Читать книгу Chefarzt Dr. Norden Staffel 7 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 6

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Jette liebte diesen besonderen Augenblick, wenn sie die Tür des Backofens öffnete und ihr der Duft von karamellisiertem Zucker, zerlaufener Butter und weichem Biskuit entgegenströmte. Mit einem entrückten Lächeln schloss sie die Augen und war glücklich, dass sie sich für den schönsten Beruf der Welt entschieden hatte.

»Nicht träumen! Arbeiten!«

Jette zuckte schuldbewusst zusammen, als sie Ankas schnippische Stimme hinter sich hörte.

»Ich träume nicht«, verteidigte sie sich halbherzig und nahm den Kuchen aus dem Ofen. Sie hatte gelernt, dass es besser war, über Ankas Sticheleien hinwegzusehen.

Die Tochter des Bäckermeisters kam zum Glück nur selten zu ihr in die Backstube. Sie hatten zwar im selben Jahr dieselbe Schule abgeschlossen, waren sich im Grunde aber völlig fremd. Während Jette eine Konditorlehre begonnen hatte, war Anka sofort in den elterlichen Betrieb eingestiegen, um ihren Platz hinter der Ladentheke einzunehmen. Erst Jahre später hatte der Zufall die beiden jungen Frauen wieder zusammengeführt.

Jette war nach ihrer Ausbildung auf der Suche nach einer neuen Herausforderung gewesen, und im Café Stiller gab es eine freie Stelle in der Backstube. Als Jette die Anzeige im Wochenblatt gelesen hatte, war ihr sofort Anka eingefallen. Anka Stiller, das unscheinbare und zurückhaltende Mädchen, dem die Schule nie leichtgefallen war und das nur wenige Freunde hatte.

Jette bewarb sich auf die Stelle, arbeitete einen Tag auf Probe und bekam dann den Job. Damals war sie überzeugt gewesen, gut mit Anka auskommen zu können. Doch Anka hatte ihr schnell klargemacht, wer hier das Sagen hatte und dass sie als Juniorchefin keine freundschaftliche Beziehung zu einer Angestellten unterhielt.

Inzwischen arbeitete Jette seit zwei Jahren im Café Stiller, und sie hatte sich mit Ankas Eigenarten längst abgefunden. Sie musste nicht mit ihr befreundet sein. Für Jette zählte nur, dass ihr die Arbeit Spaß machte und dass man ihr in der Backstube freie Hand ließ. Sie konnte nach ihren eigenen Rezepten backen und neue Kreationen entwickeln. Manfred Stiller, der Bäckermeister, mischte sich nicht in die Arbeit der jungen Konditorin ein. Er machte das, was er am besten konnte: das Backen von unschlagbar gutem Brot. Für Kuchen und Torten hatte er allerdings nicht viel übrig, obwohl gerade sie dafür sorgten, dass sein kleines Café immer gut besucht war und der Umsatz im Verkauf kontinuierlich anstieg.

Fast alle Kuchen, Torten und Plätzchen wurden inzwischen nach Jettes alter Rezeptsammlung gebacken. Die einzelnen Komponenten, die für den unvergleichlichen Geschmack ihrer Schöpfungen verantwortlich war, kannte nur sie. Sie standen in einem kleinen abgegriffenen Büchlein, das sie wie einen Goldschatz hütete und nie aus der Hand gab. Nicht nur, weil sie das ihrer Großmutter versprochen hatte, sondern auch, weil sie wusste, dass sie sich damit ihren eigenen Arbeitsplatz sicherte.

In wenigen Wochen lief ihr befristeter Arbeitsvertrag aus. Jette machte sich deswegen keine Sorgen. Sie war sich sicher, dass ein neuer, unbefristeter Vertrag schon längst für sie auf dem Schreibtisch des Chefs bereitlag.

»Ist der Käsekuchen endlich fertig? Ich habe dir bereits vor Stunden gesagt, dass ich im Laden Nachschub brauche.«

»Und deshalb habe ich ihn auch sofort gebacken. Er musste nur noch ein wenig abkühlen«, erklärte Jette ruhig und ging dann zum Tisch hinüber, auf dem der Käsekuchen auf einem Gitterrost stand. Mit routinierten Handgriffen schob sie ihn auf die Tortenplatte aus glänzendem Edelstahl.

»Ich bringe ihn dir sofort raus«, sagte sie zu Anka, die ungeduldig auf der Stelle trampelte.

»Nein, ich nehme ihn gleich mit.« Anka drängelte sich an Jette vorbei und riss ihr den Kuchen fast aus den Händen. »Ich brauche ihn sofort.«

Jette lächelte nachsichtig und ignorierte dabei die eigene Sehnsucht in ihrem Herzen. »Lass mich raten: Lukas ist gekommen und verlangt nach meinem Käsekuchen.«

»Nach deinem?«, fragte Anka spitz zurück.

Jette hätte fast aufgestöhnt. »Nein, natürlich ist es nicht mein Kuchen, sondern der des Café Stillers.«

Sie sah zu, wie Anka mit dem Käsekuchen davoneilte, um Lukas ein extragroßes Stück davon zu servieren. Lukas hatte eine Schwäche für Käsekuchen und Anka eine Schwäche für Lukas. Allerdings schlug auch Jettes Herz schneller, wenn Lukas im Café saß. Noch vertrackter wurde die Situation, weil Jette nicht wusste, wie Lukas zu dem Ganzen stand. Kam er ihretwegen oder wegen Anka? Oder womöglich nur wegen des Kuchens?

Vor einigen Wochen war Lukas zum ersten Mal im Café aufgetaucht. Es war ein verregneter, stürmischer Herbsttag gewesen, und nur wenige Menschen hatten im Café Zuflucht vor dem schlechten Wetter gesucht. Weil Anka frei hatte, musste Jette an diesem Tag die Bedienung übernehmen. Obwohl sie ihre Backstube liebte, gefiel es ihr auch gut, im Service zu arbeiten und mit den Gästen, die sich ihren Kuchen schmecken ließen, ins Gespräch zu kommen.

Lukas hatte allein an dem kleinen Fenstertisch im hinteren Teil des Cafés gesessen. Ganz vertieft in sein Buch, das vor ihm auf dem Tisch lag, schenkte er seiner Umgebung kaum Beachtung. Als Jette an seinen Tisch kam, um die Bestellung aufzunehmen, musste sie ihn zweimal ansprechen, bevor er überhaupt von ihr Notiz nahm und von seiner Lektüre aufsah. Verwirrt hatte er sie angesehen. Dann begannen seine Augen zu strahlen, und Jette vergaß, ihn nach seinen Wünschen zu fragen.

»Was kannst du mir empfehlen?«, hatte er gefragt und mit seinem umwerfenden Lächeln dafür gesorgt, dass ihr Kopf völlig leer war. Ihre Beine drohten nachzugeben, und in ihrer Brust gab es dieses komische Gefühl, das ihr Herz zum Stolpern brachte und ihr die Kraft zum Sprechen nahm.

»Käsekuchen«, stammelte sie, weil ihr nichts anderes einfiel.

»Käsekuchen! Das klingt fantastisch!« In seiner Stimme schwang so viel übertriebene Begeisterung mit, dass Jettes seltsame Anspannung im Nu verschwand und sie fröhlich in sein Lachen einstimmen konnte.

Sie hatte ihm den Käsekuchen und einen großen Milchkaffee gebracht, und als er sie bat, ihm ein wenig Gesellschaft zu leisten, musste sie nicht lange überlegen. Nur zu gern war sie seiner Bitte nachgekommen und hatte sich zu ihm an den Tisch gesetzt, um mit ihm zu plaudern und zu lachen. Als er später ging, versprach er, bald wiederzukommen. Und das hatte er getan. Lukas wurde zu einem Stammgast im Café. Er saß immer am selben Tisch am Fenster und bestellte jedes Mal Käsekuchen. Leider gelang es Jette nie wieder, mehr als ein paar Worte oder einen flüchtigen Gruß mit ihm zu wechseln. Sie war meistens in der Backstube, während Anka ihn und die anderen Gäste bediente. In letzter Zeit kümmerte sich Anka um ihn mit besonderer Hingabe. Nirgends verweilte sie so lange wie an seinem Tisch. Sie scherzte und lachte mit ihm, während Jette nur die wehmütigen Erinnerungen an seinen ersten Besuch im Café Stiller blieben.

Jette holte die Zitronentörtchen aus der Kühlung und dekorierte sie mit frischer Minze. Nach einem letzten kritischen Blick nahm sie die Glasplatte hoch, um sie in den Verkaufsraum zu tragen. Auf dem Flur, der die Backstube mit dem Laden verband, blieb sie kurz vor dem Spiegel stehen. Genauso kritisch wie zuvor die Zitronentörtchen besah sie ihr Gesicht. Sie war nicht überrascht, als sie dort und auf ihrem dunklen Haar Spuren von feinstem Mehlpuder entdeckte. Mit der freien Hand rieb sie ihr Gesicht sauber und setzte dann ihren Gang fort. Sie wollte gerade den schweren Vorhang beiseiteschieben, als ihr Ankas ungeduldige Stimme entgegenschlug und sie innehielt.

»Nein, du kannst nicht zu Jette in die Backstube. Wie oft soll ich dir das denn noch sagen? Unsere Hygienevorschriften verbieten, dass die Gäste … «

»Das weiß ich doch schon alles.« Das war eindeutig Lukas, und Jette blieb, wo sie war, um ihm zuzuhören.

»Du musst dich nicht ständig wiederholen, Anka. Wenn ich nicht zu ihr darf, dann hol sie doch einfach her!«

»Das geht schon mal gar nicht!«, wies ihn Anka zurecht. »Schließlich hat sie zu tun. Sie kann nicht alles stehen und liegen lassen, um mit dir zu schwatzen.«

»Ich wollte nicht mit ihr schwatzen, sondern ihr nur kurz Hallo sagen, bevor ich wieder gehe.«

»Kein Problem, Lukas. Ich richte ihr deine Grüße aus.«

»Anka, bitte, kannst du Jette nicht doch herholen? Es dauert auch nicht lange. Bitte!«

Als Jette nun hörte, dass sich Lukas aufs Bitten verlegte, trat sie mit ihrem Zitronentörtchen hinter dem Vorhang hervor.

»Habe ich gerade meinen Namen gehört?«, fragte sie betont fröhlich. Sie sah, wie Lukas’ Gesicht zu strahlen begann, während hinter Ankas Stirn eine Gewitterwolke aufzog.

»Jette! Schön, dass ich dich doch noch zu sehen bekomme!«

Jette merkte, wie in der Nähe ihres Herzens wieder dieses flatternde Gefühl einsetzte, das sie kannte, seit sie Lukas zum ersten Mal begegnet war.

»Ich freue mich auch, Lukas.« Sie zwinkerte ihm zu. »Und? Hat dir der Käsekuchen geschmeckt?«

Lukas grinste. »Ja, so gut wie immer.«

»Willst du nicht mal etwas anderes ausprobieren?«, gab Jette mit einem leisen Lachen zurück.

Entschieden schüttelte den Lukas den Kopf. »Auf gar keinen Fall! Ich verbinde mit dem Käsekuchen meine schönsten Erinnerungen.« Sein Lächeln wurde weicher, als er nun nachsetzte: »Besonders mit dem ersten Stück.«

»Hast du nichts zu tun, Jette?«, mischte sich jetzt Anka ein. »Am Ende verbrennt dir noch ein Kuchen.«

»Keine Sorge. Das passiert schon nicht.« Jette lächelte, doch als sie Ankas wütenden Blick auffing, wurde sie sofort nervös und lenkte schnell ein. »Aber du hast recht. Ich sollte wirklich mal nachschauen, ob alles in Ordnung ist.«

»Schade«, sagte Lukas. »Ich dachte, wir könnten uns noch ein bisschen unterhalten.«

»Dafür wird Jette nicht bezahlt«, fauchte ihn Anka an, ruderte dann aber zurück und sagte freundlicher: »Du könntest mich ja fragen, wenn du Gesellschaft brauchst. Ich nehme mir gern Zeit für dich. Sehr gern sogar.«

»Nun ja, also … « Lukas sah nervös von ihr zu Jette und fuhr sich dabei mit einer Hand durch seine blonden Haare, die anschließend aussahen, als wäre er gerade aus dem Bett gestiegen. Hastig warf er einen Blick auf seine Uhr. »Oh! Schon so spät! Ich muss dann leider los. Vielleicht ein anderes Mal … « Er winkte den beiden Frauen noch einmal zu und lief dann so schnell aus dem Café, dass es wie eine Flucht wirkte.

Aufgebracht drehte sich Anka zu Jette um, die sich beeilte, in den vermeintlichen Schutz der Backstube zurückzukehren. Sie hatte nichts verbrochen, und trotzdem hatte sie sich Ankas Zorn zugezogen. Am besten ging sie ihr für eine Weile aus dem Weg, bis sie sich wieder beruhigt hatte. Doch Anka folgte ihr.

»Was läuft da zwischen dir und Lukas?«, blaffte sie.

»Gar nichts! Er ist ein Gast wie jeder anderer auch … «

»Für wie blöd hältst du mich? Denkst du wirklich, ich weiß nicht, was hier los ist?«

Jettes Verärgerung ließ sie vergessen, dass ihre Strategie eigentlich lautete, jede Konfrontation mit Anka zu vermeiden. Sie verschränkte die Arme vor der Brust.

»Klär mich auf! Ich habe nämlich keine Ahnung, wovon du sprichst oder was du mir hier vorwirfst.«

»Du machst ihm schöne Augen!« Anka hatte sich vor Jette aufgebaut und funkelte sie wütend an. »Was fällt dir ein, ihn mir auszuspannen?«

»Wie bitte? Spinnst du jetzt total? Du warst doch nie mit ihm zusammen!«

»Woher willst du das denn wissen? Was glaubst du wohl, warum er jeden Tag herkommt? Ganz sicher nicht wegen deines blöden Käsekuchens.« Als Anka sah, wie Jette bei ihren Worten zusammenzuckte, setzte sie noch eins drauf. »Lukas und ich sind uns in den letzten Tagen nähergekommen.«

»Nähergekommen?«, echote Jette und wunderte sich, wie weh ihr Ankas Worte taten.

»Ja, sogar sehr nahe! Also lass ihn gefälligst in Ruhe! Du kannst ruhig zugeben, dass du vorhin nur rausgekommen bist, um ihn anzuschmachten.«

»Nein, ich bin rausgekommen, um die Zitronentörtchen in die Auslage zu stellen.« Mit Jettes Beherrschung war es nun vorbei. Der Gedanke, dass Anka und Lukas ein Paar sein könnten, brannte wie Feuer in ihrem Herzen.

»Die Zitronentörtchen waren der Grund und nicht Lukas«, wiederholte Jette diesmal energischer und gab nun jede Zurückhaltung auf. »Und selbst wenn es anders gewesen wäre, würde es dich überhaupt nichts angehen!«

»Natürlich geht es mich etwas an, wenn meine Angestellte mit den Gästen flirtet und dabei ihre Arbeit vernachlässigt!«, keifte Anka lautstark zurück. »Oder hast du etwa vergessen, wer dir deine Lohntüte füllt?«

»Na, du ganz bestimmt nicht! Noch sind das deine Eltern! Schließlich stehen ihre Namen auf meinem Arbeitsvertrag!«

»Ruhe! Seid augenblicklich still!«, zischte es plötzlich hinter den beiden streitlustigen Frauen, die sich inzwischen wie Kampfhähne gegenüberstanden.

Als Jette sich umdrehte und das aufgebrachte Gesicht ihrer Chefin sah, zog sie vor Verlegenheit den Kopf ein. Warum hatte sie sich nur zu diesem Streit hinreißen lassen? Sie hätte einfach ihre Arbeit machen und sich weder um Anka noch um Lukas scheren sollen. Bei dem Gedanken an Lukas begehrte ihr Herz allerdings sofort auf und sagte ihr, dass er jedes Wortgefecht wert sei.

»Was ist denn bloß in euch gefahren?«, schimpfte Dagmar Stiller so leise, wie es ihr Ärger gerade noch zuließ. »Euren Krach hört man bis ins Café.«

»Es tut mir leid, Frau Stiller«, sagte Jette ehrlich beschämt, während Anka die Hände vors Gesicht schlug und nur ein herzerweichendes Schluchzen vernehmen ließ. Sofort eilte Dagmar zu ihr, um sie zu trösten. Kaum hatte sie Anka in ihre Arme gezogen, nahm das Schluchzen an Lautstärke zu.

»Schon gut, meine Kleine«, versuchte Dagmar, ihr einziges Kind zu beruhigen. »Wir gehen jetzt zu Papa ins Büro. Wenn es dir wieder besser geht, erzählst du uns, was los war.«

Fassungslos sah Jette zu, wie Dagmar Stiller die immer noch weinende Anka aus der Backstube führte. Sie ließ sich auf einen Stuhl sinken und atmete tief durch. Ein ungutes Gefühl sagte ihr, dass das Ganze für sie Konsequenzen haben würde. Äußerst unangenehme Konsequenzen, wie sie befürchtete. Leider half es wenig, sich zu sagen, dass sie an diesem Streit nicht die alleinige Schuld trug. Genauso wenig, wie sie darauf vertrauen konnte, dass Dagmar und Manfred Stiller so vernünftig waren, das einzusehen.

Jette blieb noch eine Weile sitzen und zermarterte sich ihren Kopf mit der Frage, wie schlimm die Sache für sie ausgehen mochte. Dann beschloss sie, diese fruchtlose Grübelei zu beenden und sich mit dem, was sie am liebsten machte, abzulenken. Es war Zeit, ein paar Kekse zu backen. Das half immer, um Kummer oder Sorgen zu vertreiben.

Sie hatte gerade die Butter abgewogen, als Manfred Stiller die Backstube betrat. Er musste nicht erst den Mund aufmachen, um die schlechte Nachricht zu verkünden. Seine bitterernste Miene verriet Jette sofort, dass ihre Zeit im Café Stiller vorüber war.

*

Katja sah auf die Liste, die vor ihr auf dem kleinen Küchentisch lag, und schrieb nach kurzem Überlegen einen weiteren Namen dazu.

»Was machst du da?«, murmelte Hagen schlaftrunken, als er zu ihr in die Küche kam. »Und warum bist du schon wach? Es ist erst halb sechs.« Er ging zu ihr, um ihr einen leichten Kuss auf die Wange zu geben.

»Ich konnte nicht mehr schlafen«, erklärte Katja und sah ihren Liebsten zärtlich an. »Du aber anscheinend auch nicht. Halb sechs ist sogar für deine Verhältnisse sehr früh.«

»Ich habe um sieben eine Fallbesprechung und möchte vorher noch einmal die Akten durchlesen.«

»Ein komplizierter Fall?«, fragte Katja nach. Hagen arbeitete als Staatsanwalt am Oberlandesgericht. Frühe Termine mit den ermittelnden Behörden kamen häufig vor und gehörten für ihn zu einem ganz normalen Arbeitstag dazu. Über seine Fälle sprach er nie mit ihr, obwohl sie sich sehr für seine Arbeit interessierte. Er begründete es mit der Schweigepflicht, der er unterlag, aber Katja vermutete, dass es ihm vor allem darum ging, die vielen unschönen Dinge, mit denen er beruflich zu tun hatte, von ihrem Leben fernzuhalten.

»Nein, nicht kompliziert, eher mühsam und aufwändig mit riesigen Aktenbergen, deren Sichtung viel zu viel Zeit verschlingt.« Als Hagen herzhaft gähnte, reichte ihm Katja ihre halbvolle Kaffeetasse.

»Trink! Dann geht’s dir bestimmt gleich besser.«

»Danke, du bist ein Schatz.« Hagen setzte sich, nahm einen Schluck und seufzte genussvoll auf, als die belebende Wirkung des Koffeins einsetzte.

»Hätte ich gewusst, dass du heute so zeitig aufstehst, hätte ich uns Frühstück gemacht.«

»Nicht nötig. Das Meeting um sieben schließt ein Frühstück mit ein. Frau Karsten besteht darauf, belegte Brötchen und literweise Kaffee zu besorgen.« Frau Karsten war Hagens persönliche Assistentin. Eine bessere konnte er sich nicht vorstellen, und er dachte bereits jetzt mit Grauen daran, dass sie in einigen Jahren in Pension ging.

Hagen sah zu, wie Katja neuen Kaffee aufsetzte, und warf dann einen Blick auf die Liste, die noch immer auf dem Tisch lag.

»Advent? Weihnachten?«, las er fragend die Überschriften der beiden Spalten vor. Darunter standen viele Namen, von denen er die meisten kannte. »Was ist das? Eine Geschenkeliste?«

»Ja, genau.« Katja nickte eifrig mit dem Kopf. »In vier Wochen haben wir den Ersten Advent. Bis dahin muss ich noch allerhand besorgen.«

Hagen runzelte nachdenklich die Stirn. »Zum Advent? Tut mir leid. Wahrscheinlich bin ich noch nicht munter genug, um das verstehen zu können. Dass alle meinen, sich zu Weihnachten mit Geschenken zu überhäufen, mag ja noch in meinen Kopf reingehen, aber wer verteilt denn außerdem Geschenke zum Advent?«

»Ich«, sagte Katja lässig, als wäre das die normalste Sache der Welt. »Das mache ich jedes Jahr.«

»Warum?«, fragte Hagen konsterniert nach. »Reicht dir das Weihnachtsfest nicht aus?«

Katja lachte und setzte sich wieder zu ihm an den Tisch. »Nein, es reicht mir tatsächlich nicht. Von mir aus kann Weihnachten das ganze Jahr über sein. Ich liebe es. Und die Adventszeit erst recht. Menschen, die mir wichtig sind, erinnere ich mit kleinen Geschenken daran, dass dann eine besondere Zeit anfängt. Eine Zeit zum Innehalten und Besinnen, eine Zeit, der wir leider viel zu wenig Beachtung schenken. Findest du nicht auch, dass den Adventswochen ein wundervoller Zauber innewohnt? Wäre es nicht schrecklich schade, wenn wir ihn einfach ignorieren würden?« Mit ihren rehbraunen Augen sah sie ihn erwartungsvoll an.

Liebevoll strich Hagen seiner Katja über die Wange. »Ja, das wäre wirklich sehr schade, mein süßer, wunderschöner Weihnachtsengel«, erwiderte er weich, bevor er ihr einen zärtlichen Kuss gab.

Katja war es, die diesen Kuss leider viel zu früh beendete. Sie griff nach ihrem Stift und schrieb einen weiteren Namen auf die Liste.

»Frau Karsten?«, wunderte sich Hagen, als er ihn las. »Meine Frau Karsten?«

»Ja, natürlich! Schließlich sorgt sie dafür, dass du heute ein gutes Frühstück bekommst. Außerdem ist sie immer so freundlich, wenn ich sie anrufe. Ich mag sie.«

»Ich mag sie auch«, gab Hagen unumwunden zu.

»Das weiß ich. Und genau deshalb gehört Frau Karsten auch auf meinen Zettel.«

Als Hagen aufgebrochen war, nahm sich Katja ihre Liste ein weiteres Mal vor. Sie war froh, dass sie noch an Frau Karsten gedacht hatte, befürchtete aber trotzdem, jemanden vergessen zu haben.

»Einundzwanzig«, sagte sie halblaut, nachdem sie die Namen gezählt hatte. »Einundzwanzig plus vier Reservegeschenke.« Lächelnd schrieb sie eine große Fünfundzwanzig auf das Blattende.

Katja hatte schon ganz genaue Vorstellungen, wie ihre diesjährige Adventsüberraschung aussehen sollte: eine kleine Grußkarte mit lieben Wünschen, handgefertigter Baumschmuck und etwas Weihnachtsgebäck. Die Karten lagen schon bereit und mussten nur noch beschrieben werden, und den Baumschmuck würde sie heute bestellen. Genauso würde sie es mit den Keksen machen.

Unweit der Behnisch-Klinik, in der sie als Assistentin des Chefarztes arbeitete, gab es eine Bäckerei mit einem kleinen Café. Katja war der festen Überzeugung, dass es dort den leckersten Kuchen, aber vor allem die himmlischsten Schokoplätzchen gab. Mit Fug und Recht konnte sie von sich behaupten, keine großen Laster zu haben. Doch den Schokokeksen der Stillers konnte sie nie widerstehen. Für sie hatte Katja eine große Leidenschaft entwickelt, kaum dass sie den ersten gekostet hatte.

Katja nahm sich vor, nach Dienstschluss zum Café Stiller zu gehen und ihre Plätzchenbestellung aufzugeben. Zusammen mit den anderen Sachen waren sie das ideale Geschenk, um beim Schein der Adventskerzen dem Alltag für ein paar wertvolle Augenblicke zu entfliehen. Wenn der zarte Schmelz der Schokolade und die süßen Keksbrösel im Mund zergingen, würde sich niemand der vorweihnachtlichen Stimmung entziehen können.

Als Katja am späten Nachmittag das Café betrat, wunderte sie sich, wie leer es heute war. Nicht ein einziger Tisch war besetzt, und außer einem anderen Kunden stand niemand am Verkaufstresen. Sie meinte, den jungen Mann schon öfter hier gesehen zu haben. Hatte er nicht immer an diesem kleinen Fenstertisch gesessen? Plötzlich stutzte Katja. Sie vergaß den Mann und starrte entgeistert auf das mehr als dürftige Kuchenangebot in der Auslage. Wo waren all die kunstvollen Sahnetorten geblieben? Die Biskuitrollen? Oder diese kleinen verführerischen Mini-Törtchen, von denen sie sich so gern eins gönnte? Sie waren kaum größer als ein Plätzchen, hatten aber alles, was von einer echten Sahnetorte erwartet wurde: einen lockeren Biskuitteig, cremige Füllungen und eine fluffige Sahnehaube. Eine sündhafte Versuchung, der Katja immer gern nachgab, weil die süßen Miniausführungen kein schlechtes Gewissen zuließen.

Katja verbarg ihre Enttäuschung über die fehlenden Törtchen, grüßte freundlich in Anka Stillers Richtung und wartete, bis sie an der Reihe war. Dabei wurde sie unfreiwillig Zeugin des kleinen Disputs zwischen Anka und ihrem Kunden.

»Lukas, wenn du nichts kaufen willst, sondern nur herkommst, um mich ihretwegen auszufragen, kannst du gleich wieder gehen.«

Erstaunt registrierte Katja, wie unfreundlich sich Anka heute anhörte.

»Sobald du mir ihre Adresse oder Telefonnummer gibst, siehst du mich nie wieder«, erwiderte der junge Mann ungeduldig. »Bis dahin werde ich jeden Tag hier aufkreuzen und … «

»Von mir aus! Ich habe jedenfalls Besseres zu tun, als mir weiter von dir die Zeit stehlen zu lassen.«

Anka ließ ihn stehen und sah zu Katja. Ihr Lächeln wirkte aufgesetzt und verriet, wie sehr sie sich über diesen Lukas ärgerte. »Guten Tag, Frau Baumann. Was darf es denn heute sein? Vielleicht wieder ein schönes Vollkornbrot?«

»Nein, vielen Dank, heute nicht. Ich bin nur gekommen, um eine Bestellung aufgeben.«

Katja wartete, bis Anka das dicke Buch, in dem alle Vorbestellungen eingetragen wurden, unter der Ladentheke hervorholte und aufschlug.

»Für wann?«, fragte Anka und begann zu blättern.

»Für den Donnerstag vor dem Ersten Advent brauche ich fünfundzwanzig Beutel mit den leckeren Schokokeksen. Sie wissen schon, meine Lieblingskekse, die ich immer nehme. Ich denke, hundertfünfzig Gramm … «

»Tut mir leid«, unterbrach Anka sie schnell. »Also, die backen wir nicht mehr. Wir haben sie aus dem Sortiment genommen. Aber ich kann Ihnen andere anbieten, die so ähnlich sind und mindestens genauso gut schmecken.«

Katja blinzelte irritiert. Das konnte unmöglich wahr sein. Ihre Kekse wurden nicht mehr gebacken? Aber sie liebte sie doch sehr!

»Ich möchte keine anderen Kekse«, sagte Katja aufgeregt. »Es müssen unbedingt die Kekse sein, die ich hier immer kaufe. Sie können sie doch nicht so einfach aus dem Programm nehmen!«

»Nun, eigentlich können wir das schon«, gab Anka mit einem süffisanten Lächeln zurück. »Immerhin ist das hier unser Laden, und wir legen fest, was angeboten wird.«

»Anka!«, erklang plötzlich die mahnende Stimme von Dagmar Stiller. Sie war aus der Backstube gekommen und sah ihre Tochter tadelnd an, bevor sie sich Katja zuwandte.

»Gibt es ein Problem, Frau Baumann?«

»Ja, leider. Ich höre gerade, dass Sie meine Lieblingskekse nicht mehr backen.« Sie warf einen bezeichnenden Blick auf die magere Auslage. »Auch andere Sachen, die ich immer so gern mochte, fehlen plötzlich.«

Dagmar seufzte. »Ja, leider. Unsere Konditorin hat uns verlassen und ihre Rezepte mitgenommen. Wir sind deshalb wieder auf unser altes Sortiment zurückgegangen.«

»Jette ist fort?«, fragte Katja entsetzt. Plötzlich verstand sie auch, was das Gespräch zwischen Anka und dem anderen Kunden zu bedeuten hatte. Anscheinend gab es neben ihr noch jemanden, der Jettes Weggang als Katastrophe ansah.

»Ja, seit zwei Wochen«, sagte Dagmar Stiller und druckste ein wenig herum. »Sie brauchte wohl eine Veränderung«, sagte sie unbestimmt, und Katja bemerkte, wie sie bei diesen Worten ihrer Tochter einen langen Blick zuwarf.

Anka schien das nicht zu kümmern. Vor ihr lag noch immer das aufgeschlagene Bestellbuch. »Soll ich Ihre Bestellung jetzt aufnehmen? Wie viel von unseren Schokokeksen möchten Sie denn nun haben?«

Vor Schreck verschluckte sich Katja fast. Sie war einfach nicht bereit, sich mit einem Ersatz zufriedenzugeben. Sie wollte Jettes Kekse und keine anderen. Noch während sie nach einer höflichen Ausrede suchte, griff Dagmar Stiller an ihrer Tochter vorbei und schlug das Buch wieder zu.

»Wissen Sie, was mir machen, Frau Baumann? Ich packe Ihnen jetzt ein paar von unseren Keksen ein. Sie probieren Sie nachher zu Hause bei einer schönen Tasse Kaffee und kommen dann einfach noch mal vorbei, um Ihre Bestellung aufzugeben. Einverstanden?«

Fünf Minuten später verließ Katja den Laden. In ihrer Tasche befand sich ein kleiner Beutel mit Schokoladenkeksen, von denen sie jetzt schon wusste, dass sie bei dem Geschmackstest zu Hause durchfallen würden. Jettes Kekse waren etwas Besonderes gewesen, und keine anderen konnten es mit ihnen aufnehmen.

»Hallo«, rief ihr plötzlich jemand hinterher. »Bitte warten Sie einen Moment.« Als sich Katja umdrehte, stand sie dem jungen Mann aus dem Laden gegenüber. »Entschuldigung. Ich habe vorhin mitbekommen, dass Sie Jette kennen.«

»Ja, aber nicht besonders gut. Ich bin ihr ein paar Mal im Laden begegnet und habe mich manchmal mit ihr unterhalten.«

Enttäuscht verzog Lukas das Gesicht. »Ach so. Ich hatte gehofft, dass Sie sie vielleicht näher kennen würden und wüssten, wie ich sie erreichen kann.«

Katja schüttelte bedauernd den Kopf. »Nein, leider nicht. Wenn es so wäre, würde ich Jette jetzt anrufen und sie bitten, mir meine Kekse zu backen. Ich kann es nicht fassen, dass sie nicht mehr dort arbeitet.« Katja deutete mit einem Kopfnicken zum Café Stiller hinüber. Dann fragte sie: »Warum suchen Sie sie eigentlich? Vermissen Sie auch Ihre Schokokekse?«

»Nein, bei mir ist es wohl eher der Käsekuchen«, antwortete er mit einem leisen Lachen auf Katjas Frage. Dann wurde er wieder ernst. »Um ehrlich zu sein, Jettes Käsekuchen ist mir völlig egal. Eigentlich bin ich überhaupt kein Kuchenfan. Ich mag viel lieber herzhafte Sachen. Aber trotzdem saß ich jeden Tag im Café und habe Jettes Käsekuchen gegessen. Und nun ist sie fort … «

Katja unterdrückte einen langen, gefühlvollen Seufzer. Sie liebte romantische Geschichten. Und dass sie es hier mit einer zu tun hatte, war nicht zu übersehen. Leider schien das Happy End noch in weiter Ferne zu liegen.

»Schade, dass ich Ihnen nicht weiterhelfen kann. Aber vielleicht sollte ich mal mein Glück bei Frau Stiller versuchen. Möglicherweise lässt sie sich von mir erweichen und gibt mir Jettes Kontaktdaten.«

»Das glaube ich zwar nicht, aber für den unwahrscheinlichen Fall, dass Sie Erfolg haben, möchte ich Sie um etwas bitten.« Lukas zog ein kleines Notizbuch und einen Stift aus seiner Tasche. »Ich gebe Ihnen meine Telefonnummer. Sollten Sie etwas von Jette in Erfahrung bringen, rufen Sie mich bitte an. Und wenn Sie mir Ihre geben, mache ich es im umgekehrten Fall genauso. Ich habe nämlich nicht vor, mit der Suche nach Jette aufzuhören. Ich werde weiterhin jeden Tag im Laden auftauchen und Anka so lange bearbeiten, bis sie nachgibt, weil sie mich nicht mehr ertragen kann und froh ist, mich endlich loszuwerden.«

*

In den nächsten Tagen musste Katja ständig an Jette denken. Was mochte nur vorgefallen sein, dass sie ihre Arbeit im Café Stiller aufgegeben hatte? Sie wusste von Jette, dass sie gern dort gearbeitet hatte. Dass sie den Job hinwarf, nur weil ihr der Sinn nach Veränderung stand, konnte Katja nicht glauben. Irgendetwas musste geschehen sein. Etwas, was Jette veranlasst hatte, woanders ihr Glück zu versuchen.

Katja war noch einige Male ins Café gegangen, in der Hoffnung, etwas über Jettes Verbleib zu erfahren. Aber weder Anka noch ihre Mutter waren bereit gewesen, mit ihr über Jette zu sprechen. Schließlich hatte Katja aufgegeben und war dem Café Stiller ferngeblieben. Seitdem tingelte sie von einem Bäcker zum nächsten, auf der Suche nach Jettes unvergleichlichen Schokokeksen.

Auch heute war sie wieder unterwegs. Unweit des Isartors hatte eine neue Bäckerei eröffnet. Vielleicht hatte es Jette dorthin verschlagen. Doch ihr reichte ein kurzer Blick in die Kuchenauslage, um festzustellen, dass die Fahrt hierher umsonst gewesen war. Nichts von dem, was sie hier sah, hatte auch nur entfernteste Ähnlichkeit mit Jettes Köstlichkeiten. Enttäuscht verließ sie die Bäckerei und erschrak, als sie an der Tür mit jemanden zusammenstieß. Doch sofort lachte sie glücklich auf.

»Jette! Endlich!«

»Katja, wie schön, dich wiederzusehen!« Auch Jette freute sich, ihre ehemalige Lieblingskundin zu treffen. »Was machst du denn hier? Bist du dem Café Stiller etwa untreu geworden?«

»Natürlich!« Katja nickte eifrig. »Seitdem du fort bist, kaufe ich dort keinen einzigen Krümel mehr. Ich bin ja so froh, dich endlich gefunden zu haben!«

»Hast du denn nach mir gesucht?«, fragte Jette erstaunt.

»Ja, aber das erzähle ich dir am besten bei einer Tasse Kaffee.« Sie zeigte auf die Tür der Bäckerei, die sie gerade verlassen hatte. »Wollen wir uns reinsetzen?«

Als sie sich bei ihrem Kaffee gegenübersaßen, erzählte Katja von ihrem Dilemma und legte dabei theatralisch eine Hand auf die Brust. »Du weißt, dass ich ohne deine Schokokekse nicht mehr leben kann. Wie konntest du mir das nur antun und einfach so kündigen?«

Jette lachte und war sehr froh, Katja Baumann getroffen zu haben. In den letzten zwei Wochen hatte es für sie kaum einen Grund zum Fröhlichsein gegeben.

»Ich habe nicht gekündigt«, stellte sie nun richtig. »Mein Arbeitsvertrag lief aus und wurde nicht verlängert.«

»Warum nicht?«, wunderte sich Katja. »Die Stillers verdanken ihren Umsatz doch zum größten Teil deinem Können. Warum sollten sie so dumm sein, ausgerechnet dich gehen zu lassen?«

»Wegen Anka. Besonders gut sind wir ja noch nie miteinander ausgekommen. Die Sache mit Lukas hatte unserer ohnehin schon schwierigen Beziehung dann den Rest gegeben.«

»Lukas?«, fragte Katja nach.

»Ein Gast, der jeden Tag vorbeikam«, erklärte Jette, ohne zu ahnen, dass Lukas für Katja kein Unbekannter war. »Er ist sehr nett und sieht zudem umwerfend aus. Kein Wunder, dass sich Anka sofort in ihn verknallt hat.«

»Aber er sich nicht in sie, stimmt’s?«

»Doch, ich denke schon«, sagte Jette zögerlich. »Zumindest hat Anka das behauptet.« Jette zuckte traurig die Schultern. »Es wäre durchaus möglich, dass es stimmt. Schließlich haben sie sich jeden Tag gesehen und viel Zeit miteinander verbracht, während ich hinten in der Backstube war und ihn oft noch nicht mal zu sehen bekam. Und obwohl von mir keine Gefahr drohte, war sie schrecklich eifersüchtig auf mich gewesen. Wir hatten deswegen einen fürchterlichen Streit.«

»Ich denke nicht, dass Lukas Interesse an Anka hat«, überlegte Katja. »Besonders nett sind die beiden nämlich nicht miteinander umgegangen.«

»Woher weißt du das?«, fragte Jette verblüfft.

»Ich bin ihm einmal begegnet, als ich im Laden war. Er hat sich sehr hartnäckig bei Anka nach dir erkundigt und wollte unbedingt wissen, wie er dich erreichen kann.«

»Oh«, sagte Jette dazu nur. In den letzten Wochen hatte sie oft an Lukas denken müssen. Sie vermisste ihn, obwohl es doch Anka war, der sein Herz gehörte. Oder etwa nicht?

»Er hat mich dann vor dem Geschäft angesprochen und wollte von mir wissen, ob ich wüsste, wo du bist.«

Als Jette auch diesmal nur ein gehauchtes »Oh!« zustande brachte, lachte Katja. »Mehr hast du dazu nicht zu sagen? Willst du denn gar nicht wissen, ob ich dich und Lukas zusammenbringen kann?«

»Kannst du das denn?«, fragte Jette vorsichtig.

Katja holte den Zettel, den Lukas ihr gegeben hatte, aus ihrer Handtasche und schob ihn über den Tisch. »Das ist seine Handynummer. Ruf ihn einfach an.«

Jette nickte so zaghaft, dass Katja stutzig wurde. »Du siehst nicht begeistert aus. Ich hatte wirklich gedacht, dass du dich darüber freuen würdest.«

»Ich weiß nicht so recht, was ich davon halten soll. War er nun mit Anka zusammen oder nicht? Hat er sie vielleicht meinetwegen fallengelassen? Das würde ich ziemlich schäbig finden, und ich weiß nicht, ob so ein treuloser Mann der Richtige für mich ist.« Sie seufzte traurig. »Obwohl ich zugeben muss, dass er mir sehr gefällt und er mir schrecklich fehlt.«

»Dann ruf ihn an! Auf mich hat er übrigens einen ausgesprochen netten und ehrlichen Eindruck gemacht. Allerdings habe ich mich selbst auch schon oft in Menschen getäuscht. Ich neige nämlich dazu, immer nur das Gute in ihnen zu sehen, und leider genieße ich den Ruf, etwas leichtgläubig zu sein.«

Weil Katja dabei so bekümmert aussah, sagte Jette schnell: »Wer behauptet denn, dass das keine gute Eigenschaft ist? Ich finde es schön, wenn man nicht hinter jedem netten Wort etwas Schlechtes vermutet. Und vielleicht ist Lukas wirklich so ehrlich, wie du vermutest oder ich es mir wünsche. Aber nun lass uns nicht mehr über ihn reden.«

»Wirst du ihn denn anrufen?«

Jette sah auf den kleinen Zettel, der noch immer vor ihr auf dem Tisch lag. Sie nahm ihn und steckte ihn in ihre Hosentasche. »Ich werde darüber nachdenken, obwohl mir Lukas kein Glück gebracht hat. Seinetwegen hat Anka viele Tränen vergossen und ihren Vater überredet, mir keinen neuen Vertrag zu geben. Ich musste noch am selben Tag meine Sachen zusammenpacken und gehen.«

»Mitsamt dem Rezeptbuch«, ergänzte Katja.

»Du weißt davon?« Jette grinste. »Natürlich habe ich mein Rezeptbuch mitgenommen. Das ist schließlich mein größter Schatz. Seit mehreren Generationen befindet es sich im Besitz meiner Familie. Mein Großvater hat es meiner Mutter gegeben, als er seine Bäckerei in Augsburg schließen musste. Als ich dann mit der Konditorlehre begann, habe ich es von ihr bekommen. Nach diesen alten Familienrezepten habe ich bei den Stillers gebacken.«

»Gehören deine Schokokekse auch dazu?«

Um Jettes Mund erschien ein feines, wissendes Lächeln. »Ja, sie sind etwas ganz Besonderes. Ich kenne niemanden, der ihnen widerstehen kann. Mein Großvater meinte, das liegt nur an dieser einen bestimmten Zutat … « Sie legte eine Pause ein und verkniff sich ein Lachen, als sie sah, wie Katja vor Aufregung zu atmen vergaß. »… die ich natürlich niemals verraten werde«, schloss sie dann glucksend und fing sich dafür von Katja einen empörten Blick ein.

»Tut mir leid, Katja, aber ich darf das Rezept wirklich nicht weitergeben. Ich musste einen feierlichen Schwur ablegen, dass alle Rezepte aus dem Buch innerhalb der Familie bleiben.«

»Dann bleibt mir wohl nur zu hoffen, dass ich deine Kekse bald wieder irgendwo kaufen kann. Hast du denn schon eine neue Stelle in Aussicht?«

»Nein, leider nicht. Für einen der vielen Backshops, wo nur Fertigmischungen oder Aufbackware in den Ofen kommen, bin ich mir zu schade.« Unwillig schüttelte sie Kopf. »Ich liebe meinen Beruf, aber so möchte ich auf gar keinen Fall arbeiten.«

»Das kann ich gut verstehen.« Katja überlegte. »Muss es denn unbedingt eine Bäckerei sein?«

»Nun ja, ich möchte schon beim Backen bleiben. Und wo soll ich das sonst machen, wenn nicht in einer Bäckerei?«

»Ich weiß nicht so recht … Mir ist da nur gerade eine Idee gekommen.« Diese Idee war so verrückt, dass Katja sich fast sicher war, dass sie keine Lösung für Jettes Problem sein konnte. Trotzdem hatte sie sich ganz plötzlich in ihren Kopf festgesetzt, und sie musste nun einfach darüber sprechen. »Ich arbeite in der Behnisch-Klinik. Dort gibt es eine wunderschöne Cafeteria, die nicht nur bei den Mitarbeitern sehr beliebt ist. Die warme Küche bietet fantastische kleine Gerichte an, und der Cappuccino schmeckt nirgends so gut wie dort. Aber das Kuchenangebot könnte wahrlich besser sein. Wäre es nicht toll, wenn du dort backen könntest?«

»Das wird wohl kaum das Richtige für mich sein, Katja. Und wahrscheinlich gibt’s da noch nicht mal eine freie Stelle.«

Katja strahlte. »Doch! Die gibt es! Ich habe mich erst vor ein paar Tagen mit Helge Karberg, dem Betreiber, unterhalten. Er war gerade dabei, einen Aushang anzubringen. Er braucht dringend jemanden für die Küche, der sich zutraut, auch mal im Service mitzuarbeiten. Das kannst du bestimmt. Im Café Stiller hast du doch auch den Verkauf und die Bedienung übernommen, wenn Anka ihren freien Tag hatte.«

»Ja, das schon. Das war nie ein Problem für mich gewesen. Ganz im Gegenteil, es hat mir sogar Spaß gemacht. Ich mache mir eher Sorgen, dass meine Kochkünste für die Cafeteria nicht ausreichen werden. Ich bin Konditorin, keine Köchin.«

»Das bekommst du schon hin. Wir reden hier schließlich nicht von Haute Cuisine, sondern von kleinen, schmackhaften Gerichten, die jeder mit ein wenig Anleitung hinbekommen dürfte«, sagte Katja im Brustton der Überzeugung.

»Du musst es ja wissen«, griente Jette.

»Nein, leider nicht«, gab Katja grinsend zu. »Meine Talente liegen nicht gerade in der Küche. Ich bekomme ja noch nicht mal ein paar ordentliche Weihnachtsplätzchen hin. Da hoffe ich übrigens noch immer auf deine Unterstützung.« Bittend sah sie Jette an. »Ich brauche unbedingt deine Schokoladenkekse. Deshalb musst du auch ganz schnell wieder eine Anstellung finden.«

Jette musste lachen. »Nur deshalb? Das ist ja wirklich sehr uneigennützig von dir. Aber keine Sorge. Du bekommst deine Weihnachtsplätzchen von mir. Die kann ich dir nämlich auch an meinem heimischen Herd backen. So viel du willst.«

»Fünfundzwanzig Beutel«, hauchte Katja andächtig und mit einem seligen Lächeln. »Ich brauche unbedingt fünfundzwanzig Beutel. Und natürlich noch einen riesigen Vorrat für mich.«

*

»Kann es sein, dass du nach meinen Keksen süchtig bist?«, fragte Jette amüsiert, als sie Katja dabei half, die vielen Tüten in einer großen Einkaufstasche zu verstauen. Jette hatte den ganzen Tag damit verbracht, Katjas Bestellung abzuarbeiten, und fühlte sich zum ersten Mal seit Wochen wieder rundum glücklich. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie sehr ihr das Backen gefehlt hatte.

Jette besaß noch keine eigene Wohnung, sondern lebte im Haus ihrer Mutter. Sie hatte vorgehabt auszuziehen, sobald ihr die Festanstellung bei den Stillers sicher gewesen wäre. Doch leider war es dazu nicht mehr gekommen.

»Natürlich bin ich süchtig nach ihnen«, antwortete Katja auf Jettes Frage und bediente sich bei den Keksen, die Jette in einer großen Schale auf den Küchentisch gestellt hatte. »Als ob du das nicht wüsstest!«

»Es war eher eine leise Ahnung als fundiertes Wissen«, stellte Jette richtig. Sie schob die Keksschale dichter zu Katja. »Du solltest dich hinsetzen. Mit einer Tasse Kaffee schmecken sie nämlich noch besser.«

Jette hatte bei Katjas Ankunft die Kaffeemaschine angemacht und füllte nun die beiden Tassen, die auf dem Tisch standen. Sie freute sich, dass Katja ihrer Aufforderung sofort folgte und am Küchentisch Platz nahm. Seit Jette ihren Job verloren hatte, vermisste sie – neben dem Backen – auch die Gesellschaft anderer Menschen. Sie verstand sich zwar mit ihrer Mutter blendend, aber der Kontakt zu Gleichaltrigen fehlte ihr.

Sie mochte Katja und war froh, sie wiedergetroffen zu haben. Schon damals, als Katja regelmäßig ins Café kam, um ihren Keksvorrat aufzufüllen, waren sie sich sympathisch gewesen. Katja kannte keine schlechte Laune und war immer guter Dinge. Dass sie ihr ausgerechnet jetzt, in einer Zeit, in der sie eine gute Freundin besonders nötig hatte, über den Weg gelaufen war, wertete sie als glückliche Fügung.

»Was sagt eigentlich deine Mutter dazu, wenn du aus ihrer Küche eine Backstube machst?«

»Meiner Mutter mache ich damit eine große Freude. Sie backt selbst ausgesprochen gern.«

»Ist sie auch Konditorin?«

»Nein, obwohl sie aus einer Konditorfamilie stammt, ist aus ihr nur eine Hobbybäckerin geworden. Sie arbeitet als Lehrerin.« Jette fand, jetzt war die beste Gelegenheit, um mit ihrer guten Nachricht herauszurücken. »Ich habe übrigens eine tolle Neuigkeit.«

Katjas Hand, mir der sie sich gerade einen neuen Keks nehmen wollte, verharrte über der Keksschale.

»Du hast endlich Lukas angerufen!«, rief sie entzückt aus. »Ich wusste doch, dass ihr füreinander bestimmt seid! Ihr passt einfach so gut zusammen!«

»Nein!« Jette schüttelte entschieden den Kopf. »Ich habe ihn nicht angerufen!«

»Oh! Wie schade!« Katja wirkte so bestürzt, dass Jette sich beeilte fortzufahren:

»Ich war gestern in der Behnisch-Klinik, um einen Blick auf die Cafeteria zu werfen. Dieser Aushang, von dem du erzählt hast, war immer noch da. Als ich ihn mir durchlas, wurde ich plötzlich von dem Besitzer der Cafeteria angesprochen.«

»Helge Karberg! Ein sehr, sehr netter Mann!«

»Stimmt.« Jette lächelte über Katjas Enthusiasmus. »Wir sind ins Gespräch gekommen, haben uns lange unterhalten und waren uns dann einig, dass ich nächsten Montag in der Cafeteria der Behnisch-Klinik anfange!«

»O Jette! Das ist ja toll!«, jubelte Katja laut. »Ich freue mich so für dich!«

Jette lachte glücklich. »Ich freue mich auch. Aber der Gedanke, nicht mehr in einer Backstube zu arbeiten, ist schon ein wenig komisch. Mein neuer Chef meinte allerdings, dass ich bei ihm genauso gut backen könnte. Er ist nämlich über sein Kuchenangebot auch nicht glücklich und möchte es unbedingt ändern.«

Katja klatschte vor Freude in die Hände. »Ich wusste, dass sich letztendlich alles zum Guten fügt. Jetzt müssen wir nur noch dafür sorgen, dass du mit Lukas zusammenkommst und … «

»Nein!«, stoppte Jette den Redeeifer ihrer neuen Freundin so schnell, dass Katja erschrocken aufsah. »Tut mir leid, Katja, aber daraus wird nichts. Ich weiß, du meinst es nur gut, aber ich möchte mich jetzt erst mal nur auf meine neue Stelle konzentrieren. Die Sache mit Lukas … « Jette atmete tief durch. »Sie ist kompliziert, und im Moment kann ich keine Komplikationen gebrauchen. Ich bin einfach nur froh, dass ich wieder eine Arbeit habe. Darauf werde ich jetzt meinen Fokus legen. Lukas wäre nur eine Ablenkung.«

»Aber er mag dich doch!«

»Wie kann ich mir da sicher sein? Hatte Anka nicht auch geglaubt, dass er sie mag? Und nun sieh dir an, was daraus geworden ist!« Jette schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was das mit mir und Lukas ist. Er gefällt mir, aber ich habe schreckliche Angst, enttäuscht zu werden.«

»Haben wir das nicht alle?«, fragte Katja tiefsinnig. »Manchmal muss man etwas wagen, Jette. Denk wenigstens darüber nach. Du hast doch noch seine Nummer, oder?«

»Ja«, sagte Jette und klopfte lächelnd auf die Tasche ihrer Jeans, wo sie Katjas Zettel sicher verwahrt wusste. »Die behalte ich auch. Vielleicht … irgendwann, wenn ich wieder Fuß gefasst habe und endlich weiß, was ich will … «

›Falls es dann nicht zu spät ist‹, dachte Katja betrübt.

*

Dr. Erik Berger, der leitende Arzt in der Notaufnahme der Behnisch-Klinik, runzelte die Stirn, als er den Bauch des Patienten abtastete.

»Was ist los?«, fragte sein Patient. Stefan Grabas hörte sich dabei eher interessiert als besorgt an.

»Das kann ich noch nicht sagen. Wahrscheinlich etwas Harmloses, aber um ganz sicher zu sein, werde ich noch eine Ultraschalluntersuchung machen.«

»Muss das denn sein?« Stefan warf einen auffälligen Blick auf die Uhr, die in dem Behandlungszimmer an der Wand hing. Dass er hier seit Stunden in der Aufnahme der Klinik festsaß, hielt er für reine Zeitverschwendung. Um zwei war die offizielle Eröffnung einer Fotoausstellung im Stadtmuseum. Er wollte sich dort mit einem Berufskollegen treffen, den er im letzten Monat in Singapur kennengelernt hatte. Wenn diese Untersuchungen hier nicht bald ein Ende nahmen, würde er es kaum noch pünktlich schaffen.

»Was erwarten Sie denn, dort zu finden?«, fragte er und bemühte sich nicht, die wachsende Ungeduld aus seinen Worten herauszuhalten. »Ich werde ja wohl kaum innere Blutungen haben, nur weil ich von der Leiter gefallen bin. Sicher sind es nur ein paar blaue Flecken und im schlimmsten Fall eine leichte Prellung.«

»Warum sind Sie überhaupt hergekommen, wenn Sie sich bei der Diagnose schon so sicher sind?«, spöttelte Erik Berger.

»Ich wurde gezwungen.«

»Von Ihrer Frau?«

»Nein, ich habe keine Frau. Meine Pensionswirtin ist schuld daran, dass ich jetzt hier liege. Sie hatte mich gebeten, eine defekte Lampe auszuwechseln. Die Leiter, die sie mir dafür gegeben hat, ist leider zusammengebrochen, kaum dass ich draufstand. Nach dem Sturz gab meine Wirtin keine Ruhe, bis ich bereit war, mich hier durchchecken zu lassen.«

»Wenn Ihre energische Vermieterin nicht gewesen wäre, hätte ich Sie also gar nicht zu sehen bekommen?«

»Ganz sicher nicht«, lachte Stefan.

Erik Berger betrachtete seinen Patienten etwas genauer. Stefan Grabas sah tatsächlich so aus, als könnte ihn nichts so schnell aus der Bahn werfen. Er war Anfang vierzig, schlank und drahtig und schien regelmäßig Sport zu treiben. Die dunklen Haare trug er recht lang, sodass sie sich an den Seiten und in seinem Nacken kringelten. Alles in allem machte er einen gesunden und fitten Eindruck.

»Waren Sie kürzlich im Urlaub, Herr Grabas?«, fragte Erik und schaltete das Ultraschallgerät ein. »Sie sind sehr braun, und ich denke, dass das nicht an unserer Wintersonne liegen kann.«

»Nein, das verdanke ich der Sonne auf Bali. Ich bin freiberuflicher Fotograf und kam erst vor drei Tagen in München an.« Stefan lächelte. »Nennen Sie mich ruhig sentimental, aber Weihnachten muss ich einfach in Deutschland verbringen. So schön Bali auch sein mag, bei dreißig Grad im Schatten kommt keine Weihnachtsstimmung auf.«

»Ich kann auf Weihnachtsstimmung gut verzichten«, murmelte Erik leise und fuhr dann lauter werdend fort: »Nicht erschrecken, jetzt wird es etwas kalt.« Er ließ das Gleitgel auf Stefans Bauch laufen und verteilte es großflächig. Bevor sein Patient zu Wort kommen konnte, fragte er: »Sie sind Fotograf? Was für Bilder machen Sie denn?«

»Das hängt von dem Auftrag ab, den ich gerade habe. In Bali habe ich zum Beispiel Fotos von einer neuen Hotelanlage gemacht, die in den nächsten Reisekatalog kommen. Da ich schon mal vor Ort war, habe ich auch gleich ein paar Aufnahmen von der Landschaft und den Menschen dort geschossen. Eigentlich von allem, das mir vor die Linse kam. Die meisten Fotos verkaufe ich dann über Bildagenturen.«

»Mhm … «, machte Erik nur und schaute wie gebannt auf den Monitor des Ultraschallgeräts.

»Sie haben mich reingelegt«, stellte Stefan amüsiert fest. »Lenken mich mit Ihren Fragen ab und machen nebenbei einfach, was Sie wollen. Hatte ich Ihnen nicht gesagt, dass ich diese Untersuchung gar nicht will?«

»Nicht mit diesen Worten. Wenn ich mich recht erinnere, haben Sie mich nur gefragt, ob das wirklich sein muss. Diese Frage kann ich Ihnen jetzt mit einem eindeutigen Ja beantworten. Ja, es musste sein.«

Alarmiert hob Stefan den Kopf, um einen Blick auf den Bildschirm zu werfen. »Wieso? Was haben Sie denn gefunden?« Zum ersten Mal meinte Erik, eine leichte Anspannung in Grabas’ Stimme zu bemerken. »Ist es Krebs? Haben Sie einen Tumor entdeckt?«

»Nein, einen Tumor kann ich sicher ausschließen.« Die Miene des Arztes wurde noch ernster, als er weiter mit dem Schallkopf über die Bauchdecke des Patienten fuhr. »Seit wann haben Sie diese Bauchschmerzen, von denen Sie vorhin sprachen? Traten Sie wirklich heute erstmalig auf?«

»Nun … Also … Nein, eigentlich nicht. Seit einiger Zeit habe ich dieses Ziehen im Bauch … « Er zeigte auf eine Stelle oberhalb des Bauchnabels.

»Wie lange schon?«

»Zwei oder drei Monate. Vielleicht auch etwas länger. Sagen sie mir jetzt endlich, was los ist? Irgendetwas haben Sie doch gefunden.«

»Vielleicht. Vielleicht auch nicht«, sagte Erik ausweichend. »Genaues kann ich Ihnen erst nach der Computertomografie sagen.«

»Computertomografie?« Energisch schob Stefan nun Bergers Hand und den Ultraschallkopf weg und setzte sich auf. »Was soll das? Sie machen hier eine Untersuchung nach der anderen, ohne mir dafür auch nur einen plausiblen Grund zu liefern. Jetzt reicht’s! Entweder sagen Sie mir endlich, was los ist, oder ich verschwinde auf der Stelle!«

Erik Berger rang mit sich. Es war nicht seine Art, mit einer Diagnose – vor allem nicht mit einer so schwerwiegenden - herauszuplatzen, ehe die Untersuchungen abgeschlossen waren. Aber in diesem Fall musste er zwangsläufig eine Ausnahme machen. Er hatte keinen Zweifel daran, dass Stefan Grabas ansonsten seine Ankündigung wahrmachte und die Notaufnahme verließ, womöglich mit fatalen, ja, tödlichen Konsequenzen.

»Also gut, Herr Grabas. Ich sage Ihnen, was ich bis jetzt herausgefunden habe, obwohl ich lieber erst alle Befunde abwarten würde.« Erik drehte den Monitor so, dass Stefan einen guten Blick darauf hatte. Dann rief er die gespeicherten Aufnahmen ab. Mit einem Stift zeigte er auf ein längliches Gebilde.

»Das hier ist Ihre Aorta, also die Hauptschlagader in Ihrem Körper. Sie bringt das Blut von Ihrem Herzen in alle anderen Gefäße des Blutkreislaufs. Und hier unten sehen Sie eine kleine Ausstülpung, die dort nicht hingehört. Die Gefäßwand der Aorta ist hier dünner als üblich und wird durch den Druck, der in den Gefäßen herrscht, einer enormen Belastung ausgesetzt. Vor allem, wenn man – so wie Sie - an einem erhöhten Blutdruck leidet.«

»Diese Ausstülpung, wie Sie das nennen, ist ein Aneurysma, nicht wahr?«

»Ja, ein Aortenaneurysma. Wir haben es rechtzeitig entdeckt, deshalb gibt es keinen Grund, in Panik auszubrechen … «

»Mache ich einen panischen Eindruck auf Sie?«, fragte Stefan etwas ungeduldig. »Ich bin höchstens sauer, dass mir dieses Aneurysma meinen gesamten Zeitplan durcheinanderbringt.« Wieder sah er auf die Uhr. »Ich bin mit einem Bekannten verabredet. Wahrscheinlich wäre es besser, ihn anzurufen, damit er weiß, dass ich später kommen werde.«

»Noch besser wäre es, Sie sagen ihm gleich ganz ab. Das hier wird nämlich noch eine Weile dauern. Allein für die Computertomografie …«

»Moment mal! Noch habe ich dem CT nicht zugestimmt. Und das werde ich auch nicht. Zumindest nicht heute, wenn ich ohnehin schon spät dran bin. In den nächsten Tagen wird sich bestimmt ein Termin finden lassen.«

»In den nächsten Tagen?« Erik Berger war aufgestanden und sah ungläubig auf Stefan Grabas herab. Es fiel ihm schwer, weiter die Contenance zu wahren. Meistens gelang es ihm, seinen Patienten höflich und angemessen gegenüberzutreten. Seinen beißenden Spott und den ungebremsten Zynismus, für den er berühmt und berüchtigt war, hob er sich für seine Kollegen auf. Doch Eriks heutiger Patient hatte seine Geduld über die Maße strapaziert. Grabas’ Uneinsichtigkeit ging ihm inzwischen gehörig gegen den Strich.

»In den nächsten Tagen?«, wiederholte er nun lauter. »Dann sollten Sie mal hoffen, dass das auch Ihrem Aneurysma zeitlich passt und es sich bis dahin benimmt. Im Allgemeinen sind diese Biester allerdings unberechenbar und wenig rücksichtsvoll. Sie machen einfach, was sie wollen, und platzen je nach Lust und Laune!«

»Wie … Was meinen Sie damit? Glauben Sie wirklich, dass die Lage so ernst ist?«

»Woher soll ich das denn wissen?«, wetterte Erik nun unbeherrscht los. »Sie lassen mich ja nicht meine Arbeit machen und stellen meine Entscheidungen ständig infrage! Ich kann Ihnen nicht mehr sagen, als dass jedes Szenario möglich wäre. Vielleicht reißt die dünne Gefäßwand in den nächsten fünf Sekunden, vielleicht macht sie auch nie Scherereien.« Berger schaffte es, seine Fassung wiederzufinden. Mit einer hilflosen Geste hob er die Hände. »Leider kann ich dazu nur vage Vermutungen anstellen, wenn Sie mich hier ständig ausbremsen. Sie brauchen die Computertomografie. Erst danach kann ich Ihnen mehr sagen. Aber falls Ihnen Ihre Verabredung wichtiger ist als Ihr Leben … «

»Schon gut, schon gut«, gab Stefan nach. »Dann machen wir das eben auch noch. Aber danach ist wirklich Schluss.«

»Ganz wie Sie wünschen«, knurrte Erik und ging dann kopfschüttelnd zum Telefon, um in der Radiologie anzurufen und die Untersuchung anzukündigen. Die Reaktion seines Patienten hatte ihn überrascht. Er hielt den Mann für klug genug, dass er die Bedeutung dieser Hiobsbotschaft verstand. Wenn Stefan Grabas in Panik geraten und völlig ausgeflippt wäre, hätte er dafür Verständnis gehabt. Doch diese zur Schau gestellte Ruhe mit dem Anflug von Verärgerung, weil er nun in Zeitnot geriet, war einfach nicht normal. Bedeutete ihm sein Leben womöglich gar nichts?

»Sie können das nicht verstehen, Dr. Berger«, sagte Stefan, als hätte er die Gedanken des Arztes erraten. »Ich bin zufrieden, so, wie es gerade läuft. Und daran soll dieses Aneurysma nichts ändern. Ich werde ihm nicht so viel Raum geben, dass es mein Leben bestimmt. Mir wäre es lieber, ich hätte nie etwas davon erfahren.«

»Die meisten Patienten sind froh, wenn ihr Aneurysma rechtzeitig entdeckt wird. Das bewahrt sie vielleicht vor einem plötzlichen Tod.«

»Ganz richtig: vielleicht! Genauso gut wäre es möglich, dass mir dieses Ding überhaupt keine Probleme macht und ich hundert Jahre damit werde. Und falls nicht … « Er zuckte mit den Schultern. »Nun, dann ist es eben so.«

Noch während Erik Berger die Nummer der Radiologie wählte, beschloss er, auch den Chefarzt der Behnisch-Klinik zu informieren. Stefan Grabas war eindeutig ein Fall für Dr. Norden. Und das lag nicht nur daran, dass ein Aortenaneurysma keine alltägliche Diagnose war.

*

»Verraten Sie mir, was da drin ist?«, fragte Daniel Norden, als er sah, wie Katja Baumann einen mittelgroßen Karton neben ihrem Schreibtisch abstellte.

»Die schönsten Sachen für die schönste Zeit des Jahres«, erwiderte seine Assistentin mit glücklich leuchtenden Augen.

Als sie dafür nur einen verständnislosen Blick ihres Chefs erntete, sagte sie gefühlvoll: »Am Sonntag beginnt die Adventszeit. Das können Sie doch unmöglich vergessen haben.«

»Äh … Nein, natürlich nicht. Aber ich verstehe nicht, was dieser Karton damit zu tun hat.«

»Na, da ist der Adventsschmuck drin. Sie wollen doch sicher auch, dass es hier ein bisschen weihnachtlich aussieht.«

»Also eigentlich … « Unter dem tadelnden Blick seiner Assistentin behielt Daniel lieber für sich, dass es ihm nichts ausmachte, wenn es in seinen Räumlichkeiten nicht wie auf dem Christkindlmarkt aussah. »Sie scheinen die Adventszeit wirklich zu lieben«, sagte er stattdessen nur diplomatisch.

»O ja! Ich liebe diese vier Wochen bis zum Heiligabend! Für mich … « Als das Telefon klingelte, brach sie ab.

»Oh! Dr. Berger!«, rief sie kurz darauf mit einem strahlenden Lächeln in den Hörer und brachte Daniel Norden damit zum Schmunzeln. Er kannte nur wenige Menschen, die sich so offensichtlich freuten, wenn sie einen Anruf vom bärbeißigen Leiter der Notaufnahme bekamen. Nun, eigentlich kannte er niemanden. Selbst er fühlte sich sofort in Alarmbereitschaft versetzt, wenn Erik Berger unverhofft vorbeikam oder anrief.

»Ja, Dr. Norden ist hier«, sprach Katja weiter. »Einen kleinen Moment … «

Daniel nahm seiner Assistentin den Telefonhörer ab und meldete sich. Nur Sekunden später hatte er Katjas Schwärmerei für die Adventszeit oder ihre fast freundschaftliche Beziehung zu Erik Berger vergessen.

»Ein Aortenaneurysma? Wie groß ist es?«, fragte er angespannt. »In Ordnung, Herr Berger. Ich bin in fünf Minuten bei Ihnen.«

Katja wartete, bis der Chefarzt aufgelegt hatte. Auch wenn sie keine medizinische Ausbildung besaß, wusste sie, dass diese Diagnose schwerwiegend sein konnte. »Das hört sich ja gar nicht gut an«, sagte sie bedrückt.

»Da muss ich Ihnen leider recht geben. Ich gehe jetzt in die Radiologie und bin dann wahrscheinlich für die nächsten Stunden im OP. Sollte die Lage so ernst sein, wie Berger vermutet, werden wir den Eingriff nicht aufschieben können.«

Zusammen mit Erik Berger und Dr. Nils Heinrich, dem Leiter der Radiologie, saß er wenig später dem Patienten gegenüber, um ihm ruhig und teilnahmsvoll den Befund mitzuteilen. Ein Befund, der ein ganzes Leben verändern und viele Ängste freisetzen konnte.

Doch falls Stefan Grabas wirklich Angst hatte, ließ er sich das nicht anmerken. »Ein Aneurysma«, wiederholte er fast gelangweilt. »Das wusste ich doch schon. Dr. Berger hat mir das bereits nach dem Ultraschall gesagt. Und? Wie schlimm ist es nun?«

Daniel Norden hatte erwartet, einem völlig aufgelösten, schockierten Patienten gegenüberzusitzen. Diese Gleichgültigkeit überraschte ihn.

»Zum Glück ist ein Aneurysma oft recht harmlos«, begann Daniel. »Die meisten machen keine Probleme und müssen nur regelmäßig überwacht werden.«

»Dann ist ja alles in Ordnung«, unterbrach Stefan den Chefarzt. »Geben Sie mir einfach einen Termin für die nächste Kontrolle und schon bin ich verschwunden.« Er warf Dr. Berger einen kurzen Blick zu, bevor er fortfuhr: »Ich hatte es ja Ihrem Kollegen bereits gesagt. Ich bin etwas in Eile und habe für diese ganzen Untersuchungen eigentlich überhaupt keine Zeit.«

»Nun, dann sollte ich wohl zum Punkt kommen«, erwiderte Daniel und ließ sich nicht anmerken, wie sehr ihn Grabas’ Worte überraschten. »Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Aneurysma reißt, hängt von seiner Größe und von begleitenden Risikofaktoren ab. Je größer das Aneurysma, umso größer die Gefahr, dass es zu einer Ruptur kommt. Beträgt der Durchmesser weniger als fünf Zentimeter, liegt das Rupturrisiko bei etwa drei Prozent. Mit zunehmender Größe steigt auch das Risiko.«

»Und wie groß ist mein Aneurysma?«, fragte Stefan nach.

»Sieben Zentimeter. Eine Operation wird sich nicht vermeiden lassen, und das nicht nur wegen der Größe. Bei Ihnen kommt noch erschwerend hinzu, dass Sie einen hohen Blutdruck haben, der nicht gut eingestellt ist. Außerdem sind Sie nicht symptomfrei. Sie haben seit längerer Zeit Schmerzen, die uns zeigen, dass Ihr Aneurysma keine harmlose Gefäßveränderung ist. Ich will ehrlich zu Ihnen sein, Herr Grabas: Die Wahrscheinlichkeit, dass es bei Ihnen zu einer Ruptur der Aorta kommt, ist sehr groß. Deshalb empfehle ich eine schnellstmögliche Operation, bei der wir Ihnen eine Kunststoffprothese an der betreffenden Stelle einsetzen.«

Stefan sah unsicher von einem Arzt zum anderen. »Schnellstmöglich? Was heißt das?«

»Sofort«, entgegnete Daniel Norden. »Ich habe den OP schon für Sie reservieren lassen. Die Anästhesistin weiß Bescheid und kommt gleich für die Narkosevorbereitung zu Ihnen. Sie haben aber noch genügend Zeit, um Ihre Familie zu verständigen.«

Stefan schüttelte heftig den Kopf. »Nein … Nein, ich habe keine Familie. Und außerdem … « Er atmete ein paar Mal tief durch und sah dann Daniel Norden fest in die Augen. »Außerdem will ich das alles nicht.«

»Natürlich wollen Sie das nicht. Niemand will das.«

»Sie verstehen mich nicht. Ich will keine Operation. Und auch keine weiteren Untersuchungen. Ich will nichts davon.«

»Aber … «, begann Daniel konsterniert, doch sein Patient ließ ihn nicht ausreden.

»Ich glaube, ich kenne jedes Ihrer Argumente, und nicht eins davon kann mich umstimmen. Mein Entschluss stand schon vor dem CT fest: Eine OP kommt für mich nicht infrage.«

»Herr Grabas, bitte denken Sie doch erst mal in Ruhe darüber nach. Im Augenblick stehen Sie unter Schock … «

»Nein, Dr. Norden, Sie irren sich. Die Aussicht auf einen plötzlichen Tod kann mich nicht schockieren. Seit Jahren reise ich beruflich durch die ganze Welt. Mit der Möglichkeit, dass alles von einer Sekunde auf die andere vorbei sein kann, lebe ich schon seit langer Zeit.« Er zuckte gleichgültig die Schultern. »Ein Flugzeugabsturz, ein Schlangenbiss oder eine verirrte Kugel … Wer kann schon sagen, was als Nächstes geschieht. Darüber mache ich mir schon lange keine Gedanken mehr. Wenn es passieren soll, passiert es eben. C’est la vie – so ist das Leben.«

Daniel hob abwehrend eine Hand. »Moment mal. Bei diesen Ereignissen, die Sie schildern, mag das ja zutreffen. Sie sind nicht vorhersehbar, und unser Einfluss darauf ist nur begrenzt. Aber Ihr Aneurysma? In dem Moment, als Sie davon erfuhren, ist es zu einem kalkulierbaren Risiko geworden. Ihnen stehen nun alle Möglichkeiten offen, dieses Risiko auszuschalten. Oder wollen Sie wirklich mit einer tickenden Zeitbombe durch die Gegend laufen? Das kann unmöglich Ihr Ernst sein! Bedeutet Ihnen Ihr Leben denn so wenig?«

»Sie haben es doch selbst gesagt, dass es keine Garantie dafür gibt, dass das Aneurysma wirklich platzt«, sagte Stefan, ohne die eigentliche Frage zu beantworten. »Wahrscheinlich habe ich dieses Ding schon seit einer Ewigkeit. Bisher ist alles gutgegangen. Wäre doch möglich, dass ich auch weiterhin so viel Glück habe.«

Es geschah nicht oft, dass Daniel Norden sprachlos war. Stefan Grabas war mit seinen einundvierzig Jahren ein junger Mann, für den der Tod in weiter Ferne liegen müsste. Von seinem Aneurysma und einem moderaten Bluthochdruck abgesehen war er kerngesund. Er war in seinem Beruf erfolgreich und schien auf der Sonnenseite des Lebens zu stehen. Warum wollte er das so leichtfertig wegwerfen?

Mit einem Anflug von Hilflosigkeit sah Daniel zu seinen beiden Kollegen. Dr. Berger, der dem Gespräch ungewöhnlich schweigsam gefolgt war, lehnte mit verschränkten Armen an der Wand. Seiner unbewegten Miene war nicht zu entnehmen, was er von dem Ganzen hielt. Er machte auch jetzt keinerlei Anstalten einzugreifen. Nur Daniels leitender Radiologe, Dr. Nils Heinrich, fühlte sich unter dem Blick seines Chefarztes genötigt, die Initiative zu ergreifen und seinerseits die Notwendigkeit des Eingriffs zu bekunden.

Er zeigte auf eine CT-Aufnahme, die das Aneurysma besonders gut darstellte. »Herr Grabas, sehen Sie diese sackförmige Ausbuchtung? Genau da wird das Blut bei jedem einzelnen Herzschlag hineingeschleudert und fließt dann wieder zurück. Millionen Mal. Tag für Tag. Hin und her. Das Blut fließt rein, prallt von der Wand ab, fließt in die Aorta zurück. Immer wieder, bei jedem Herzschlag. Die Gefäßwand dehnt sich bei jedem Aufprall ein wenig, ohne dass etwas passiert. Aber irgendwann … « Der Radiologe machte eine bedeutungsschwere Pause, bevor er lautstark »Peng!« brüllte und mit seinen Händen eine explodierende Kugel andeutete.

Stefan Grabas zuckte erschrocken zurück, und Daniel schloss vor stummem Entsetzen für eine Sekunde die Augen.

»Und von mir behaupten alle, ich sei der unsensible Holzklotz in der Klinik«, sagte Berger spöttisch.

»Vielen Dank, Herr Heinrich, für diese eindrucksvolle, aber leider überflüssige Demonstration«, sagte Daniel mit eiserner Beherrschung. »Ich denke, Sie haben Herrn Grabas sehr plastisch gezeigt, was ihm im schlimmsten Fall passieren kann.«

»War mir ein Vergnügen«, erwiderte Heinrich mit einem breiten Lächeln. Für Sarkasmus war er leider nicht empfänglich, sodass die Bemerkung seines Chefs wirkungslos an ihm abprallte. »Wenn Sie mich dann nicht mehr brauchen … Auf mich wartet der nächste spannende Fall.«

»Kein Problem, Herr Heinrich. Ich denke, Sie haben hier genug getan.« Als sein Chefradiologe den Raum verlassen hatte, sagte Daniel: »Es tut mir leid, wenn Sie Dr. Heinrich mit seinen drastischen Worten erschreckt hat, Herr Grabas. Aber letztendlich hat er es auf den Punkt gebracht. Ihr Aneurysma ist eine tickende Zeitbombe. Eine Zeitbombe, von der Sie nun wissen und die Sie ganz sicher nicht mehr ruhig schlafen lassen wird. Sie mögen im Moment etwas anderes glauben, aber da irren Sie sich. Sie können jetzt nicht einfach aufstehen, nach Hause gehen und ihr Leben weiterleben, als hätte es den heutigen Tag nicht gegeben. Unterschwellig würden Sie immer an ihr Aneurysma denken müssen. Auch wenn es nicht platzen sollte, würde es Ihnen damit viel von Ihrer Lebensfreude und Unbeschwertheit nehmen. Wollen Sie das wirklich?«

Stefan Grabas erwiderte nichts. Daniel wertete das als gutes Zeichen. Immerhin begann sein Patient über das, was er sagte, nachzudenken. Vielleicht konnte er jetzt endlich zu ihm durchdringen und ihn von der Notwendigkeit der Operation überzeugen.

»Natürlich ist es ganz allein Ihre Entscheidung, wie es weitergehen soll«, sagte er. »Aber ich bitte Sie, nichts zu überstürzen. Denken Sie darüber nach. Geben Sie sich und uns die Zeit. Wenn Sie nach einer Woche immer noch der Meinung sind, dass Sie Ihrem Aneurysma keine Beachtung schenken wollen, dann weiß ich wenigstens, dass Ihre Entscheidung nicht überstürzt oder leichtfertig getroffen wurde.«

»Ich treffe nie überstürzte Entscheidungen.« Stefan Grabas verzog spöttisch den Mund. »Aber damit Sie beruhigt sind, machen wir es eben so.« Er stand auf und griff nach seiner Jacke. »Ich denke nicht, dass ich meine Meinung ändern werde, aber ich verspreche, noch einmal darüber nachzudenken. Ich melde mich dann in einer Woche bei Ihnen.«

»Sie könnten auch so lange hierbleiben«, wandte Daniel schnell ein. Der Gedanke, seinen Patienten jetzt gehenzulassen, beunruhigte ihn.

»Hierbleiben? Sie wollen mich aufnehmen?«

»Ja, was spricht dagegen? Sie bekommen ein ruhiges Einzelzimmer, die Verpflegung ist besser als in jedem anderen Krankenhaus des Landes, und falls Ihr Aneurysma Probleme machen sollte, können wir sofort eingreifen. Natürlich nur, wenn Sie es wünschen.«

»Sie machen nichts gegen meinen Willen?«, vergewisserte sich Stefan.

»Nein, das dürfen wir nicht, selbst wenn wir es wollten.«

Nach einigen langen Sekunden, in denen Stefan über die Worte des Chefarztes nachdachte, sagte er schließlich: »Also gut. Warum nicht? Es spielt keine Rolle, ob ich hier wohne oder in der Pension. Vor allem, wenn das Essen wirklich so gut ist, wie Sie behaupten.«

Daniel kümmerte sich persönlich um die Aufnahme seines schwierigen Patienten. Erst als er ihn auf der chirurgischen Station an Frau Dr. Rohde übergeben hatte, konnte er aufatmen. Obwohl er wusste, dass ihm die größte Herausforderung noch bevorstand, war er froh über den kleinen Sieg, den er errungen hatte. Einen Sieg, den er ohne den Beistand von Erik Berger erkämpft hatte. Weil sich Daniel darüber ärgerte, kehrte er jetzt nicht in sein Büro zurück, sondern suchte Berger in dessen Dienstzimmer auf.

»Hut ab!«, sagte Berger zu ihm. »Ich hätte nicht gedacht, dass Sie es schaffen würden, ihm die stationäre Aufnahme schmackhaft zu machen.«

»Vielleicht hätte er sich sogar mit dem Eingriff einverstanden erklärt, wenn Sie mich unterstützt hätten!« Daniel machte keinen Hehl daraus, wie verstimmt er war.

»Wobei sollte ich Ihnen helfen?«, fragte Berger ungerührt. »Einen Patienten zu etwas zu überreden, was er nicht will? Sie haben doch gehört, dass er die Operation ablehnt.«

Daniel wusste nicht, ob er über Bergers Antwort erstaunt oder empört sein sollte. »Ein Patient lehnt eine lebenswichtige Operation ab, und Sie wollen es einfach hinnehmen?«

»Wenn ich den Eindruck habe, dass der Patient ausreichend aufgeklärt ist und alle Risiken kennt, halte ich es für meine Pflicht, seine Wünsche zu respektieren. Es steht jedem frei zu entscheiden, was er aus seinem Leben macht.«

»Sie hätten ihn also einfach so nach Hause gehen lassen?«

»In letzter Konsequenz, ja. Wir können ihn wohl kaum gegen seinen Willen festhalten.«

Daniel schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht! Aber wir dürfen auch nicht die Augen verschließen und diesen Mann seinem Schicksal überlassen.«

»Haben wir doch nicht! Was meinen Sie wohl, warum ich bei Ihnen angerufen habe? Ich wusste, wenn es jemand schaffen könnte, ihn umzustimmen, dann Sie. Ich bin der falsche Mann für diese Aufgabe, weil … «

Berger stoppte abrupt, und Daniel las in seinen Augen die Befürchtung, schon zu viel gesagt zu haben. Und plötzlich begriff er. »Sie hätten ihn nicht umstimmen können, weil Sie Verständnis für seine Entscheidung hatten und in seiner Situation genau dieselbe getroffen hätten. Habe ich recht?«

Erik Berger erwiderte den Blick seines Chefs ungerührt. »Wie ich schon sagte, es steht jedem frei zu entscheiden, was er aus seinem Leben macht.«

An diesem Tag dachte Daniel Norden noch lange über das kurze Gespräch mit Berger nach. Erik Berger war ein Mann, der den Ruf besaß, unausstehlich und unnahbar sein. Er ließ niemanden an sich heran. Sollte es doch jemand wagen, ihm näherzukommen, schlug er denjenigen mit seinem rüpelhaften Benehmen in die Flucht. Freundschaften lehnte er ab, und Daniel vermutete, dass es auch in seinem Privatleben keine Menschenseele gab, die eine Bedeutung für Erik Berger hatte oder für die er wichtig war.

Auch wenn Berger nie über seine Vergangenheit sprach, wusste Daniel, dass das nicht immer so gewesen war. Es hatte eine Zeit gegeben, als sich Bergers Leben kaum von seinem eigenen unterschied. Er hatte Freunde gehabt und eine Frau, die er liebte. Ihr Tod hatte ihn am Sinn des Lebens zweifeln lassen und dafür gesorgt, dass aus Erik Berger ein einsamer und verbitterter Mensch wurde.

Ob der Fall bei Stefan Grabas ähnlich lag? Vielleicht hatte auch er niemanden, für den es sich zu leben lohnte. Vielleicht war das der Grund, warum er diese wichtige Operation ablehnte.

*

Dr. Felicitas Norden, die nicht nur die Leiterin der Pädiatrie war, sondern auch Daniel Nordens hübsche und kluge Ehefrau, verabschiedete sich von Nils Heinrich und verließ die Radiologie. Sie war fast am Fahrstuhl angekommen, als sie stoppte und in die entgegengesetzte Richtung davonging. Wenn sie schon mal hier war, konnte sie genauso gut bei Erik Berger vorbeischauen.

Daniel hatte seiner Frau am Vorabend von Stefan Grabas erzählt. Es hatte ihm keine Ruhe gelassen, dass sein Patient jetzt zwar auf der chirurgischen Station lag, aber nach wie vor die Operation verweigerte. In einer knappen Woche würde er die Klinik wieder verlassen und weiter um die Welt reisen, ohne auf sein Aneurysma Rücksicht zu nehmen.

Sollte es hier, in Deutschland, unverhofft reißen, wären die Überlebenschancen schon nicht die besten. Doch wenn es irgendwo im tiefsten Dschungel, in einem weit entfernten Land passierte, würde auf Stefan Grabas nur der sichere Tod warten. Für Daniel, der mit Herzblut Mediziner war und der um jedes Menschenleben kämpfte, war diese Vorstellung nur schwer zu ertragen. Als Fee ihm vorschlug, mit seinem Patienten zu sprechen, hatte er deshalb sofort zugestimmt.

Doch bevor Fee zur Chirurgie ging, wollte sie mit Erik Berger reden. Nicht nur, weil sie sich von ihm ein paar Informationen zum Fall erhoffte, sondern auch, um ihm ein wenig auf den Zahn zu fühlen. Obwohl Berger seine Mitmenschen immer wieder vor dem Kopf stieß und er es ihnen schwermachte, gut mit ihm auszukommen, mochte Fee den grantigen Notfallmediziner. Seine raue Schale schreckte sie nicht ab. Fee gab die Hoffnung, dass sich Erik Berger irgendwann öffnen würde, nicht auf und tat alles, um ihn daran zu erinnern.

Sie fand ihn in seinem Dienstzimmer vor dem Computer, vertieft in den Befund eines neurologischen Konsils. Vor ihm lag ein kleiner, hübscher Leinenbeutel, der Fee verdächtig bekannt vorkam und aus dem er sich bediente, während er den Bericht des Neurologen las.

»Was wollen Sie?«, fragte er unwirsch, ohne sie anzusehen oder sein Tun zu unterbrechen.

»Mit Ihnen sprechen, Herr Berger«, sagte Fee in ihrem freundlichsten Ton und setzte sich auf den Stuhl, der vor seinem Schreibtisch stand.

Erik Berger murmelte etwas Unverständliches und schob dann demonstrativ den Beutel mit den Keksen aus Fees Reichweite.

»Keine Sorge, Herr Berger, ich werde mich ganz bestimmt nicht unaufgefordert an Ihren Keksen vergreifen«, spöttelte Fee. »Ich bin hier, um über Herrn Grabas zu reden.«

Nun hatte sie die volle Aufmerksamkeit Bergers. »Warum? Was geht Sie dieser Patient an? Soviel ich weiß, sind Sie Kinderärztin, und Herr Grabas gehört deshalb nicht zu Ihrer Zielgruppe. Haben Sie etwa vor, das Fachgebiet zu wechseln?«

»Nein, ich bleibe der Psychiatrie treu«, gab Fee ruhig zurück.

Berger lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Kinder- und Jugendpsychiatrien, wenn ich mich nicht sehr irre. Was mich zu meiner Frage zurückbringt: Was geht Sie Herr Grabas an?«

Fee verdrehte die Augen. »Was wollen Sie von mir hören? Dass ich mich mal wieder in Dinge einmische, die mich nichts angehen?«

Sofort nickte Berger eifrig.

»Bitte schön! Wenn Ihnen das so wichtig ist, gebe ich es eben zu. Zufrieden?«

»Sehr zufrieden!«, gab Berger zurück. Dann kniff er argwöhnisch die Augen zusammen. »Das erklärt aber noch nicht, was Sie von mir wollen. Wenn Sie Fragen zum Fall haben, kann Ihnen Ihr Mann genauso gut helfen. Wahrscheinlich noch besser. Immerhin ist er jetzt der behandelnde Arzt, seit Herr Grabas auf der Chirurgie liegt.«

»Ja, aber mir geht es hier weniger um die medizinischen Aspekte. Mich interessiert vielmehr, was den Patienten bewogen haben könnte, die Operation abzulehnen. Ich dachte, dass Sie mir da weiterhelfen könnten.«

»Wie kommen Sie denn auf diesen Unsinn? Ich kann ihm nicht in seinen Kopf schauen! Oder bin ich hier etwa der Psychiater?«, blaffte Berger sie an.

Fee ließ sich davon nicht beeindrucken. Sie kannte ihren Kollegen gut genug, um zu wissen, dass er seine unflätige, herrische Art gern nutzte, um andere einzuschüchtern oder von unangenehmen Themen abzulenken.

»Nein, das sind Sie nicht. Dazu mangelt es Ihnen nämlich neben der Fachkenntnis auch an Einfühlungsvermögen und Fingerspitzengefühl«, sagte sie gelassen. »Ich habe aber gehört, dass Sie in gewissem Maße Verständnis für die Entscheidung des Patienten gezeigt haben. Vielleicht können Sie mir sagen, was ihn veranlasst haben könnte … «

»Nein, das kann ich nicht, und jetzt lassen Sie mich gefälligst in Ruhe weiterarbeiten.«

»Herr Berger, ich … «

»Raus!«, sagte Erik mit frostiger Miene. »Für mich ist dieses Gespräch beendet. Wenn Sie unbedingt Ihre Nase in fremde Angelegenheiten stecken wollen, besuchen Sie Herrn Grabas in der Chirurgie! Ich habe Ihnen nichts zu sagen!«

Fee stand seufzend auf. »Na gut, Herr Berger. Ich gehe ja schon. Obwohl ich es wirklich sehr schade finde, dass Sie nicht mit mir reden wollen. Wer weiß, vielleicht täte es Ihnen ganz gut.«

»Warum? Weil Sie denken, dass ich einen Seelenklempner brauche?« Erik Berger lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und sah Fee Norden wütend an. »Sollte es so sein, wären Sie ganz sicher meine letzte Wahl!«

»Vielleicht brauchen Sie weniger einen Seelenklempner als einen Freund.« Fee zwinkerte ihm lächelnd zu. »Auch dafür stehe ich Ihnen gern zur Verfügung.«

Für einen kurzen Moment war Erik sprachlos. Das nutzte Fee aus, um noch eins draufzusetzen. »Aber so, wie es aussieht, ist dieser Posten schon vergeben«, sagte sie und stand auf.

»Was meinen Sie damit?«, fragte Erik lauernd.

Fee zeigte auf seinen Schreibtisch, auf dem eine kleine bunte Grußkarte, ein wunderschöner Strohstern und der halbleere Keksbeutel lagen. »Wissen Sie das nicht? Katja hat ihre kleinen Adventsgeschenke nur an die Menschen verteilt, die ihr wichtig sind und die sie zu ihren Freunden zählt.«

Als Berger nur schockiert die Augen aufriss, vertiefte Fee ihr Lächeln und ließ ihn allein.

Aufgebracht riss Erik die Schreibtischschublade auf und fegte Katjas Geschenke mit einer einzigen Handbewegung hinein. Mit einem lauten Krach schmiss er die Schublade zu.

Wütend stierte er vor sich hin. Was dachte sich Katja Baumann bloß dabei, ausgerechnet ihn zu ihren Freunden zu rechnen? Wann hatte er ihr je die Gelegenheit gegeben, dies auch nur ansatzweise in Betracht zu ziehen? Er war zu ihr doch genauso unfreundlich wie zu allen anderen! Klar konnte er sie gut leiden, aber das hatte er sich doch nie anmerken lassen.

Erik griff nach seiner Kaffeetasse und nahm einen großen Schluck. Sofort verzog er angewidert das Gesicht. Der Kaffee war inzwischen kalt geworden und schmeckte ohne einen süßen Keks nur unangenehm bitter. Wie von selbst fand seine Hand den Weg in die Schublade, um einen von Katja Baumanns Schokokeksen herauszuholen. Er liebte diese Kekse. Das war eine Tatsache, an der sich nicht rütteln ließ. Deshalb wäre es auch albern, sie in den Schreibtisch zu verbannen, obwohl er sie doch irgendwann essen würde. Nach kurzem Zögern legte er den Keksbeutel wieder auf die Tischplatte. Dann holte er auch das Kärtchen und den Strohstern aus ihrer zeitweiligen Verbannung zurück. Die Karte pinnte er so an die Korkwand, dass er einen guten Blick darauf hatte. Der kleine Stern bekam einen Platz an seiner Schreibtischlampe.

Zufrieden lehnte er sich auf seinem Stuhl zurück, betrachtete die einzige Weihnachtsdekoration, die er sein Eigen nennen durfte, und gönnte sich einen weiteren Keks.

*

»Dr. Norden?«, fragte Stefan Grabas verwundert und musterte die gutaussehende Blondine mit den auffallend blauen Augen, die ihn in seinem Zimmer aufgesucht hatte. »Sind Sie verwandt mit dem Chefarzt?«

Fee nickte dem attraktiven und völlig gesund wirkenden Mann lächelnd zu. »Ja, Daniel Norden ist mein Ehemann.«

Stefan stieß einen anerkennenden, leisen Pfiff aus. »Der Mann scheint das Glück wirklich gepachtet zu haben. Erfolg im Beruf und eine wunderschöne, junge Frau! Womit hat er das bloß verdient?«

Lachend erwiderte Fee: »Das fragen Sie ihn am besten selbst.« Dann deutete sie auf die kleine Tischgruppe im Zimmer. »Wollen wir uns einen Moment hinsetzen? Ich würde gern etwas mit Ihnen besprechen, Herr Grabas.«

»Ich wäre ein Narr, die Gesellschaft einer schönen Frau abzulehnen.«

Fee musste schmunzeln. Während Erik Berger seine Mitmenschen mit Unfreundlichkeit auf Abstand hielt, hatte sich Stefan Grabas für eine andere Strategie entschieden. Er war gut gelaunt, flirtete hemmungslos und wickelte alle mit seinem Charme ein, sodass niemand auf die Idee kam, dass diesem Mann sein Leben in Wahrheit kaum etwas bedeutete.

»Ich bin gespannt, was Sie zu mir führt, Frau Dr. Norden«, sagte er mit einem gewinnenden Lächeln. »Auf Ihrem Schild steht, dass Sie die Leiterin der Pädiatrie sind. Und da ich schon etwas länger volljährig bin und keine Kinder habe …«

»Haben Sie gar keine Familie?«, hakte Fee sofort nach, ohne auf seine eigentliche Frage einzugehen.

Stefan fiel das nicht auf. Er behielt sein charmantes Lächeln bei, als er antwortete: »Keine Frau, keine Kinder.« Er breitete die Arme aus. »Also, falls Sie irgendwann mal merken sollten, dass der Chefarzt nicht der Richtige für Sie ist, stehe ich Ihnen gern zur Verfügung.«

»Das lassen Sie ihn mal lieber nicht hören«, gab Fee lachend zurück. »Er hängt nämlich sehr an der Mutter seiner fünf Kinder.«

»Fünf?«, fragte Stefan überrascht, und zum ersten Mal hatte Fee den Eindruck, dass er ihr nichts vorspielte.

»Ja, und ich möchte keins von ihnen missen.«

Stefan nickte. »Das glaube ich Ihnen gern. Ich habe selbst mal von einer großen Familie und einem halben Dutzend Kinder geträumt.«

»Warum ist daraus nichts geworden?«

»Es sollte nicht sein.« Er zuckte die Achseln. »Ist sicher auch besser so. Ich treibe mich immer in der Weltgeschichte rum und wäre ihnen kein guter Vater.« Er klang dabei wieder völlig unbekümmert, aber in seine Augen hatte sich eine Spur Melancholie geschlichen. »Verraten Sie mir nun endlich, warum Sie hier sind?« Sein charmantes Lächeln war zurückgekehrt, wirkte jetzt aber nicht mehr echt.

»Ich war neugierig. Sie haben meinen Mann gestern so beschäftigt, dass er selbst am Abend keine Ruhe finden konnte.«

»Warum das? Ist mein Fall denn so interessant?«

»Ein Aortenaneurysma in dieser Größe ist tatsächlich nichts Alltägliches. Allerdings verursachte eher der Umstand, dass Sie der OP nicht zustimmen, das Kopfzerbrechen meines Mannes.«

Stefan lachte unsicher auf. »Es ist doch wohl nicht das erste Mal, dass ein Patient eine empfohlene Therapie ablehnt.«

»Nein, natürlich nicht. Aber in den meisten Fällen geht es dabei nicht um Leben und Tod, so wie bei Ihnen, Herr Grabas. Ich kann auch verstehen, dass jemand eine schwierige Behandlung ablehnt, weil die Krankheit zu weit fortgeschritten ist und die Erfolgsaussichten so gering sind, dass sie das Risiko oder die Strapazen nicht rechtfertigen. Auch für hochbetagte Menschen, die an ihrem Lebensende stehen und sich deshalb gegen einen größeren Eingriff entscheiden, habe ich Verständnis. Aber Sie? Sie sind jung, stehen mitten im Leben und wollen es so einfach wegwerfen? Tut mir leid, Herr Grabas, das können weder mein Mann noch ich begreifen. Und deshalb musste ich vorbeikommen.«

Das Lächeln in Stefans Gesicht sah aus, als wäre es eingefroren und passte zu seiner kühlen, distanzierten Stimme. »Tja, ich schätze zwar Ihre Ehrlichkeit, Frau Dr. Norden, aber nicht diese Unterhaltung.« Er erhob sich von seinem Stuhl. »Wenn es also sonst nichts zu sagen gibt … «

Auch Fee stand auf und versuchte zu verbergen, wie sehr sie sich über ihr eigenes Verhalten ärgerte. Sie hätte nicht so mit der Tür ins Haus fallen sollen, dass ihr Patient sofort dichtmachte und das Gespräch beendete. Es wäre besser gewesen, sich langsam heranzutasten und ein Vertrauensverhältnis aufzubauen. Eigentlich wusste sie das. Sie war schon zu lange in diesem Beruf, um so einen dummen Anfängerfehler zu machen. Fee hatte sich von Stefan Grabas zur Schau gestellter Unbekümmertheit und seiner Charmeoffensive täuschen zu lassen. Sie war darauf hereingefallen wie eine blutige Anfängerin.

»Ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen«, sagte sie. »Sie haben völlig recht. Es steht mir nicht zu, mich in Ihr Leben einzumischen oder Ihnen unangemessene Fragen zu stellen.«

Sie klang dabei so zerknirscht, dass Stefan sofort einlenkte. »Schon gut. Ich bin mir sicher, Sie hatten es nur gut gemeint. Aber ich schätze es nun mal nicht, wenn man meine Entscheidungen anzweifelt. Ich will diese Operation nicht. Ich will noch nicht mal hier sein … «

»Und trotzdem sind Sie es«, sagte Fee vorsichtig, als er nicht weitersprach.

»Na ja, letztendlich spielt es ja keine große Rolle, ob ich hier bin oder an jedem anderen Ort der Welt.«

»So spricht nur jemand, der kein Zuhause hat«, entfuhr es ihr, bevor sie es verhindern konnte.

Misstrauisch sah er sie an. »Versuchen Sie gerade, mich zu analysieren?«

»Nein, keine Sorge.« Fees Worte klangen aufrichtig. »Das hat nichts mit Psychoanalyse zu tun. Der Schluss, dass Sie in gewisser Weise heimatlos sind, lag einfach nahe.«

Als er sie noch immer argwöhnisch ansah, fuhr sie lächelnd fort: »Das hier ist eine ganz normale Unterhaltung, Herr Grabas. Keine Therapiestunde. Ich habe nicht vor, Ihnen etwas aufzuzwingen, was Sie nicht möchten.« Zur Bekräftigung ihrer Worte wandte sie sich zum Gehen. An der Tür drehte sie sich zu ihm um. »Ich komme morgen um die gleiche Zeit wieder vorbei. Es wäre wirklich schön, wenn wir uns dann noch einmal unterhalten könnten. Falls Sie mir aber erneut die Tür weisen, werde ich gehen und Sie nicht mehr belästigen.«

Sie war schon fast draußen, als er sie aufhielt. »In Ordnung. Dann sehen wir uns morgen.«

Erleichtert nickte ihm Fee noch einmal zu, dann war Stefan wieder allein. Er befürchtete schon jetzt, dass er sein Zugeständnis bereuen würde. Frau Dr. Norden machte auf ihn nicht den Eindruck, als würde sie so schnell aufgeben. Sie war äußerst hartnäckig und gewieft. Bei ihr musste er auf der Hut sein. Ehe er sich’s versah, lag er bei ihr auf der Couch und plauderte alle Geheimnisse seines Lebens aus oder – was noch viel schlimmer war – weinte sich den Kummer von der Seele.

Stefan ging zum Fenster und sah hinaus. Es hatte wieder zu regnen begonnen, sodass er seinen Plan, einen kleinen Spaziergang zu machen, aufgab. Die dunklen Regenwolken am Himmel drückten auf sein Gemüt. Er wünschte sich, es würde endlich kälter werden, das triste Regengrau würde verschwinden und einer weißen, dichten Schneedecke Platz machen. Eine Schneedecke, die alles unter sich begrub, was grau und schmutzig war und die so dick und undurchlässig war, dass schmerzvolle Erinnerungen nicht an die Oberfläche dringen konnten.

Stefan schloss die Augen und drückte mit Daumen und Zeigefinger auf die Nasenwurzel, in der Hoffnung, so die Trauer aus seinem Herzen zu vertreiben. Auch wenn das Gespräch mit Frau Norden nur kurz war und es ihm die meiste Zeit gelungen war, die Kontrolle zu behalten, hatte es ihn mehr aufgewühlt, als ihm lieb war.

Es waren Dinge zur Sprache gekommen, die er tief in seinem Herzen verschlossen hielt und an die er nur noch selten rührte. Wenn er unterwegs war, um neue, aufregende Orte zu entdecken, fiel es ihm nicht schwer, die Vergangenheit auszublenden. Doch hier, in Deutschland, konnte er dem nicht entfliehen, und es war dumm gewesen, es überhaupt versucht zu haben.

*

Die Cafeteria der Behnisch-Klinik gefiel ihm auf dem ersten Blick. Stefan sah sich um. Üppig wachsende Grünpflanzen in großen Blumenkübeln sorgten dafür, dass nichts vom hektischen Klinikbetrieb eindringen konnte. Weder die vorbei hastenden Pfleger und Ärzte, noch die rastlosen Lieferanten und Besucher bekamen die Chance, diese kleine Idylle zu stören. Als sich Stefan an einen der wenigen freien Tische niederließ, hätte er genauso gut in einem lauschigen Straßencafé in Nizza oder Barcelona sein können.

»Guten Tag«, riss ihn eine freundliche Stimme aus seinen Gedanken. »Wissen Sie schon, was Sie möchten?«

Stefan sah zu der jungen Frau auf, deren Lächeln auf seltsame Weise sein Herz berührte. Dann wanderte sein Blick zu ihren Augen, und er konnte nur noch mühsam nach Luft ringen.

»Ist alles in Ordnung mit Ihnen? Brauchen Sie Hilfe?«, drangen wie durch einen dicken Nebel besorgte Worte in seinen Kopf. »Ich rufe nach einem Arzt … «

»Nein!« Stefan atmete tief ein. »Nein! Das ist nicht nötig! Es tut mir leid, wenn ich Ihnen einen Schrecken eingejagt habe. Mir geht es gut. Ich dachte nur für einen Augenblick … «

»Ja?«, fragte die Bedienung der Cafeteria nach, als er abbrach und sie nur schweigend fixierte.

»Entschuldigung … Es ist nur so, dass Sie mich an jemanden erinnern.« Stefan sah auf das Namensschild, das sie an ihrer Bluse trug. ›Jette Köpcke‹, las er. Der Name sagte ihm nichts, und doch war er sich sicher, sie zu kennen. »Es sind Ihre Augen«, erklärte er ihr. »Die Augen und dieses Lächeln … Diese Ähnlichkeit ist einfach erstaunlich.«

»Oh! Nun, vielleicht kennen Sie ja jemanden aus meiner Familie.«

»Sind Sie aus München?« Als Jette nickte, schüttelte er den Kopf. »Dann wohl nicht. Ich kenne niemanden in München. Ich selbst wohne auch nicht hier und bin nur auf der Durchreise.«

»Tja, dann habe ich entweder ein Allerweltsgesicht oder es gibt irgendwo eine Doppelgängerin von mir«, scherzte Jette. »Ich bin jedenfalls sehr erleichtert, dass Sie keine gesundheitlichen Probleme hatten.« Mit einem schiefen Grinsen fügte sie hinzu: »Schließlich sind wir hier in einem Krankenhaus. Meine Befürchtung, dass Sie gerade einen Schlaganfall oder Herzinfarkt erleiden, war deshalb gar nicht so abwegig.«

»Nein, das war sie nicht. Aber bei mir besteht diese Sorge nicht. Ich bin kerngesund.« Oder zumindest fast, setzte er in seinen Gedanken hinzu, als ihm wieder einfiel, dass er nicht grundlos in der Behnisch-Klinik war. Angelegenheiten, die ihm unangenehm waren, hatte er schon immer gut verdrängen können. Sei es ein gebrochenes Herz oder ein Aneurysma, das jeden Augenblick platzen konnte. Zum ersten Mal dachte er darüber nach, wie es wohl wäre, wenn es tatsächlich geschähe. Würde er Schmerzen haben? Wäre es schnell vorbei? Dann sah er in die dunkelgrünen Augen der netten Kellnerin. Wie wäre es für sie, wenn er hier plötzlich zusammenbrechen und vor ihren schönen Augen verbluten würde? Würden sie die Erinnerungen daran ein ganzes Leben lang verfolgen? Das wünschte er weder ihr noch einem anderen Menschen, und so konnte er nur hoffen, dass ihn dieses Schicksal irgendwann, wenn er allein war, ereilte und sich niemand damit herumplagen musste.

»Möchten Sie einen Kaffee haben? Oder ein Glas Wasser? Entschuldigung, aber Sie sehen aus, als könnten Sie beides gut gebrauchen.«

Stefan lächelte. »Ich nehme nur den Kaffee.«

»Ich kann Ihnen auch unseren frischgebackenen Kuchen empfehlen. Ohne mich selbst loben zu wollen, kann ich behaupten, dass er einfach grandios schmeckt.«

»Sie sind die Bäckerin?«, fragte Stefan belustigt nach.

»Ja. Wenn Sie möchten, bringe ich Ihnen die Kuchenkarte.«

»Sehr gern ein anderes Mal, wenn ich nicht gerade vom Mittagstisch aufgestanden bin.«

Stefan sah der Kellnerin nach, als sie ging, um seinen Kaffee zu holen. Noch immer saß ihm der Schock über ihre Ähnlichkeit mit Patricia in den Knochen. Während er ihr zusah, wie sie ein Tablett für ihn anrichtete, relativierte sich der erste Eindruck allerdings, und die Gemeinsamkeiten zwischen ihr und Patricia schwanden, bis er sich schließlich fragte, wie er eigentlich auf die Idee gekommen war, dass sich diese beiden Frauen ähnlich sahen. Patricias Nase war schmal und gerade gewesen, während Jettes eine recht niedliche Stupsnase war. Beide hatten dunkle Haare, aber Patricias waren um ein paar Nuancen heller. Obwohl Stefan seine große, verlorene Liebe vor mehr als zwanzig Jahren zum letzten Mal gesehen hatte, konnte er sich noch an jede Kleinigkeit ihres wunderschönen Gesichts erinnern: ihre feingeschwungenen Augenbrauen, das kleine Muttermal unter ihrem linken Ohr und die Lippen, die ihr nie voll genug gewesen waren. Egal ob er wach war oder träumte, es verging kaum eine Minute, in der er nicht an Patricia dachte oder sie in seinen Gedanken vor sich sah.

Jette stellte das kleine Tablett vor ihm ab. »Ich habe Ihnen ein paar Kekse zum Probieren mitgebracht«, sagte sie mit einem sonnigen Lächeln, das ihn erneut an Patricia erinnerte. Doch diesmal hatte er sich besser im Griff und bekam keine Atemprobleme.

»Kekse? Das ist sehr nett von Ihnen. Vielen Dank. Ich glaube, die passen noch rein.«

Als Jette gegangen war, griff er nach seinem Kaffee, doch er setzte ihn ab, ohne davon probiert zu haben. Ein lieblicher Duft war ihm in die Nase gestiegen. Ein Duft, der ihn in vergangene Zeiten zurückwarf, genau wie das Lächeln der Kellnerin. Wie gebannt sah er auf die drei Plätzchen, die auf einem kleinen Tellerchen auf seinem Tablett lagen. Sie rochen nicht nur wie in seiner Erinnerung, sondern sahen auch genauso aus. Wenn sie jetzt auch noch so schmeckten … Stefan zögerte. Seine Hand schwebte über den Keksteller. Ihm fehlte der Mut zuzugreifen. Er war davon überzeugt, dass ihn der Geschmack enttäuschen würde. Niemand, wirklich niemand war in der Lage, Patricias Kekse zu backen.

Schließlich nahm er sich einen Keks und biss hinein. Als der unverkennbare, besondere Geschmack seine Sinne flutete, blieb ihm zum zweiten Mal an diesem Tag die Luft weg.

*

»Was ist denn passiert?«, murmelte Stefan benommen und versuchte, sich aufzurichten.

»Liegenbleiben, Herr Grabas«, vernahm er eine vertraute schroffe Stimme.

»Dr. Berger?« Stefan brauchte eine Weile, um zu verstehen, dass er nicht mehr in der Cafeteria saß, sondern sich in einem Behandlungsraum der Notaufnahme befand. Er sah Tropfständer, Beatmungsgeräte und anderes medizinisches Equipment, über dessen Bedeutung er nur spekulieren konnte. Im Hintergrund hörte er einen gleichmäßigen Piepton im Sekundentakt, von dem er annahm, dass er seinen Herzschlag wiedergab. In einem Anflug von Verzweiflung schloss er die Augen. Er wollte nicht hier sein. Er wollte nichts mit dem, was hier geschah, zu tun haben. Warum hatte er sich bloß überreden lassen, in die Behnisch-Klinik einzuziehen? Ihm ging es doch gut. Wäre er nicht von dieser blöden Leiter gestürzt, hätte er nie erfahren, dass er ein Aneurysma hatte. Er hätte sein Leben weiterführen können wie bisher. Doch stattdessen lag er hier, war an Geräte angeschlossen und fühlte sich elendiger als je zuvor.

»Schön, dass Sie wieder unter uns weilen, Herr Grabas«, sagte Berger. »Sie sind in der Cafeteria zusammengebrochen, und wir haben Sie in den Schockraum gebracht.«

»Zusammengebrochen? Ich hatte einen Ohnmachtsanfall?«

»Ja, wir nennen das eine Synkope. Meistens ist die Ursache recht harmlos. Aber in Ihrem Fall … «

»Was … Was fehlt mir denn?«

»Außer dass Sie ein Aneurysma haben? Nun, das versuchen wir gerade herauszukriegen.« Berger hob den Schallkopf des Ultraschallgeräts hoch. »Im Moment überprüfe ich Ihr Aneurysma und denke, dass ich an dieser Front schon mal Entwarnung geben kann.«

Die Tür wurde aufgerissen, und Daniel Norden stürzte herein. »Wie geht’s ihm?«

»Gut«, lautete Bergers knappe Antwort. Konzentriert sah er auf den Monitor des Ultraschallgeräts. »Das Aneurysma ist intakt. Keine Anzeichen für eine Ruptur.«

»Dem Himmel sei Dank.« Aus Daniel Nordens Worten sprach pure Erleichterung.

»Blutdruck, Sauerstoffsättigung und EKG sind unauffällig, auf die Herzenzyme warten wir noch. Aber es gibt nichts, was auf einen Infarkt schließen lässt.«

Daniel Norden trat näher an die Untersuchungsliege heran, sodass er Stefan in die Augen sehen konnte. »Sie haben die halbe Klinik in Aufregung versetzt, Herr Grabas. Was war denn bloß los mit Ihnen?«

Stefan hob eine Hand, um sich übers Gesicht zu fahren. Dabei bemerkte er den Infusionsschlauch, über den ihm Flüssigkeit zugeführt wurde.

»Ich habe absolut keine Ahnung. In dem einen Moment sitze ich in der Cafeteria, um einen Kaffee zu trinken, und im nächsten werde ich hier wach.«

»Die Bedienung der Cafeteria meinte, Sie hätten plötzlich nach Luft geschnappt und wären dann ohnmächtig geworden«, warf Berger ein.

»O je. Ein Ohnmachtsanfall vor einer hübschen jungen Frau! Besonders männlich klingt das nicht«, witzelte Stefan, obwohl ihm nicht danach zumute war.

»Tja, mit dieser Schande werden Sie jetzt wohl leben müssen, Herr Grabas.« Auf Bergers Gesicht breitete sich ein seltenes Lächeln aus, das genauso schnell verschwand, wie es gekommen war, nachdem ihm eingefallen war, wie begrenzt die Lebensspanne seines Patienten sein mochte.

Er klang wieder völlig professionell und sachlich, als er weitersprach: »Um ganz sicher zu sein, dass wir nichts übersehen haben, machen wir noch ein CT. Herr Heinrich erwartet uns bereits.«

Daniel nickte zustimmend. »In Ordnung. Die Aufnahmen bringen vielleicht ein bisschen Licht in die Sache. Wäre ja gelacht, wenn wir nicht herausbekommen, was mit Ihnen los war.«

Doch auch die CT-Bilder verrieten nicht, warum Stefan Grabas so plötzlich sein Bewusstsein verloren hatte. Das Aneurysma war intakt und andere Auffälligkeiten waren nicht zu finden. Es gab keine Hinweise auf eine Lungenembolie oder einen Schlaganfall. Als dann auch die Laborbefunde im Normbereich lagen, war Daniel ratlos.

»Wir können nichts finden, Herr Grabas«, sagte er stirnrunzelnd.

»Nun, dann ist doch alles bestens, und ich muss mir keine Sorgen machen.«

»So einfach ist die Sache leider nicht. Niemand fällt grundlos in Ohnmacht. Solange wir nicht wissen, was los war, müssen wir befürchten, dass es jederzeit wieder passieren könnte.« Daniel dachte scharf nach. Dann fiel ihm ein, was ihm Jette aus der Cafeteria berichtet hatte.

»Die Bedienung meinte, dass Sie nur wenige Minuten zuvor bereits Probleme hatten. Sie meinte, es hätte so ausgesehen, als würden Sie schlecht Luft bekommen.«

»Ja, aber nur ganz kurz. Es war einfach der Schock gewesen. Er hatte mir im wahrsten Sinne des Wortes den Atem geraubt.«

»Schock? Worüber waren Sie denn schockiert?«

Stefan winkte ab. »Ach, da war nichts. Eine dumme Erinnerung an alte Zeiten. Nur ein Lächeln, vertraute Augen und der besondere Geschmack von Keksen, die mich an eine außergewöhnliche Frau aus meiner Vergangenheit erinnerten. Kaum vorstellbar, dass ich deswegen ohnmächtig wurde.«

»Nun, wenn der Schock sehr tief geht, wäre das schon möglich, obwohl ich das in diesem Fall nicht glaube. Leider wissen wir im Moment nicht, was mit Ihnen los war. Aber ich würde gern Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, falls es noch einmal passieren sollte.«

»Vorsichtsmaßnahmen?« Stefan Grabas verbarg seinen Argwohn nicht. »Was meinen Sie damit? Reicht es denn nicht, dass ich mich auf diesen Klinikaufenthalt eingelassen habe?«

»Anscheinend nicht. Das haben Sie heute ja selbst erlebt. Solange wir nicht wissen, warum Sie zusammengebrochen sind, sollten wir Ihren Gesundheitszustand ständig überwachen.« Er hob beschwichtigend die Hand, als er sah, dass Stefan zu einem heftigen Protest ansetzte. »Nichts Dramatisches. Keine Sorge. Sie würden nur ein paar Elektroden auf die Haut geklebt bekommen, damit wir Ihr EKG aufzeichnen können. Und natürlich ist Ihre Unterbringung auf einer ganz normalen Station jetzt keine Option mehr. Ihre Vitalwerte sollten ständig kontrolliert werden. Wir haben eine Kardiologische Wacheinheit, wo Sie von nun an … «

»Nein!«, unterbrach Stefan den Chefarzt heftig. »Entweder behalte ich mein Einzelzimmer in der Chirurgie oder ich entlasse mich selbst. Ich werde nicht auf eine Wachstation umziehen.«

Daniel brütete über eine Lösung, die für beide Seiten akzeptabel war. Dann fanden sie einen Kompromiss:

Stefan würde dauerhaft das EKG-Gerät tragen und blieb dafür zumindest tagsüber in seinem Einzelzimmer in der Chirurgie. Die Nacht würde er allerdings in einem separaten Zimmer auf der Wacheinheit verbringen, angeschlossen an die nötigsten Überwachungsgeräte. Für Daniel war es nicht die optimale Lösung. Ein Ohnmachtsanfall oder gar ein plötzlicher Herztod konnten zu jedem beliebigen Zeitpunkt des Tages auftreten, nicht nur bei Nacht.

»Du solltest dich trotzdem darüber freuen, Dan«, sagte Fee, als er ihr später davon erzählte. »Das, was du heute bei ihm erreicht hast, ist ein Riesenerfolg und gibt Hoffnung. Wenn Stefan Grabas sein Leben wirklich so egal wäre, wie er denkt und uns weismacht, hätte er sich nie auf diese Zugeständnisse eingelassen.«

»Leider macht er bei seinem Aneurysma keine Zugeständnisse«, klagte Daniel. »Er lehnt die Operation weiterhin ab.«

»Ihr habt noch mal darüber gesprochen?«

»Ja, nachdem ich ihn auf die Chirurgie gebracht habe. Er meint, er vertraue darauf, dass sein Aneurysma durchhält, bis er mit hundert Jahren an Altersschwäche stirbt.« Daniel schüttelte unwillig den Kopf. »Ach, Feelein, ich wünschte, er würde es mir nicht so schwermachen, ihm zu helfen.«

»Vielleicht gibt er noch nach, Dan. Bleib einfach dran, so wie ich. Ich werde ihn morgen wieder besuchen, um mein Glück zu versuchen.«

»Steter Tropfen höhlt den Stein?«, fragte Daniel lächelnd.

Fee nickte und sah ihren Mann dabei verschwörerisch an. »Du kennst mich, Dan. Ich kann ein sehr hartnäckiger steter Tropfen sein, wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt habe.«

Daniel lachte auf. »O ja! Niemand weiß das besser als ich.« Er strich ihr zärtlich über die Wange, als er sagte: »Deine Hartnäckigkeit und deine Geduld gehören zu den Eigenschaften, die ich besonders an dir liebe. Und natürlich auch alles andere: dein Humor, deine Klugheit, deine Loyalität, dein gutes Herz …«

Schnell verschloss Fee den Mund ihres Mannes mit einem Kuss. »Hör bloß auf, mein Lieber. Bei meinen unendlich vielen guten Eigenschaften wirst du sonst nie ein Ende finden.«

»Da könntest du durchaus recht haben.« Daniel gab Fee gleich noch einen Kuss. Dann fiel ihm Stefan Grabas wieder ein. »Da wir gerade von deiner umwerfenden Klugheit sprachen: Ich würde gern deinen Rat als Psychiaterin in Anspruch nehmen. Kannst du dir vorstellen, dass jemand bewusstlos wird, weil er einen Schreck bekommen hat? Mit jemand meine ich Stefan Grabas. Also einen gestandenen Mann, der sonst eigentlich ziemlich hart im Nehmen ist und sich kaum aus der Ruhe bringen lässt.«

»Eine Synkope durch einen Schreck?« Fee runzelte nachdenklich die Stirn. »Ich nehme an, alle anderen möglichen Ursachen konnten ausgeschlossen werden?«

»Ja, natürlich. Grabas meinte, ihm sei buchstäblich die Luft weggeblieben, als er ein Lächeln sah, dass ihn an eine alte Bekannte erinnerte. Und der Geschmack eines Kekses hatte ähnliche Symptome hervorgerufen. Nur dass er diesmal sogar das Bewusstsein deswegen verlor.«

»Klingt ziemlich ungewöhnlich, ist aber bei einem schockähnlichen Zustand nicht unmöglich. Negativer Stress kann zur Ohnmacht führen. Genau wie positiver Stress, wenn man sich zum Beispiel sehr freut. Tut mir leid, Dan. Ich weiß einfach zu wenig, um mir sicher zu sein. Verschieben wir unser Gespräch auf morgen. Vielleicht kann ich dir nach meiner Unterhaltung mit Grabas mehr sagen.«

*

Stefan hatte die Nacht auf der Kardiologischen Wacheinheit verbracht. Zum Glück hatte er dort besser geschlafen, als er befürchtet hatte. Sie hatten ihn in einem kleinen Einzelzimmer untergebracht und ihn an den EKG-Monitor angeschlossen. Nach dem Aufwachen war er sofort auf die chirurgische Station zurückgegangen, um dort zu duschen, zu frühstücken und den restlichen Tag zu verbringen.

Am Vormittag standen noch zahlreiche Untersuchungen an, die Stefan nur zähneknirschend über sich ergehen ließ und die bis zum Mittag andauerten. Nach dem Essen überlegte er, ob er sich ausnahmsweise einen kurzen Mittagsschlaf gönnen sollte, als es an seiner Zimmertür klopfte. Augenblicklich dachte er an Felicitas Norden, die ihr Kommen für heute angekündigt hatte. Da er ahnte, dass sie nur wieder ihre Psychotricks an ihm ausprobieren wollte, fiel sein »Herein« nicht sehr freundlich aus.

»Ich hoffe, ich störe Sie nicht, aber ich wollte unbedingt sehen, wie es Ihnen geht.« Es war nicht Frau Dr. Norden, die nun in der offenen Tür stand, sondern Jette, die Kellnerin mit dem seltsam vertrauten Lächeln.

»Sie stören nicht!«, versicherte Stefan rasch. »Bitte kommen Sie doch rein!«

»Sehr gern. Danke.«

Stefan wartete, bis sie ihm gegenüber Platz genommen hatte, und fragte dann: »Müssen Sie denn heute gar nicht in der Cafeteria arbeiten?«

»Das habe ich schon. Ich hatte sehr früh angefangen und kann nun Feierabend machen.«

»Ich freue mich, dass Sie vorbeigekommen sind. So geben Sie mir die Gelegenheit, mich bei Ihnen für die gestrige Aufregung zu entschuldigen.«

»Das brauchen Sie doch nicht. Ich gebe zu, ich war ziemlich erschrocken, als Sie plötzlich die Augen verdrehten und mit dem Kopf auf den Tisch fielen, aber jetzt bin ich einfach nur froh, dass es Ihnen wieder gutgeht.« Sie musterte ihn mit einem besorgten Blick. »Ihnen geht’s doch wieder gut?«

»Ja, ja, alles bestens. Die Ärzte zerbrechen sich allerdings noch den Kopf, woran es gelegen haben könnte.«

Jette stellte ein kleines Päckchen auf den Tisch und befreite es von dem Papier, mit das es eingewickelt war. Als Stefan sah, was es war, stockte ihm erneut der Atem. Doch diesmal hatte er sich sofort wieder im Griff, und seine Besucherin bemerkte nicht, wie angespannt er plötzlich war.

»Ich habe Ihnen etwas mitgebracht, Herr Grabas. Sie haben gestern ja noch nicht mal Ihren Kaffee austrinken können, und meine Kekse haben Sie auch kaum angerührt.« Jettes Lächeln, gepaart mit dem Plätzchenaroma, das nun durch den Raum schwebte, machte es ihm schwer, sich auf das zu konzentrieren, was sie sagte. In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. War diese Ähnlichkeit zwischen Jette und seiner verlorenen Liebe wirklich nur eine Laune der Natur? Aber was war mit diesen Keksen, deren einmaliger, besonderer Geschmack er unter allen Keksen der Welt erkannt hätte? Waren das alles nur dumme Zufälle? Oder gab es eine Verbindung zwischen dieser jungen Frau und Patricia?

Stefan nahm sich einen Keks. Er schloss für einen Moment entzückt die Augen, als er den unverwechselbaren Geruch einatmete, bevor er genussvoll davon kostete.

»Genau wie früher. Ganz genau wie früher.«

»Wie früher?«, fragte Jette neugierig nach, als er es nicht weiter erklärte, sondern schweigend an seinem Keks knabberte.

Stefan schreckte bei ihren Worten wie aus einem tiefen Traum auf. »Oh! Entschuldigung … Ihre Kekse sind wirklich … einzigartig.« Er lächelte jetzt. »Zumindest hieß es immer, sie wären es. Die Familie hatte das Rezept gehütet, und es nie weitergeben.«

»Welche Familie?«

»Sie kennen sie nicht. Ihr gehörte eine Konditorei in Augsburg. Aber das ist schon viele Jahre her. Den Laden gibt es nicht mehr, und die Inhaber sind jetzt … irgendwo.« Stefan sah auf den restlichen Keks in seiner Hand. Er klang traurig, als er weitersprach. »Mit Patricia, der Tochter des Konditormeisters, ging ich zusammen zur Schule. Sie war nicht nur das klügste, sondern auch das hübscheste Mädchen der Klasse gewesen. Kein Wunder, dass ich mich Hals über Kopf in sie verliebt hatte. Und sie sich auch in mich, jedenfalls dachte ich das damals.« Verlegen hielt er inne. Er wusste nicht, warum er ausgerechnet mit ihr darüber sprach. »Es tut mir leid. Ich möchte Sie nicht mit diesen alten Geschichten langweilen.«

»Das machen Sie nicht!«, sagte Jette schnell. »Was ist aus Ihnen und … und Patricia geworden?«

Trauer legte sich über Stefans Gesicht, als er an die schlimmste Zeit seines Lebens dachte. »Nach dem Abitur bin ich für ein Jahr fortgegangen. Es war schon immer mein großer Traum gewesen, eine Zeitlang die Welt zu bereisen und neue Erfahrungen zu sammeln, bevor ich mich um meine Ausbildung oder ein Studium kümmere. Für Patricia hätte ich diesen Traum aufgegeben. Ich hatte Angst, dass unsere Liebe diese Trennung nicht überstehen würde. Patricia war es, die mich davon überzeugt hatte zu gehen. Sie wäre sogar mitgekommen, aber in der Konditorei ihrer Eltern lief es nicht so gut, und sie wollte sie deswegen nicht allein lassen. Sie hatte mir versprochen, auf mich zu warten, aber … «

Als er abbrach, sagte Jette mit tonloser Stimme: »Aber das hat sie nicht.«

Stefan schüttelte den Kopf. Den Blick starr auf das Schälchen mit den Keksen gerichtet, bemerkte er nicht, wie sehr seine Geschichte Jette erschütterten. Sie saß kreidebleich auf ihrem Stuhl und versuchte, gegen ihre Gefühle und das Chaos in ihrem Kopf anzukämpfen.

»Am Anfang lief es noch ganz gut. Immer, wenn ich konnte, habe ich angerufen. Oder ich habe ihr endlos lange Briefe geschrieben und von meinen Abenteuern berichtet. Doch sie hat nie geantwortet. Auch telefonisch konnte ich sie bald nicht mehr erreichen. Als ich nach Augsburg zurückkam, bin ich sofort zu ihr gegangen. Ich wollte wissen, was los ist. Doch sie war fort. Die Konditorei gab es auch nicht mehr. Die Nachbarn erzählten mir, dass Patricias Eltern sie aufgeben mussten, weil sie hoch verschuldet waren. Niemand konnte mir sagen, wo sie hingegangen waren. Dann traf ich einen ehemaligen Mitschüler. Von ihm erfuhr ich, dass Patricia mit ihren Eltern irgendwo in Norddeutschland lebte und dass sie … « Stefan musste einige Male durchatmen, bevor er die Kraft fand, auch den Rest der traurigen Wahrheit rauszulassen.

»Er sagte mir, dass Patricia inzwischen verheiratet sei und ein Kind hätte. Da wusste ich, dass alles vorbei war. Patricias Liebe war nicht stark genug gewesen, um unsere Trennung zu überstehen.«

»Was haben Sie dann gemacht?«, fragte Jette tonlos.

»Ich habe meine Sachen gepackt, bin zum Flughafen gefahren und habe den nächsten Flieger genommen. Seitdem bin ich als freiberuflicher Fotograf unterwegs, lebe aus dem Koffer und komme so selten wie möglich nach Deutschland zurück.« Er zuckte entschuldigend die Achseln. »Es gibt hier nichts, was mir etwas bedeutet.«

Nichts hatte für ihn eine Bedeutung. Doch das behielt er für sich. Er hatte schon viel zu viel von sich preisgegeben. Warum das so war, wusste er nicht. Er hatte keine Erklärung dafür. Ob es an ihrem Lächeln lag? Als er sie ansah, erschrak er über ihr bleiches Gesicht. Er wollte sich gerade nach ihrem Befinden erkundigen, als Fee Norden ins Zimmer kam. Jette sprang sofort auf und verabschiedete sich von ihm. Er dankte ihr für die Kekse und versprach, sie bald in der Cafeteria zu besuchen.

Jette war froh, als sie auf dem Stationsflur stand und die Tür hinter sich schließen konnte. Viel länger hätte sie da drin nicht ihre Fassung wahren können. Sie war aufgewühlt, erschüttert - und unglaublich wütend. Nicht auf sich oder auf Stefan Grabas. Nein, auf ihre Mutter, mit der sie jetzt dringend sprechen musste.

*

»Na, wie war dein Tag, mein Liebling?« Jettes Mutter stand in der Küche und rührte in einem Topf. Ihr Lächeln erlosch, als sie in das ernste Gesicht ihrer Tochter blickte. Sofort legte sie den Rührlöffel weg und schaltete den Herd ab.

»Setz dich«, sagte sie knapp und wies auf einen Küchenstuhl. »Was ist passiert?«

Jette ignorierte die Aufforderung, sich zu setzen, und blieb völlig aufgebracht vor ihrer Mutter stehen.

»Erzähl mir von meinem Vater!«, forderte sie.

»Wie bitte? Was soll das? Vielleicht sagst du mir erst mal, was mit dir los ist!«

»Nein, du erzählst mir jetzt endlich von meinem Vater! Ist er wirklich tot? Sieh mir in die Augen und sag mir, dass er nicht mehr lebt!«

Patricia ließ sich auf einen Stuhl fallen, weil ihre Beine plötzlich nachgaben. Es tat so weh, an diese alten Geschichten zu rühren. Noch immer wurde ihr Herz vor Kummer schwer, wenn sie an den Mann, den sie so sehr geliebt hatte, zurückdachte. Sie merkte nicht, dass sie zu weinen begonnen hatte. Erst als sich Jette zu ihr setzte und ihr wortlos ein Taschentuch reichte, fiel es ihr auf.

»Es tut mir leid«, schniefte Patricia leise. »Es tut mir so unendlich leid.«

»Dann stimmt es also«, sagte Jette fassungslos. »Er lebt.«

Patricia schüttelte energisch den Kopf. »Nicht für mich! Für mich ist Stefan schon vor vielen Jahren gestorben!«

»Ich bitte dich! Was soll dieser Blödsinn? Für dich ist er gestorben? Was ist mit mir? Meinst du nicht, dass ich das Recht gehabt hätte, die Wahrheit zu kennen?«

»Die Wahrheit hätte dir nur wehgetan. Ich wollte dich beschützen. Ich wollte nicht, dass du so leidest wie ich.«

»Und da war es einfacher gewesen, mir einzureden, dass mein Vater noch vor meiner Geburt gestorben sei«, stieß Jette anklagend hervor. Sie griff nach der Packung mit den Taschentüchern, weil jetzt auch bei ihr die Tränen flossen.

»Einfacher und weniger schmerzhaft. Ich konnte meiner kleinen süßen Tochter nicht sagen, dass ihr leiblicher Papa irgendwo in der Weltgeschichte herumreist und kein Interesse daran hat, sein Kind kennenzulernen.«

»Ich bin schon lange kein Kind mehr und brauche nicht beschützt zu werden. Du hättest es mir längst sagen müssen.«

Traurig nickte Patricia. »Ja, das stimmt, und ich bedauere sehr, dass ich es nicht getan habe. Wenn du willst, erzähle ich es dir jetzt. Ich werde dir alles sagen, und danach hoffe ich, dass du mir meine Lügen verzeihen kannst.«

Als Jette nur stumm nickte, begann Patricia von ihrer großen Jugendliebe zu erzählen. Der Anfang der Geschichte deckte sich mit dem, was sie bereits von Stefan Grabas wusste. Doch im weiteren Verlauf gab es gravierende Unterschiede.

»Ich war fest davon überzeugt, dass wir mit der Trennung klarkommen würden«, berichtete Patricia unglücklich. »Doch das änderte sich schnell. Ich hörte nichts mehr von ihm, und zu Hause ging alles drunter und drüber. Deine Großeltern mussten Insolvenz anmelden, weil sie die Rechnungen nicht mehr bezahlen konnten. In der Nähe unserer Konditorei hatte ein riesiges Einkaufscenter aufgemacht. Dort gab es einen Backshop, der alles zu Dumpingpreisen anbot und die alten Handwerksbetriebe in den Ruin trieb. Von meinem Traum, irgendwann die Konditorei zu übernehmen, musste ich mich verabschieden. Und dann habe ich gemerkt, dass ich dich erwartete.« Patricia lächelte bei diesen Worten und legte ihre Hand auf die ihrer Tochter. »Du weißt, wie sehr ich dich liebe. Vom ersten Augenblick an hatte ich mich auf dich gefreut. Meine Eltern nahmen es nicht so leicht. Die Tatsache, dass ihre achtzehnjährige Tochter, die gerade ihren Schulabschluss in der Tasche hatte, ein Baby bekam, hatte ihnen neben der Schließung des Ladens ordentlich zu schaffen gemacht. Und es gab nichts, was ich tun konnte, um ihnen die Sache zu erleichtern. Als sie dann den Vorschlag machten, zu den Verwandten nach Norderstedt zu ziehen, habe ich mich nicht dagegen gewehrt. Norderstedt bot mir die Chance, neu anzufangen und nicht an meinem Liebeskummer zu Grunde zu gehen. Und nachdem ich eine Bekannte traf, die mir erzählte, dass Stefan nicht vorhabe, nach Deutschland zurückzukehren und schon längst Ersatz für mich gefunden hätte, wollte ich nur noch weg.« Patricia, die immer noch die Hand ihrer Tochter hielt und froh war, dass diese es zuließ, fragte bang: »Kannst du mich wenigstens ein bisschen verstehen, mein Liebling? Ich war jung, völlig durcheinander und wusste nicht, wie es für mich weitergehen soll. Es wurde erst leichter, als ich lernte, alle schmerzhaften Erinnerungen zu verdrängen und mit der Vergangenheit abzuschließen.«

»Sogar mit meinem Vater.«

»Ja. Ihm verdanke ich zwar meinen größten Schatz«, Patricia gab ihrer Tochter einen Kuss auf die Stirn, »aber auch meinen schlimmsten Kummer. Deshalb wollte ich nicht mehr an ihn denken. Und da du nie nach ihm gefragt hast, gelang es mir meistens sogar. An deinem biologischen Vater hast du kein Interesse gezeigt.«

»Ich habe ihn nicht vermisst. Ich hatte ja einen Papa. Für mich spielte es nie eine Rolle, dass er nicht mein leiblicher Vater war.«

»Ich weiß.« Patricia war Henry, ihrem Ex-Mann, noch immer dankbar, dass er nach der Heirat wie selbstverständlich in die Vaterrolle geschlüpft war.

»Verrätst du mir jetzt endlich, was geschehen ist?«, fragte Patricia sanft. »Warum hast du nach Stefan gefragt? Ist irgendetwas vorgefallen, wovon ich wissen sollte?«

»Ich habe jemanden in der Cafeteria der Behnisch-Klinik kennengelernt. Sein Name ist Stefan Grabas.«

Als ihrer Mutter ein leiser Aufschrei entfuhr, waren auch Jettes letzte Zweifel ausgeräumt. »Er ist mein Vater, stimmt’s?«, fragte sie dennoch.

Patricia schluchzte leise, während sie nickte. Es dauerte, bis sie in der Lage war, nach Einzelheiten zu fragen. Jette erzählte ihr, was sie wusste. Auch, dass die Version ihres Vaters sich in einem wesentlichen Punkt von der ihrer Mutter unterschied.

»Bei ihm klang es so, als hättest du ihn verlassen. Er meinte, er habe darauf vertraut, dass du auf ihn warten würdest, aber das hättest du nicht getan. Er konnte dich nicht erreichen, und als er wiederkam, warst du verschwunden. Nachdem er erfahren hatte, dass du verheiratet bist, hat er die Suche nach dir aufgegeben.«

»Ich hatte doch keine Ahnung … «, weinte Patricia. »Ich war mir sicher, dass er mich vergessen hatte!«

»Du musst das mit ihm klären, Mama. Besuch ihn.«

Als sie sah, dass ihre Mutter zögerte, sagte sie eindringlich: »Du musst mit ihm reden. Glaubst du nicht, er sollte erfahren, dass er eine Tochter hat? Dass es mich gibt?«

»Doch, natürlich!« Patricia gelang es nur schwer, ihren Tränenfluss zu bremsen. »Du hast völlig recht, meine Kleine. Wer hätte gedacht, dass du mal die Vernünftigere von uns beiden bist! Stefan muss von dir erfahren. Und ich brauche auch endlich meine Antworten.«

*

Patricia war allein zur Behnisch-Klinik gefahren. Jette hatte sich zwar angeboten, ihre Mutter zu begleiten, doch sie hatte abgelehnt. Es war an der Zeit, sich der Wahrheit zu stellen, und das musste sie allein machen.

Von Jette wusste sie, wo sie Stefan finden konnte. Am Informationstresen ließ sie sich den Weg in die Chirurgie erklären. Doch als sie schließlich vor seiner Zimmertür stand, verließ sie ihr Mut. Auf einmal wusste sie, dass dieser Moment, wenn sie ihn wiedersah, ihr ganzes Leben verändern würde. Ein Leben, das sie sich perfekt eingerichtet hatte und in dem sie ihn nur noch selten vermisste.

All die Jahre hatte sie gedacht, sie wäre darauf vorbereitet, ihn irgendwann wiederzusehen. Sie hatte sich sogar ein paar Sätze zurechtgelegt, die sie ihm sagen wollte, doch ihr Kopf war plötzlich völlig leer. Da war nichts, das ihr helfen konnte, mit dieser Situation fertigzuwerden.

Als ihre Hand wie von selbst an die Tür klopfte, erschrak sie. Nun gab es kein Zurück mehr. Gleich würde sie ihm gegenüberstehen … Es sei denn, sie drehte sich jetzt einfach um und lief davon. Doch dann fiel ihr Jette ein, und sie sagte sich, dass sie dies hier für ihre Tochter tat. Nicht für sich oder für Stefan, nur für Jette. Und mit diesem Wissen fand sie die Kraft, die Klinke hinunterzudrücken.

Er saß an einem kleinen Tisch und blätterte in der Zeitung. Als sich die Tür öffnete, sah er auf, und sie konnte sein Gesicht sehen. Er hatte sich verändert; aus dem Jungen von einst war ein Mann geworden. Patricia war nicht überrascht, als sie bemerkte, dass sich - trotz der vielen Jahre und trotz des Kummers, den er ihr zugefügt hatte – ihre Gefühle für ihn nicht verändert hatten. Sie liebte ihn noch immer.

Seine Augen weiteten sich vor Überraschung, als er sie erkannte. Er sprang so heftig auf, dass sein Stuhl umfiel. Fast sah es so aus, als wollte er ihr entgegenstürzen, um sie in seine Arme zu reißen. Doch er blieb stehen und starrte sie nur an.

»Trischi!«, stieß er schließlich schockiert aus.

»Trischi … Niemand hat mich je wieder so genannt.« Ihr Versuch zu lächeln misslang. »Darf ich reinkommen?«, fragte sie stattdessen.

Stefan sprang einen Schritt zurück. »Ja, natürlich. Bitte komm … Entschuldige, aber ich … « Er blinzelte ein paar Mal in ihre Richtung, als wäre er sich nicht sicher, ob sie tatsächlich vor ihm stand. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich dich jemals wiedersehen würde.«

»Ich auch nicht, Stefan. Und trotzdem stehen wir uns jetzt gegenüber. Man könnte meinen, das Schicksal hat uns zusammengeführt.«

»Das Schicksal?« Um seinen Mund zuckte es spöttisch auf, und Patricia wunderte sich, wie sehr sie das vermisst hatte. »Wir sollten es uns nicht so leicht machen und alles auf die Launen des Schicksals schieben.« Er deutete knapp auf einen freien Stuhl, stellte seinen wieder auf und setzte sich. Es war ihm jetzt nicht mehr anzusehen, wie sehr ihn dieses Zusammentreffen aufgewühlt hatte. Fast kühl musterte er sie nun.

»Woher weißt du eigentlich, dass ich hier bin?«, wollte er von ihr wissen. Dabei hörte er sich entspannt und ruhig an. Er behandelte sie wie eine entfernte Bekannte, dachte Patricia, und leichte Empörung wollte sich in ihr breitmachen. Doch dann fiel ihr ein, was Jette gesagt hatte. Wenn es wirklich so war, dass er sich von ihr verlassen und betrogen fühlte, war es kein Wunder, dass er so reserviert war.

Sie ging zu der kleinen Tischgruppe hinüber, um sich zu hinzusetzen. »Jette hat es mir gesagt.«

»Jette?« Stefan runzelte die Stirn. »Die junge Frau, die unten in der Cafeteria arbeitet?«

»Ja, meine Tochter … unsere Tochter, Stefan.«

Es dauerte, bis Stefan den Sinn in ihren Worten erkannte. Dann sprang er auf und sah sie entsetzt an.

»Jette ist meine Tochter? Du warst schwanger? Ich bin Vater? Aber wieso … ? Warum wusste ich nichts davon?«

Patricia beachtete die vielen Fragen nicht, sondern wartete ab, bis er sich beruhigt hatte. Erst als er sich schwer atmend wieder hinsetzte, sprach sie weiter: »Ich habe es auch erst erfahren, als du schon fort warst. Und dann hast du mich aufgegeben. Du hast nicht mehr angerufen, mir nie geschrieben … «

»Das stimmt nicht!« Stefan wurde laut. »Ich habe dich nie aufgegeben! Das hätte ich gar nicht gekonnt!« Er drosselte seine Lautstärke, konnte nun aber nicht mehr verbergen, wie aufgewühlt er war. »Du warst doch das Wichtigste in meinem Leben. Und unser Kind … unsere Tochter wäre es auch gewesen. Wenn ich von dem Baby gewusst hätte, wäre ich zurückgekommen. Ich hätte nicht eine Sekunde gezögert!« Er sah sie erschüttert an. »Ich war im australischen Outback unterwegs. Über mehrere Wochen konnte ich nicht telefonieren. Ich habe dir geschrieben, mehrmals … «

»Es ist nichts angekommen«, sagte sie traurig. »Stattdessen hörte ich von Bekannten, dass du nicht vorhättest zurückzukommen, weil du in der Fremde ein neues Glück gefunden hast.«

»Nichts davon ist wahr! Wie konntest du das nur glauben?«

»Was blieb mir denn anderes übrig?« Aus Patricia sprach jetzt die große Verzweiflung, die sie damals gespürt hatte. »Ich konnte dich nicht erreichen und fühlte mich schrecklich allein. Dann mussten meine Eltern den Laden schließen und unser Haus verkaufen, weil die Schulden so drückten. Ich hatte alles verloren: Mein Zuhause, meine berufliche Perspektive, aber vor allem hatte ich dich verloren, und das war das Schlimmste.« Sie versuchte, ihre Tränen zurückzuhalten. Als ihr das nicht gelang, sprang Stefan auf, ging vor ihrem Stuhl in die Hocke und zog sie wie selbstverständlich in seine Arme. Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter und fragte sich, wie sie all die Jahre ohne ihn überlebt hatte.

»Als meine Eltern Augsburg verlassen wollten, bin ich mitgegangen«, berichtete sie leise weiter. »Meine Eltern machten eine schwere Zeit mit. Sie hatten ihre Existenz und ihr Heim verloren und mussten sich um ihre Tochter kümmern, die ein Kind erwartete und nichts als ihren Schulabschluss besaß. Das Getuschel und die mitleidigen Blicke der anderen waren nicht mehr zu ertragen. Wir wollten nur noch weg.«

Stefan umfasste sanft ihre Oberarme und schob sie ein wenig von sich, um sie ansehen zu können. Zärtlich wischte er ihr mit dem Daumen die letzten Tränenspuren fort.

»Ich bin nach einem Jahr zurückgekommen, so, wie ich es dir versprochen hatte. Doch du warst nicht mehr da. Ich habe nach dir gesucht, bis ich erfuhr, dass du jetzt in Norddeutschland lebst, verheiratet bist und ein Kind hast.« Er schluckte hart. »Mein Kind.«

Patricia nickte. »Ich habe damals geheiratet, weil es mir richtig erschien und ich Angst hatte, nicht allein zurechtzukommen. Ich begriff schnell, dass das ein Fehler war. Henry war zwar ein guter Mann, aber er war nicht du. Deshalb konnte diese Ehe nicht halten. Wir sind nach wenigen Jahren in Freundschaft auseinandergegangen und verstehen uns immer noch gut. Inzwischen ist er wieder verheiratet und hat zwei Kinder mit seiner neuen Frau.«

»Und du? Gibt es in deinem Leben auch eine neue Liebe?«

»In meinem Leben gab es immer nur eine Liebe. Weißt du das denn nicht?«

»Jetzt schon«, sagte er lächelnd. Mit beiden Händen umfasste er ihr Gesicht und küsste sie. Sie liebten sich noch immer. Das hatte jeder von ihnen in den Augen des anderen gesehen.

In den nächsten Stunden sprachen sie über sich, ihre Liebe, über die Jahre, in denen sie voneinander getrennt gewesen waren und natürlich über Jette, ihre Tochter. Schnell schmiedeten sie Pläne für die Zukunft, denn niemand von ihnen zweifelte daran, dass sie die von nun an gemeinsam verbringen würden. Nichts würde sie je wieder auseinanderbringen können. Erst viel später kamen sie auf den Grund seines Klinikaufenthalts zu sprechen.

»Bitte sag mir, dass es sich nur um eine Lappalie handelt. Um etwas, das unserem Glück nicht im Wege steht«, bat Patricia inständig. Die Vorstellung, ihm könnte etwas Schreckliches geschehen, kaum dass sie sich wiedergefunden hatten, schnürte ihr vor Angst die Kehle zu.

»Keine Sorge, mein Schatz. Das werden wir schon hinbekommen. Mit dir zusammen kann ich alles schaffen. Ich weiß jetzt, wie schön das Leben sein kann und dass es sich lohnt, darum zu kämpfen. Was soll mir also passieren?«

*

Am folgenden Tag, als Daniel Norden zu seinem derzeitigen Problempatienten kam, erlebte er eine Überraschung.

»Ich bin bereit für den Eingriff, Dr. Norden«, erklärte ihm Stefan Grabas nach der Begrüßung.

»Bereit für … « Daniel brauchte ein paar Sekunden, bis er verstand. »Meinen Sie die Operation? Dürfen wir jetzt endlich ihr Aneurysma operieren?«

»Natürlich meine ich das Aneurysma«, gab Stefan gut gelaunt zurück. »Es sei denn, Sie haben bei mir noch mehr gefunden, was geflickt werden muss. Dann können Sie das auch gleich mitmachen.«

Stefan Grabas’ Sinneswandel und seine ausgesprochen gute Stimmung kamen für Daniel doch ein wenig plötzlich, sodass er sich noch nicht darüber freuen konnte und skeptisch blieb. »Verraten Sie mir, warum Sie Ihre Meinung auf einmal geändert haben? Erst gestern wollten Sie von einer OP nichts wissen.«

»Seit gestern ist viel passiert.«

»Ach ja?« Daniel setzte sich. »Was ist denn Beeindruckendes geschehen, dass Sie Ihre Meinung so schnell geändert haben?«

»Nun, ich habe meine große Liebe getroffen und bin Vater geworden. Ein Kind verändert alles, nicht wahr? Das weiß sicher niemand besser als Sie, Dr. Norden, – als fünffacher Vater.«

»Ja, allerdings kamen meine Kinder nicht so plötzlich über Nacht. Sie haben mich neugierig gemacht, Herr Grabas. Ich bin schon sehr gespannt auf Ihre Geschichte.«

In der nächsten Stunde bekam Daniel eine sehr schöne und außergewöhnliche Liebesgeschichte zu hören. Dass auch Katja Baumann, seine fleißige Assistentin, zur selben Zeit von Jette alle Neuigkeiten erfuhr, ahnte er nicht.

Die beiden jungen Frauen, die so schnell zu guten Freundinnen geworden waren, hatten sich an einen ruhigen Tisch in der Cafeteria zurückgezogen. Jettes Dienst begann heute erst gegen Mittag, sodass sie genug Zeit hatte, um über ihren totgeglaubten Vater zu sprechen.

»Ich war gestern Abend mit meiner Mutter bei ihm, damit wir uns kennenlernen können. Eigentlich kannten wir uns ja schon, aber es war doch etwas anderes, sich nun als Tochter und Vater gegenüberzutreten.«

»Und wie war es? Warst du sehr aufgeregt?«

»Anfangs schon. Aber dann fühlte sich das erstaunlicherweise völlig normal an. Fast so, als würden wir uns bereits unser ganzes Leben lang kennen und müssten uns jetzt nur über ein paar Dinge austauschen, die der andere verpasst hat. Ich habe nicht einen Gedanken daran verschwendet, dass wir uns eigentlich völlig fremd sind. Es ist schwer zu beschreiben, aber für mich hat sich das nach … nach Familie angefühlt. So, als gehören wir eben zusammen.«

Katja hatte ihre Hände vor dem Körper verschränkt und sah ihre Freundin mit einem verklärten Blick an. »Ach, das ist so schön, Jette«, sagte sie leise schniefend. »Und so romantisch! Deine Eltern haben sich nach so langer Zeit endlich wiedergefunden und lieben sich noch immer.«

»O ja! Daran gibt es keinen Zweifel, wenn man sieht, wie verliebt und vertraut sie miteinander umgehen.«

Katja seufzte gefühlvoll auf. »Sie haben endlich ihr Glück gefunden!«

»Und daran hattest du einen großen Anteil.«

Als Katja sie fragend ansah, erklärte Jette: »Den Job in der Cafeteria verdanke ich nur dir. Wenn du nicht gewesen wärst, hätte ich meinen Vater wahrscheinlich nie kennengelernt. Also darfst du dich schon mal darauf einstellen, dass du auf alle Fälle zur Hochzeit eingeladen wirst.«

Katja lachte. »Ich freue mich darüber. Aber du darfst natürlich nicht vergessen, auch Anka einzuladen, denn eigentlich verdankst du deine Familienzusammenführung nur ihr. Hätte sie nicht für deine Entlassung gesorgt, wäre der neue Job in der Cafeteria gar nicht nötig gewesen.«

»Ich befürchte, du hast recht!«, rief Jette im gespielten Entsetzen aus. Dann schüttelte sie energisch den Kopf. »Keine Chance! Auf ein Wiedersehen mit Anka lege ich keinen Wert! Die Hochzeit findet definitiv ohne sie statt.«

»Deine Eltern scheinen es damit sehr eilig zu haben.«

»Ja, sie meinen, sie wäre längst überfällig. Wenn sie sich damals nicht aus den Augen verloren hätten, wäre die Hochzeit schon vor zweiundzwanzig Jahren über die Bühne gegangen. Warum sollen sie also noch länger damit warten? Sobald die Operation überstanden ist, wird ein Termin festgelegt.«

»Machst du dir wegen der Operation Sorgen?«

»Ja, ein wenig schon. Aber mein Vater strahlt so viel Optimismus aus, dass es uns nicht schwerfällt, an ein gutes Ende zu glauben.«

»Apropos gutes Ende … « Katja musterte ihre Freundin neugierig. »Bitte sag mir, dass es zwischen dir und Lukas auch ein gutes Ende gibt und ich ihn auf der Hochzeit deiner Eltern sehe.«

»Nun, eigentlich … «, begann Jette umständlich, kam aber nicht weit, weil Katja sie aus ihren großen braunen Augen vorwurfsvoll ansah.

»Du hast ihn immer noch nicht angerufen!«

Jette wand sich. »In letzter Zeit ist doch so viel passiert. Die neue Stelle hat mich ziemlich gefordert, und dann kam noch die Sache mit meinem Vater dazu, und … «

»Faule Ausrede«, sagte Katja nur und schüttelte missbilligend den Kopf. »Von deinem Vater weißt du erst seit gestern. Es kann also unmöglich an ihm gelegen haben, dass du seit Wochen mit Lukas’ Handynummer durch die Gegend läufst, ohne den entscheidenden Schritt zu tun.«

»Genau das ist es doch«, klagte Jette nun und klang ehrlich verzweifelt. »Ich habe viel zu lange gewartet. Ich war so ein Feigling und habe es immer wieder aufgeschoben. Und nun? Wir haben uns ewig nicht gesehen. Sein Interesse an mir ist doch längst erloschen!«

»Deine Eltern haben sich mehr als zwanzig Jahre nicht gesehen. Hattest du den Eindruck, dass ihr Interesse inzwischen erloschen ist?«

»Das ist doch etwas ganz anderes«, behauptete Jette schwach.

»Nein, das ist es nicht!« Katja stand auf und blickte mit strengem Blick auf Jette herab. »Ich muss wieder an meinen Schreibtisch zurückgehen. Und du rufst jetzt endlich Lukas an!«

Jette wartete noch, bis Katja außer Sichtweite war und holte dann ihr Handy raus. Sie würde es jetzt nicht länger hinausschieben, sondern endlich das machen, was sie schon vor zwei Wochen hätte tun sollen.

Ihre Finger zitterten, als sie seine Nummer eingab. Dann lauschte sie nervös dem Klingelton. Sie hatte noch keine Ahnung, was sie sagen sollte, hoffte aber, dass sich das irgendwie ergeben würde, sobald sie seine Stimme hörte. Doch dummerweise sprang nur die Mailbox an.

Sie war versucht, einfach aufzulegen. Aber dann dachte sie an ihre Eltern, die so viele Jahre darauf warten mussten, um endlich zusammen zu kommen. Das sollte ihr nicht passieren. Sie würde jetzt auf diese Mailbox sprechen und dann auf das Schicksal vertrauen.

»Hallo, Lukas … äh … Hier ist Jette«, begann sie unbeholfen. »Du weißt schon … oder vielleicht auch nicht. Also jedenfalls kennen wir uns aus dem Café Stiller … Äh, ich habe dort mal gearbeitet. Und jetzt bin ich in der Cafeteria der Behnisch-Klinik … Egal, ich wollte mich mal bei dir melden und so … Also dann, mach’s gut.«

Jette warf ihr Telefon auf den Tisch und starrte es fassungslos an. Wieso hatte sie diesen ganzen Unsinn von sich gegeben? Was war denn bloß los mit ihr? Warum war sie nicht in der Lage, ein paar vernünftige, zusammenhängende Sätze herauszubringen? Wenn Lukas sich ihr sinnloses Geplapper anhörte, wäre sein Interesse an ihr ganz bestimmt vorbei. Falls es das nicht schon längst war.

*

Stefans Operation fand schon am darauffolgenden Tag statt. Daniel wollte nicht länger warten. Seit er Stefan Grabas in der Notaufnahme begegnet war, fürchtete er sich davor, dass das Aneurysma plötzlich platzen könnte. Je eher sein Patient auf dem OP-Tisch lag, desto schneller bekam er die Hilfe, die er brauchte, und umso geringer war die Gefahr, dass er unter Daniels Händen verblutete.

Stefan blieben nur noch wenige Minuten, bis man ihn in den OP brachte. Patricia saß an seinem Bett, hielt seine Hand und hörte ihm stumm zu, wenn er wieder und wieder beteuerte, dass es für ihre Ängste und Tränen überhaupt keinen Grund gab. Doch sie wusste, dass der geplante Eingriff alles andere als harmlos war. Die Gefahr, dass es während der Operation zu schwerwiegenden Komplikationen kam, war allgegenwärtig und hatte ihr in der vergangenen Nacht den Schlaf geraubt. In den frühen Morgenstunden war sie in die Behnisch-Klinik geeilt, um die Zeit bis zur OP mit dem Mann, den sie liebte und gerade erst wiedergefunden hatte, zu verbringen.

»Du weißt, dass mir nichts passieren wird, Trischi.« Er führte ihre Hand an seinen Mund und küsste sie. »Du hast doch selbst gesagt, dass es das Schicksal war, das uns wieder zusammengeführt hat. Warum sollte es nun so grausam sein und uns auseinanderreißen, kaum dass wir uns gefunden haben?«

Patricia nickte tapfer, aber in Wahrheit zerriss es ihr fast das Herz. Sie war sich sicher, sollte sie Stefan ein zweites Mal verlieren, würde sie daran zerbrechen.

Als zwei Pfleger kamen, um ihn fortzubringen, brauchte sie ihre ganze Kraft, um ihn ziehen zu lassen.

Sie war froh, dass wenigstens Jette bei ihr war, als sie später in dem kleinen Besucherraum vor der Intensivstation wartete, während die Ärzte und Pflegekräfte im OP ihr Bestes gaben.

Nach Rücksprache mit seiner Chirurgin, Dr. Christina Rohde, entschied sich Daniel für eine schonende Operationsmethode. Der Bauchraum und die Aorta mussten hierbei nicht geöffnet werden, und eine Lokalanästhesie war ausreichend. Die Risiken wurden dadurch zwar nicht völlig aufgehoben, aber deutlich minimiert.

Mit sicherer Hand führte Daniel über eine Arterie in der Leistengegend die Gefäßprothese ein und platzierte sie an der Erweiterung der Aorta.

So weit, so gut, dachte er erleichtert, als das problemlos klappte. Das gesamte Team war zwar für den Notfall gewappnet und würde sofort entsprechend reagieren, falls es zu Blutungen kommen sollte, aber Daniel hoffte inständig, dass dies ihnen – und vor allem seinem Patienten - erspart blieb.

»Wir haben es fast geschafft, Herr Grabas«, informierte ihn Daniel. »Wir müssen die Prothese nur noch verankern, dann sind wir hier fertig.«

Dabei klang er ruhig und völlig entspannt. Dass er es nicht war, merkte ihm niemand an. Schon gar nicht Stefan, der dank eines leichten Beruhigungsmittels keinerlei Angst verspürte. Die Musik, die er über die Kopfhörer hörte, lenkte ihn zusätzlich von dem Geschehen um sich herum ab.

Nach zwei Stunden war alles vorbei. Die OP war ein voller Erfolg, Stefan ging es blendend, und er war glücklich, als er Patricia endlich wieder in die Arme schließen konnte. Allerdings bedauerte er, dass Jette nicht bei ihm sein konnte.

»Sie wissen ja, dass die Besuche auf der ITS streng limitiert und zeitlich begrenzt sind«, sagte Daniel Norden. »Auf den Besuch Ihrer Tochter werden Sie also verzichten müssen, bis Sie morgen wieder Ihr altes Zimmer auf der Chirurgie beziehen.«

»Und wann kann ich nach Hause? Wir wollen nämlich so schnell wie möglich heiraten.«

»Sie können es wohl gar nicht abwarten, in den Hafen der Ehe einzulaufen«, erwiderte Daniel lachend.

»Wir haben viel zu lange darauf gewartet.« Stefan sah lächelnd zu der Frau, die er liebte. »Habe ich recht?«, fragte er zärtlich.

»Ja, das hast du.« Als sich Patricia vorbeugte, um Stefan Grabas zu küssen, entschied Daniel, den beiden etwas Zweisamkeit zu gönnen, und schlich sich aus dem Zimmer.

Nach der OP war Jette in die Cafeteria zurückgekehrt. Ihrem Vater ging es gut, ihre Mutter leistete ihm Gesellschaft, und für sie gab es nun keinen Grund mehr, noch länger der Arbeit fernzubleiben.

»Was machst du denn hier?«, tadelte sie Helge Karberg, der Betreiber der Cafeteria. »Ich habe dir doch gesagt, dass du freinehmen kannst. Wenn dein Vater operiert wirst, solltest du nicht arbeiten.«

Jette band sich die Bistro-Schürze um. »Die Operation ist schon vorbei und bestens gelaufen. Ich bin wirklich in der Lage, meinen Dienst zu machen.«

»Du kannst dir freinehmen, Jette. Hier ist heute nicht viel los. Außerdem hast du die halbe Nacht am Backofen gestanden, um zu backen.«

»Ich konnte doch eh nicht schlafen. Und das Backen hat mich ein wenig abgelenkt, sodass ich nicht ständig an die OP denken musste. Auch jetzt bin ich noch viel zu aufgekratzt, um zur Ruhe kommen zu können. Ich würde gern noch ein paar Stunden arbeiten.«

»Also gut, aber nicht mehr lange. Du brauchst deinen Schlaf, Kleines. Außerdem schadet es meinem Ruf, wenn sich herumspricht, dass ich meine Mitarbeiter ausbeute.«

Jette lachte und ging dann in die Küche, um sich um das schmutzige Geschirr zu kümmern. Vielleicht würde sie nachher noch ein paar Muffins backen; die waren besonders bei den Kindern heiß begehrt. Es gefiel ihr, dass sie selbst entscheiden konnte, welchen Kuchen sie ins Angebot aufnahm. Helge Karberg, den sie schon jetzt aus tiefstem Herzen verehrte, schätzte ihre Kreativität und hatte nichts dagegen, wenn sie neue Sachen ausprobierte. Jette wusste, sie hatte es wirklich gut getroffen, hier, in der Cafeteria der Behnisch-Klinik.

Manchmal konnte sie ihr Glück kaum fassen. Sie hatte nicht nur eine wundervolle neue Arbeit gefunden, sondern auch einen Vater, von dessen Existenz sie bis vor Kurzem nichts geahnt hatte. Und sie freute sich über das Glück, das ihre Mutter an seiner Seite erfahren durfte. Irgendwann, davon war Jette fest überzeugt, würde auch sie so ein Glück erleben dürfen. Irgendwann würde sie ihrer großen Liebe begegnen. Die kleine Stimme in ihrem Kopf, die ihr zuflüsterte, dass sie sie längst gefunden hatte, ignorierte sie. Es tat zu weh, an Lukas zu denken.

»Jette, haben wir noch Käsekuchen?« Helge war in die Küche zurückgekehrt.

»Leider nicht. Wenn du möchtest, backe ich morgen einen.«

»Ja, kein Problem. Vielleicht bekomme ich den Gast doch noch zu einem anderen Kuchen überredet. Allerdings scheint er recht anspruchsvoll zu sein. Er möchte unbedingt deinen Käsekuchen und einen großen Milchkaffee. Schließlich hätte er viel zu lange darauf verzichten müssen. Keine Ahnung, was er damit meinte.«

Jette wurde hellhörig. »Milchkaffee und Käsekuchen?«

»Ja, genau. Etwas anderes käme für ihn nicht infrage, sagt er. Kennst du den Mann?«

Jette strahlte. »Schon möglich.« Sie warf das Geschirrtuch auf den Tisch, rannte aus der Küche und lief direkt in Lukas’ Arme.

»Na endlich!«, sagte Lukas nur und zog sie in eine enge Umarmung, aus der er sie nur widerwillig freigab. Es war, als hätte er Sorge, sie erneut zu verlieren. »Ich dachte schon, ich finde dich nie. Hättest du mir gestern nicht die Nachricht auf meiner Mailbox hinterlassen, würde ich wahrscheinlich immer noch vorm Café Stiller herumlungern.« Er verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen. »Die Stillers haben mir Hausverbot erteilt, weil sie sich durch mich belästigt fühlten. Also habe ich eben vor dem Café auf dich gewartet.«

»Warum? Hattest du solche Sehnsucht nach meinem Käsekuchen?«, wollte Jette wissen und hoffte, seine Antwort wäre ein Nein.

»Nein«, sagte er lächelnd, und Jette war glücklich. »Ich hatte Sehnsucht nach dir. Ich wollte dich sehen, mit dir reden, dich in meinen Armen halten - und ich möchte dich endlich küssen.«

Jette lachte leise. »Vielleicht sollten wir mit dem Reden beginnen.«

»Ja, aber bitte nicht hier, wo ihr mir nur im Wege steht.« Helge Karberg war zu ihnen gekommen und drohte nun scherzhaft mit dem Finger. »Dort drüben habt ihr einen Tisch, an dem ihr ungestört seid. Und lasst euch ruhig Zeit. Du solltest heute ja ohnehin nicht hier sein, Jette. Nimm dir endlich frei!«

»In Ordnung, Helge. Danke!« Jette strahlte ihren Chef an, dann ließ sie sich von Lukas zu dem kleinen Zweiertisch, der versteckt hinter üppigen Fächerpalmen lag, mitziehen.

»Ich habe es mir anders überlegt«, eröffnete ihm Jette dort mit einem süßen Lächeln und wunderte sich ein bisschen über ihren Mut. »Ich denke, wir sollten das Reden auf später verschieben und doch mit dem Küssen beginnen.«

Mit diesem Vorschlag war Lukas sofort einverstanden.

»Du hast recht«, sagte er zärtlich. »Fürs Reden bleibt uns noch genügend Zeit. Ich habe nämlich nicht vor, dich jemals wieder gehen zu lassen. Ich liebe dich, Jette.«

»Ich liebe dich auch. Ich glaube, ich hatte mich schon in dich verliebt, als du das erste Mal meinen Käsekuchen bestellt hast.«

Lukas lachte leise. »Ich glaube, da war ich schneller. Ein einziger Blick in deine schönen Augen hatte gereicht, dass ich mein Herz an dich verlor. Es tut mir nur leid, dass ich so lange gebraucht habe, um es dir zu sagen. Wir hätten schon vor Wochen ein Paar sein können, wenn ich … «

»Pst … « Jette legte ihm einen Finger auf den Mund. »Was sind schon ein paar Wochen? Meine Eltern haben mehr als zwanzig Jahre gebraucht, um ihr Glück zu finden.«

Als Lukas sie neugierig ansah, sagte sie schmunzelnd: »Das werde ich dir ein anderes Mal erzählen.« Sie schlang ihre Arme um seinen Nacken und sagte dann neckend: »Waren wir uns nicht einig, dass wir das Reden auf später verschieben wollen?«

Chefarzt Dr. Norden Staffel 7 – Arztroman

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