran, daß sie mit ihrer kranken Mutter genug zu tun hätte. Auf jeden Fall mußte sie aber wissen, daß er einige Zeit abwesend sein würde.

Jürgen war es dann, der vorschlug, daß Frank ihn mit Franzi bekannt machen solle. »Vielleicht akzeptiert sie mich sonst nicht«, meinte er.

»Sie hat eine kranke Mutter, für die sie sorgen muß. Ich möchte sie nicht überfordern, aber sie hat das richtige Gespür für die diffizilen Sachen. Sie hat mich schon manches Mal staunen lassen. Und dabei hat sie sich das alles selbst angeeignet. Wenn sie hätte studieren können, wäre sie bestimmt schon ganz oben, trotz ihrer jungen Jahre.«

»Und wie alt ist sie?«

»Noch nicht mal vierundzwanzig.«

»Da werde ich mich wohl mächtig anstrengen müssen, um Gnade vor ihren Augen zu finden. Bist du verliebt in sie?«

Frank sah ihn verblüfft an. »Auf solche Gedanken kannst nur du kommen«, meinte er lächelnd. »Ich arbeite seit vier Jahren mit ihr. Sie war ein ganz junges, unerfahrenes Mädchen, als sie zu mir kam. Ungeheuer wißbegierig und fleißig. Sie ist lieb, und wir verstehen uns einmalig, aber verliebt? Ich will sie doch nicht vertreiben.«

»Dann hat sie einen anderen?«

»Nein, bestimmt nicht, das wüßte ich. Sie hat gar keine Zeit für ein Privatleben, da sie die ganze Freizeit ihrer Mutter opfern muß.«

»Das muß aber eine sehr egoistische Mutter sein.«

»Krankheit macht vielleicht egoistisch.«

»Du wirst wieder gesund«, sagte Jürgen heiser. »Ich will nicht hören, daß du daran zweifelst. Ich habe mich dir gegenüber manchmal schäbig benommen, Frank, das tut mir leid. Ich will es gutmachen, wenn ich kann, und wenn du mir versprichst, daß du nicht pessimistisch bist.«

»Das bin ich nicht. Ich will ja leben, aber es gibt Momente, die sehr, sehr nachdenklich stimmen.«

»Du warst schon zu lange allein. Denkst du denn immer noch an Tanja? Es ist ein scheußlicher Gedanke für mich, daß sie es auf mich abgesehen hatte. Ich war ja noch so jung und dumm und habe nicht begriffen, wie verletzend es für dich sein muß.«

»Tanja ist nicht das Problem, Jürgen. Ich muß dir eigentlich dankbar sein, daß mir die Augen so schnell geöffnet wurden. Was Frauen anbetrifft habe ich nicht die richtige Einstellung. Ja, so ein Mädchen wie Franzi kann ich akzeptieren. Sie ist nicht aufdringlich, sie ist einfach da, wenn man sie braucht. Es ist eine ganz besondere Beziehung. Und ich bitte dich, sie auch so zu behandeln, wie ich es tue, denn sie ist äußerst sensibel und verletzlich.«

»Ich werde ihr nicht zu nahe treten, Frank. Ich bin nicht mehr so, daß ich mit jedem hübchen weiblichen Wesen anbandele. Ich habe auch schon meine Erfahrungen gemacht, und es gibt mehr Tanjas als Franzis. Das kann ich sagen, obgleich ich Franzi nicht kenne.«

»Ich verlasse mich auf dich«, sagte Frank, und dann rief er Franzi doch an. Sie versprach, gleich zu kommen, als er sagte, daß es sehr wichtig sei.

Ihre Mutter begann zu zetern. »Hast du was mit ihm, daß er so über dich bestimmen kann? Nun, wenn er es ernst meint, hätte ich ja nichts dagegen. Aber dann muß er sich auch erklären.«

»Hör bitte auf, Mutter, er ist mein Chef, mehr nicht. Und er ist ein feiner Mensch, er zahlt mir mehr Gehalt, als ich woanders bekommen würde und ist verständnisvoll und großzügig, was dich betrifft. Aber wenn er mich braucht, bin ich auch für ihn da. Du bist versorgt, und du sitzt doch die ganze Zeit vor dem Fernseher.«

Waltraud verlegte sich aufs Schmollen, wie sie es immer tat, wenn sie nichts zu erwidern wußte.

»Ich gehe nicht in ein Heim, das kannst du ihm gleich sagen!« rief sie Franzi noch nach.

Franzi kämpfte gegen die Verzweiflung an, die sie manchmal doch packte.

Wenn sie wenigstens ein bißchen Liebe von ihrer Mutter erfahren hätte, aber sie konnte sich nicht erinnern, daß sie jemals erfahren hatte, wie es war, von der Mutter schützend und liebevoll in die Arme genommen zu werden. Als der Vater noch bei ihnen war, ja, an ihn hatte sie immer noch eine Erinnerung, obgleich sie erst sechs Jahre alt war, als er von ihnen fortging, hatte sie wenigstens von ihm Zuneigung bekommen, wenn auch nur, wenn er mit ihr allein war.

Ihre Eltern hatten immer gestritten, und eines Tages war er gegangen.

»Wenn ich kann, hole ich dich«, hatte er gesagt, aber er hatte es nicht getan. Sie hatte ihn nie wiedergesehen und von ihrer Mutter nur böse Worte und Anklagen gegen ihn gehört. Er war an allem schuld, auch daran, daß Franzi nicht das Abitur machen konnte, trotz ihrer ausgezeichneten Noten. Sie müsse bald Geld verdienen, hieß es, denn sie hätten bald keines mehr. Waltraud ließ sich nichts abgehen, und so sehr konnte es wohl an Geld nicht mangeln, aber Franzi hatte beizeiten gelernt, sich zu bescheiden und das Bestmögliche aus ihrer Situation zu machen. Im Grunde war sie eine Frohnatur, wenn die letzten Jahre nun auch an ihren Nerven zerrten. Seit sie bei Dr. Derksen arbeitete, waren diese Stunden wie ein Brunnen, aus dem sie Kraft schöpfte.

Sie konnte vergessen, was sich zu Hause abspielte. Er glich in seiner Ruhe und Güte alles aus, was ihre Mutter ihr zufügte mit ihrer ständigen Unzufriedenheit und Nörgelei.

Sie war richtig froh, daß auch der Samstag ihr diese Ablenkung brachte, und dann sollte sie auch noch eine riesengroße Überraschung erleben.

Es war nicht das erste Mal, daß sie Dr. Derksens Haus betrat, dieses wunderschöne Haus, das so ganz ihren Träumen von einem Märchenschloß entsprach.

Frank öffnete ihr selbst die Tür und begrüßte sie mit einem Lächeln. »Lieb von Ihnen, Franzi, daß Sie sogar Ihre Freizeit opfern«, sagte er.

»Ich bin nicht gram, wenn ich der Eintönigkeit zu Hause entfliehen kann.«

»Hat sich der Zustand Ihrer Mutter verschlechtert?« fragte er.

»Ich kann es nicht finden, aber sie tut so. Sie steigert sich immer mehr in ihre Beschwerden hinein, dadurch werden sie ja auch schlimmer. Sie weigert sich zu gehen, obgleich sie es könnte. Ich tue eben noch immer nicht genug für sie. Daran habe ich mich ja schon gewöhnt. Wenn sie doch wenigstens mal ein paar Wochen in ein Sanatorium gehen würde. Dafür habe ich ja gespart, aber sie weigert sich. Selbst Dr. Norden hat sie dazu noch nicht überreden können. Wahrscheinlich denkt sie, ich würde unter die Räder kommen, wenn sie nicht da ist«, fuhr sie mit einem leisen Lachen fort, »aber lassen wir das. Was ist denn so wichtig, Boß?«

»Ich sage es gleich, worum es geht. Ich muß zu einer klinischen Untersuchung, und da gibt es vorher einiges zu regeln.«

»Es ist doch hoffentlich nichts Schlimmes«, sagte sie leise.

»Es raubt nur Zeit«, redete er sich heraus.

»Ich möchte Sie mit meinem Bruder bekannt machen, der Ihnen in dieser Zeit zur Seite stehen wird, Franzi. Sie wissen ja über alles Bescheid. Auch, wenn die Pläne fertig sein müssen. Mein Bruder Jürgen ist bereit, dazu beizutragen, damit alles seinen Gang geht.«

»Wird er mich denn akzeptieren?«

»Aber sicher. Er weiß, daß Sie meine Assistentin sind und meine engste Mitarbeiterin.«

Und dann kam die Überraschung. Jürgen und Franzi sahen sich an und waren sprachlos.

»Wir sind uns doch schon begegnet«, sagte Jürgen, »erst gestern abend.«

Franzi brachte noch kein Wort über die Lippen. Sie sah Frank hilfeheischend an.

»Wo denn?« fragte er.

»In einem Hausgang. Franzi – darf ich Sie so nennen? – wurden von einem üblen Burschen belästigt, der zufällig in unserer Mannschaft ist.«

»Ich bin Ihnen Dank schuldig«, sagte Franzi leise. »Ich hatte keine Ahnung, daß Sie der Bruder von Dr. Derksen sind.«

»Wie hätten Sie das auch vermuten können. Hat Köhler Sie schon öfter belästigt?«

»Ja, wir kennen uns von der Handelsschule, und da wir in einer Gegend wohnen, waren wir früher auch öfter zusammen. Da war er nicht unrecht. Er hat sich leider zu seinem Nachteil verändert.«

»Ich kenne ihn nicht gut, aber ich werde mal ein Auge auf ihn haben aus verschiedenen Gründen. Wir sind in einer Hockeymannschaft. Das heißt, ich bin der Trainer, deshalb war ich auch gestern dort zu einer Besprechung.« Er sah Frank lächelnd an. »Seltsamer Zufall.«

»Gut, daß du Franzi helfen konntest. Vielleicht fördert es die Zusammenarbeit. Jetzt werden wir gemeinsam besprechen, was vordringlich zu erledigen ist.«

Jürgen war beeindruckt, wie sachlich Franzi ihre Stellungnahme kund tat. Er spürte, welche Energie in dieser zierlichen Person steckte. Sein Blick wanderte zwischen seinem Bruder und Franzi hin und her, aber er konnte nicht feststellen, daß sie Blicke tauschten, die mehr als ein freundschaftliches Verhältnis verraten konnten. Er dachte an das verängstigte Mädchen von gestern abend und lernte nun eine junge Frau kennen, die genau wußte, was sie wollte. Nein, ganz so war es nicht, denn etwas Frauliches hatte Franzi nicht an sich. Er hatte noch nie ein Mädchen kennengelernt, das so viel Reinheit ausstrahlte. Und das sollte Frank unberührt gelassen haben? Er konnte es nicht glauben.

Aber er entdeckte in sich jetzt auch den Willen, Frank und sich, aber auch Franzi zu beweisen, daß mehr in ihm steckte, als man vermuten konnte.

Frank staunte auch, wie schnell er sich auf diese Arbeiten einstellte und auch Kostproben über seine mathematischen Kenntnisse gab.

»Es wird schon gutgehen, davon habt Ihr mich überzeugt«, sagte Frank. »Gehen wir noch gemeinsam essen?«

»Eigentlich müßte ich ja heim«, sagte Franzi, »aber warum nicht. Meine Mutter denkt doch, daß ich arbeite.«

*

Das dachte Waltraud Buchholz nicht. Ihr war der Gedanke gekommen, daß es eine feine Sache wäre, wenn Franzi ihren Chef heiraten würde. Er schien doch sehr gut situiert zu sein, hatte ein schönes Haus und auch den besten Ruf. Natürlich mußte Franzi darauf bestehen, daß ihre Mutter dann bei ihnen wohnen würde. Es war ein schöner Gedanke, aber gleich kam ihr der, daß es so schnell keinen Mann geben würde, der seine pflegebedürftige Schwiegermutter bei sich aufnahm.

Wenn sie sich nun aber aufraffte und sich ihr Zustand doch bessern würde? Vielleicht wäre es gut, wenn sie in ein Sanatorium gehen würde, wie es Franzi und auch Dr. Norden vorgeschlagen hatten? Vielleicht auf die Insel der Hoffnung, wo so viel Prominente Genesung suchten? So übel wäre das doch gar nicht.

Dann hätte Franzi auch mehr Zeit, mal privat mit Dr. Derksen zusammenzusein.

Ein Akademiker als Schwiegersohn, ja, das könnte ihr gefallen und so verlor sie sich in Zukunftsträumen und schlief dabei ein. Sie merkte gar nicht, wie spät es war, als Franzi heimkam, und Franzi konnte sich nur wundern, wie freundlich ihre Mutter war.

Waltraud war schlau, sie fiel nicht gleich mit der Tür ins aus.

»Was gab es denn so Dringendes?« fragte Waltraud ganz beiläufig, als Franzi ihr das Essen brachte.

»Dr. Derksen muß sich einer klinischen Untersuchung unterziehen. Ich hatte dir doch erzählt, daß er beim Skifahren so schwer gestürzt war, Mutter. Da scheint etwas nicht ausgeheilt zu sein. Wir haben besprochen, daß ich ihn vertrete in dieser Zeit. Das ist für mich eine große Anerkennung.«

Jürgen wollte sie lieber nicht erwähnen, denn sie kannte die etwas krankhafte Phantasie ihrer Mutter.

»Ja, das finde ich auch«, sagte Waltraud. »Er muß dich sehr schätzen, aber du wirst jetzt wohl auch länger arbeiten müssen.«

»Das wird leider der Fall sein.«

»Dann ist es wohl doch besser, wenn ich eine Zeit ins Sanatorium gehe.«

Franzi war so überrascht, daß sie erstmal gar nichts sagen konnte.

»Wäre es dir jetzt nicht recht?« fragte Waltraud.

»O doch, das ist eine vernünftige Idee, Mutter.«

»Meinst du, daß ich vielleicht auf die Insel der Hoffnung könnte?«

Franzi war momentan so froh, daß sie zu allem ja und amen gesagt hätte.

»Ich werde gleich am Montag mit Dr. Norden sprechen«, erwiderte sie. »Es ist sicher möglich zu machen. Ich bin wirklich froh, daß du dich durchgerungen hast, Mutter. Du wirst sehen, daß es dir bald viel bessergeht, wenn du Abwechslung und richtige Pflege hast und nette Menschen kennenlernst.«

»Und du bist froh, wenn du mich los bist.«

»So ist es doch nicht, Mutter. Aber du solltest einsehen, daß ich einen Beruf habe und etwas leisten muß, wenn ich vorankommen will. Und jetzt kann ich beweisen, was ich kann. Außerdem kann ich Dr. Derksen auch endlich zeigen, wie dankbar ich ihm bin, daß er mir solche Chancen gegeben hat. Er ist ein großartiger Mensch.«

»Vielleicht lerne ich ihn dann auch mal kennen«, meinte Waltraud vorsichtig, denn sie wollte jetzt keine Unstimmigkeit aufkommen lassen.

»Jetzt komm erstmal wieder auf die Beine. Ich freue mich wirklich, daß du so vernünftig bist.«

Frank freute sich, daß sein Bruder Jürgen plötzlich so ernsthaftes Interesse an der Arbeit zeigte. Aber er fragte auch, was sich am gestrigen Abend zugetragen hatte.

»Ich kam ganz zufällig dazu, wie Köhler die kleine Franzi gepackt hatte. Heute kam sie mir nicht so hilflos vor, aber Köhler ist ein brutaler Bursche. Er hätte bei der Sitzung mit den anderen dabeisein sollen, aber er hat sich wieder mal herumgetrieben. Da muß ihm Franzi in den Weg gelaufen sein. Ich werde ihn mir noch mal vorknöpfen.«

»Und du wirst Franzi respektieren.«

»Ich glaube schon, daß sie sich ihrer Haut wehren kann, wenn es nicht gerade um Gewaltanwendung geht. Hat sie einen Freund?«

»Du hast es schon mal gefragt. Nein, ich glaube es nicht. Ich wünsche ihr jedenfalls den besten Mann, der ihrer würdig ist. Sie hat Charakter.«

Jürgen warf ihm einen schrägen Blick zu. Hat er etwa schon resigniert, überlegte er. Meint er tatsächlich, daß sein Leben schon bald zu Ende ist? Ihn fröstelte es bei dem Gedanken. Frank war siebenunddreißig und er war ein gutaussehender Mann, der bestimmt Chancen bei den Frauen hatte, auch bei so jungen wie Franzi. Solche Verbindungen konnten durchaus glücklich sein.

Er selbst hatte immer mehr für ältere Frauen übrig gehabt, aber das hatte sich nun auch geändert. Jetzt wollte er überhaupt nicht mehr an Vergnügungen denken, denn ernst gemeint hatte er es nie. Das hatte ihm allerdings auch manchen Ärger eingebracht.

»Frank, du versprichst mir, daß du dich nicht aufgibst«, sagte er heiser.

»Habe ich doch schon gesagt. Jetzt ist mir schon bedeutend wohler, weil ich mit dir und Franzi reden konnte. Wenn etwas ist, könnt Ihr mich auch jederzeit in der Klinik erreichen. Mein Kopf wird ja hoffentlich nicht leiden.«

Ich werde mit Dr. Norden reden, dachte Jürgen, denn er kannte ihn auch, wenn er auch ganz selten mal ärztliche Hilfe gebraucht hatte. Dr. Norden hatte ihm auch schon mal bestätigt, daß er die besten Laborwerte hatte, die er je bei einem jungen Mann gesehen hatte.

*

Daniel Norden machte mit seiner Familie einen Sonntagsausflug an den Wörthersee. Ein Patient von ihm hatte dort ein Restaurant aufgemacht und der hatte ihn und seine Familie schon mehrmals eingeladen, weil er darauf beharrte, daß er Dr. Norden sein Leben verdanke.

»Meinst du nicht, daß er einen Schreck bekommt, wenn wir mit den Kindern kommen?« fragte Fee, die ihre Bedenken hatte.

Die Zwillinge waren bei Lenni geblieben. Sie wollten gar nicht mit. Ihnen gefiel das Essen im Restaurant nicht. Lenni wußte indessen genau, was ihnen schmeckte. Danny, Felix und Anneka waren da schon ein bißchen neugieriger. Ihnen gefiel es auch, wenn sie selbst aussuchen konnten, was sie essen wollten.

Es war ein schöner Tag, aber doch noch recht kalt. Aber bei den Köbeles, in dem hübschen, rustikalen Restaurant, war es warm und gemütlich. Und sie wurden herzlich empfangen.

»Das ist eine Freude, daß Sie es doch mal wahrmachen«, sagte Resi Köbele und wies ihnen dann gleich einen großen Tisch in einer ruhigen Ecke an. Vinzenz Köbele kam auch für ein paar Minuten aus der Küche, um sie zu begrüßen. Er kochte selbst, und an dem Tag hatte er allerhand zu tun.

»Ich hoffe schon, daß Sie ein bissel länger bleiben, damit wir nachher wenigstens noch in Ruhe Kaffee miteinander trinken können. Nach dem Essen können Sie sich ja die Füße vertreten.«

»Das mußten sie auch nach dem köstlichen Essen, denn sie hatten keinem Gang widerstehen können, und das üppige Dessert war doch etwas zuviel des Guten gewesen. Aber geschmeckt hatte es allen. Die Kinder waren hellauf begeistert, und nachdem sie dann eine gute halbe Stunde gelaufen waren, freuten sie sich auch auf den Kaffee. Die Kinder waren allerdings mehr für Eis. Auch das sollten sie haben.

Daniel erklärte, daß er wenigstens für die Kinder das Essen bezahlen wolle, aber da wurde energisch von den Köbeles protestiert. Sie saßen noch ganz gemütlich beisammen, und dem leckeren Apfelkuchen konnte auch Fee nicht widerstehen.

»Jetzt muß ich aber fasten«, lachte sie.

»Liebe Güte, wenn man so schlank ist, kann man doch mal richtig futtern«, meinte Resi Köbele. »Bei mir schaut’s da schon anders aus, und trotzdem schmeckt es mir.«

Auch den Kindern hatte es geschmeckt, und es hatte ihnen auch sehr gefallen. Als sie dann endlich, nach mehreren Anläufen, aufbrechen wollten, zupfte Fee ihren Mann am Ärmel.

»Schau mal, Daniel, das ist doch Kirsten Lorenz. Ist sie wieder im Lande?«

Daniel runzelte die Stirn. »Ist sie das wirklich? Sie sieht ziemlich desolat aus, und in guter Gesellschaft ist sie auch nicht gerade.«

Die schlanke blonde Frau blickte zu ihnen herüber, wandte sich aber schnell ab und ging mit dem dunkelhaarigen Mann in entgegengesetzter Richtung davon. Daniel hatte den Eindruck, daß sie ihn dorthin dirigierte, während Fee ihren Mann verwirrt anblickte.

»War sie es, oder war sie es nicht?« fragte sie.

»Jedenfalls wollte sie eine Begegnung mit uns meiden. Vielleicht war es ihr peinlich, von mir mit Brack gesehen zu werden.«

»Wer ist Brack?« fragte Fee verwirrt.

»Ein Arzt auf Abwegen.«

»Wieso auf Abwegen?«

»Er hat illegale Geschäfte mit Drogen gemacht. Aber vielleicht weiß sie das gar nicht.«

»Ob sie hier eine Stellung gefunden hat?« überlegte Fee. »Man sagte doch, daß sie hochqualifiziert ist als Psychotherapeutin. Könnte es nicht sein, daß sie sich in dieser Eigenschaft um ihren Begleiter kümmert?«

»Ich würde es gern wissen, Fee. Ich habe sie für eine charaktervolle junge Ärztin gehalten. Ich wäre sehr enttäuscht, wenn sie abgerutscht wäre, aber oft ist ja eine solche minderwertige Beziehung daran schuld.«

»Fröhlich sah sie nicht aus«, stellte Fee fest.

Sie konnten aber nicht im Entferntesten vermuten, was Kirsten Lorenz an diesem Nachmittag durchmachte.

*

Peter Brack hatte Kirsten überreden können, sich mit ihm zu treffen.

Es ging nicht um sie, es ging um ihre Freundin Geli. Das meinte sie wenigstens, aber sie mußte schon bald merken, daß Peter Brack es auf sie abgesehen hatte.

Er könne doch nichts dafür, daß er nur noch an sie denken müsse, seit er sie kennengelernt hätte, schmuste er. Das war ihr widerwärtig. Mit Geli sei es eigentlich doch schon länger aus, erklärte er dann, als sie ihn daran erinnerte, daß Geli schwanger sei, und er würde bezweifeln, der Vater des Kindes zu sein. Da wurde Kirsten wütend, und es war gerade der Augenblick gewesen, als sie Daniel und Fee Norden gewahrt hatte. Im ersten Schrecken, daß man sie mit Peter Brack in Zusammenhang bringen könnte, hatte sie sich dafür entschieden, so zu tun, als ob sie die beiden nicht erkannt hätte, hoffend, daß diese sich nicht schlüssig waren, ob sie wirklich Kirsten sei.

»Es ist sinnlos, Herr Brack, wir setzen unser Gespräch besser nicht fort«, sagte sie mit erzwungener Ruhe. »Ich wollte Ihnen klarmachen, daß Geli verzweifelt ist, aber dafür haben Sie an­scheinend nicht das geringste Verständnis. Und ich habe kein Verständnis für Männer Ihres Charakters.«

In seinen Augen glomm eine zornige Flamme. Er vertrug keine Kritik.

Obgleich ihm schon viele unbequeme Wahrheiten gesagt wurden, hatte dies an seiner Überheblichkeit und Arroganz nichts geändert.

»Dann sorgen Sie doch für Geli«, fuhr er sie unbeherrscht an. »Ich habe gedacht, daß Sie mehr Verstand haben. Das Kind braucht doch gar nicht zur Welt zu kommen.«

»Jetzt ist es genug. Gehen Sie zum Teufel«, stieß Kirsten hervor.

Dann wollte sie sich eilenden Schrittes entfernen. Aber er holte sie ein und packte sie am Arm.

»Ich habe immer noch gute Beziehungen«, sagte er zynisch. »Es wird Ihnen schwerfallen, die Stellung zu bekommen, wenn bekannt wird, was in Wien geschehen ist. Ich bin gut informiert. Steigen Sie also von Ihrem hohen Roß herunter.«

Bedauerlicherweise wußte Kirsten nicht viel über Peter Brack, nur eben das, was ihrer Freundin Geli so zu schaffen machte. So fand sie nicht gleich eine Antwort auf eine Drohung. Sie wollte sich jetzt auch nicht mit ihm anlegen und sah keinen Grund, sich ihm gegenüber zu rechtfertigen.

»Machen Sie doch, was Sie wollen«, sagte sie eisig und ging zu ihrem Wagen. Diesmal folgte er ihr nicht, denn er hatte jemand kommen sehen, dem er auf keinen Fall begegnen wollte.

Kirsten fuhr zu Angela Möller, die nicht weit entfernt wohnte. Ihr Entsetzen war groß, als sie Geli bewußtlos vorfand. Ihr Herzschlag setzte aus, als sie feststellte, daß ein leeres Tablettenröhrchen am Boden lag.

Es gelang ihr nicht, Geli wach zu bekommen, und da der Puls kaum noch zu fühlen war, griff Kirsten zum Telefon und rief den Notarzt herbei. Sie wollte nichts versäumen und auch nichts falsch machen. Geli mußte in die Klinik.

Dieser Schuft, dachte sie, er hat Geli auf dem Gewissen. Aber ihr konnte sie nicht mal dafür einen Vorwurf machen, daß sie ihr Herz an Brack gehängt hatte, denn ihr war ja Ähnliches widerfahren und ihr beinahe auch zum Verhängnis geworden. Deshalb hatte sie auch für Geli soviel Verständnis aufgebracht.

Der Notarztwagen kam. Kirsten hatte den Eindruck, daß ihr Kollege nicht gerade erfreut über diesen Einsatz war. Als sie sagte, daß sie auch Ärztin sei, wurde er etwas verbindlicher.

»Haben Sie eine bestimmte Klinik vorzuschlagen?« fragte er.

»Frauenklinik Dr. Leitner. Schaffen wir es?«

»Sicher«, brummte er.

»Ich fahre hinterher«, sagte Kirsten.

Als der Notarztwagen wegfuhr und sie in ihren Wagen stieg, sah sie Peter Brack kommen. Sie fuhr schnell los.

Sie hatte nicht die geringste Lust, noch mit ihm zu sprechen, obgleich er, mit den Armen fuchtelnd, auf ihren Wagen zugelaufen kam.

Sie winkte ab und fuhr schnell weiter.

*

In der Leitner-Klinik herrschte Sonntagsstimmung. Schwere Fälle gab es zur Zeit nicht, die jungen Mütter hatten alle Besuch, und so wurden die Schwestern nur selten mal benötigt.

Dr. Hans-Georg Leitner, von seinen Freunden Schorsch genannt, war schon über Funk von dem Notfall verständigt worden.

Alles war bereit, Geli den Magen gleich auszupumpen. Dann traf auch Kirsten ein, und Dr. Leitner riß die Augen auf.

»Kirsten Lorenz? Ist das die Möglichkeit!«

»Angela Möller ist meine Freundin«, erklärte sie. »Wir können nachher über sie reden. Helfen Sie ihr bitte, Herr Kollege.«

»Wollen Sie dabeisein?« fragte er.

»Wenn ich darf?«

»Selbstverständlich.«

Schwester Hilde versorgte sie mit Kittel, Haube und Handschuhen. Sie schien erleichtert, daß sie selbst nicht direkt gebraucht wurde.

Geli wurde der Magen ausgepumpt.

Erst dann sagte Dr. Leitner mit ernster Miene zu Kirsten: »Sie ist schwanger. Etwa im dritten Monat.«

»Ja, ich weiß, aber auf die Schwangerschaft brauchen wir keine Rücksicht zu nehmen. Ich erkläre Ihnen alles. Wie beurteilen Sie ihren Zustand.«

»Nicht mehr lebensbedrohend, aber auch nicht stabil. Wir sollten sie gründlich untersuchen.«

»Das ist mir sehr recht. Ich bin ja nicht objektiv. Sie tut mir schrecklich leid.«

»Ist sie auch Ärztin?«

»Nein, Laborantin. Zur Zeit arbeitslos.«

Es dauerte noch eine Zeit, bis sich Gelis Zutand einigermaßen stabilisiert hatte, dann konnten sich Schorsch Leitner und Kirsten in Ruhe unterhalten.

»Hat sie Schwierigkeiten mit dem Vater des Kindes?« fragte Dr. Leitner.

»Das auch, aber vor allem hat sie sehr darunter gelitten, daß sie verdächtigt wurde, Opiate und Amphitamine aus dem Arzneischrank entwendet zu haben. Mittlerweile ist es erwiesen, daß es eine Schwester gewesen ist, aber durch diese Geschichte bekam Geli auch Ärger mit ihrem Freund, der Arzt ist.«

»Hat er ihr mißtraut?«

»Ich weiß nicht, was sich genau abgespielt hat. Geli hat sich nicht ausgesprochen. Es ging wohl auch um das Kind, das er nicht haben will. Ich habe heute versucht, mit Brack zu reden, aber er verhält sich charakterlos.«

»Sagten Sie eben Brack, Frau Lorenz?« fragte Dr. Leitner überrascht.

»Ja, Peter Brack.«

»Und Sie wissen nichts über ihn?«

»Ich bin ja erst vor vierzehn Tagen aus Wien gekommen.«

»Brack wurde die Approbation entzogen, weil er im Drogengeschäft war. Die Beweise reichen anscheinend zu einer Verurteilung noch nicht aus, aber sein Ruf ist runiert.«

»Ich hatte keine Ahnung, und leider hat mir Geli auch nichts gesagt. Es wird ja immer schlimmer. Da könnte Geli arg in der Klemme sitzen.«

»Wenn es bekannt war, daß sie mit Brack liiert ist, könnte sie deshalb in Verdacht geraten sein, die Drogen an sich gebracht zu haben.«

»Jetzt verstehe ich ihre Verzweiflung«, sagte Kirsten leise. »Ich habe auch eine böse Erfahrung gemacht, allerdings in anderer Beziehung. Arbeiten Sie eigentlich noch mir Dr. Norden zusammen?«

»Aber ja, wir sind befreundet, und das Ehepaar Behnisch gehört auch dazu.«

»Es ist schön, wenn eine Freundschaft so beständig ist«, sagte sie leise.

»Frau Möller kann auch von Glück sagen, eine Freundin wie Sie zu haben«, stellte er fest. »Sie denken, daß sie das Kind gar nicht haben will.«

»Doch, sie wollte es haben. Sie würde es nicht abtreiben lassen, das dürfen Sie nicht denken, aber ich denke, es wäre besser, wenn es zu einer Fehlgeburt kommen würde. Sie ist körperlich und seelisch am Ende.«

»Ich kann noch keine Diagnose stellen, Frau Lorenz, aber ich fürchte, daß Ihre Freundin auch andere Tabletten geschluckt hat. Wir müssen sie untersuchen.«

»Und Sie meinen, daß das Kind auf jeden Fall geschädigt sein würde?«

»Das werden wir auch feststellen. Jetzt soll sie erst einmal schlafen.«

»Darf ich bei ihr bleiben?« fragte Kirsten.

»Wenn Sie nichts Bessere vorhaben!«

»Ich habe gar nichts vor.«

»Darf ich fragen, ob Sie in München eine Stellung angenommen haben?«

»Ich habe mich beworben, der Bescheid steht noch aus.«

»Sie haben in Wien als Psychotherapeutin gearbeitet?«

»Nicht nur. Ich habe meine Nase überall hineingesteckt, in der Chirurgie und auf der Internen war ich auch tätig. Ich war wohl zu neugierig. Ich bin dabei badengegangen.«

Dr. Leitner sah sie konsterniert an. »Haben Sie Schwierigkeiten bekommen?«

»Es war mein Fehler, weil ich einem Kollegen zu vertraut habe. Nicht alle Ärzte sind wie Sie, Dr. Norden und diejenigen, die Sie Freunde nennen. Ich habe es nicht glauben wollen, daß es auch unter Ärzten ganz üble Geschäftemacher gibt. Jetzt weiß ich, daß auch Brack dazugehört, und vielleicht sind es mehr, als wir denken.«

»Vielen Dank, daß Sie wenigstens von uns eine bessere Meinung haben.«

Kirsten lächelte flüchtig. »Sonst würde ich meinen Beruf ganz an den Nagel hängen.«

Er schüttelte den Kopf. Das sagte eine, die so leidenschaftlich engagiert gewesen war, die ihr Studium so ungeheuer ehrgeizig hinter sich brachte, die besten Benotungen überhaupt erzielte und ganz schnell praktisch arbeiten wollte, getreu dem Eid, den sie geschworen. Und jetzt, mit noch nicht einmal dreißig Jahren, resignierte sie? Das kann doch nicht sein, dachte er.

*

Während Kirsten nun schon mehr als eine Stunde bei Geli am Bett saß, läutete bei den Nordens das Telefon.

Fee seufzte. Sie hatten es sich zu Hause gemütlich gemacht, mit den Zwillingen gespielt und dann ihre müden Kinder zu Bett gebracht. Nun wollten sie den Abend zu zweit genießen.

»Bleib nur sitzen, ich gehe schon«, sagte Daniel. Er hatte gerade Wein geholt und wollte die Flasche öffnen.

»Schorsch, ist das eine nette Überraschung«, sagte er erfreut. »Wie geht es dir, hast du Zeit, mit uns ein Gläschen zu trinken?« Dann lauschte er.

Fee, die schon beruhigt war, daß es sich nicht um einen Notfall handelte, spitzte die Ohren, als er sagte: »Das ist ja ein irrer Zufall. Wir haben sie nämlich heute nachmittag am Wörthersee gesehen. Nein, gesprochen haben wir nicht miteinander. Sie schien nicht interessiert daran zu sein. Das stimmt mich nachdenklich, Schorsch. Ich komme mal rüber. Fee wird das schon verstehen.«

»Was soll ich verstehen?« fragte sie.

»Stell dir vor, Kirsten Lorenz hat ihre Freundin in die Leitner-Klinik gebracht, die anscheinend einen Selbstmordversuch unternommen hat. Und Schorsch meint, daß Kirsten auch ein Päckchen zu tragen hat. Sie ist noch in der Klinik bei Angela Möller. Hast du was dagegen, wenn ich mal rüberfahre?«

»Du weißt ja, wie neugierig ich bin, also würde ich gern erfahren, was mit Kirsten los ist. Ich hebe dir schon ein Glas Wein auf.«

»Du hast doch nicht etwa die Absicht, die ganze Flasche zu trinken?«

»Es kommt darauf an, wie lange du ausbleibst«, scherzte sie.

»Ich bleibe nicht lange. Ich packe nur die Gelegenheit beim Schopfe, um mir Kirsten genau anzusehen. «

»Aber nicht zu genau«, wurde er geneckt.

Sie bekam einen Kuß, dann ging er. Er hatte es nicht weit zur Leitner-Klinik.

Es war gerade zwanzig Uhr, als er die Klinik betrat.

»Auf solche Weise kommen wir doch mal wieder zusammen«, wurde er von Schorsch empfangen. »Ich weiß ja, daß dir der Sonntag mit der Familie heilig ist. War Fee böse?«

»Sie ist nie böse, das solltest du mittlerweile auch wissen. Also, was ist mit Kirsten?«

»Sie scheint schwer enttäuscht worden zu sein.«

»Von Brack? Das würde mich nicht wundern.«

»Er ist der Freund von Angela Möller, der verflossene Freund, muß man wohl sagen.« Er schilderte Daniel kurz, was er von Kirsten erfahren hatte.

»Wird sie das Kind behalten?« fragte Daniel.«

»Nein, der Fetus ist bereits geschädigt. Ich denke jedoch, daß es bald einen Abortus geben wird. Sie hat Aufputsch- und dann wieder Beruhigungsmittel genommen. Die Blutwerte sind katastrophal. Wahrscheinlich hat sie auch getrunken. Ich weiß nicht recht, wie ich es Kirsten beibringen soll, Daniel? Es besteht anscheinend eine enge Freundschaft zwischen den beiden Frauen.«

»Ich würde gern mit Kirsten sprechen. Aber es soll nicht so aussehen, als ob ich nur ihretwegen hergekommen bin. Kannst du nicht sagen, daß ich nach einer Patientin geschaut habe und so erfuhr, daß sie hier ist?«

»Das bringe ich schon fertig. Ich werde sie gleich holen.«

*

Kirsten war es beklommen zumute, aber sie wollte sich vor Dr. Leitner keine Blöße geben. Er ließ sie gleich mit Daniel allein.

»Wie seltsam, daß wir uns hier treffen«, sagte er. »Aber ich freue mich.«

»Bitte, verzeihen Sie, daß ich am Nachmittag ein Zusammentreffen vermieden habe, aber ich war gerade in einer unangenehmen Diskussion. Sie kennen Brack?«

»Nur flüchtig, aber man hat ja allerhand von ihm gehört.«

»Ich habe ihn erst vor ein paar Tagen kennengelernt. Er war mit meiner Freundin liiert, hat sich aber zurückgezogen, weil sie schwanger ist. Er will das Kind nicht anerkennen. Ich bin froh, daß ich Sie so bald treffen und es richtigstellen kann, warum ich eine Begrüßung mied. Mich regt diese Affäre auf. Ich weiß auch nicht, wie ich Geli helfen kann, anscheinend will sie sich nicht helfen lassen.«

»Sie befindet sich in einer Krise, in einer sehr schweren Krise, aus der sie wohl keinen Ausweg fand. Sie wird das Kind nicht zur Welt bringen müssen, vielleicht hilft ihr das.«

»Ich hatte den Eindruck, daß sie es unbedingt haben will, aber sie war sowieso sehr verändert. Kann man diesen Brack denn nicht aus dem Verkehr ziehen?«

»Als Arzt hat er keine Chance mehr, auch wenn er in die Berufung geht. Es geht doch nicht an, daß Ärzte Patienten erst recht süchtig machen, nur um schnell zu Geld zu kommen. Ich war ehrlich entsetzt, als ich ihn in Ihrer Begleitung sah.«

»Dann bin ich doppelt froh, daß ich das richtigstellen kann.«

»Ja, es wäre schade gewesen, wenn Sie an ihn geraten wären.«

Sie sah Daniel offen an. »Ich bin auch an einen Arzt geraten, der unseren Eid verraten hat. Und dabei mußte ich die Erfahrung machen, daß Selbstdarstellung die Wahrheit in den Schatten stellte. Ich habe Glück gehabt, daß ich mit einem blauen Auge davongekommen bin.«

»Wollen Sie mir nicht sagen, was passiert ist, Kirsten?«

»Es ist anscheinend doch nicht bis hierher gedrungen. Es ging um eine Operation. Der Patient war wohl dem Chef nicht prominent genug, um selbst Hand anzulegen. Er überließ ihn uns. Der Chirurg war Theo Burgmüller, ich assistierte. Der Patient kollabierte nach der Operation. Burgmüller wollte es mir anhängen. Ich hätte ihm eine falsche Injektion gegeben. Es kam schließlich heraus, daß er der Schwester falsche Anweisungen gegeben hatte, die aber ein besonderes Faible für ihn hatte und ihn decken wollte. Es kam schließlich doch heraus, weil auch die Schwester von einer Kollegin, die ihr nicht grün war, beschuldigt wurde.

Ich hatte indessen meine Entlassungspapiere bereits bekommen, und ich wollte dann auch nicht mehr bleiben, als ich darum gebeten wurde. Ich hatte einen Knacks weg.«

»Sie hatten eine persönliche Beziehung zu Burgmüller?«

»Ja, und ich hielt ihn für einen tadellosen Arzt. Ich war in doppelter Hinsicht enttäuscht, weil er mich kaltblütig ans Messer liefern wollte, um seine eigene Haut zu retten.«

»Der Patient ist gestorben?«

Kirsten nickte. Er hätte nicht mehr lange zu leben gehabt. Er hatte Krebs. Aber darum ging es ja nicht, wenn Burgmüller das auch kaltlächelnd als Rechtfertigung angab. So, nun wissen Sie es. Brack will mir die Anstellung, um die ich mich beworben habe, versalzen. Ich frage mich, ob ich in einen Sündenpfuhl geraten bin.«

»Hätten Sie nicht Lust, in der Behnisch-Klinik zu arbeiten, bis Sie Anfechtungen wieder gewachsen sind, Kirsten? Momentan scheinen Sie sehr sensibel zu sein.«

»Ehrlich gesagt, regt mich das alles auf. Geli war immer so ausgeglichen und lieb, und nun plötzlich ist sie völlig am Boden zerstört. Was bringt einen Menschen dazu, seinem Leben selbst ein Ende zu setzen, wenn man doch so viele Möglichkeiten hat, einen neue Weg zu finden.«

»Vielleicht wird sie es Ihnen erzählen.«

»Ich hatte nicht den Eindruck, daß sie zu einer Verzweiflungstat fähig wäre, ich hätte sie doch sonst nie allein gelassen.«

»Haben Sie ihr gesagt, daß Sie mit Brack sprechen wollen?«

»Nein, das habe ich lieber bleiben lassen, um sie nicht auf falsche Gedanken zu bringen.«

»Könnte es nicht sein, daß er ihr von dem Treffen erzählt hat, um sie zu demütigen?«

»Guter Gott, darauf wäre ich nicht gekommen! Zuzutrauen ist ihm alles. Er hat mich tatsächlich belabert, davon geredet, daß ich sein Leben verändern könnte. Er ist so ein Typ, der wahrscheinlich jeder Frau so was einflüstert, aber ich habe das sowieso nicht geglaubt. Er wurde wütend, weil ich ihn zurückwies. Ich glaube, in bezug auf Männer muß ich noch viel lernen, obgleich ich doch eigentlich alt genug bin, um sie gleich richtig einzuschätzen.«

»Manche Menschen können sehr überzeugend sein, Kirsten. Auch ich lasse mich manchmal noch täuschen. Überlegen Sie sich, ob Sie sich mal mit Dieter und Jenny Behnisch unterhalten wollen. Die Klinik ist ganz modern, und für die gute Atmosphäre garantiere ich. Ab Montag wird sich dort ein Patient von mir befinden, der mir sehr am Herzen liegt und der psychologische Betreuung nötig haben wird.«

»Was mich selbst gleichzeitig aufmöbeln würde, meinen Sie? Sie sind ein guter Menschenkenner, Daniel Norden.«

»Sagen Sie mir Bescheid, Kirsten, oder setzen Sie sich gleich morgen mit den Behnischs in Verbindung. Sie sind derzeit sehr im Druck.«

»Ich muß mich doch auch um Geli kümmern.«

»Man könnte sie ja unter Umständen in die Behnisch-Klinik verlegen, wenn der Abortus abgeschlossen ist.«

»Sie denken gleich an alles«, lächelte Kirsten.

»Manchmal«, sagte er mit einem leisen Lachen. »Es war gut, mit Ihnen zu sprechen. Fee wird auch zufrieden sein. Wir haben uns tatsächlich Gedanken gemacht, als wir Sie mit Brack gesehen haben.«

»Wenn ich nur gleich vor ihm gewarnt worden wäre, aber Geli hat ihn ja immer noch in Schutz genommen. Sie hat nur nicht verstanden, daß er das Kind nicht haben wollte. Aber ich weiß jetzt, daß er auch zu den Männern gehört, die jede Verantwortung ablehnen. Ich weiß nicht, warum die nettesten Mädchen oft an die miesesten Burschen geraten.«

»Weil sie immer das Gute im Menschen suchen«, sagte Daniel Norden, »und so werden sie ausgenutzt, weil miese Männer das leicht durchschauen.«

Kirsten überlegte ein paar Sekunden. »Meinen Sie, daß die Behnischs mich nehmen würden?«

»Ohne Bedenken.«

*

»Das wird doch schwieriger, als ich dachte«, sagte Dr. Dieter Behnisch zu seiner Frau Jenny. »Schau dir mal die Röntgenaufnahmen an, Jenny. Da hat sich eine ganz beträchtliche Geschwulst gebildet.«

»Aber die Blutuntersuchung ist doch recht ordentlich«, meinte sie. »Die inneren Organe sind gesund. Das EKG zeigt kleine Unregelmäßigkeiten, die aber nicht gravierend sind.«

»Aber der Tumor hat sich an einem kritischen Punkt gebildet, und Derksen scheint selbst auch skeptisch zu sein.«

»Sieh nicht gleich schwarz, Dieter.«

»Er ist ein so netter Mensch. Es geht mir nahe, wenn so ein anständiger Mann möglicherweise an einem fatalen Sturz zugrunde gehen muß, während Schlawiner, die nur zerstören können, nicht die kleinsten Wehwehchen haben.«

»Wie heißt es doch, dieses seltsame Wort: Wen der Herrgott liebt, den züchtigt er.«

»Ich weiß schon, warum ich diese Bibelsprüche nicht ausstehen kann«, sagte Dieter. »Ich muß noch mit Daniel sprechen, ob er bei der Operation dabeisein kann.«

»Du denkst, daß sie lange dauern kann.«

»Zweifellos.«

»Dann müßte er seine Sprechstunde verlegen. So Hals über Kopf geht das doch nicht.«

»Ich werde erst am Mittwoch operieren. Ich brauche noch ein paar Tests.« Jenny warf ihm einen schrägen Blick zu. »Das wird Derksen aber sicher nicht gefallen«, meinte sie.

»Ich werde es ihm schon erklären.«

Da läutete das Telefon. »Hallo, Daniel«, rief Jenny aus, »haben deine Ohren so geklungen, daß du ahntest, daß wir über dich reden?«

»Wegen Derksen?« fragte Daniel sofort.

Dieter erklärte ihm, was er auf dem Herzen hatte. Daniel hörte zu.

»Ich weiß jemand, der besser assistieren könnte«, sagte er dann. »Wenn es zu machen ist, redet mal mit Kirsten Lorenz. Sie ist auf Stellungssuche.«

»Kirsten Lorenz«, staunte Dieter, »sie war doch in Wien.«

»Und jetzt ist sie wieder hier. Ich hatte vorhin ein langes Gespräch mit ihr. Ich will ihr auch nicht vorgreifen, aber es schien mir, als wäre sie schon interessiert, bei euch auszuhelfen.«

»Dann kann ich nur hoffen, daß sie mitzieht«, sagte Dieter. »Wir sind arg im Druck, und bei Derksen möchte ich wirklich mein Bestes geben.«

»Das tust du zwar immer, aber ich verstehe dich schon«, sagte Daniel. Und dann sprach er auch noch über Angela Möller und Peter Brack.

»Der ist weg vom Fenster, aber um Geli Möller ist es schade. Sie war eine erstklassige Laborantin. Das weiß ich von Hanno Schmiedel. Es passiert leider allzuviel durch diese verkorksten Typen wie Brack. Sie haben zuviel Chancen bei den Frauen.«

Jedenfalls waren sie sich wieder mal einig, wie meistens. Es passierte ganz selten, daß sie mal geteilter Meinung waren. Dann ging es um Grenzfälle, bei denen Dieter für sofortige Operation war, Daniel aber für eine andere Behandlung plädierte.

Als Daniel sich wieder zu Fee setzte, seufzte sie tief. »Das war mal wieder ein ereignisreiches Wochenende«, meinte sie.

»Was an einem einzigen Tag alles passieren kann«, meinte Daniel, »man sollte es wahrlich nicht für möglich halten.«

*

Am Montagmorgen rief Kirsten in der Behnisch-Klinik an. Jenny schlug ihr vor, doch gleich persönlich zu kommen, sie wären schon von Daniel Norden vorbereitet.

Bei Geli konnte sie nichts ausrichten. Sie war zwar kurz zum Bewußtsein gekommen und hatte Kirsten wohl auch erkannt, aber sie konnte nicht mal erfahren, daß sie das Kind nicht bekommen würde. Die Fehlgeburt hatte sie zusätzlich geschwächt, aber sie war danach auch ruhiger geworden und schlief nun.

Kirsten blieb erst einige Minuten vor der Behnisch-Klinik stehen, und der Gedanke, hier vielleicht arbeiten zu können, beflügelte sie förmlich.

Als sie vor Dr. Behnischs Zimmer wartete, wurde Frank Derksen gerade im Rollstuhl von dort zur Station gebracht. Kirstens und sein Blick waren sich kurz begegnet. Sie hatte dabei ein eigenartiges Gefühl.

Irgendwie paßte dieser Mann nicht in einen Rollstuhl.

Von Dieter und Jenny Behnisch wurde sie herzlich begrüßt. Man kannte sich von früher, bevor Kirsten als ganz junge Ärztin nach Wien gegangen war. Sie hatten sich auf dem Chirurgenkongreß kennengelernt, und durch ihren gemeinsamen Bekannten Dr. Norden waren sie sich schnell nähergekommen.

Zweifel, daß Kirsten alles an medizinischen Kenntnissen mitbrachte, was gebraucht wurde, gab es nicht. Das Arztehepaar konnte feststellen, daß sie auch eine selbstbewußte junge Frau geworden war.

Sie sprachen über die Operation an Frank Derksen, und ohne daß sein Name erwähnt wurde, hatte es Kirsten im Gefühl, daß es sich um den Mann im Rollstuhl handelte.

Sie betrachteten gemeinsam die Röntgenbilder. Kirsten war ganz konzentriert.

»Wir hatten in Wien einen ähnlichen Fall«, erklärte sie. »Es stellte sich aber heraus, daß es sich um ein Hämatom handelte, das eine Knochenwucherung umgab. Es wurde mitsamt dem lädierten Gelenk entfernt und dem Patienten wurde ein künstliches Hüftgelenk eingepflanzt.«

»Gab es Komplikationen?« fragte Jenny.

»Nein, allerdings muß man sehr bedacht sein, daß der Operationsherd frei von jeder Entzündung ist. Wodurch ist das entstanden?«

»Durch einen Skiunfall.«

»In diesem Winter?« fragte Kirsten.

Das wurde ihr bestätigt.

»Dann muß, meines Erachtens nach, da schon vorher eine Verletzung vorgelegen haben. Hat sich der Patient dazu geäußert?«

»Daran hat bisher niemand gedacht«, erwiderte Dieter. »Sie können Dr. Derksen ja befragen, dann machen Sie sich gleich mit ihm vertraut.«

»Gern, aber vorher wollte ich Sie noch wegen meiner Freundin Geli fragen. Würden Sie sie hier aufnehmen, damit ich sie mit unter Kontrolle habe?«

»Daniel Norden hat es schon angedeutet. Dem steht nichts im Wege, wenn der Gynäkologe seine Arbeit getan hat.«

»Die ist bereits getan«, erklärte Kirsten.

»Und Sie sind daran interessiert, hier zu arbeiten?«

»Wenn Sie mich nehmen wollen?«

Das wurde durch einen Handschlag besiegelt, und Jenny geleitete Kirsten zu Dr. Derksen.

Er saß am Fenster und schien ganz in Gedanken versunken.

»Darf ich Sie mit unserer neuen Mitarbeiterin Dr. Lorenz bekannt machen, Dr. Derksen«, sagte Jenny.

Frank Derksens Gesicht verriet keine Gefühlsregung, aber sein Blick ruhte jetzt intensiv auf Kirsten.

»Sehr erfreut«, sagte er. Es war nur die übliche Floskel, aber irgendwie klang es ehrlich.

»Frau Dr. Lorenz würde sich gern mit Ihnen über die bevorstehende Operation unterhalten. Sie ist Chirurgin und Psychotherapeutin.«

Jetzt war er sichtlich erstaunt. Aber er bewies auch, daß er um Worte nicht verlegen war.

»Ich bin für jede Unterhaltung dankbar«, erklärte er.

Jenny nickte Kirsten aufmunternd zu und verließ das Krankenzimmer.

»Bitte, setzen Sie sich doch«, sagte Frank. »Und was möchten Sie von mir hören?«

»Das werde ich Ihnen gleich erklären. Ich habe die Röntgenbilder gesehen und die Vermutung geäußert, daß Sie an dieser Hüfte schon früher mal eine Verletzung gehabt hätten. Können Sie das bestätigen?«

Er lächelte flüchtig. »Da muß ich aber erstmal überlegen. Ich war sehr sportlich, schon als Schüler. Da hat es schon öfter mal Karambolagen gegeben. Natürlich gab es auch Blutergüsse, aber ohne schmerzhafte Folgen. Zumindest waren sie schnell vergessen!

»Nicht so, daß Sie mal Schmerzen bis ins Bein spürten?«

Er versank in Nachdenken. »Doch, da Sie mich jetzt daran erinnern. Beim Segeln schlug mir mal der Baum an die Seite, als ein kräftiger Wind aufkam. Ich habe es beim Treppensteigen gemerkt, aber schon lange nicht mehr daran gedacht. Es ist fast zwanzig Jahre her.«

»Und die Schmerzen gingen dann wieder weg.«

»Ja, so war es, aber wenn ich später mal was spürte, habe ich es nicht auf diesen Vorfall zurückgeführt. Ich habe Tennis gespielt und schwimme gern, und im Winter natürlich das Skifahren. Da hat es mich heuer schwer erwischt. Mir ist so ein Raser direkt über die Bretter gefahren und hat mir dann auch noch seinen Stock in die Seite gebohrt. Es hat arg weh getan, als ich wieder bei Bewußtsein war. Mehr kann ich Ihnen aber nicht sagen.«

»Das ist doch schon eine ganze Menge«, meinte sie lächelnd. »Ich habe in Wien mit einem ähnlichen Fall zu tun gehabt, deshalb bin ich nur darauf gekommen, daß schon früher mal eine Verletzung gewesen sein könnte. Das habe ich dann mit Herrn und Frau Dr. Behnisch besprochen.«

»Es handelt sich mit größter Wahrscheinlichkeit um eine Knochenwucherung mit einem Hämatom. Dem Patienten in Wien wurde das Gelenk mitsamt der Geschwulst herausgenommen und dann durch ein künstliches Hüftgelenk ersetzt.«

»Und damit kann man leben?«

»Natürlich. Was meinen Sie, wie viele Menschen mit künstlichen Gelenken leben.«

»Normal laufen kann ich damit dann auch?«

»Besser als jetzt.«

»Können Sie mir das versprechen? Ich bin sehr skeptisch.«

»Komplikationen sind nie ganz auszuschließen, aber es müßte sich schon bei der Operation etwas herausstellen, was nicht vorauszusehen war, das uns dann vor Probleme stellt. Sie sehen, ich bin ehrlich, aber ich denke, Sie sind ein Mann, der Bescheid wissen will.«

»Das haben Sie erfaßt.«

»Und da Sie ja noch Jahrzehnte vor sich haben, werden Sie mithelfen, damit der Heilungsprozeß nicht gefährdet wird.«

»Ich habe noch nicht die Absicht, den Löffel aus der Hand zu legen. So würde es mein Bruder sagen. Und schließlich muß ich mich auch überzeugen, ob er zu seinem Wort steht.«

»Dr. Behnisch?« fragte sie.

»Nein, mein Bruder Jürgen, der es mit ernsthafter Arbeit bisher nicht hielt, mich jetzt aber vertreten soll, gemeinsam mit meiner Assistentin Franzi Buchholz. Sie soll übrigens jederzeit Zutritt zu meinem Zimmer haben.«

Und sicher ist sie mehr für ihn als eine Assistentin, dachte Kirsten, und sie ärgerte sich, weil es ihr nicht so recht gefiel. Sie fühlte sich auf eine eigenartige Weise zu diesem Mann hingezogen, und wenn er sie ansah, hatte sie das Gefühl, daß es auf Gegenseitigkeit beruhte. Dabei hatte sie sich doch ganz fest vorgenommen, sehr, sehr vorsichtig in bezug auf Männer zu sein.

Als sie sich nun erhob, streckte er ihr die Hand entgegen. »Es war mir wirklich eine echte Freude, Sie kennengelernt zu haben, und ich hoffe, daß Sie mir noch öfter Gesellschaft leisten.«

»Am Mittwoch werden Sie operiert, das wurde Ihnen ja wohl schon gesagt.«

»Ja, es wurde mir gesagt. Sehe ich Sie heute noch?«

»Ich muß mich jetzt um eine andere Patientin kümmern, aber ich komme gegen Abend noch einmal zu Ihnen. Nachmittags werden Sie wohl Besuch bekommen.«

»Nein, vor der Operation will ich keinen Besuch haben. Jürgen und Franzi haben sowieso genug zu tun. Ich werde jetzt ein wenig ruhen. Das bin ich tagsüber gar nicht mehr gewohnt.«

»Jetzt werden Sie daran gewöhnt«, sagte sie mit einem tiefen Lächeln.

*

Jürgen hatte eine Franzi kennengelernt, die alles Zeug zum Boß hatte. Er kam sich direkt jämmerlich vor, aber es war ihm ein Ansporn, nicht so in ihren Augen zu erscheinen.

Franzi amüsierte sich ein bißchen, wie sehr er sich bemühte, alles richtig zu machen, wußte sie doch genau, daß es schon eine Zeit brauchte, um sich mit der Materie vertraut zu machen. Aber sie kehrte nicht die Lehrmeisterin heraus. Sie war froh, daß sie so gut mit ihm auskam, denn sie fand ihn richtig nett.

»Wie kann man nur so jung und schon so tüchtig sein«, stellte er seufzend fest, als sie mal eine kurze Essenspause einlegten.

»Ich hatte irrsinniges Glück, zu Dr. Derksen zu kommen. Mir hat die Arbeit gleich Spaß gemacht. Hätte ich einen Chef gehabt, der den Boß herausgekehrt und mich herumkommandiert hätte, wäre ich wohl nicht so bei der Sache gewesen. Dr. Derksen konnte ich alles abschauen, er war ein leuchtendes Vorbild.«

»Und ich dachte immer, daß ich ihm sowieso nie das Wasser reichen könnte und habe mich aufs Bummeln verlegt. Ich schäme mich.«

»Es ist ja nicht zu spät«, meinte sie nachsichtig. »Ich denke schon, daß der Boß Ihnen eine Menge zutraut. Entschuldigen Sie bitte, ich muß mal telefonieren.«

»Rufen Sie Frank an?«

»Nein, Dr. Norden, wegen meiner Mutter.«

Dr. Norden war nun wirklich überrascht, daß Waltraud Buchholz sich doch entschlossen hatte, ins Sanatorium zu gehen und sogar auf die Insel der Hoffnung.

»Wenn es nicht zu teuer wird«, räumte Franzi ein bißchen zaghaft ein.

»Darüber machen Sie sich mal keine Gedanken. Es kommt ja wie gerufen, daß sie jetzt einsichtig wird. Sie haben doch bestimmt jede Menge Arbeit, solange Dr. Derksen in der Klinik ist.«

»Sein Bruder ist ganz tüchtig«, erklärte sie.

»Das freut mich. Er ist nämlich im Grunde ein netter Kerl.«

»Das habe ich auch schon festgestellt. Er ist nicht arrogant und lernt schnell.«

Was ist das für eine tüchtige kleine Person, dachte Dr. Norden. Sie wäre doch die richtige Partnerin für Derksen.

»Es wird doch hoffentlich alles gutgehen bei der Operation, Herr Dr. Norden«, sagte Franzi besorgt.

»Machen Sie sich keine Gedanken, Franzi. Er wird wieder gesund. Und Ihre Mutter lassen wir bald zur Insel bringen. Ich arrangiere das. Sie wollen doch sicher nicht bis zum nächsten Wochenende warten.«

»Es wäre für mich schon eine große Entlastung, wenn sie bald hingebracht werden könnte.«

»Sagen wir Mittwoch. Ich bestelle einen Krankenwagen, da hat sie es ganz bequem und ein Sanitäter ist auch dabei.«

Würden sie es ihr sagen? Auf Sie hört sie am ehesten. Man weiß ja nie, ob sie es sich nicht wieder anders überlegt hat.«

Aber das war nicht der Fall. Waltraud Buchholz war ganz begeistert, daß sie zur Insel der Hoffnung gebracht werden sollte. Und das schon am Mittwoch. Franzi konnte am Abend schon anfangen, ihre Sachen herzurichten. Obgleich sie sehr müde war, wurde sie von dem Gedanken beflügelt, daß sie ein paar Wochen mal ein Eigenleben haben konnte. Sie stellte ja keine großen Ansprüche, sie wollte abends nur mal ihre Ruhe haben und nicht auch noch hin und her gezerrt werden.

»Ist Dr. Derksen schon operiert?« fragte Waltraud, als Franzi zu ihr ans Bett kam.

»Erst am Mittwoch.«

»Das ist sicher ein guter Tag, ich werde ihm in Gedanken das Beste wünschen. Und du sagst mir dann auch Bescheid, wie es ihm geht, Franzi.«

»Dir wird es gutgehen, Mutter, ich bin froh darüber. Es wird dir bestimmt gefallen.«

Franzis Gedanken waren bei Frank Derksen. So ganz wurde sie die Angst nicht los, daß es Komplikationen geben könnte. Sie hätte ihn anderntags am liebsten besucht, aber er hatte ausdrücklich gesagt, daß vor der Operation niemand kommen solle.

*

Kirsten hatte ihn noch einmal aufgesucht, als sie von Geli gekommen war. Sie war niedergeschlagen, weil Geli gesagt hatte, warum man sie nicht hätte sterben lassen. Sie hätte mit dem Leben abgeschlossen.

Ihre Fehlgeburt, von der sie kaum etwas gemerkt hatte, nahm sie regungslos hin. Als Kirsten sie dann aber fragte, was sie alles für Tabletten geschluckt hätte, wurde sie aggressiv, und dann warf sie Kirsten vor, daß sie sich an Peter Brack herangemacht hätte.

»Jetzt will ich dir mal etwas in aller Ruhe sagen, Geli, dieser Kerl widert mich an. Ich wollte ihn deinetwegen sprechen, aber das habe ich bitter bereut. Er ist so falsch und verlogen, daß du mir nur leid tun kannst, wenn du noch einen Gedanken an ihn verschwendest. Du hast soviel für ihn aufgegeben, jetzt gib dich nicht auch noch selbst auf. Und komm jetzt ja nicht wieder damit, daß er ein armes Opfer von mißgünstigen Kollegen ist. Hätte ich nur vorher die ganze Wahrheit gekannt, hätte ich kein Wort mit ihm gesprochen.«

Geli hatte nichts mehr gesagt. Kirsten wußte nicht, was sie dachte, ihr Gesicht war wie eine leblose Maske.

Ob sie sich jemals in ein normales Leben zurückfinden wird, ging es Kirsten durch den Sinn, als sie zur Behnisch-Klinik fuhr, um Frank Derksen den versprochenen Besuch zu machen.

Als sie an seinem Bett saß, wurde sie ruhiger.

»Haben Sie Kummer?« fragte Frank sanft.

»Ich hatte ein Gespräch, das mich betroffen macht«, gab sie zu. »Es ist seltsam, daß ein Mensch, den man genau zu kennen glaubte, sich so verändern kann.«

»Ist es ein Mann?« fragte er stockend.

»Nein, meine Freundin. Sie war sehr krank. Sie wollte aus dem Leben scheiden. Ich kann es nicht begreifen. Sie war so tüchtig, so lebensfroh, bis sie diesen Mann kennenlernte. Entschuldigen Sie, ich sollte darüber nicht reden.«

»Warum nicht? Für mich ist es ein Zeichen, daß Sie mir vertrauen und das freut mich. Liebe geht oft seltsame Wege.«

Ihm wurde es erst im Nachhinein bewußt, daß man dies auch doppelsinnig auslegen könnte, aber Kirsten blieb unbefangen.

»Für mich ist es schlimm, weil es sich bei dem Mann um einen Arzt handelt, der auf die schiefe Bahn gekommen ist. Und da er nicht mehr Arzt sein darf, nehme ich an, daß er sich bei Geli einnisten wollte. Sie hatte ein gutes Einkommen und ist auch von Haus aus nicht unvermögend. Es geht mir einfach nicht aus dem Sinn, was sich da abgespielt hat.«

Geli hätte es ihr erzählen können. Sie hatte jetzt wieder einen halbwegs klaren Kopf, nachdem sie über Kirstens Worte nachgedacht hatte.

Sie erinnerte sich genau an diesen Tag, an dem sie Peter gesagt hatte, daß sie schwanger sei. Sie war von der Untersuchung gekommen, auch nicht gerade himmelhochjauchzend, und Peter hatte es sich in ihrer Wohnung schon gemütlich gemacht. Er saß vor dem Fernsehapparat, hatte eine Flasche Wein neben sich stehen und belegte Brote auf dem Teller.

»Du bist ja schon da«, sagte er mürrisch. »Jetzt meckere bloß nicht gleich wieder, weil ich mir eine Flasche Wein geholt habe.«

»Ich meckere nicht. Wir haben Grund zu feiern. Wir werden ein Kind bekommen, Peter.«

Sie hatte diese Szene jetzt deutlich vor Augen, wie er aufsprang, sie mit funkelnden Augen anstarrte. »Sag das noch mal«, schrie er, und sie erstarrte.

»Ich bin schwanger«, sagte sie betont.

»Du bist verrückt, das kannst du nicht mit mir machen. Was sollen wir mit einem Kind? Man hat mich meiner Existenz beraubt. Ich muß erst mal sehen, wie ich weiterkomme.«

»Das weißt du doch genau, mit Drogenhandel. Ich weiß es. Ich wollte es nie wahrhaben, aber ich brauche dich jetzt nur anzusehen, um zu wissen, daß du auch schon Aufputschmittel nimmst.« Ein schrecklicher Streit folgte, und dann war er erstmal für eine Zeit verschwunden. Das war jetzt vier Wochen her, und in diesen vier Wochen war auch ihr so übel mitgespielt worden, daß sie immer öfter zu den Tabletten griff, die Peter bei ihr deponiert hatte.

Kirsten hat ja recht, dachte sie jetzt. Ich habe mich selbst ruiniert, weil ich blind war, blind sein wollte. Sie dachte eine ganze Zeit nach, und dann begriff sie endlich, daß sie das Kind verloren hatte.

Wenig später kam Dr. Leitner. Er nahm ihre Hand, seine gütigen Augen ruhten auf ihr. »Ich muß Ihnen etwas sagen, Geli«, sagte er väterlich.

»Ich weiß es schon. Kirsten hat mir gesagt, daß ich eine Fehlgeburt hatte.«

»Das Kind wäre behindert gewesen«, erklärte er leise. »So hat die Natur den Arzt ersetzt. Sie sollten jetzt nur an Ihre Genesung denken.«

»Meinen Sie, daß ich noch Freude am Leben haben kann, aller Illusionen beraubt, gedemütigt, aus der Bahn geworfen.«

»So denken Sie jetzt, aber Sie haben es doch in der Hand, einen neuen Weg zu finden, eine neue Stellung, und vielleicht auch einen Mann, auf den Sie sich verlassen können.«

Ein bitterer Zug bog ihre Mundwinkel abwärts. »Sogar meine beste Freundin, meine einzige Freundin habe ich vor den Kopf gestoßen…«

»Sie wird es Ihnen verzeihen, Geli.«

Tränen lösten sich aus ihren Augenwinkeln. »Ich werde viel Mut und Kraft brauchen, wenn ich dieses Dilemma überwinden will.«

»Aber Sie haben noch eine Chance bekommen. Morgen werden Sie zur Behnisch-Klinik gebracht. Dort wird sich manche Gelegenheit zu Gespräche mit Kirsten bieten. Ihr sind auch Steine in den Weg geworfen worden, aber sie richtet den Blick nach vorn. Nehmen Sie sich daran ein Beispiel.«

»Es wird nicht einfach sein, aber ich werde es versuchen«, murmelte sie.

*

Kirsten hatte mit Dieter und Jenny Behnisch über Geli gesprochen und sich bei ihnen bedankt, daß sie damit einverstanden waren, Geli in der Klinik aufzunehmen.

»Hier wird sich Brack nicht hineinwagen«, meinte Dieter Behnisch spöttisch.

»Ich glaube auch nicht, daß er beabsichtigt, sich um Geli zu kümmern«, meinte Kirsten sarkastisch.

Peter Brack hatte es sich in Gelis Wohnung bequem gemacht. Er hatte ja einen Schlüssel, und er hatte auch gleich in Erfahrung gebracht, daß sie zur Leitner-Klinik gebracht worden war. Da er nichts von dem Selbstmordversuch wußte, nahm er an, daß sie eine Fehlgeburt hatte. Das konnte ihm nur recht sein.

Lebensmittel waren noch vorhanden, aber er suchte vergebens nach Geld, ihrem Scheckheft und den Scheckkarten, die Kirsten wohlweislich mitgenommen hatte. Gegenstände von größerem Wert besaß Geli nicht. Er fand nichts, was sich lohnte, zu Geld zu machen. Also mußte er sich wieder auf seine Geschäfte konzentrieren. Peter war sich noch immer nicht bewußt, wie tief er schon gesunken war, da er dazu neigte, immer nur anderen die Schuld zu geben, wenn bei ihm etwas schiefging.

Die Abfuhr, die ihm von Kirsten erteilt worden war, hatte er nicht vergessen, und er überlegte ständig, wie er ihr das heimzahlen könnte. Er wartete jedoch vergeblich auf ihr Kommen. Sie schien sich tatsächlich eine andere Wohnung gesucht zu haben.

Zu Ärzten hatte Peter keine Verbindung mehr. Seine Versuche, Kontakte aufzunehmen, waren kläglich gescheitert, da niemand mehr etwas mit ihm zu tun haben wollte.

Immerhin hatte er ein Dach über dem Kopf, und er war überzeugt, daß Geli ihn nicht wegschicken würde, wenn sie zurückkam.

Geli war nun in der Behnisch-Klinik. Sie hatte sich gleich bei Kirsten entschuldigt.

»Es ist schon gut, Geli«, sagte Kirsten, »du warst ja noch völlig verwirrt.«

»Dann kündigst du mir nicht die Freundschaft auf?«

»Ich wäre eine schlechte Freundin, wenn ich das täte, und du siehst doch, daß ich mich um dich kümmern will.«

»Du wirst hier tätig sein?«

»Ja, es war wie ein Geschenk des Himmels. Daniel Norden hat das vermittelt, und ich bin glücklich, mich nicht erst an Fremde gewöhnen zu müssen.«

»Meinst du, daß ich noch mal eine Stellung finden werde?«

»Mit deinen Kenntnissen? Das ist doch wohl klar.«

»Wenn ich nur Peter nicht mehr begegnen müßte. Er hat einen Schlüssel zu meiner Wohnung, Kirsten. Er wird davon Gebrauch machen. Freiwillig wird er mir den Schlüssel nicht zurückgeben.«

»Wir werden uns etwas einfallen lassen. Verlaß dich auf mich.«

»Ich will aber nicht, daß du Schwierigkeiten bekommst.«

»Mach dir darüber keine Gedanken. Versprichst du mir jetzt, nicht mehr Trübsal zu blasen?«

»Ich werde mir Mühe geben.«

Einfach wird es wohl nicht sein, dachte Kirsten. Sie ging zu Frank Derksen, der nun schon auf die Operation vorbereitet wurde. Es war immer besser, wenn man sich dafür Zeit nehmen konnte, damit auch die psychische Einstellung des Patienten positiv gestärkt wurde. Frank ließ sich sehr gern von Kirsten erklären, wieviel er selbst dazu beitragen konnte, damit die Operation ein voller Erfolg würde.

»Viele Menschen neigen dazu, alles schlimmer zu sehen, als es sein müßte«, sagte sie. »Und durch diese negative Einstellung wird das Immunsystem geschwächt. Der Lebenswille muß vorhanden sein, nicht der Gedanke, daß etwas schiefgehen könnte, weil man ja schon so oft gelesen und gehört hätte, was bei Operationen alles passiert.«

»Ich muß gestehen, daß ich mich damit noch nie beschäftigt habe. Der Bereich Medizin war für mich immer tabu. Jetzt werde ich mich mehr dafür interessieren, damit wir auch darüber reden können. Darf ich hoffen, daß Sie mir auch nach der Operation, wenn ich in mein Alltagsleben zurückkehre, Gelegenheit geben, mich mit Ihnen zu unterhalten?«

Feine Röte stieg in ihre Wangen. »Sehen Sie, das ist schon eine positive Einstellung, wenn Sie an die Zukunft denken, Herr Derksen.«

»Und wie ich daran denke«, sagte er leise. »Wenn ich aus der Narkose aufwache, möchte ich in Ihre Augen sehen. Sie haben wunderschöne Augen.«

*

Fast zur gleichen Zeit stellte Jürgen fest, daß auch Franzi wunderschöne Augen hatte. Aber er sprach es nicht aus. In ihm war während dieser kurzen Zeit eine große Veränderung vor sich gegangen, und das ging vor allem auf Franzis Konto.

Er war es immer gewohnt gewesen, daß Mädchen und Frauen ihn anhimmelten.

Franzi tat das nicht. Sie war freundlich und nett, aber auch sehr sachlich. Für sie war es in erster Linie wichtig, daß alles so lief, wie Frank es gewohnt war, aber sie stellte mit Genugtuung fest, daß auch Jürgen sich sehr bemühte.

»Würden Sie heute abend mit mir essen, Franzi?« fragte er, ihr feines Profil betrachtend.

»Geht leider nicht, ich muß noch für meine Mutter einiges richten. Sie wird morgen zur Insel der Hoffnung gebracht. Dann hätte ich schon mal Zeit«, erwiderte sie, denn vor den Kopf stoßen wollte sie ihn nicht.

»Insel der Hoffnung, das klingt gut«, sagte er gedankenvoll.

»Ja, ich setzte auch meine ganze Hoffnung darauf, daß meine Mutter wieder Auftrieb bekommt. Sie ist sehr schwierig und hält mich ganz schön in Atem.«

»Dann können Sie wohl selten ausgehen.«

»Überhaupt nicht, wenn sie zu Hause ist. Wer versorgt eigentlich Sie und das Haus?«

»Frau Lania, sie ist eine sehr nette Griechin.«

»Ja, das weiß ich, aber gibt es sonst kein weibliches Wesen, das sich um Sie kümmert?«

Es war wirklich blanke Neugier, die sie bewog, diese Frage zu stellen, denn Jürgen Derksen war ja dafür bekannt, daß er viele Freundinnen hatte.

Es war ja die Sorge seines älteren Bruders, daß er sich zu sehr verzettelte.

»Ich habe keine Freundin, wenn Sie das wissen wollen«, erwiderte er mit einem hintergründigen Lächeln. Sie wurde rot.

»Ich möchte nur keinen Ärger bekommen, falls wir wirklich mal zusammen essen«, erklärte sie schlagfertig.

»Sie bekommen keinen Ärger, das verspreche ich Ihnen. Ich habe noch nie einer Frau Rechte an mir eingeräumt, und jetzt habe ich einen Schlußstrich unter meine wilden Jahre gemacht, die gar so wild auch nicht waren.«

»Das wird den Boß freuen. Er mag Sie nämlich sehr.«

»Er hat mit Ihnen über mich gesprochen?«

»Nicht viel, aber ich weiß, daß er sich Gedanken gemacht hat, daß Sie Ihre Begabungen nicht nützen.«

»Ich habe tatsächlich viel Zeit nutzlos verplempert«, gab Jürgen offen zu. »Es wird jetzt anders, Franzi.«

»Der Anfang ist ja schon erfolgversprechend gemacht«, sagte sie anerkennend.

»Vielen Dank für das Lob, Franzi. Aus Ihrem Mund freut es mich besonders. Sie sind so wahnsinnig tüchtig, daß ich mich noch sehr bemühen muß.«

»Ich bin es dem Boß schuldig, daß alles so perfekt wie nur möglich weitergeht. Ich habe ihm unendlich viel zu verdanken.« Ich werde Frank nie das Wasser reichen können, auch in ihren Augen nicht, dachte Jürgen.

*

Frank wurde um sieben Uhr dreißig in den OP geschoben.

Kirsten war bei ihm. Sie sollte die Anästhesie überwachen.

Er sah sie noch einmal an, bevor sein Bewußtsein schwand und dieser Blick verursachte ihr Herzklopfen.

Dieter Behnisch war fertig zur Operation und voll konzentriert. Er tauschte noch einen Blick mit seiner Frau, dann sah er Kirsten an. »Wir können beginnen«, sagte er.

Kirsten bewunderte die Sicherheit, mit der Dr. Behnisch den Schnitt ausführte, genau berechnet, um die Narbe so klein wie nur möglich zu halten. Sie schloß kurz die Augen, als er den Operationsherd freilegte, atmete dann aber tief durch, als er sagte: »Das sieht ja besser aus, als ich dachte.«

Kirsten sah und hörte dann, daß ein Chirurg doch nie vor Überraschungen gefeit sei und man sich auch nicht immer auf Röntgenbilder verlassen könne. Eingeklemmte Nerven waren schwer zu erkennen. Eine Geschwulst konnte man auch erst richtig einschätzen, wenn man sie mit bloßem Auge sehen konnte und daß die Bandscheibe und das Beckenbindegewebe im Zusammenhang mit dieser Hüftgelenkverletzung stehen würden. Es ging an Kirstens Ohren vorbei, da ihr ganzes Augenmerk auf Frank gerichtet war, auf den Herzschlag, den Blutdruck.

Sie hoffte, daß keine Nachnarkose nötig ein würde, denn der Blutdruck sank ab.

»Es ist geschafft«, sagte Dieter Behnisch, nachdem er die Geschwulst entfernt hatte. »Wir brauchen kein anderes Hüftgelenk. Der Tumor wird histologisch untersucht, aber ich halte ihn für gutartig. Die Therapie des Patienten wird Ihnen überlassen, Kirsten.«

Jenny hängte die Infusion an. Endlich war Kirsten wieder ganz gegenwärtig. »Das haben Sie großartig gemacht«, sagte sie leise.

»Freut mich, daß Sie zufrieden sind«, lachte Dieter Behnisch. »Ich denke, unser Patient wird auch zufrieden sein.«

Frank war schon zwei Stunden später wieder wach, und Kirsten war bei ihm.

»Es ist alles gutgegangen«, sagte sie weich. »Sie brauchen keine künstliche Hüfte.«

»Wieso?«

»Das wird Ihnen Dr. Behnisch später genau erklären.«

»Was war es denn nun eigentlich?«

»Eine Geschwulst.«

»Bösartig?«

»Nein«, erwiderte sie mit fester Stimme, und sie war davon überzeugt.

»Sie haben sich doch zu viele Gedanken gemacht.«

»Das muß man, um den Tatsachen ins Auge sehen zu können.«

»Tatsache ist, daß solche Gedanken überflüssig waren.«

Er tastete nach ihrer Hand. »Ich bin ja so froh«, flüsterte er, dann schlief er wieder ein.

Sie betrachtete ihn. Vor ein paar Tagen noch ein Fremder und ihr jetzt schon so vertraut. Sie fühlte sich ihm so nahe, aber dann gab es ihr einen schmerzhaften Stich, als Jenny Behnisch zu ihr sagte, sie möge doch Franzi Lorenz anrufen und ihr Bescheid sagen, daß die Operation gut verlaufen sei.

*

Franzi war eine Stunde später ins Büro gekommen, weil sie erst noch ihre Mutter verabschieden mußte, die es sichtlich genossen hatte, so umsorgt zu werden in dem Sanitätswagen.

»Alles okay?« fragte Jürgen, als sie erschien.

»Gott sei es gelobt«, seufzte sie erleichtert.

»Sie haben es nicht leicht mit Ihrer Mutter«, meinte er.

»Wahrlich nicht.« Sie konnte nicht heucheln, auch diesbezüglich nicht.

»Ihr Vater lebt nicht mehr?«

»Keine Ahnung. Er ist eines Tages verschwunden, und verdenken kann ich es ihm, ehrlich gesagt, nicht. Mutter war nie eine liebevolle Frau, und ich habe sie als solche auch nicht kennengelernt. Sie hat immer mit ihrem Schicksal gehadert. Sie hätte so gern einen reichen Mann gehabt, sich alles leisten wollen. Dabei ging es uns nicht schlecht. Aber was erzähle ich da. Das interessiert Sie doch gar nicht.«

»Es interessiert mich sogar sehr, Franzi. Wünschen Sie sich auch einen reichen Mann?«

»Schätzen Sie mich etwa so ein?« fragte sie aggressiv. »Ich kann sehr gut allein für mich sorgen und möchte niemals von einem Mann abhängig sein.«

»Und wenn er die große Liebe ist?«

»Das wäre für mich noch lange kein Grund, ihn auszunehmen. Zufrieden?«

Da läutete das Telefon. Es war Kirsten, und Franzi atmete erleichtert auf.

»Das ist eine gute Nachricht«, erwiderte Kirsten.

»Wenn er fragen sollte, im Büro ist alles in bester Ordnung. Er braucht sich überhaupt keine Gedanken zu machen.«

Irgendwie fühlte sich Kirsten beruhigt, weil Franzi so unbefangen war. Vielleicht war es nicht mehr als ein freundschaftliches Verhältnis. Mit diesem Gedanken tröstete sie sich, aber dann schalt sie sich gleich. Was bildete sie sich denn überhaupt ein? Daß sie in Frank Derksens Leben schon eine bedeutende Rolle spielen könnte? Sie war Ärztin und hatte ihn ermuntert.

Dafür war er wohl dankbar. Was sollte sie denn noch mehr erwarten?

Sie hatte jetzt Zeit, zu Geli zu gehen, denn Frank schlief und auch sonst herrschte Mittagsruhe in der Klinik.

Aber dann traf sie Dr. Norden, der gekommen war, um sich persönlich nach Frank zu erkundigen.

»Er schläft jetzt, aber zwischenzeitlich war er schon ganz klar. Dr. Behnisch war großartig. Er wird Ihnen alles erklären.«

»Das können Sie doch auch. Gönnen wir Dieter ein bißchen Ruhe. Ich habe auch nicht viel Zeit.«

»Also, kein künstliches Hüftgelenk«, sagte Daniel Norden, »das ist ja prima. Auf die eigenen Knochen ist meistens doch mehr Verlaß. Und Sie können sich schon Gedanken machen über die Bewegungstherapie. Aber Sie sind ja eigentlich mehr für die Psyche zuständig.«

»Da wird er nicht viel Hilfe brauchen. Ich weiß aber auch, was er nun für eine Bewegungstherapie brauchen wird. Es ist doch ganz gut, wenn man überall hineinschnuppert.«

»Das meine ich auch. Sie kriegen das schon hin, Kirsten. »Wie geht es Geli?«

»Sie scheint sich zu fangen. Ich hoffe es. Ich überlege noch, was geschehen kann, wenn sich Brack in ihrer Wohnung einnistet.«

»Das dürfte doch nicht schwierig sein. Man kann ihn mit Gerichtsbeschluß hinaussetzen.«

»Dazu wird Geli wohl nicht fähig sein.«

»Die Schlösser auswechseln lassen.«

»Ja, das ist eine Idee. Darüber werde ich mit ihr sprechen.«

Das tat sie auch gleich. Geli schaute sie verwirrt an. »Und wenn er in der Wohnung ist?«

»Das kann man durch einen Anruf doch leicht feststellen«, meinte Kirsten. »Das mache ich schon.«

»Du weißt nicht, wie er sein kann«, flüsterte Geli. »Leg dich nicht mit ihm an.«

Kirsten hatte nicht die Absicht, ihm allein zu begegnen. Sie hatte noch genug von der Verabredung. Sie wählte die Nummer mit der Absicht aufzulegen, wenn er sich melden sollte. Er meldete sich nicht.

Sie erkundigte sich bei Jenny Behnisch nach einem Schlosser. Da konnte ihr Jenny gleich behilflich sein. Rauscher hieß der Mann und erklärte sich gleich bereit, den Auftrag am nächsten Tag auszuführen.

Sie sagte ihm, daß sie sich vergewissern müsse, daß niemand in der Wohnung sei. Sie setzten zehn Uhr als Termin fest, und sie bekam wieder keine Antwort, als sie die Nummer wählte.

Sie fuhr schnell hin und traf Rauscher vor der Haustür. Er hatte schon geläutet, aber es hatte sich nichts gerührt. Kirsten schloß die Wohnungstür auf. Ein seltsamer Geruch irritierte sie, und als sie das Wohnzimmer betrat, stieß sie einen lauten Schrei aus. Peter Brack lag am Boden.

Sie mußte sich überwinden, um seinen Puls zu fühlen, denn sie zweifelte nicht, daß er tot war.

»Wieder so ein Drogenopfer«, sagte Rauscher. »Sie kennen ihn?«

»Leider, aber er ist kein Verlust für die Menschheit.«

»Ich verstehe so was nicht«, brummte Rauscher. »Was soll ich jetzt machen?«

»Neue Schlösser brauchen wir nicht mehr. Aber ein Bestattungsinstitut«, sagte Kirsten tonlos.

»Da kenne ich einen. Regen Sie sich nicht auf.«

Kirsten dachte an Geli. Sie sollte wohl am besten nicht erfahren, daß Brack in ihrer Wohnung gestorben war. Sie war momentan noch benommen und rief Jenny Behnisch an.

»Allmächtiger!« entfuhr es Jenny. »Können Sie die Formalitäten erledigen, Kirsten? Er muß wenigstens erstmal aus der Wohnung. Aber in diesem Fall muß wohl auch die Polizei eingeschaltet werden.«

»Das auch noch«, stöhnte Kirsten. »Das wird Zeit kosten.«

»Es ist nicht zu ändern. Ich werde Geli nichts sagen.«

Geli fragte nicht nach Kirsten, aber Frank tat es. Er war enttäuscht, als Jenny ihm sagte, daß sie gerade etwas erledigen müsse.

»Aber sie kommt heute doch noch einmal?« murmelte er.

»Sie wird nicht lange ausbleiben«, erwiderte Jenny.

Aber es dauerte noch gut drei Stunden, bis Kirsten zurück war. Und ihre Stimmung war auf dem Nullpunkt.

»Da versetzte er sich den Todesschuß, und dann wird auch noch gefragt, wer bei ihm gewesen sein könnte«, sagte sie empört. »Wenn das nicht mit dem Schlüssel gewesen wäre, hätte er noch tagelang dort liegen können. Wenn Geli es erfährt, will sie bestimmt nicht mehr in die Wohnung zurück.«

»Ein Tapetenwechsel wäre für sie tatsächlich das beste«, meinte Jenny. »Hat Brack Verwandte?«

»Da muß ich erst Geli fragen. Ich habe ihn nur ein einziges Mal gesprochen, und das hat mir genügt. Es ist schlimm genug, daß er Arzt war, abgesehen davon, was er Geli angetan hat.«

»Ich habe mal etwas Ähnliches durchgemacht, Kirsten, und ich habe es auch überstanden. Ich habe einen wundervollen Mann bekommen, und da hat Daniel Norden auch eine entscheidende Rolle gespielt.«

»Es ist tröstlich, daß es Ärzte wie ihn und Sie beide und Schorsch Leitner gibt, sonst müßte ich verzweifeln.«

»Es sind schon noch mehr da, die die Ethik unseres Berufes hochhalten, Kirsten, aber es ist wirklich ein Jammer, daß die nicht für alle Geltung hat. Die Moral sinkt, wenn man zu sehr ans Verdienen denkt. Aber jetzt gehen Sie zu Dr. Derksen. Er hat schon ein paarmal nach Ihnen gefragt.«

»Hatte er nicht schon Besuch?«

»Nein, er will noch keinen haben. Erst morgen.«

Sie ging zuerst zu ihm. Geli mochte sie jetzt noch nicht ins Gesicht sehen.

Er sah sie forschend an. »Jetzt sehen Sie wieder aus wie neulich, als Sie den Kummer mit Ihrer Freundin hatten«, stellte er fest.

»Heute war es noch schlimmer, aber darüber reden wir besser nicht. Haben Sie Schmerzen?«

»Nein, gar nicht, es geht mir sehr gut.«

»Nicht gleich übertreiben. Ganz ohne Schmerzen wird es nicht abgehen, bis die Schnitte verheilt sind.«

»Ich kann es noch gar nicht glauben, daß es so gutgegangen ist. Man sollte sich wirklich nicht schon vorher den Kopf heiß machen.«

»Sie hätten sich schon früher unters Messer begeben sollen«, sagte sie lächelnd.

»Dann hätte ich Sie aber nicht kennengelernt. Es sollte so sein, oder darf ich das nicht sagen, Kirsten?«

Ihr Herz schlug schneller, als er sie mit dem Vornamen ansprach. Und seine Worte ließen ahnen, daß er auch mehr als nur Sympathie für sie empfand.

»Es ist wirklich seltsam«, sagte sie leise. »Mit Ihnen könnte ich über alles reden, das ist mir noch nie passiert.«

»Da kann ich ja von Glück sagen«, lächelte er.

»Haben Sie nicht Franzi, mit der Sie über alles reden können?«

»Franzi ist doch noch ein halbes Kind. Jedenfalls sehe ich sie so. Sie ist reizend, und sie ist sehr wißbegierig. Sie wird Ihnen gefallen, Kirsten. Ich hoffe nämlich sehr, daß wir den Kontakt nicht verlieren werden. Sie werden doch hoffentlich in München bleiben?«

Er empfand es schon als Handicap, im Bett zu liegen und über Gefühle zu sprechen. Er konnte es nicht, obgleich er Kirsten so gern gesagt hätte, wie sehr er sie mochte. Aber er hatte das Gefühl, daß sie ihn auch so verstand.

Sie wurden unterbrochen, weil Dr. Behnisch hereinkam.

Kirsten suchte nun Geli auf.

»Ist dir was eingefallen, Kirsten?« fragte Geli ganz direkt.

»Wir brauchen nicht mehr darüber nachzudenken, Geli.«

»Ist er wieder mal verschwunden? Du brauchst dir nichts zu denken, er kommt wieder, wenn er keinen anderen hat. Ich war immer die Dumme.«

»Hat er keine Angehörigen?«

»Die haben längst mit ihm gebrochen. Er kommt aus einer honorigen Familie. Da traut er sich nicht hin. Im Grunde ist er ein Feigling, der seine Brutalität nur an Schwächeren ausläßt. Mir ist alles klargeworden, Kirsten.«

»Diesmal wird er nicht zurückkommen, Geli, nie mehr«, sagte Kirsten leise. »Er hat sich eine Überdosis gespritzt.«

»Das kann ich nicht glauben, dazu war er zu schlau.«

»Vielleicht war es was anderes, als das, was er sonst benutzte. Das wird wohl die Obduktion ergeben müssen. Jedenfalls hat er sich von dieser Welt verabschiedet.«

Geli schloß die Augen. »Er war nicht immer so, Kirsten. Als ich ihn kennenlernte, war er ganz anders. Ein bißchen sehr eingebildet, ja, das gebe ich zu, aber er war Arzt. Ich weiß nicht, wie es geschehen konnte, daß er sich in diesen Strudel reißen ließ.«

»Der Nervenkitzel der Übersättigten, Geli. Alles probieren und meinen, daß es wirkungslos bleiben würde. Wer die Gefahr sucht, kommt darin um. Man muß sehr stark sein, wenn man allen Versuchungen widerstehen kann.«

»Aber ich habe ihn geliebt, Kirsten, das ist doch keine Versuchung. Es war für mich kein Abenteuer.«

»Aber es hat dich auch veranlaßt, Dinge zu tun, die du sonst nicht getan hättest. Er war nicht gut für dich, Geli.«

»Das weiß ich jetzt auch.«

Kirsten streichelte ihr die Wange. »Jetzt mußt du den Blick nach vorn richten. Nicht zurück, Geli.«

»Ich weiß nicht, ob ich es kann.«

»Du mußt es wollen.«

»Wirst du mir helfen?«

»Das brauchst du doch nicht zu fragen.«

*

Jürgen hatte diesmal nicht lange bitten müssen, um Franzi zu bewegen, mit ihm essen zu gehen. Sie hatte Hunger, einen Mordshunger, wie sie sagte. Da sie nun wußten, daß die Operation glücklich verlaufen war, fühlten sie sich beide freier.

Jürgen hatte ein sehr hübsches französisches Restaurant ausgewählt. Franzi riß die Augen auf, als sie das Büfett sah.

»Ich war noch nie in so einem Restaurant«, sagte sie schüchtern. »Das ist gigantisch. Eigentlich war ich nur zweimal mit Dr. Derksen zum Essen. Einmal an meinem Geburtstag und dann neulich mit Ihnen zusammen.«

»Sonst nie?«

»Nein, ich mußte ja immer für meine Mutter kochen.«

Das gab es also auch noch. Er dachte an die verwöhnten Frauen, mit denen er ausgegangen war, denen es nicht fein und teuer genug sein konnte, wenn sie eingeladen wurden.

Franzi guckte auf die Preise, und ihr gingen die Augen über. »Können wir nicht lieber in ein billigeres Restaurant gehen?« fragte sie beklommen.

»Denken Sie doch nicht an die Preise, Franzi. Ich möchte, daß Sie mal was Besonderes bekommen.«

»Dann suchen aber Sie aus.«

Er kannte sie schon ziemlich gut, und er traf ihren Geschmack. Es war für ihn die reine Freude zu sehen, wie gut es ihr schmeckte.

»Das ist aber wirklich eine Ausnahme«, sagte sie.

»Das nächste Mal bestimmen Sie, wohin wir gehen.«

»Und dann lade ich Sie ein.«

»Das kommt nun wirklich nicht in Frage. Was meinen Sie, was Frank sagen würde. Trinken wir auf sein Wohl, Franzi. Ich wünsche ihm wirklich nur das Beste, aber ich bin trotzdem froh, daß ich durch seine Krankheit festen Boden unter den Füßen bekommen habe und Sie kennenlernte. Sie haben mir bewußt gemacht, was den Sinn des Lebens ausmacht.«

»Daß man mit Freude eine Arbeit tun muß und daß man mit einem Menschen zusammen sein darf, der das Herz auf dem richtigen Fleck hat. Ich bewundere Sie, Franzi.«

»Ach was«, wehrte sie verlegen ab. »Ich hatte nur einen guten Lehrmeister, der das beste Vorbild war.«

»In ihren Augen muß ich wie ein Trottel dastehen.«

»Nein, Sie waren zu sehr verwöhnt. Sie brauchten ja nicht zu arbeiten.«

»Frank hätte das auch nicht gebraucht, wenigstens nicht in diesem Maße.«

»Er liebt seinen Beruf, und es ist ein schöner, ein interessanter Beruf.«

»Jetzt bin ich auch darauf gekommen. Meinen Sie, daß aus mir noch was werden kann, Franzi?«

Sie lachte herzlich. »Aber Sie können doch, wenn Sie wollen. Ihr Bruder wird sich sehr darüber freuen.«

»Dann könnten wir doch noch Freunde werden, Franzi?«

Ihre Augen verdunkelten sich. »Ich denke, daß wir das schon geworden sind.«

»Ob Frank das auch gefallen wird?«

»Warum denn nicht?«

»Weil er Sie vielleicht ganz für sich haben will.«

Sie sah ihn konsterniert an. »Aber davon kann doch gar nicht die Rede sein. Einen besseren Chef kann ich mir nicht wünschen, aber sonst…«, sie errötete heiß, »was haben Sie sich denn bloß gedacht?«

»Daß man doch nicht übersehen kann, wie bezaubernd Sie sind.«

»Sie brauchen mir keine Komplimente zu machen, Herr Derksen. Für mich sind Sie der Bruder vom Boß. Wir arbeiten zusammen, und ich möchte, daß es keine Differenzen gibt«, sagte sie.

»Gibt es denn Differenzen, wenn ich Sie ganz persönlich bezaubernd und liebenswert finde? Das habe ich noch nie zu einer Frau gesagt. Ich kann es leider nicht mehr ungeschehen machen, daß ich ein sehr oberflächliches Leben geführt habe, aber ich habe mich geändert, durch Sie und durch Franks Erkrankung. Ich möchte in Ihren Augen nicht der Playboy bleiben, zu dem man mich gestempelt hat.«

Sie warf ihm einen schrägen Blick zu. »Haben Sie sich nicht selbst dazu gestempelt?« meinte sie nachdenklich.

»Vielleicht habe ich dazu beigetragen, aber ich habe mich doch nicht nur im Jet Set bewegt. Ich habe mit ganz normalen jungen Leuten Hockey gespielt und auch anderen Sport getrieben. Ich habe nicht jede Nacht in Bars oder Clubs gehockt, und getrunken habe ich nie viel. Ich rauche nicht, bin gegen alle Drogen und habe mich nie auf krumme Geschäfte eingelassen, bis auf das eine Mal, als man mich aufs Kreuz legen wollte. Aber da hat mir Frank herausgeholfen, weil er genau wußte, daß ich zu naiv war, um diese Gangster zu durchschauen.«

»Was war da?« fragte Franzi.

»Ich besitze eine Eigentumswohnung, die heute sehr viel wert ist. Ich habe dort öfter mal eine Party gegeben. Sie haben ja recht, wenn Sie mich so kritisch angucken, Franzi. Ich war leichtsinnig in meinem Umgang, und so geriet ich an ein paar Spieler, die mich so ausnahmen, daß sie die Wohnung als Sicherheit für meine Schulden wollten. Nun ist es aber so gewesen, daß Frank diese Wohnung gekauft hatte als Kapitalanlage und sie mir überlassen hat. Das habe ich niemandem erzählt. Ich mußte es ihm dann schon sagen, als mich die Kerle unter Druck setzten. Frank hat sie angezeigt. Er hat sich nicht einschüchtern lassen, und so flog diese Bande auf. Ja, es war eine ganze Bande, aber sie verkehrten in den besten Kreisen, und keiner schätzte sie als Kriminielle ein. Was meinen Sie, was das für Kreise gezogen hat und wie viele Prominente das große Flattern bekamen.«

»Das ist doch schon mindestens drei Jahre her«, sagte Franzi nachdenklich.

»Ich war noch nicht lange bei Dr. Derksen und habe es am Rande mitbekommen, daß er am Telefon sehr ärgerlich mit Ihnen sprach.«

»Hätte er mich nur mehr zusammengestaucht, aber er war ja immer die Toleranz in Person, wenn es um mich ging. Er schob alles darauf, daß ich noch ein Bub war, als wir die Eltern nacheinander verloren und er der Aufgabe als Vaterersatz nicht gewachsen war. Dabei kann ich mir wirklich keinen besseren Freund wünschen. Ich habe es nur leider zu wenig gewürdigt.«

»Ich denke, das tun Sie jetzt«, sagte Franzi.

Er legte seine Hand auf ihre. »Dann geben Sie mir doch eine Chance, Franzi?«

»Eigentlich haben Sie die doch schon. Seien Sie nur schön fleißig.«

»Könnten Sie sich entschließen, mich Jürgen zu nennen?«

»Ich weiß nicht, ob es dem Boß gefallen würde.«

»Aber wenn er einverstanden ist?«

»Ich finde es nicht gut, wenn wir ihm jetzt damit kommen.«

Jürgen wurde wieder nachdenklich. Es könnte ja doch so sein, daß Frank viel mehr für Franzi empfindet, als er ihr gegenüber bisher gezeigt hat, ging es ihm durch den Sinn, und der Gedanke verursachte ihm Unbehagen.

Als er Franzi nach Hause brachte, sah er eine schattenhafte Gestalt, die vor dem Wohnhaus herumlungerte. Es war dunkel, und er konnte den Mann nicht erkennen, aber der Statur nach könnte es Manfred Köhler sein. Franzi schien das gleiche zu denken, denn unwillkürlich klammerte sie sich an Jürgens Arm.

»Hat Köhler Sie noch mal belästigt nach dem Zwischenfall neulich?« fragte Jürgen.

»Nein, ich war abends allerdings auch nicht unterwegs.«

»Mir gefällt es nicht, daß Sie hier allein in der Wohnung sind.«

»Ich schließe die Tür hinter mir ab. Ich öffne niemandem.«

»Leider traue ich dem Burschen jetzt alles zu«, sagte Jürgen. »Darf ich Sie hinaufbegleiten und mich überzeugen, ob alles in Ordnung ist?«

»Was soll denn nicht in Ordnung sein?«

»Ich habe solche Typen auch kennengelernt, Franzi, und Sie ahnen nicht, was die alles auf Lager haben. Sie knacken sogar komplizierte Schlösser.«

»Köhler hat es doch nicht nötig, irgendwo einzubrechen. Geld hat er genug.«

»Es geht ja auch nicht um Geld, es geht um Sie, und da sie ihm Widerstand entgegensetzen, werden Sie um so interessanter für ihn.«

»Meinen Sie das wirklich?« fragte sie beklommen.

»Sie sind ein sehr begehrenswertes Mädchen, Franzi, das sollte Ihnen bewußt sein.«

»Unsinn«, widersprach sie, »begehrenswert sind nur Mädchen, die Geld haben. Manfred Köhler ist ein Rüpel, und weil seine Eltern Geld haben, meint er, alles bekommen zu können. Ich kann mich meiner Haut wehren.«

»Das können Sie nicht, wie es sich neulich abend gezeigt hat.«

»Wollen Sie sich etwa mit ihm anlegen?«

»Wenn es sein muß, ja.«

»Na schön, kommen Sie mit rauf. Ich zeige Ihnen, wie ich mich einigele.«

Er konnte sich überzeugen, daß die Wohnungstür tatsächlich mehrfach gesichert war.

»Meine Mutter ist nämlich auch sehr ängstlich«, erklärte Franzi.

Es war eine hübsche Wohnung und mit bescheidenen Mitteln recht geschmackvoll eingerichtet. Es herrchte eine mustergültige Ordnung.

»Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, daß Sie die perfekte Ehefrau wären, Franzi?« fragte er.

»Wer sollte mir das gesagt haben? Ich habe Ihnen doch schon erzählt, wie mein Alltagsleben verläuft.«

»Man sollte ihm doch eine Wende geben. Für Sie würde ich mich umkrempeln lassen. Aber eigentlich haben Sie das ja schon fertiggebracht. Könnten Sie sich mit dem Gedanken vertraut machen, meine Frau zu werden?«

Sie sah ihn fassungslos an. »Wir kennen uns gerade ein paar Tage«, murmelte sie. »Sie sollten nicht so spontan sein.«

»Ich würde sehr geduldig warten. Ich möchte nur nicht, daß mir jemand zuvorkommt. Mann kann ja nie wissen.«

Jetzt mußte sie lachen. »Bei Ihnen muß man wirklich auf alles gefaßt sein.«

»Ich möchte aber, daß Sie mich ernstnehmen, Franzi.«

Er verabschiedete sich mit einem Handkuß von ihr. Sie blieb verblüfft an der Tür stehen und sah ihm nach.

Als sie abschließen wollte, vernahm sie Stimmen und danach seltsam polternde Geräusche. Ihr Herz begann angstvoll zu klopfen. Sie eilte zur Treppe und sah, wie im Hausflur Jürgen mit einem anderen Mann rang. Es war Manfred Köhler, sie erkannte seine Stimme. »Ich werd’s dir schon zeigen, du Lackaffe«, sagte er und hieb auf Jürgen ein.

Eine wahnsinnige Angst trieb Franzi zum Handeln. Sie lief in die Wohnung zum Telefon und wählte die Notfallnummer. Hastig sagte sie, worum es ging.

Sie lauschte nach draußen. Das Gerangel ging anscheinend weiter, aber im Haus rührte sich sonst nichts. Sie füllte einen Eimer mit Wasser und ging die Treppe hinunter.

»Misch dich nicht ein«, rief Jürgen, der sie bemerkt hatte. Aber sie sah, daß Blut über sein Gesicht lief. Mit der Kraft der Verzweiflung schüttelte sie das Wasser über die beiden, die unwillkürlich voneinander abließen und dann war auch schon der Streifenwagen

da.

Jürgen taumelte einem Beamten in die Arme, der andere griff sich Manfred Köhler.

»Sie kommen beide mit«, sagte der kräftige Polizeimeister. »Und Sie am besten auch«, sagte er zu Franzi.

»Herr Derksen braucht einen Arzt«, sagte sie energisch. »Wollen Sie ihn etwa verbluten lassen?«

»Nur keine große Aufregung, Fräuleinchen, das wird schon gemacht. Er bekommt einen Notverband.«

Jürgen taumelte und sackte plötzlich zusammen, während Köhler höhnisch grinste, aber sein Gesicht wies auch beträchtliche Spuren auf.

Franzi war bei Jürgen und hielt seinen Kopf. »Nun sehen Sie es«, fauchte sie den Polizisten an. »Rufen Sie Dr. Norden an, aber dalli!« Die Telefonnummer sagte sie ihm auch gleich, aber Dr. Norden war ohnehin bekannt.

Köhler wurde schon zum Streifenwagen gebracht. Er schimpfte und drohte mit seinem Vater, der ihnen schon den Marsch blasen würde. Mittlerweile trauten sich nun doch ein paar Hausbewohner aus ihren Türen.

Jürgen richtete sich mühsam auf. »Tut mir leid, Franzi«, flüsterte er.

»Mir tut es leid.« Tränen standen in ihren Augen.

Da kam Dr. Norden, der momentan doch leicht verwirrt war, als er Jürgen und Franzi gewahrte.

»Die Wunde muß geklammert werden, das kann ich hier nicht machen«, sagte er. »Mir ist Herr Derksen bekannt, er wird Ihnen nicht davonlaufen.«

»Ich kann das alles erklären«, stammelte Franzi. »Ich komme mit Ihnen.«

»Köhler hat sie schon mehrmals belästigt«, sagte Jürgen. »Er ist ein Rowdy.«

Dr. Norden legte ihm einen Notverband an. Ein Polizist half ihm in Dr. Nordens Wagen.

»Wir sind in der Praxis, Franzi«, sagte Dr. Norden.

Köhler räsonierte während der ganzen Fahrt, nannte Franzi eine eingebildete Zicke, die ihn provoziert hätte und daß Jürgen die Schlägerei angefangen hätte.

Franzi gab die bisherigen Vorfälle zu Protokoll, und daß Jürgen Derksen sie schon einmal vor den Belästigungen durch Köhler bewahrt hätte. Es war ja offensichtlich, daß Köhler ihr aufgelauert hatte.

Franzi konnte gehen. Man bestellte ihr ein Taxi, da sie aber kein Geld dabei hatte, mußte sie erst noch zu ihrer Wohnung fahren. Dann stellte sie fest, daß die Wohnungstür zugefallen war, aber zum Glück war der Hausmeister noch wach, der einen Hauptschlüssel hatte.

Als sie dann endlich zu Dr. Nordens Praxis gelangte, war Jürgen schon verarztet, aber noch ein bißchen desolat.

»Jetzt hat er meinetwegen Schwierigkeiten, das habe ich doch nicht gewollt«, sagte Franzi bedrückt.

Es ist doch Ehrensache, daß er Sie beschützt hat«, meinte Dr. Norden. »Dieser Köhler ist bekannt für seine Brutalität. Es ist überfällig, daß da mal was unternommen wird. Ein paarmal hat er sich schon herausreden können. Ich habe schon bei der Polizei angerufen und gesagt, daß er gewalttätig ist.«

»Ich habe keine Ruhe, wenn er wieder frei ist«, murmelte Jürgen. »Franzi ist da nicht sicher.«

Dr. Norden machte sich seine Gedanken, entging es ihm doch nicht, wie verlegen Franzi wurde.

»Sie sollten jetzt auch nicht allein bleiben«, meinte er, Jürgens Puls fühlend.

»Ich würde ihn schon versorgen«, schlug Franzi vor, »bei uns im Haus wird nur so schnell getratscht. Nachdem doch nun alle mitgekriegt haben, was da vorgefallen ist, werden sie sich nicht mehr hinter verschlossenen Türen verkriechen. Sie brauchen aber nicht zu denken, daß da einer geholfen hätte, obgleich Krach genug war.«

»Davon kann ich auch manches Lied singen«, meinte Dr. Norden. »Wie ist es, Herr Derksen, nehmen Sie Franzis Angebot an?«

»Liebend gern. Im Hause meines Bruders wird ihr bestimmt nichts geschehen, das garantiere ich Ihnen.«

»Dann bringe ich Sie jetzt dorthin«, sagte Dr. Norden und nickte Franzi aufmunternd zu.

Sie wurde von seltsamen Gefühle bewegt, als sie Jürgen ins Haus brachten. Er war benommen von der örtlichen Betäubung, und er hatte wahrscheinlich auch mehr Schläge abbekommen, als sichtbar waren.

»Er wird ziemliche Schmerzen haben in der Magengegend, Franzi. Geben Sie ihm dann eine Kapsel, und wenn das nichts nützt noch fünfzehn Tropfen von diesem Medikament. Aber vielleicht wirkt jetzt erst die Injektion, und er schläft gleich ein. Sie können mich aber jederzeit erreichen, wenn sich sein Zustand verschlimmern sollte.«

»Das hat uns gerade noch gefehlt«, sagte sie leise.

»Es lief alles so gut im Büro. Und was wird Dr. Derksen sagen?«

»Er braucht es nicht zu erfahren. Jürgen ist ein kräftiger, gesunder Mann, er wird das bald überstehen.«

»Und das nur meinetwegen«, sagte sie kleinlaut.

»Immerhin wäre es noch schlimmer, wenn Sie das Opfer wären. Franzi, solche Burschen sind zu allem fähig.«

Ihr wurde es plötzlich schlecht, aber sie nahm sich zusammen. »Jürgen hat mir schon mal geholfen«, sagte sie, ganz bewußt seinen Vornamen gebrauchend.

»Er kennt solche Typen, Franzi. Manchmal ist es ganz gut, wenn man in allen Kreisen seine Erfahrungen sammelt. Ich bin überzeugt, daß er Sie gut beschützen wird.«

»Und ich werde jetzt auf ihn aufpassen.«

»Aber Sie brauchen auch Schlaf, vergessen Sie das nicht.«

Jürgen schlief schon, als sie nach ihm sah. Sie setzte sich neben sein Bett und beobachtete ihn. Er war blaß, aber sein Gesicht war jetzt entspannt und sein Atem war regelmäßig. Da sie ihre kranke Mutter schon so lange betreut hatte, war sie mit allem vertraut, was zu beachten war.

Sie holte zwei Decken und legte sich auf den Boden neben dem Bett. Sie kam nicht mehr gegen die Müdigkeit an, ihr fielen die Augen zu, aber auch Jürgen schlief, bis der Morgen graute.

Als er erwachte, konnte er sich nicht erinnern, was geschehen war. Er knipste das Licht an und wollte aufstehen. Da sah er Franzi am Boden liegen, und plötzlich erinnerte er sich, was geschehen war.

Franzi war sofort wach von dem Geräusch und richtete sich auf.

»Lieber Gott, Franzi, Sie haben am Boden geschlafen«, sagte er heiser. »Sie müssen ja wie gerädert sein.«

»Mir macht das nichts aus, kann ich etwas für Sie tun? Haben Sie Schmerzen?«

Er hatte die Schmerzen vergessen, als er sie sah. »Ich brauche nichts«, sagte er leise. »Sie sind ja hier.«

»Es ist ja bald Tag. Ich werde einen Tee machen.«

»Ich mag lieber Kaffee.«

»Tee ist aber gesünder.«

»Gut, dann Tee.«

»Die Medizin müssen Sie auch nehmen.«

»Ich bin schon wieder okay. Ich gehe jetzt ins Bad.«

»An die Kopfwunde darf aber kein Wasser kommen.«

»Ich habe eine Kopfwunde? Liebe Güte, deshalb zieht es da so.« Er griff sich an die Stirn.

»Er hatte einen Schlagring«, sagte er nach einer kleinen Pause. »Ich konnte noch ausweichen, aber gestreift hat er mich doch. Nicht auszudenken, was Ihnen hätte geschehen können.«

»War er denn schon im Haus?« fragte sie.

»Er muß uns gleich gefolgt sein. Das wird für ihn noch ein böses Nachspiel haben.«

»Für mich ist es jetzt wichtiger, daß es Ihnen bessergeht«, sagte Franzi leise.

»Ich sagte es doch schon. Es geht mir gut, weil Sie bei mir sind, Franzi, und weil Ihnen nichts passiert ist.«

»Warum will er mich nicht in Ruhe lassen?«

»Weil solche Machos es nicht vertragen, wenn sie zurückgewiesen werden. Sie sind noch sehr unerfahren.«

»Eigentlich habe ich das nicht als Minus empfunden. Ich habe Grundsätze, wenn manche es auch als Mangel an Gelegenheit bezeichnen. Ich wurde schon in der Schule wegen meiner Ansichten ausgelacht. Es ist komisch, damals war Manfred Köhler einer von den Jungen, die sich von den Mädchen fernhielten. Ich möchte wissen, was in ihn gefahren ist, daß er sich so negativ entwickelt hat.«

»Wahrscheinlich schlechter Umgang, negative Erfahrung mit dem anderen Geschlecht. Aber wir sollten den Tag nicht gleich philosophierend beginnen. Mein Kopf tut doch noch ziemlich weh.«

»Dann nehmen Sie gleich eine Kapsel. Ich muß auf Sie aufpassen.«

»Ich muß aber meine fünf Sinne zusammenhalten für die Arbeit.«

»Ich schaffe es schon mal allein. Und wenn ich den Boß anrufe und ihm sage, daß wir soviel zu tun haben, daß wir ihn erst morgen besuchen können, wird er auch nicht böse sein.«

»Wenn er Sie nicht zu sehr vermißt.«

»Warum sollte er mich vermissen? Für ihn ist es doch bedeutend wichtiger, daß die Arbeit nicht ins Stocken gerät.«

Es klang überzeugend und für ihn ungemein beruhigend. Trotzdem ließ er sich nicht überreden, im Bett zu bleiben. Es ging dann auch ganz gut. Franzi war überrascht, daß er keine Schwäche mehr zeigte.

»Das wäre ja wohl noch schöner, wenn ich gleich ausgezählt würde wegen eines Schlages«, meinte er lächelnd.

»Aber trotzdem bringe ich Sie nachher zu Dr. Norden.«

»Wie Gnädigste meinen«, scherzte er.

*

Frank saß im Bett, als Kirsten ihren Morgenbesuch machte. »Übertreiben Sie nicht ein bißchen?« meinte sie.

»Mit ärztlicher Erlaubnis. Ich hatte eine gute Nacht.«

»Das freut mich sehr. Möchten Sie das Telefon ans Bett?«

»Das wäre gut.«

»Und einen Fernsehapparat?«

»Das wäre auch nicht schlecht, aber lieber ist es mir, wenn Sie mir Gesellschaft leisten.«

»Ich muß mich jetzt auch um andere Patienten kümmern. Es ist momentan viel zu tun.«

»Und was ist mit Ihrer Freundin?«

»Es geht ihr besser. Sie hat sich gefangen.«

Schwester Helene brachte die Zeitungen. »Ist es recht so, Herr Doktor?« fragte sie.

»Ja, danke, das genügt.«

»Sie sollten sich aber nicht zu sehr anstrengen und auch nicht zu lange sitzen«, sagte Kirsten.

»Zu Befehl, Frau Doktor«, scherzte er. Sie stellte die Rückenstütze zurück. Er bedankte sich. »Wann sehen wir uns wieder?« fragte er, als sie ging.

»Bei der Visite, und dann werden wir sehen.«

»Ich brauche Sie, Kirsten.«

Wärme durchströmte ihren Körper bei dem zärtlichen Klang seiner Stimme. Er würde nicht so reden, wenn Franzi ihm wichtiger wäre, dachte sie.

Wie sehr er schon ihr Denken beherrschte und noch mehr ihr Fühlen. Es war das erste Mal in ihrem Leben, daß sie sich so zu einem Mann hingezogen fühlte. Er war ihr doch eigentlich von Dr. Norden verordnet worden. Liebe auf Rezept, dachte sie, und dabei mußte sie lächeln. Aber es schien einen Wahrheitsgehalt zu haben.

Frank war nicht böse, als Franzi anrief und ihm sagte, daß sie nicht kommen könne, weil so viel Arbeit zu erledigen sei. Sie zählte ihm auch gleich einiges auf, aber er zeigte keine Neigung, viel dazu zu sagen.

»Wie kommen Sie mit Jürgen zurecht?« fragte er.

»Sehr gut. Er ist enorm fleißig und zuverlässig.«

»Es sollte mich sehr freuen«, meinte er.

»Sie wollen mich doch nicht nur beruhigen, Franzi?«

»Sie dürfen ihm ruhig etwas zutrauen. Ich bin nicht nachsichtig.«

Er lachte leise. »Ich bin ja froh, wenn Ihr zurechtkommt. Ich lasse es mir hier gutgehen.«

»Es geht Ihnen wirklich gut?«

»Es ist doch alles besser gelaufen, als ich angenommen habe.«

Sie rief danach aber doch lieber noch Dr. Norden an und erkundigte sich bei ihm über Frank. Er bestätigte, daß es ihm wirklich gutgehe.

»Und Sie verraten ihm nichts von gestern abend?«

»Ich werde mich hüten. Wie geht es dem Patienten?«

»Sein Verstand hat nicht gelitten, aber ich bringe ihn nachher zum Nachschauen. Er hat gut geschlafen.«

»Sie hoffentlich auch.«

Sie bestätigte es.

Danach rief sie auch gleich noch auf der Insel der Hoffnung an und hörte, daß ihre Mutter gerade im Bad sei. Anschließend sollte sie gleich zur Massage.

»Und wie benimmt sie sich?« fragte Franzi mit gemischten Gefühlen.

»Sie fügt sich widerspruchslos, und es scheint ihr zu gefallen«, erklärte Anne Cornelius. »Sie kann ja anrufen, wenn sie geruht hat. Sie wird jedenfalls sehr beschäftigt.«

Es war alles beruhigend. Franzi konnte ihrer Arbeit nachgehen und befahl Jürgen eine Ruhepause. Er legte sich tatsächlich eine halbe Stunde aufs Sofa, war dann aber gleich wieder ganz da.

»Es gefällt mir nicht, wenn Sie arbeiten und ich faulenze, Franzi.«

»Ich bin ja nicht zusammengeschlagen worden.«

Er beobachtete sie eine ganze Zeit.

»Schauen Sie mir nicht auf die Finger, das macht mich nervös«, sagte Franzi.

»Ich schaue nicht auf die Finger, ich betrachte dein Profil und bin zu der Erkenntnis gekommen, daß ich dich liebe«, sagte er.

Sie hielt den Atem an. Das Blut begann in ihren Schläfen zu hämmern. Langsam drehte sie sich zu ihm um.

»Mit solchen Dingen scherzt man nicht«, sagte sie leise.

»Es ist kein Scherz. Ich habe wirklich nicht gedacht, daß ich das einmal sagen würde, Franzi. Ich fand das immer schrecklich albern, dieses ›ich liebe dich – ich liebe dich auch‹, aber wie soll man seine Gefühle mit anderen Worten ausdrücken? Es gibt keinen Ersatz dafür.«

»Es geht einfach zu schnell. Dagegen wehre ich mich.«

»Warum denn nur? Ist es nicht wunderschön, wenn man spürt, wie sehr man sich versteht? Das kann doch nur Liebe sein, Franzi. Oder steht Frank zwischen uns?«

»Ich weiß nicht, ob er einverstanden wäre.«

»Ich weiß selbst, wie ich mich einschätzen muß. Mein Herz gehört dir.«

Er streckte beide Hände nach ihr aus, sie gingen aufeinander zu und umarmten sich.

»Du bist für mich ein Wunder, Franzi, ein wundervolles Mädchen, das mich verzaubert hat.«

Er küßte sie zart, behutsam, voller Liebe. Und sie legte ihre Arme um seinen Hals und sah ihn mit ihren wunderschönen Augen, in denen es feucht schimmerte, an.

»Ich habe nicht geglaubt, daß ich das erleben werde«, flüsterte sie.

*

»Es ist ja allerhand passiert«, sagte Fee Norden, als sie mit ihrem Mann mal wieder einen ruhigen Abend verbringen konnte.

»Was hast du Neues zu berichten?«

»Eigentlich wärest du ja an der Reihe. Du hast mir noch gar nicht erzählt, daß Brack in Geli Möllers Wohnung gefunden wurde.«

»Ich werde wohl langsam vergeßlich. Aber du hast recht, es ist wirklich viel passiert. Nach dem dramatischen Zwischenfall mit Köhler scheinen Jürgen Derksen und Franzi ihre Herzen füreinander entdeckt zu haben.«

»Franzi und Jürgen Derksen«, staunte Fee, »aber man sagt ja, daß Gegensätze sich anziehen.«

»Franzi scheint einen sehr guten Einfluß auf ihn zu haben. Er macht einen ernsthaften Eindruck, und sie sagt, daß er sehr fleißig ist.«

»Sie konnte seinem Charme wahrscheinlich auch nicht widerstehen. Hoffentlich geht das gut.«

»Ich halte Franzi für kritisch genug, um nicht blind in ein Abenteuer zu taumeln.«

»Ich habe ja immer gedacht, daß Frank Derksen und Franzi mal ein Paar würden, aber er hat sich anscheinend in Kirsten verguckt.«

»Was du nicht sagst. Woher weißt du das?«

»Jenny hat es angedeutet. Wir haben telefoniert. Sie wollte auch wissen, ob Franzi dadurch vielleicht schockiert sein würde. So gesehen bin ich ganz froh, wenn sie auf Jürgen fixiert ist.«

»Fixiert ist sie nicht auf ihn. Sie ist eine sehr selbständige Person. Ja, sie hat sich erstaunlich entwickelt, und das ist sicher Frank Derksens Verdienst, aber für sie ist und bleibt er der Boß, das hat sie mir deutlich zu verstehen gegeben.«

»Ihrer Mutter scheint es auf der Insel sehr zu gefallen. Anne hat mir berichtet, daß sie keine Schwierigkeiten macht.«

»Das ist eine gute Nachricht. Und was gibt es bei uns Neues, wie schaut es mit den Zeugnissen aus?«

»Die sind doch noch nicht fällig. Blaue Briefe haben wir auch nicht bekommen, also ist wohl alles in Ordnung. Felix kann sich nach wie vor nicht mit Latein anfreunden, aber solange er nicht schlechter als auf einem Vierer ist, regt es mich nicht auf.«

»Er wird ja sowieso nicht Arzt«, meinte Daniel gleichmütig. »Danny und Felix möchten einen Karatekurs machen«, sagte Fee.

»Keine schlechte Idee. Das

Rowdytum breitet sich leider aus. Ich habe es ja gerade auch bei Jürgen Derksen erlebt, wie gewalttätig sein Gegner war. Es hätte ganz übel ausgehen können.«

»Dann bist du dafür?« Fee war nun doch verwundert.

»Für Karate bin ich nicht, aber Judo oder Jiu-Jitsu wäre doch nicht schlecht. Da wird auch die geistige Einstellung einbezogen. Ich werde mich mit den Buben mal unterhalten.«

»Jedenfalls ist es gut, wenn sie solche Kenntnisse nicht nur aus Fernsehsendungen beziehen«, meinte Fee.

*

Frank Derksen ärgerte sich gerade über eine Fernsehsendung, von der er mehr erwartet hatte. Als Kirsten hereinkam, schaltete er aus.

»Meinetwegen brauchen Sie nicht abzuschalten«, meinte sie.

»Dieses Blabla geht mir auf die Nerven und dazu noch die gräßliche Stimme der Moderatorin. Ich höre lieber Ihre Stimme, Kirsten.«

»Ich habe nicht viel zu erzählen.«

»Es ging doch heute aber ziemlich turbulent zu«, meinte er.

»Aber nichts Angenehmes. Es sind nicht alle Patienten so rücksichtsvoll wie Sie. Haben Sie gar keinen Besuch gehabt?«

»Wir haben nur telefoniert. Franzi und Jürgen haben viel zu tun. Was sollen sie sich auch zu mir ans Bett setzen, das Wichtigste kann man auch am Telefon besprechen.«

»Es genügt Ihnen?«

»Warum nicht?«

»Ich dachte nur, daß Sie Ihre Mitarbeiterin vermissen.«

Er war leicht irritiert. »Sie meinen Franzi? Denken Sie etwa, daß sie mir mehr bedeutet? Nun ja, wir verstehen uns wirklich ausnehmend gut, das müßten Sie akzeptieren, Kirsten.«

»Ich weiß nicht, was Sie damit sagen wollen.«

»Wollen Sie mich nicht verstehen? Ich hoffe doch sehr, daß wir uns privat sehen werden, wenn ich die Klinik wieder verlassen kann, da wir uns doch schon nähergekommen sind, Kirsten, oder sehe ich das falsch?«

»Vielleicht denken Sie ganz anders, wenn Sie wieder Ihr normales Leben aufgenommen haben.«

»Wie schätzen Sie mich eigentlich ein, Kirsten? Ich hätte gern eine klare Antwort. Denken Sie vielleicht, daß ich aus Langeweile einen Flirt mit Ihnen anfange? Sieht das so aus?«

»Nein«, erwiderte sie errötend. »Es ist nur eine neue Erfahrung für mich.«

»Um so besser, dann lassen Sie mal alle Vorurteile beiseite. Ich bin frei und ungebunden und niemandem, im besonderen keiner Frau, verpflichtet. Ich war nie verlobt oder gar verheiratet. Ich habe eine böse Erfahrung gemacht und ein trauriges Erlebnis verkraften müssen, aber das ist lange her. Darüber können wir später mal in aller Ruhe sprechen. Was Franzi anbetrifft, so ist sie ein liebes Mädchen, das es nicht leicht in ihrem Leben hatte, dem man eine Chance geben mußte, weil sie nicht die Schulbildung bekam, die ihrer Intelligenz entsprach, da sie eine sehr egoistische Mutter hatte, die sich dann auch noch in eine Krankheit hineinsteigerte, um Franzi abhängig zu machen. So, das sollten Sie vorerst wissen.«

»Sie sind mir doch keine Erklärungen schuldig«, sagte Kirsten leise.

»Ich liebe Klarheit, und zwischen uns soll von Anfang an Klarheit und Aufrichtigkeit bestimmend sein.

»Was wollen Sie von mir wissen?«

»Momentan weiß ich, daß Sie mir sehr viel bedeuten, und das genügt mir. Und wenn Sie mir jetzt nicht sagen, daß Sie sich längst für einen anderen Mann entschieden haben, werden wir genug Zeit haben, einmal über die Vergangenheit zu reden, wenn diese auch keine bedeutende Rolle für uns spielen sollte. Ich hatte, als ich in diese Klinik kam, den Gedanken, wie schnell das Leben zu Ende sein kann. Was wissen wir denn schon? Aber es ist gut, mal ein Warnzeichen zu bekommen, damit man dankbar ist für jeden Tag, für die Gegenwart, wenn man auch nicht weiß, was die Zukunft bringt. Viele Menschen machen sich zu viele Gedanken darüber, was sie in der Zukunft noch alles erleben könnten. Sie vergessen es, den Augenblick zu genießen. Viele Menschen schieben Entscheidungen vor sich her, die sie gleich treffen könnten, und die manchmal vergessen zu treffen, was sie dann ewig bereuen. So frage ich Sie direkt, Kirsten, können Sie sich vorstellen, mit mir gemeinsam die Gegenwart zu genießen, den nächsten Tag und hoffentlich noch viele weitere Tage, bis ans Ende?«

»Sie haben das wunderschön gesagt. Ja, ich möchte das sehr gern. Es gibt keinen Menschen, den ich lieber an meiner Seite wüßte.«

Er drückte ihre Hände an seine Lippen. »Tausend Dank, liebste Kirsten«, sagte er zärtlich. »Das hilft mehr als die beste Medizin. Und jetzt sag bitte Frank zu

mir.«

»Es ist eigentlich nicht erlaubt, daß Ärzte und Patienten persönliche Beziehungen entwickeln«, sagte sie mit einem kleinen Lächeln.

»Bei uns ist das etwas anderes. Du bist mir ja verordnet worden.«

»Lieber Frank«, sagte sie weich, »es ist wunderschön, einen Mann wie dich kennengelernt zu haben.«

»Und du wirst mich nicht mehr los«, sagte er zärtlich.

Kann ein Mensch so viel Glück haben, dachte sie, als sie in dieser Nacht einschlief. Sie war von Dankbarkeit erfüllt, und von Liebe für diesen Mann, der ihr bewies, daß Vertrauen kein leeres Wort und Liebe Wunder bewirken konnte.

*

Nachdem so erfreuliche Nachrichten von der Insel der Hoffnung über Waltraud Buchholz eintrafen und Anne Cornelius andeutete, daß Waltraud gern länger bleiben wollte, da sie einen so netten Kreis älterer Patienten gefunden hatte, fragte Daniel an, ob sie vielleicht Arbeit für eine sehr qualifizierte Laborantin hätten.

»Sag nur, du wüßtest eine, die hierherkommen würde«, staunte Dr. Cornelius.

»Ich habe sie noch nicht gefragt, aber es handelt sich um eine junge Frau, die dringend eine Veränderung braucht. Wenn Ihr sie beschäftigen könntet, würde ich mit ihr sprechen. Ich will ihr nur keine falschen Hoffnungen machen, da sie genug Nackenschläge hinnehmen mußte.«

»Die wird sie hier vergessen. So heiter wie gerade jetzt ging es schon lange nicht mehr zu bei uns. Franzi wird staunen, wenn sie ihre Mutter wiedersieht.«

»Behaltet sie nur so lange wie möglich dort. Franzi befindet sich gerade in einer sehr glücklichen Phase, die man ihr gönnen sollte.«

Für Daniel Norden gab es keinen Zweifel mehr, daß Jürgen und Franzi ein glückliches Paar waren. Er zweifelte auch nicht mehr daran, daß Jürgen vernünftig und verantwortungsbewußt geworden war.

Franzi hatte nun auch ihren ersten Besuch bei Frank gemacht. Er war schon ein bißchen enttäuscht gewesen, daß Jürgen nicht auch kam, aber Franzi hatte ihm dann gestanden, was geschehen war und Jürgen ihn nicht mit seiner Kopfwunde aufregen wollte.

»Er hat es für mich getan, Boß, er wollte mich beschützen.«

»Sie brauchen ihn doch nicht zu verteidigen, Franzi. Ich freue mich, wenn er Sie beschützt. Für mich ist es die Hauptsache, daß Ihr gut miteinander auskommt.«

»Da gibt es keine Klagen. Sie werden auch feststellen, daß er sehr gute Arbeit leistet.«

»Und er bummelt nicht herum?«

»Überhaupt nicht.«

»Sie scheinen ihn ja richtig zu mögen, Franzi.«

Sie wurde glühend rot. »Das beruht auf Gegenseitigkeit. Jürgen soll selber mit Ihnen darüber reden.«

Ach, so ist das, dachte Frank, aber konnte er sich etwas Besseres wünschen? Er traute Franzi schon zu, daß sie Jürgen mal fest an der Kandare halten würde…

Franzi lernte natürlich auch Kirsten kennen, und da hatte sie Jürgen einiges zu berichten.

»Da ist eine sehr aparte Ärztin, Kirsten heißt sie. Ich glaube, der Boß hat sich in sie verliebt. Was meinst du?«

»Da muß ich mich doch mal auf die Beine machen. Das muß ich genau wissen. Das vereinfacht natürlich alles, Franzi. Dann brauche ich nicht mehr zu fürchten, daß er sich zurückgesetzt fühlt.«

»Du hast wohl wirklich gedacht, daß er viel für mich übrig hat.«

»Das hat er auch. Er hat es mir selbst gesagt. Aber es gibt eben doch Unterschiede. Immerhin sagt man ja, daß Freundschaft der Anfang oder das Ende einer großen Liebe sein kann.«

»Daran habe ich nie gedacht, wenn ich mit ihm zusammen war. Er war immer nur mein Vorbild. Ich war glücklich, daß ich so viel von ihm lernen konnte.«

»Es ist ja auch bewundernswert, was du alles gelernt hast, Franzi. Jetzt bin ich es, der dich bewundert, aber ich gebe mich nicht damit zufrieden, daß ich es dir recht machen will. Ich will dich mit Haut und Haaren.«

»Immer hübsch langsam, mein lieber Jürgen. Ich habe meine eigenen Vorstellungen und meinen eigenen Willen. Auch dir zuliebe, werde ich mich nicht ändern.«

»Ich will dich ja gar nicht ändern. Du kannst mir ruhig überlegen sein. Ich bin diesbezüglich überhaupt nicht ehrgeizig. Du kannst ruhig Karriere machen, ich spiele dann den Hausmann, wenn wir einen Stall voller Kinder haben.«

Sie lachte schallend. »Wie sollen wir zu einem Stall voller Kinder kommen, wenn ich Karriere mache? So ehrgeizig bin ich nun auch nicht, aber den Hausmann kannst du gern spielen. Ich habe lange genug für Mutter gesorgt, ich trete gern einige Arbeiten ab.«

»Apropos Mutter, was machen wir mit ihr? Ich bin ja bereit, dir alle möglichen Zugeständnisse zu machen, aber von meiner Schwiegermutter würde ich mir nicht gern Vorschriften machen lassen.«

»Ich weiß auch nicht, was werden soll, Jürgen. Das wird mich wohl noch Nerven kosten.«

Aber irgendwie schien es der Herrgott jetzt ganz besonders gut mit ihr zu meinen. An dem Tag, als Frank aus der Klinik entlassen werden sollte, bekam sie einen Brief von ihrer Mutter. Sie schwärmte von der Insel, von Hannes und Anne Cornelius, von all den reizenden Menschen, die sie kennengelernt hatte und dann schwärmte sie auch von Maurice Benson.

Ein sehr ritterlicher Mann, ganz alte Schule, sehr vornehm und rücksichtsvoll. Er ist seit drei Jahren Witwer und kinderlos. Er hat ein schönes Haus in Chur, und er hat mich gefragt, ob ich nicht zu ihm kommen wolle. Momentan sind wir ja beide noch pflegebedürftig, aber es bessert sich von Tag zu Tag, und da macht man schon mal Pläne. Mir vorzustellen, daß ich finanziell aller Sorgen enthoben wäre und Dir nicht mehr zur Last fallen müßte, würde mir schon sehr gefallen, Franzi. Du sollst auch was vom Leben haben, Du hast Dich lange genug um mich gekümmert. Es würde mich sehr freuen, wenn Du einen lieben Mann finden würdest. Das würde mir meinen Entschluß sehr erleichtern, den Vorschlag von Maurice anzunehmen. Wie geht es Dr. Derksen? Wann kommt er wieder heim? Ich weiß, daß Du nicht von mir hören willst, daß er doch eine sehr gute Partie wäre, aber überleg es Dir doch mal.

Franzi lachte, als sie das gelesen hatte. »Warum lachst du?« fragte Jürgen.

»Meine Mutter will mich noch immer mit dem Boß verkuppeln.«

»Du solltest ihr mitteilen, daß du dich anderweitig entschieden hast«, sagte Jürgen. »Und was hat sie sonst vor?«

»Sie will mit einem gewissen Maurice Benson in Chur zusammenleben, was sagst du jetzt?«

»Eine glänzende Idee. Sie scheint sich gut zu erholen.«

»Sie ist ja noch keine Fünfzig, und vielleicht war es das Klimaterium, das ihr zu schaffen machte. Ein Mann soll da ja Wunder bewirken.«

»Du bist umwerfend«, sagte Jürgen schmunzelnd.

»Man sieht es ja, daß sie plötzlich wieder auflebt. Ich weiß von Dr. Norden, daß sie ganz schön aufdreht.«

»Darüber sollten wir uns freuen.«

»Ich freue mich auch, ich bin nur noch ein bißchen skeptisch. Aber ich werde sie ja am Wochenende besuchen, wenn ich Geli Möller zur Insel bringe. Das wollte eigentlich Kirsten Lorenz tun, aber der Boß hat gemeint, daß ich doch sowieso meine Mutter mal besuchen will. Ich glaube, er will, daß seine Lieblingsärztin bei ihm ist.«

»Sie ist mehr als seine Lieblingsärztin. Er redet schon vom Heiraten. Es ist an der Zeit, daß ich auch davon anfange.«

»Wir haben vereinbart, daß wir noch warten.«

»Aber ich werde mit zur Insel fahren, damit du es weißt. Ich lasse dich auch nicht allein. Außerdem muß ich meine Schwiegermutter kennenlernen.«

Sie warf ihm einen verschmitzten Blick zu.

»Vielleicht überlegst du es dir dann noch mal.«

»Ich heirate doch nicht sie sondern dich. Da gibt es nichts zu überlegen.«

Es war für Frank schon keine Überraschung mehr, als ihm Jürgen erklärte, daß er Franzi zur Insel begleiten wolle.

»Es scheint ja endlich mal ernst zu sein«, meinte er mit einem hintergründigen Lächeln. Ein bißchen skeptisch war er schon noch gewesen.

»Du mußt nicht denken, daß du der einzige bist, der endlich die Richtige gefunden hat. Ich denke aber, daß wir beide Glück haben.«

»Und du bleibst im Geschäft?«

»Wenn du mich behalten willst, sonst mache ich mich mit Franzi selbständig.«

»Das könnte dir so passen, und das würde mir Franzi nicht antun. Wir bleiben zusammen, und so haben wir auch mehr Zeit fürs Privatleben. Das Leben ist zu schön, um es nicht zu genießen.«

»Freut mich, daß du zu der Erkenntnis gekommen bist, aber ich finde, man muß es sinnvoll gestalten. Diese Erkenntnis habe ich gewonnen.«

»Du bist endlich erwachsen geworden, Jürgen.«

»Du sagst es. Es war an der Zeit.«

*

Kirsten hatte sich lange mit Geli unterhalten, bevor diese ihre Komplexe überwunden hatte. Sie hatte sich eingeredet, daß man mit dem Finger auf sie zeigen würde, wegen ihrer Affäre mit Brack und man dadurch doch annehmen würde, daß sie auch mit der Krankenhausgeschichte zu tun hatte.

Sie war immer noch deprimiert, aus ihrer Bahn geworfen. Sie plagte sich mit Selbstvorwürfen, daß sie sich aus dem Leben hatte stehlen wollen.

Dazu hatte sie auch mitbekommen, daß sich für Kirsten eine gemeinsame Zukunft mit Frank Derksen anbahnte, was ihr wohl zusätzlich klarmachte, was sie sich selbst eingebrockt hatte. Nicht, daß sie es Kirsten nicht gegönnt hätte, aber insgeheim beneidete sie die Freundin doch.

Nun stand es fest, daß sie das Angebot annehmen würde und sie mit Franzi zur Insel der Hoffnung fahren würde. Es war nur auch für sie eine Überraschung, daß Jürgen Derksen am Steuer sitzen würde. Noch ein glückliches Paar!

Aber Jürgen und Franzi kehrten es nicht heraus. Sie waren sich einig, es nicht so deutlich merken zu lassen, wie eng ihre Beziehung schon war.

Sie hatten Geli gesagt, daß Jürgen sich die Insel anschauen wollte, weil sein Bruder sich möglicherweise dort auch ein paar Wochen erholen wolle.

Waltraud sah der Ankunft ihrer Tochter ganz aufgeregt entgegen. Sie hatte sich blendend erholt, lief im Jogginganzug herum und hatte sich einen flotten Haarschnitt zugelegt. Franzi hätte ihre Mutter fast nicht wiedererkannt.

Sie hatte auch zum ersten Mal das Gefühl, daß sich ihre Mutter wirklich freute und die Umarmung herzlich gemeint war.

Aber wer sollte sich in dieser traumhaft schönen Umgebung nicht erholen und Freude am Leben bekommen!

Waltraud riß die Augen auf, als Franzi ihr Jürgen vorstellte, war er doch ein Mann, der Frauen aller Altersklassen begeistern konnte. Dieser Mann wollte ihr Schwiegersohn werden? Sie war tatsächlich sekundenlang sprachlos.

Aber auch Franzi mußte staunen, als sie Maurice Benson kennenlernte, denn er war alles andere als ein pflegebedürftiger alter Mann. Grad Mitte Sechzig war er und sehr ansehnlich, freundlich und humorvoll.

Jürgen verstand sich gleich mit ihm. Er kannte die Schweiz, und er kannte Chur. Er wußte auch, wie man mit vermögenden Schweizern umgehen mußte, denn die trugen ihr Geld nicht zur Schau.

Für Franzi war es eine Riesenüberraschung, daß ausgerechnet ihre Mutter das Herz dieses netten Mannes gewonnen hatte, aber wenn man Traudel, wie Maurice sie nannte, jetzt kennenlernte, konnte man es gar nicht glauben, was für eine launische, miesepetrige Frau sie noch vor ein paar Wochen gewesen war.

»Ja, das macht unsere Insel«, sagte Anne Cornelius mit einem vielsagenden Lächeln. »Wer hier nicht gesund wird ist nicht mehr zu retten. Sie werden sehen, daß auch Geli in kurzer Zeit wieder das Lachen lernt.«

Waltraud wollte natürlich wissen, wann die Hochzeit stattfinden sollte.

»Das erfährst du noch rechtzeitig, Mutter«, sagte Franzi.

»Gar so eilig haben wir es nicht.«

»Ich schon«, warf Jürgen ein.

»Ihr könnt ja dann unsere Wohnung nehmen«, meinte Waltraud.

»Das bestimmt nicht, ich habe eine Wohnung, aber wir werden uns auch mal ein Haus bauen, da wir ja auch Kinder haben wollen.«

»Alles hübsch der Reihe nach«, sagte Franzi. »So schnell willst du wohl gar nicht Großmutter werden.«

»Das macht mir nichts aus. Wie ich dich kenne, wirst du eine bessere Mutter werden als ich es war. Ich freue mich sehr, daß du einen so lieben Mann bekommst, Franzi.«

»Ich freue mich für dich auch, Mutter.«

»Maurice will natürlich, daß wir auch heiraten«, sagte Waltraud verlegen, »damit alles seine Ordnung hat.«

»Und was bin ich froh darüber«, sagte Franzi zu Jürgen, als sie heimwärts fuhren. »Das ist doch das schönste Hochzeitsgeschenk für uns, daß wir uns nicht um sie kümmern müssen.«

Auch darin war sie ehrlich wie immer.

*

Frank hatte das erste Wochenende daheim mit Kirsten genossen. Sie hatte ihre hausfraulichen Qualitäten unter Beweis gestellt, und er fühlte sich pudelwohl bei dieser Fürsorge.

Für ihn gab es keine Frage, daß sie so bald wie nur möglich heiraten würden, wenn es für Kirsten auch noch wie ein Traum war, daß sie in diesem wunderschönen Haus leben würden.

»Da habe ich doch endlich mal wieder das richtige Rezept gefunden«, sagte Daniel Norden, als die Hochzeitsglocken für Frank und Kirsten läuteten.

»Und gleich mit für Franzi und Jürgen«, lächelte Fee. »Wer hätte das gedacht!«

»Aber das Beste ist doch, daß sich sogar für Frau Buchholz ein Partner gefunden hat«, meinte Daniel. »Ich werde öfter mal Liebe auf Rezept verordnen.«

Daß Geli auch ins Leben zurückgefunden und auf der Insel eine neue Heimat gefunden hatte, freute sie alle.

Das Leben konnte so schön sein, wenn man die richtige Einstellung fand. Nach vorn blicken und nicht zurück, das war Gelis Devise geworden.

Kirsten und Frank waren ein Jahr später glückliche Eltern einer ganz besonders hübschen Tochter. Frank hatte sich ein Mädchen gewünscht, und auf Kirstens Wunsch wurde es auf den Namen Franca getauft.

Jürgen und Franzi wollten sich noch Zeit lassen. Sie sorgten dafür, daß Frank Zeit für die Familie hatte. Er brauchte sich um das Geschäft keine Gedanken zu machen, denn die beiden hatten alles fest im Griff.

Ein dynamisches junges Paar wurden sie genannt. Wer mit Franzi Derksen verhandelte, wurde überzeugt, daß man ihr nichts vormachen konnte. Jürgen hatte das beizeiten gelernt.

Dr. Norden Extra Staffel 2 – Arztroman

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