Читать книгу Chefarzt Dr. Norden Staffel 7 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 9

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»Nun, Frau Gruber, wie fühlen Sie sich?«

»Ach, Herr Doktor, schon wieder recht gut.« Die vollschlanke Patientin jenseits der Sechzig rückte ihren grauen Haarknoten resolut zurecht und fügte mit trockenem Humor hinzu: »Wenn man bedenkt, dass ich­ nimmer das neueste Modell bin und jetzt fei noch ein Ersatzteil mehr hab …«

Dr. Daniel Norden, Chefarzt und Leiter der Münchner Behnisch-Klinik, lachte und reichte der Bäuerin aus Rosenheim die Hand. »Wird schon. Bei unserer Frau Rohde sind Sie und Ihr neues Hüftgelenk schließlich in den allerbesten Händen.«

»Weiß ich doch. Ich vertrau ihr und Ihnen, Herr Doktor. Mein Ferdl wird sich freuen, wenn ich wieder daheim umeinant hupfen kann wie ein junges Reh.« Sie lächelte schmal. »Obwohl ihm sein Traktor allerweil eine Spur lieber gewesen ist als ich …«

»Aber, Frau Gruber, Sie haben ihm fünf Kinder geboren.«

»Ja, mei, erwachsen sind sie alle schon …«

»Trotzdem hören die Sorgen einer Mutter nie auf. Ich kenne das, meine Frau und ich haben auch fünf.«

»Herr Doktor, wie schön! Nett, dass Sie mir das sagen. Das nehm ich gleich mit heim wie mein neues Hüftgelenk. Aber im Schatzkästerl inwendig …« Sie deutete auf ihr Herz.

»So ist es recht.« Dr. Norden bemerkte den ungeduldigen Blick, mit dem Dr. Christina Rohde, die Chirurgin, ihn musterte. Dass er sich für jeden Patienten stets die Zeit nahm, die nötig war, um in aller Ruhe ein Gespräch zu führen und Vertrauen zu schaffen, gefiel nicht allen Kollegen. Denn es verlängerte die tägliche Visite oft erheblich. Dr. Rohde, die hübsche Brünette mit den seelenvollen Augen, störte sich sonst nicht daran. Sie bewunderte ihren Vorgesetzten, er war für sie ein echtes Vorbild. Doch an diesem Freitag hatte sie es eilig, denn sie wollte übers Wochenende in die Berge zum Skilaufen. Dr. Norden verließ nun mit seinem Tross das Krankenzimmer der Bäuerin aus Rosenheim und bedankte sich bei Kollegen und Schwestern.

Die kleine Versammlung löste sich auf, alle gingen wieder an ihre übliche Arbeit.

Daniel Norden begleitete Christina Rohde noch ins Ärztebüro der Chirurgie. Der hoch gewachsene, attraktive Mediziner in den besten Jahren hörte aufmerksam zu, während die Chirurgin mit ihm noch zwei aktuelle Fälle besprach, die gleich am Montagmorgen auf dem OP-Plan standen. Nun war Dr. Rohde hoch konzentriert, keine Spur von Ungeduld prägte mehr ihr Verhalten. Sie war eine hervorragende Chirurgin, hatte auch eine Zusatzausbildung als Notfallmedizinerin und arbeitete noch nicht lange an der Münchner Klinik. Dr. Norden hielt trotzdem bereits große Stücke auf sie, denn sie hatte ihr Können schon oft bewiesen.

»Gut, das war dann alles«, meinte er nun abschließend. »Ein schönes Wochenende, Frau Kollegin.«

»Danke, werde ich haben.« Sie lächelte verschmitzt. »Falls ich noch weiß, wie man sich auf zwei Brettern hält. Mein letzter Winterurlaub liegt lange zurück.«

»Wohin geht’s denn, wenn ich fragen darf?«

»Bad Tölz. Eine urige Skihütte mit deftiger Küche.«

»Sie mögen es also bodenständig.«

»Ja, muss ich zugeben. Und zwei Tage ohne Notfallbereitschaft, OP und Krankenberichte sind pure Erholung für mich.«

Dr. Norden seufzte. Wie gut er die Kollegin verstand …

Als Klinikchef hatte Daniel Norden natürlich auch oft mit der Verwaltung zu tun und verbrachte manche Stunde an seinem Schreibtisch, obwohl ihm die medizinischen Aufgaben weitaus mehr lagen. Er stand quasi zwischen dem Verwaltungsrat der Behnisch-Klinik, der stets auf Rationalisierung und Einsparung setzte, und seinen Kollegen, dem Personal und den Patienten, deren Interessen ihm wirklich am Herzen lagen.

Ein Spagat, der viel Zeit und Kraft kostete.

Nach der Visite kehrte Dr. Norden in sein Büro zurück, seine Assistentin Katja Baumann folgte ihm gleich mit der Unterschriftenmappe. Nachdem er alle Schreiben abgezeichnet hatte, fragte Katja ihn: »Könnte ich heute vielleicht etwas früher gehen, Chef? Oder brauchen Sie mich noch?«

»Nein, ich glaube nicht. Haben Sie was Besonderes vor?«

»Hagen und ich fahren übers Wochenende zu seinen Eltern.« Sie seufzte. »Ich habe das Gefühl, es wird langsam ernst …«

»Na, dann viel Vergnügen.«

Die hübsche Brünette verdrehte die Augen. »Werde ich bestimmt nicht haben. Dazu bin ich viel zu aufgeregt.«

Wenig später verabschiedete Katja sich, Dr. Norden nahm das Telefon und rief seine Frau an. Dr. Felicitas Norden war Leiterin der Pädiatrie in der Behnisch-Klinik.

»Hast du schon zu Mittag gegessen, Liebes?«, fragte er.

Fee verneinte. »Ich bin noch nicht dazu gekommen. Willst du mich vielleicht einladen, Dan?«

»Das hatte ich vor. Was hältst du von dem kleinen Bistro in der Ladenpassage?«

Sie seufzte. »Besser als nichts. Ich komme gleich.«

In dem großen Klinikkomplex gab es ebenerdig eine Flaniermeile mit Cafés, einem Bistro und Läden. Dort trafen die Nordens sich wenig später und kehrten im Bistro ein. Sie entschieden sich für ein leichtes Essen, Daniel verzichtete auf seinen geliebten Rotwein, denn der Feierabend würde noch etwas auf sich warten lassen, auch wenn es bereits Nachmittag war.

»Alles in Ordnung, Dan?«, fragte Fee und musterte ihn dabei mit ihren erstaunlich blauen Augen. »Du siehst müde aus.«

»Zugegeben, das bin ich auch. Wir haben eine lange und anstrengende Woche hinter uns. Und ob das Wochenende erholsamer wird, das wage ich zu bezweifeln.«

Fee schmunzelte. »Christina Rohde fährt in die Berge, Katja Baumann zu ihren Schwiegereltern in spe. Schwester Gitta hat mich eben gebeten, früher gehen zu dürfen, sie hat eine neue Flamme und möchte ein romantisches Wochenende verbringen. Kann es sein, dass du den Blues kriegst, bei all den ausschwärmenden Freizeitsportlern und Turteltauben?«

Daniel musste lachen, nahm Fees Rechte und küsste sie. »Bei Letzteren können wir beide doch wohl noch locker mithalten.«

»Das will ich meinen«, bestätigte sie mit glitzerndem Blick.

Die Nordens waren trotz vieler Ehejahre und fünf erwachsener Kinder noch immer verliebt ineinander, sie hatten das Kunststück vollbracht, sich Romantik und Leidenschaft auch durch stressige Zeiten und Alltagsroutine zu erhalten. Das machte ihre Ehe zu etwas Besonderem. Und ihre Liebe unsterblich.

»Trotzdem muss ich zugeben, dass eine Auszeit ab und an nicht schlecht wäre. Ein freies Wochenende zum Beispiel …«

»Darüber sollten wir nicht laut reden. Schleichen wir uns lieber auf ein heimliches Zeichen einfach hinaus. Denk nur dran, was passiert ist, als wir das letzte Mal den Luxus eines gemeinsamen freien Wochenendes genießen wollten …«

Fee spielte auf die dramatische Entführung von Alex an, die nur mit sehr viel Glück gut ausgegangen war.

»Ja, du hast Recht. Aber etwas Freizeit wäre trotzdem mal wieder schön. Wir arbeiten beide einfach zu viel.«

»Wir sind eben mit unserem Beruf verheiratet.«

»Wir sind aber auch miteinander verheiratet«, gab er zu bedenken. »Ich sehne mich nach einem ruhigen Wochenende nur mit dir, mein Schatz.«

»Eine wunderbare Vorstellung …« Fee zuckte leicht zusammen, als ihr Piepser sich meldete und gleich darauf auch der ihres Mannes. Mit trockenem Humor stellte sie fest: »Eine wirklich wunderbare Wunschvorstellung.«

»Ich fürchte, du hast wie immer recht, mein Herz …«

Im Lift nach oben tauschten sie einen zärtlichen Kuss und schauten sich einen Moment lang tief in die Augen. Das musste fürs Erste genügen, denn gleich darauf war jeder wieder auf seiner Station eingespannt. So waren sie es ja gewöhnt, und dafür lebten sie als engagierte Mediziner. Doch auch Helfer mit Leib und Seele hatten schließlich heimliche Träume …

*

Dr. Christina Rohde startete derweil in ihren wohlverdienten Kurzurlaub. Sie ließ ihr Auto stehen, nahm bewusst die Bahn, denn sie wollte sich vom ersten Moment an entspannen und erholen. Nachdem der Intercity den Münchner Hauptbahnhof verlassen hatte und sich dem lieblichen Voralpenland näherte, lehnte die Medizinerin sich ­genüsslich in ihrem Sitz zurück, blickte verträumt nach draußen und spürte, wie der Stress der letzten Zeit von ihr abfiel.

Tief verschneit lagen Felder, Wälder und Ortschaften da, im Hintergrund, vor einem bayerischen Himmel blau-weiß das majestätische Panorama der wohlbekannten Alpengipfel.

Dr. Rohde, die erst vor einigen Monaten nach München zurückgekehrt war, nachdem sie ihre Facharztausbildung an einer Dresdner Klinik absolviert hatte, liebte die Berge. Sie hatte zum ersten Mal als Schulmadel auf Skiern gestanden und war dem Sport immer treu geblieben. In den vergangenen Jahren hatte der Beruf aber seinen Tribut gefordert. Meist war sie viel zu eingespannt gewesen für einen längeren Urlaub. Schon gar nicht im Winter.

Doch nun hatte München sie wieder und die Berge erst recht.

»Entschuldigung, ist der Platz noch frei?« Eine Frau mittleren ­Alters mit traditionellem Hut und ­Lodenmantel lächelte Christina freundlich zu. »Ich hab keine Platzkarte, das vergess ich allerweil. Kann ich mich zu Ihnen setzen?«

»Gern. Aber ich weiß nicht, ob der Platz reserviert ist.«

»Dann wechsle ich eben.« Mit einem Schnaufer ließ sie sich nieder und fragte: »Fahren Sie vielleicht auch bis Tölz?«

Die junge Ärztin nickte, woraufhin ihre Mitreisende sie wissen ließ: »Ich auch. Einmal im Monat fahre ich nach Minga, besuche meine Tochter und ihre Familie und das Grab von meinem Mann.«

»Ach, Sie sind schon Witwe?«

»Ja, leider. Meinen Sepp hat der Schlag getroffen, kaum dass er die Fünfzig erreicht hatte. Er war Metzger und Jäger. Zu viel Fleisch, wissen Sie? Seine Arterien waren ganz verstopft. Das Geschäft hab ich verkauft und mir ein schönes Häusel in Tölz zugelegt. Ein herrliches Fleckerl Erde ist das.«

Christina nickte. »Ich fahre übers Wochenende hin, zum Skilaufen.«

»Ja, da haben Sie sich das Rechte ausgesucht. Vielleicht wartet auch Ihr Schatz dort auf Sie, ein hübsches Madel wie Sie hat doch gewiss einen Liebsten.«

Die junge Ärztin musste schmunzeln. »Leider nein. Ich bin sozusagen mit meinem Beruf verheiratet. Ich arbeite als Chirurgin in der Behnisch-Klinik in München.«

»Da hab ich meine Galle gelassen, ist schon etwas her …«

So entspann sich ein lockeres Gespräch zwischen Christina Rohde und ihrer Mitreisenden, das die Zeit wie im Flug vergehen ließ. Die beiden unterschiedlichen Frauen aßen zusammen noch ein Stück Kuchen im Bordrestaurant. Kaum war der Kaffee ausgetrunken, da näherte der Zug sich auch schon dem Bahnhof von Bad Tölz. Man verabschiedete sich herzlich, und Christina machte sich entspannt und bester Dinge auf die Suche nach einem Taxi, das sie zur Hohenstein-Hütte bringen sollte.

In Bad Tölz herrschte reger Wochenendverkehr, nicht nur Christina Rohde war auf die Idee verfallen, Samstag und Sonntag beim Skilaufen auszuspannen. Als sie endlich ihr Ziel erreicht hatte, war es bereits Zeit fürs Abendessen.

Der Hüttenwirt, ein echtes Tölzer Original mit gezwirbeltem Schnauz und Grandeln an der altsilbernen Uhrkette, hieß sie herzlich willkommen und zeigte ihr dann ihr Zimmer, das zwar nicht groß, aber dafür sehr gemütlich war.

»Ich hoffe, Sie fühlen sich bei uns wohl, Frau Dr. Rohde«, sagte er freundlich. »Nachtmahl wird in einer halben Stunde serviert.«

Christina bedankte sich. Sie hatte eben noch Zeit, sich umzuziehen und frisch zu machen, dann verließ sie ihr Zimmer und ging hinunter in den Speisesaal. Die Tische waren schon fast alle besetzt, aber sie fand noch einen schönen Platz am Fenster, mit Blick auf das Tal, Bad Tölz und die umgebenden Berge.

Als der Kellner ihr die Speisekarte brachte, musste sie nicht lange überlegen. »Gröstel bitte!« Das war eine Speise, die echte Kindheitserinnerungen weckte …

Christina hatte ihren Teller fast geleert, als ein junger Mann neben ihrem Tisch stehen blieb, sie einen Moment lang fragend ansah und dann wissen wollte: »Chrissi, bist du das?«

Sie blickte auf und in ein Paar kluge, graue Augen, das ihr freundlich zulächelte. Dieser Blick erschien ihr sehr vertraut, auch wenn sie ihn lange nicht mehr gesehen hatte. Und der alte Spitzname aus Schulzeiten weckte ganz bestimmte Erinnerungen in ihr, die sich mit einer speziellen Person verbanden.

»Bastian? Bastian Brunner?«

Er lachte. »Ja, der bin ich. Das ist aber ein Zufall, dass wir uns hier wiedersehen. Wie lange mag es her sein, seit …«

Christina winkte ab. »Lieber nicht nachrechnen. Dabei fühlt man sich so alt. Machst du auch Skiurlaub in Bad Tölz?«

»Ja, so … ähnlich. Bist du allein hier, Chrissi?«

Sie nickte. »Und du? Mit Familie?«

Ein wehmütiges Lächeln legte sich um seinen sensiblen Mund, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, auch allein.«

»Dann setz dich doch. Und erzähl mir, wie es dir in den letzten Jahren ergangen ist.«

»Gern. Darf ich dir was bestellen? Vielleicht einen Kaffee?«

»Da sage ich nicht nein.« Christina betrachtete ihr Gegenüber aufmerksam. Sebastian Brunner war von der Einschulung bis zum Abitur ihr bester Freund gewesen. Sie hatte den schlaksigen, schüchternen Jungen immer gern gehabt. Er war sehr klug, aber zurückhaltend. Nie hatte er sich in den Vordergrund gespielt, lieber hatte er mit profundem Wissen geglänzt. In der Oberstufe waren sie eine Weile ein Pärchen gewesen. Aber nach dem Abitur hatte Sebastian einen Studienplatz in den USA ergattert, und so hatten sich ihre Wege getrennt. Vergessen hatte Christina ihren Schulfreund nie. Und wenn sie ihn nun ansah, spürte sie, dass er noch immer einen Platz in ihrem Herzen hatte. Doch er war nicht mehr der unbekümmerte Junge, der die Welt erkunden und verstehen wollte. Ein bitterer Zug lag um seinen Mund, und sein Blick wirkte resigniert, traurig. Was war los mit ihm? Sogleich stellte sich in Christina das alte Gefühl der Mitverantwortlichkeit aus Schulzeiten wieder ein. Sie sorgte sich um den Freund und fragte sich, ob sie ihm irgendwie helfen konnte. Sebastian zeigte sich beeindruckt, als sie über ihren beruflichen Werdegang sprach.

»Chirurgin, das ist ein sehr verantwortungsvoller Beruf«, sinnierte er. »Wäre nichts für mich, ich kann kein Blut sehen.«

»Ich weiß.« Sie lachte leise. »Als Thomas Berg im Werkunterricht Nasenbluten bekam, bist du umgekippt.«

»Daran erinnerst du dich noch? Wie peinlich.«

Christina lachte. »Unsinn, das ist so lange her … Was hast du eigentlich aus deinem Stipendium gemacht?«

Er hob bescheiden die Schultern. »Ich habe in Physik promoviert und eine Weile als Dozent in Harvard gearbeitet.«

»Also immer noch ein echtes Genie.«

»Unfug. Der Lehrbetrieb war für meine Begriffe aber etwas zu schwerfällig und wirklichkeitsfremd. Ich wollte mit meinem Wissen etwas anfangen. Umwelttechnologie hat mich gereizt. Also habe ich mich selbstständig gemacht.«

»In den USA?«

»Nein, ich bin vor ein paar Jahren nach Bayern zurückgekommen. Auch der Liebe wegen.« Er lächelte verschämt. »Meine Frau Irene stammt aus Fürstenfeldbruck. Dort leben wir. Und da habe ich auch meine Firma gegründet, zusammen mit einem Studienfreund.«

»Und was produziert ihr?«, fragte Christina interessiert.

»Spezielle Filteranlagen zur Gewässeraufbereitung ohne Chemie, ein Beitrag zum Umweltschutz.«

»Das klingt faszinierend.«

»Ja, ist es auch.« Er lächelte freudlos. »Bis vor kurzem …«

»Was ist passiert?« Sie merkte, dass er zögerte, und hatte plötzlich das Gefühl, sich in Dinge einzumischen, die sie nicht wirklich etwas angingen. Immerhin hatten sie sich lange nicht gesehen. Dass sie zusammen zur Schule gegangen waren, gab ihr wohl nicht das Recht, sich jetzt in sein Leben einzumischen.

»Entschuldige, ich wollte nicht neugierig sein.«

Er machte eine beschwichtigende Geste und versicherte: »Das bist du nicht. Ich möchte dir gern alles erzählen, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich dich mit meinen Problemen belästigen soll. Immerhin haben wir uns lange nicht gesehen …«

Christina lächelte Sebastian aufmunternd zu. »Wenn es nach mir geht, sind wir nach wie vor Freunde. Ich höre dir gern zu.«

»Danke.« Er schaute sie einen Moment lang versonnen an, dann senkte er den Blick und erzählte: »Unsere kleine Firma lief wirklich gut. Vor allem auch dank meiner Patente. Wir hatten eine richtige Nische besetzt, in der uns keiner was vormachen konnte. Nico war für die Geschäfte zuständig, ich kümmerte mich hauptsächlich um die Weiterentwicklung unserer Produkte.«

»Du warst schon immer ein Tüftler.«

»Ja, das ist einfach mein Ding. Allerdings hätte ich Nico etwas besser auf die Finger schauen sollen, statt ihm blind zu vertrauen. Er fing an, ziemlich großspurig zu leben, interessierte sich mehr für seine Hobbys als für die Firma, ließ alles schleifen und zog immer mehr Stammkapital aus dem Betrieb. Als uns dann zwei Aufträge, mit denen wir fest gerechnet hatten, durch die Lappen gingen, wurde es eng. Der Betrieb geriet in eine finanzielle Schieflage. Ausgerechnet da rückte uns das Finanzamt mit einer Prüfung auf den Pelz. Nico war plötzlich weg, und ich hatte ein Verfahren wegen Konkursverschleppung am Hals. Die Firma war nämlich restlos überschuldet.«

»Um Gottes willen, Bastian. Was hast du gemacht?«

Er hob die Schultern und seufzte. »Das Übliche, ich habe mir einen Anwalt genommen. Als das ganze Ausmaß des Desasters klar wurde, bin ich zu allem Überfluss auch noch krank geworden. Mein Herz hat den vielen Stress und Ärger nicht verkraftet. Und Irene hatte auch irgendwann die Nase voll …«

Christina legte spontan eine Hand auf seine Rechte und drückte sie leicht. Sebastian lächelte schmal. Er erwiderte den Druck kurz, dann zog er seine Hand zurück und fuhr fort: »Das Verfahren läuft jetzt, ebenso wie meine Scheidung, die Firma wird abgewickelt. Alles geht seinen Gang, ich habe keinen Einfluss mehr darauf. Deshalb bin ich für eine Weile hierher gekommen, um mich zu erholen.«

»Wie geht es deinem Herzen?«

»Schon etwas besser. Ohne Stress und Hektik habe ich mich bereits erholt.« Er lächelte ihr verhalten zu. »Und dass ich dich hier wieder treffe, ist natürlich ein echter Glücksfall, Chrissi. Wie lange bleibst du denn in Tölz?«

»Leider nur übers Wochenende.«

»Schade. Na ja, zwei Tage sind besser als nichts. Vermutlich hast du ein strammes Programm.«

»Gar nicht. Ich möchte nur mal wieder Skifahren und mich ein bisschen ausruhen.« Sie erwiderte sein Lächeln herzlich. »Und ich würde mich ehrlich freuen, wenn du mir dabei Gesellschaft leisten würdest.«

Sebastian Brunner zögerte nicht. »Das mache ich gern.«

*

Nach dem Abendessen machten Christina und Sebastian noch einen Spaziergang durch die klare Winterluft, blickten von einem Aussichtspunkt in der Nähe der Skihütte auf das Tal mit der Stadt herab, genossen die Ruhe und Beschaulichkeit und fühlten sich beide wohl.

Am nächsten Morgen frühstückten sie dann zusammen, Sebastian blieb in der Skihütte, während Christina zum Wedeln ging. Es machte ihr eine Menge Spaß, den Skihang hinunter zu sausen und sie stellte dabei zufrieden fest, dass sie nichts verlernt hatte. Skilaufen war eben ein wenig wie Fahrrad fahren …

Das Mittagessen nahmen die alten Freunde dann wieder zusammen ein. Sebastian gab sich munter und aufgeräumt, doch Christina entging nicht, dass er Beschwerden hatte. Ihr geübtes Auge bemerkte sehr wohl die feinen Schweißperlen auf seiner Stirn, seine zeitweilige Kurzatmigkeit und eine gewisse Unsicherheit beim Gehen und Stehen. Zudem wanderte seine Hand öfter unbewusst in die Herzgegend. Sie hätte ihn deswegen gerne untersucht, doch er wiegelte ab und behauptete, sich wohl zu fühlen.

Den Rest des Samstags verbrachten sie dann in der Hütte, redeten, lachten und erinnerten sich gern an alte Zeiten.

Christina bedauerte, schon am nächsten Tag wieder abreisen zu müssen. Sie dachte daran, noch eine Urlaubswoche dran zu hängen, um für Sebastian da sein zu können. Ihr Jahresurlaub stand noch aus, sie hatte nur ab und an einen freien Tag gebraucht, hatte sonst das Jahr durchgearbeitet. Doch sie scheute sich vor diesem Schritt, denn am Montag standen zwei wichtige OPs an, die sie nicht delegieren wollte.

Bedrückt erschien sie am nächsten Morgen zum Frühstück. Als sie sich im Speisesaal umschaute, konnte sie Sebastian nirgends entdecken. Dabei hatten sie doch ausgemacht, noch einmal zusammen zu frühstücken. Christina wartete eine Weile, schließlich erkundigte sie sich an der Rezeption nach Sebastian.

Der Hüttenwirt hatte ihn an diesem Morgen noch nicht gesehen, sein Schlüssel hing nicht am Bord, also musste er noch auf seinem Zimmer sein. Allmählich schlich sich ein ungutes Gefühl in Christinas Magengegend. Sie beschloss, nach Sebastian zu sehen, bevor sie packen und auschecken musste.

Als die junge Ärztin gleich darauf an die Zimmertür ihres Schulfreundes klopfte, regte sich drinnen nichts. Sie klopfte noch einmal, doch wieder keine Reaktion. Da fasste sie sich ein Herz und drückte die Klinke einfach herunter. Die Tür war nicht verschlossen. Christina trat in den Raum, in dem noch die Vorhänge zugezogen waren. Sebastian lag im Bett und regte sich nicht. Sie zögerte nur kurz, öffnete dann die Stores und ließ das helle Morgenlicht herein. Als sie sich umdrehte, erschrak sie zutiefst.

Sebastian Brunner war ohne Bewusstsein. Er war sehr blass, seine Lippen waren bläulich verfärbt. Seine Haut war kühl, trotzdem glänzte Schweiß auf seiner Stirn. Sein Puls war flattrig und unregelmäßig, der Herzschlag unnatürlich verlangsamt. Alle Symptome deuteten auf einen Myokardinfarkt hin, der bereits vor einer Weile stattgefunden hatte.

Christina schaute rasch im Nachttisch nach, fand aber keine Medikamente. Also eilte sie in ihr Zimmer, holte die kleine Notfalltasche, die jeder Mediziner stets mit sich führt, und kehrte zu dem Bewusstlosen zurück. Während sie ihn stabilisierte und die Erstversorgung leistete, rief sie den Hüttenwirt an und bat ihn, den hiesigen Notarzt zu verständigen. Es dauerte nicht lange, bis die Kollegen aus Bad Tölz eintrafen. Da konnte Christina sich ein wenig zurückziehen und von dem Schreck erholen, den das Ganze ihr versetzt hatte. Schließlich kam Sebastian wieder zu Bewusstsein und wollte sie sprechen.

»Chrissi, du hast mir das Leben gerettet«, sagte er mit matter Stimme. »Es hat doch was für sich, mit einer Ärztin befreundet zu sein, nicht wahr?«

»Du solltest jetzt nicht so viel reden, Bastian. Dein Zustand ist zwar stabil, aber …«

»Darüber wollte ich mit dir sprechen«, unterbrach er sie hastig. »Der Arzt sagt, ich müsse ins Krankenhaus. Aber ich will nicht in die hiesige Klinik. Kannst du mich nicht mit nach München nehmen? Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du meine Behandlung übernehmen würdest. Ich vertraue dir, Chrissi.«

Diese Bitte überraschte sie. »Die Kollegen hier sind aber ebenso qualifiziert und …«

»Nein, ich möchte, dass du dich um mich kümmerst.«

Sie dachte kurz nach, schlug dann vor: »Wenn wir noch bis zum Nachmittag bleiben, kann ich abschätzen, ob du die Fahrt nach München in deinem Zustand schaffst. Wenn es dir aber wieder schlechter geht, solltest du in die hiesige Klinik gehen.«

»Gut, wie du meinst.« Er lächelte ihr müde zu. »Wie gesagt, ich vertraue dir …«

Dr. Rohde unterhielt sich noch ausführlich mit dem Notarztteam und schaute sich den Ausdruck des mobilen EKG-Geräts an sowie alle Vitalwerte, die aufgezeichnet worden waren.

»Schaut aus, als ob der Patient bereits mehrere schwache Infarkte hinter sich hat«, meinte der Notarzt. »Das Herz ist vorgeschädigt und net voll leistungsfähig. Wissen Sie, ob er medikamentös behandelt wird, Frau Kollegin?«

»Er sagte es, aber ich habe keine Medikamente gefunden.«

»Wir sollten ihn mitnehmen. Er ist jetzt zwar stabil, das kann sich allerdings jederzeit wieder ändern.«

»Ich weiß, er möchte aber in die Behnisch-Klinik.«

»Können Sie einen Krankentransport organisieren?«

Christina Rohde schüttelte den Kopf. »Das wäre zu umständlich. Wenn er stabil bleibt, fahren wir mit den Bahn nach München.«

Der Notarzt krauste skeptisch die Stirn. »Ein gewagtes Unternehmen, das ist Ihnen hoffentlich klar.«

»Ich kenne den Patienten schon lange. Er vertraut mir, und ich möchte dieses Vertrauen nicht enttäuschen. Außerdem hat er schon eine Weile Herzbeschwerden und ist auch in Behandlung. Ich denke, das Ganze ist machbar.«

»Wie Sie meinen. Es ist Ihr Risiko …«

Dessen war Christina Rohde sich durchaus bewusst. Nachdem das Notarztteam gegangen war, kümmerte sie sich zunächst um die Zimmer. Der Hüttenwirt hatte Verständnis und verlängerte ihren Aufenthalt anstandslos bis zum Abend. Er suchte sogar eine passende Zugverbindung für Christina heraus und bestellte ein zweites Ticket. Sie war ihm dafür dankbar, denn ihre ganze Aufmerksamkeit galt nun Sebastian.

In regelmäßigen Abständen kontrollierte sie Blutdruck und Puls, ließ sich die Medikamente zeigen, die er einnahm, und behielt ihn sehr genau im Auge. Sein Zustand blieb stabil, doch das wollte nichts heißen. Er konnte jederzeit einen weiteren Infarkt erleiden, der dann vielleicht schwerer ausfiel …

Am Nachmittag bat Sebastian Christina noch einmal: »Lass uns nach München fahren. Wenn ich erst in der Behnisch-Klinik bin, werde ich alles tun, was du sagst. Ich werde ein richtiger Musterpatient, du wirst schon sehen. Ich möchte nur nicht ganz allein unter Fremden sein, zu denen ich kein Vertrauen habe.«

»Ich verstehe das, trotzdem ist es ein Risiko …«

»Das ich eingehe. Ich übernehme die Verantwortung, darüber solltest du dir keine Sorgen machen, Chrissi.«

»Also schön.« Sie hatte noch immer kein gutes Gefühl bei der Sache, hätte es lieber gesehen, dass Sebastian sich im örtlichen Krankenhaus zumindest für vierundzwanzig Stunden behandeln ließ. Doch sie wollte ihn nicht auch noch im Stich lassen, nach allem, was er hatte durchmachen müssen. Deshalb wollte sie seinen Wunsch einfach erfüllen, das glaubte sie, ihrem alten Freund schuldig zu sein.

Der Hüttenwirt hatte einen Rollstuhl aufgetrieben, mit dem Sebastian ins Tal gebracht werden konnte. Christina bedankte sich sehr herzlich bei ihm, doch er winkte ab und meinte: »Das ist doch selbstverständlich. Gute Besserung, gelt?«

Die Fahrt nach München verlief dann ohne Zwischenfälle. Sebastian schlief die meiste Zeit, sein Zustand blieb stabil.

Am Münchner Hauptbahnhof wartete bereits ein Krankenwagen der Behnisch-Klinik, um den neuen Patienten abzuholen. Dr. Rohde begleitete den Kranken, der nur in ihrer Nähe ruhig blieb. Sie lächelte ihm zu und versicherte: »Alles wird gut, Bastian.«

Er erwiderte ihr Lächeln und meinte: »Wenn du bei mir bist, Chrissi, ganz bestimmt.«

*

Dr. Erik Berger, der Leiter der Notfallambulanz in der Behnisch-Klinik, hatte Wochenenddienst. Das war bei ihm keine Seltenheit, eher schon der Normalfall. Freie Wochenenden waren dem engagierten Mediziner ein Gräuel. Außerhalb der Klinik wusste er nichts mit seiner Zeit anzufangen, seit seine Frau während der Schwangerschaft an Komplikationen gestorben war. Sein Leben spielte sich in der Behnisch-Klinik ab.

An diesem Samstagabend war es bislang recht ruhig. Eine Schlägerei unter Jugendlichen mit Platzwunden und Prellungen, ein unermüdlicher Kneipengast, der auf dem Heimweg in die letzte Bierflasche gefallen war und sich tiefe Schnittwunden zugefügt hatte, ein Auffahrunfall mit zwei leicht Verletzten. Das war die Bilanz bis Mitternacht.

Danach blieb es eine Weile ruhig. Dr. Steinbach, der Rettungsarzt, hockte mit Sani Jens Wiener im Ärztebüro und spielte Karten, Schwester Inga tippte Arbeitsberichte.

Erik Berger ging kurz an die frische Luft. Er war abgespannt, denn er fuhr mal wieder eine Doppelschicht. Deswegen bekam er regelmäßig Druck vom Chefarzt, der sich einen ausgeschlafenen und fitten Ambulanzleiter wünschte. Daniel Norden war der Ansicht, dass Dr. Berger zu viel arbeitete. Immer wieder drängte er den Kollegen, sich ein paar Tage frei zu nehmen, mal eine Woche Urlaub zu machen. Der große sportliche Mann lächelte abfällig, wobei seine eisblauen Augen mit einem undefinierbaren Ausdruck in die Ferne schauten. Urlaub! Vielleicht konnte der Chef ihm auch verraten, was er in dieser Zeit tun sollte. Die Wände anstarren, sich einmal mehr in gedanklichen Fluren der Vergangenheit verirren, sich an eine Zeit erinnern, als er noch gewusst hatte, was es hieß, glücklich zu sein und …

Das Geräusch eines Martinshorns, das sich rasch näherte, riss ihn­ aus seinen trüben Gedanken. Schon zuckte der blaue Schein über die Fassade des Klinikbaus, dann hatte der Rettungswagen sein Ziel erreicht und scherte rückwärts in die Haltebucht vor dem Eingang der Notfall­ambulanz.

Dr. Berger atmete auf und eilte zurück auf seine Station. Arbeit, das Allheilmittel seines Daseins … Es verscheuchte die trüben Gedanken und brachte das Beste in ihm zum Vorschein.

Wenig später lag eine schlanke junge Frau vor ihm auf dem Untersuchungstisch. Ihre kastanienbraunen Locken lagen wirr angeklatscht um das herzförmige Gesicht mit den sinnlichen Lippen und den hohen Wangenknochen. Sie trug Jeans, helle Sneaker und einen Pulli mit kleinen Herzchen, der für die Winternacht eigentlich viel zu dünn war. Der intensive Geruch nach Alkohol schien überall um sie herum zu sein, in ihren Kleidern, ihrem Haar. Es war, als atme sie ihn stoßweise in Wellen aus, die das Untersuchungszimmer allmählich füllten.

Schwester Inga schluckte. »Soll ich ein Fenster aufmachen?«

Berger, der die Frau einen Moment lang schweigend gemustert hatte, schnaubte: »Wozu haben wir eine Klimaanlage? Monitor anschließen, Blutdruck, EKG, Sättigung, ich brauche Vitalwerte. Tun Sie Ihre Arbeit, Schwester Inga.«

Die Pflegerin war Kummer gewöhnt und nickte nur.

»Was ist das für ein Mist?«, knurrte Erik Berger, nachdem er einen Blick auf den Geräteturm geworfen hatte. »Das Ding spuckt heute nur Unsinn aus.« Er maß den Blutdruck der Bewusstlosen, hörte sie ab und hob eines ihrer Augenlider leicht an. »Sie ist volltrunken. Nehmen Sie Blut ab, ich möchte wissen, wie hoch die Promillezahl ist.«

Schwester Inga griff nach einer Spritze, da rügte Berger sie: »Doch nicht so. Infusion. Wir müssen sie stabilisieren, sonst schmiert sie uns ab. Das Herz ist schon auf halbe Leistung runter. So eine verdammte Schnapsdrossel.«

Wenig später stand fest, dass die Bewusstlose fast vier Promille Alkohol im Blut hatte. Erik Berger schaffte es, sie zu stabilisieren, wobei ihm deutlich mehr Flüche und Kraftausdrücke entschlüpften, als das sonst schon der Fall war. Schließlich flüchtete Schwester Inga, denn sie konnte sich die Reden ihres Chefs einfach nicht länger mit anhören.

Dr. Berger merkte nicht mal, dass er allein war.

Als die Patientin die Augen aufschlug, seufzte er. Nussbraun. Er hatte es doch gewusst. Trotzdem wollte er es nicht glauben.

»Hanna, wie fühlst du dich?«, fragte er mit rauer Stimme.

Sie starrte durch ihn hindurch, als wäre er aus Glas. Ehe er noch einmal das Wort an sie richten konnte, war sie wieder abgedriftet. Mit einem ärgerlichen Kopfschütteln trat er hinter das Fenster und starrte in die mondlose Winternacht.

Hanna Waldner. Das hübsche Mädchen aus dem Anatomiekurs. Wie lange war das her … Hanna, lange Beine, kluges Köpfchen. Sie hatte immer kurze Röcke getragen und allzu gerne mit Männerherzen gespielt. Er erinnerte sich noch gut an den regnerischen Frühlingstag, als er ihr zum ersten Mal begegnet war. Wie eine Königin war sie über den Campus stolziert. Das lange kastanienbraune Haar hatte im Frühlingswind geweht, ein stolzes und doch verschmitztes Lächeln auf den verheißungsvollen Lippen. Alle Männer waren in sie verliebt gewesen. Huldvoll hatte sie Hof gehalten, auf Parties, im Hörsaal, in der Bibliothek. Ihr perlendes Lachen war ihm noch im Ohr.

Bei ihrer letzten Begegnung, kurz bevor er als Assistenzarzt an die Behnisch-Klinik gekommen war, hatte sie etwas zu ihm gesagt, das er ebenfalls nie vergessen hatte.

»Erik, hast du eigentlich gewusst, dass ich in dich verliebt war? Immer nur in dich. Aber du hattest ja bloß deine Bücher im Kopf, für mich war darin kein Platz …«

Hanna, süße Hanna. Sie wollte Kinderärztin werden. Er wusste, dass sie im Klinikum rechts der Isar eine verheißungsvolle Karriere gestartet hatte. Aber dann hatte er Maika kennengelernt und Hanna vergessen.

Er drehte sich langsam zu ihr um, kontrollierte die Vitalwerte, die sich allmählich besserten, und betrachtete sie mit wachsendem Unbehagen. Ihr hübsches Gesicht war aufgedunsen, ihre Hände zitterten leicht. Die gelbliche Verfärbung der Haut deutete auf eine fortschreitende Hepatitis hin. Was war da los, was war aus der hübschen, klugen Jungärztin geworden, die am Anfang einer großen Karriere gestanden hatte?

Die Frau vor ihm erzählte eine Geschichte, die nicht dazu passte. Eine Geschichte ohne Worte, Wundmale eines gequälten Körpers, in dem eine gequälte Seele Vergessen suchte.

»Hanna, Mädchen, was hast du getan?«, murmelte er betroffen.

Er wusste es nicht, er konnte es sich nicht vorstellen. Doch er war fest entschlossen, es herauszufinden.

Schwester Inga räusperte sich dezent, trotzdem zuckte Erik Berger zusammen und schoss einen seiner blauen Blitzblicke auf sie ab. »Was ist denn?«, bellte er.

»Notfall in Raum drei, Sie werden gebraucht.«

»Schon gut, ich komme. Die Patientin hier bleibt fürs Erste bei uns. Ich werde morgen entscheiden, wohin wir sie verlegen. Bis dahin will ich einen umfassenden Check-Up. Ich muss ihren genauen Zustand kennen, verstanden?«

»Sicher, Chef.« Schwester Inga schüttelte hinter Dr. Berger leicht den Kopf. Was mochte nur in ihn gefahren sein? Er war nicht unbedingt das, was man als liebenswürdigen Menschen bezeichnete, aber in dieser Nacht hatte er seinen eigenen Rekord in schlechtem Benehmen eindeutig gebrochen.

»Schwester Inga!«, rief er ungehalten aus dem nebenliegenden Untersuchungsraum. »Wo bleiben Sie denn, verdammt noch mal?«

Mit einem Seufzer eilte sie nach nebenan. »Rekordverdächtig …«

*

Hanna Waldner erwachte am späten Sonntagvormittag.

Sie wunderte sich, dass ihr Kopf nicht schmerzte und sie auch nicht den üblichen Nachdurst verspürte. Keine Übelkeit, keine Schmerzen irgendwo in ihrem geschundenen Körper. Was war geschehen? Hatte sie es etwa schon geschafft, den irdischen Ballast abgeworfen und die Reise ins schwerelose Nichts angetreten? Konnte es so aussehen, das schwerelose Nichts?

Eine Wand, ein Fenster, ein Bett, Schläuche, eine Infusion in einem Ständer, weiße Bettwäsche, weiße Wände, eine weiße Tür …

Hanna atmete tief durch und musste würgen. Ein trockener Würgereiz, den sie nur zu gut kannte. Mühsam drehte sie den Kopf und suchte den – ebenfalls weißen – Nachttisch neben dem Bett nach etwas Trinkbarem ab. Ein Schluck Tee aus einer Schnabeltasse. Besser als nichts. Noch dazu war die Tasse sauber, so frisch gespült, dass es quietschte.

»Willst du viel, spül mit Pril«, sagte sie in den leeren Raum. Ihre Stimme klang kratzig. Nicht mehr wie die des kleinen Mädchens, das Prilblumen gesammelt und zusammen mit Mama auf die Kühlschranktür geklebt hatte. In einem anderen Leben, vor mehr als hundert Jahren …

Sie stellte die Schnabeltasse so hart ab, dass es klirrte, und fing an zu weinen. Dazu bedurfte es keiner besonderen Anstrengung mehr. Die Tränen kamen von selbst und folgten einfach der Schwerkraft. Sie flossen nur so. Hanna starrte dabei reglos gegen die – auch wieder weiße – Zimmerdecke.

Ein Krankenhaus also. Sie hatte es nicht geschafft, noch nicht. Sie lebte noch. Wieso dauerte es nur so lange, sich …

Ihre Gedanken zerfaserten, als die Tür geöffnet wurde und ein Arzt hereinkam. Er war genau das, was man sich gemeinhin unter einem Halbgott in Weiß vorstellte: Groß, sportlich, gut aussehend, mit blauen Augen und dichtem, sandfarbenem Haar.

»Hallo, schöner Mann, wollen Sie mich untersuchen?«, fragte Hanna zweideutig und lachte ihr raues Lachen, das mit Alkohol und vielen, vielen Schmerzen gekommen war. »Nur zu, ich werde mich auch nicht wehren …«

Dr. Berger trat neben das Bett, kontrollierte die Vitalwerte und zog sich dann einen Rollhocker heran, um sich zu setzen.

Hanna musterte ihn irritiert. »Ein Annäherungsversuch am heiligen Sonntag? Ich bitte Sie, mein Lieber, was mag wohl Ihre bessere Hälfte dazu sagen?«

»Meine Frau ist tot, es wird sie nicht mehr stören«, ging er auf ihren Ton ein und erntete dafür einen fragenden Blick. »Hanna, kannst du dich an mich erinnern? Ich bin Erik Berger, wir haben zusammen studiert.«

Sie starrte ihn einen Moment lang reglos an, massiv brach Scham in ihren Blick ein, dann schrie sie: »Raus, verschwinde! Ich will nicht, dass du mich so siehst, hau ab!«

»Du bist letzte Nacht an einer Alkoholvergiftung vorbeigeschrammt. Trinkst du immer so viel?«, fragte er ruhig.

Sie hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und schüttelte dabei den Kopf. »Geh weg«, murmelte sie erstickt.

»Kann ich nicht, ich arbeite hier. Willst du also endlich vernünftig sein und meine Fragen beantworten?«

Kurz verharrte sie noch, dann ließ sie die Hände sinken und musterte ihn auf eine Art, die ihm noch immer vertraut war. Hochmütig, selbstbewusst und sehr sexy. Doch das alles war nur ein müder Abklatsch dessen, was es einmal gewesen war. Nichts als ein Schatten von Erinnerung, wie eine Reflexion von Licht in einer schmutzigen Fensterscheibe. Der Glanz war fort. Dieser Gedanke tat Erik Berger erstaunlich weh.

»Ich war auf einer Party, was dagegen?«, zwitscherte sie.

»Du bist vor einem Stehimbiss umgefallen. Einige deiner Kumpel haben den Notarzt verständigt und dir damit wohl das Leben gerettet. Wie lange trinkst du schon?«

»Kumpel? Was soll der Quatsch? Ich verbitte mir deine Anzüglichkeiten. Hör gefälligst auf, dich in mein Leben zu mischen, du Blödmann. Verschwinde und lass mich in Ruhe. Sobald ich wieder stehen kann, bin ich hier weg.«

»Das glaube ich nicht. Dein Zustand ist bedenklich.«

»Erzähl mir was Neues.«

»Hanna, bitte …«

»Bloß weil wir vor hundert Jahren mal zusammen an der Uni waren, gibt dir das noch lange nicht das Recht, mich zu belästigen. Ich will keine Hilfe und keine Fragen beantworten. Ich will nur in Ruhe gelassen werden.«

»Wozu? Um dich tot zu saufen?«

Es zuckte kurz um ihren Mund, dann aber trat ein harter Glanz in ihre Augen, und sie spuckte Dr. Berger die Worte regelrecht ins Gesicht: »Du hast es erfasst, du Genie! Genau das habe ich vor, wenn du es unbedingt wissen willst.«

Er schluckte und schwieg einen Moment lang betroffen. Hannas Zustand hatte ihn am Vorabend bereits in tiefe Sorge versetzt. Ihr jetziges Verhalten aber war fast noch schlimmer. Wie es aussah, hatte sie nicht nur ein physisches, sondern auch ein psychisches Problem. Und Letzteres schien noch weitaus ernster zu sein. Kurz fühlte Erik Berger, der sonst stets überlegen Herr der Lage war, sich hilflos. Wie sollte er Hanna helfen, wo sollte er anfangen? War es nicht überhaupt sinnlos? Sie starrte ihn kalt und hasserfüllt an. Doch er ahnte, dass nicht er das Ziel ihres Hasses war, sondern vielmehr ihr eigenes Leben. Falls sie es wirklich ernst gemeint hatte. Und das musste er leider annehmen. Er brauchte noch einen Moment, um sich zu sammeln, dann erwiderte er betont sachlich: »Wenn das dein Ziel ist, bist du auf einem guten Weg. All deine Werte sind miserabel. Ich begreife das nicht, Hanna. Was ist nur geschehen?«

Sie schnaubte verächtlich. »Das Leben ist geschehen. Es ist eben nicht für jeden immer eitel Sonnenschein.«

»Wem sagst du das.«

»Du siehst nicht unglücklich aus. Vermutlich hast du eine steile Karriere hingelegt. Du mieser Sunnyboy. Schon an der Uni ging dir alles leicht von der Hand.«

»Du erinnerst dich also daran. Das wundert mich …«

»Ein paar Zellen haben in meinem alkoholgetränkten Hirn überlebt. Noch. Aber ich tue mein Bestes, sie ebenfalls abzutöten. Kein Gefühl mehr, kein Schmerz mehr. Eine einfache, aber logische Gleichung, findest du nicht?«

»Willst du mir nicht …«

»NEIN!« Sie holte aus und versetzte ihm ohne Vorwarnung eine schallende Ohrfeige, dann lachte sie hysterisch. »Hau endlich ab, verschon mich mit deinem Anblick!«

»Okay, ich lasse dich allein«, gab er nach. »Aber ich komme wieder. Und du wirst fürs Erste hierbleiben.«

»Ich verschwinde, das wirst du erleben!«

»Du kommst nicht weit. Spätestens auf dem Klinikflur fällst du um. Willst du einer der Schwestern zumuten, dass sie dich aufsammeln und hierher zurückbringen muss? Bleib lieber, wo du bist. In deinem Zustand gehörst du in eine Klinik.«

»Ich will was zu trinken, verdammt noch mal.«

Dr. Berger erhob sich und lächelte schmal. »Vergiss es. Du wirst entziehen, ich werde versuchen, deinen Zustand weiter zu stabilisieren. Was du danach mit deinem Leben anfängst, ist deine Sache. Aber solange du in der Behnisch-Klinik bist, bestimme ich darüber. Haben wir uns verstanden?«

Hanna musterte ihn abweisend, dann drehte sie sich ohne eine Antwort um und zog sich die Decke über den Kopf.

Erik Berger verließ das Krankenzimmer, um sich noch kurz mit einem Kollegen zu besprechen. Er hatte Hanna auf die Innere verlegen lassen, doch er war sich nun nicht mehr sicher, ob das die richtige Entscheidung gewesen war.

Dr. Alexander Schön hegte die gleichen Zweifel.

»Sie ist ein Fall für die Psychiatrie«, urteilte er. »Fortgeschrittener Alkoholismus mit all seinen hässlichen Folgen.«

»Ja, das habe ich gesehen. Trotzdem möchte ich Sie bitten, die Patientin fürs Erste hier zu lassen. Ich rede morgen mit dem Chef, vielleicht können wir zweispurig fahren.«

»Sie denken an eine medizinische und psychologische Behandlung?«, fragte der Internist.

»Ich möchte es gern versuchen.«

»Liegt sie Ihnen denn besonders am Herzen?«, wunderte Dr. Schön sich, denn ein solches Verhalten war ihm bei Berger, der allgemein als kalter Hund verschrien war, fremd.

»Ich kenne sie von früher, wir haben zusammen studiert. Ich möchte ihr gern helfen, ihr Leben wieder in den Griff zu kriegen«, erklärte er widerwillig.

»Also gut, sie kann bleiben. Aber wir brauchen das Okay vom Chef, damit es keine Unstimmigkeiten gibt.«

Erik Berger atmete erleichtert auf. »Ich danke Ihnen, Herr Kollege. Und ich werde das gleich morgen mit dem Chef regeln.«

Alexander Schön schaute Dr. Berger überrascht hinterher, der es nun eilig hatte, die Innere zu verlassen. Versteckte sich da hinter der rauen Schale des Notfallmediziners etwa doch ein weicher Kern? Bisher hätte er das eher für unmöglich gehalten. Doch das jetzige Verhalten des Kollegen deutete durchaus darauf hin. Man lernte eben nie aus …

*

Dr. Christina Rohde verbrachte den Sonntagabend an Sebastian Brunners Krankenbett. Er hatte die Fahrt nach München erstaunlich gut überstanden und schien ihr sehr dankbar für ihre Hilfe zu sein. Doch eine erste gründlichere Untersuchung hatte die erfahrene Medizinerin alarmiert. Wie es aussah, hatten die Kollegen in Bad Tölz nicht übertrieben. Sebastian musste bereits einige kleinere Infarkte hinter sich ­haben, denn sein Zustand war schlecht, all seine Werte im Keller. Das Ergebnis des EKG war niederschmetternd.

»Stimmt was nicht?«, fragte der Kranke sie.

»Hattest du in letzter Zeit schon mal einen Infarkt?«, wollte Dr. Rohde wissen. »Bist du in einer Klinik gewesen?«

Er schüttelte den Kopf. »Mein Hausarzt hat Unregelmäßigkeiten festgestellt, die auf den Stress und Ärger zurückzuführen sind. Er hat mir geraten, mich auszuruhen. Den Rat habe ich befolgt.«

»Hat er kein EKG gemacht?«

»Doch, ich denke schon. Es war wohl nicht besonders auffällig.«

Christina Rohde konnte das nicht verstehen. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass Sebastian ihr nicht alles erzählte. Die Medikamente, die sein Arzt ihm verschrieben hatte, waren ungeeignet, um seinen Zustand zu verbessern. Er hätte schon nach dem ersten Infarkt in einer Klinik behandelt werden müssen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sein Hausarzt das nicht erkannt hatte. Vermutlich war Sebastian dem einfach ausgewichen. Er hatte sich ja auch in Bad Tölz geweigert, ins Krankenhaus zu gehen. Etwas passte hier nicht, es war wie ein Puzzle, das sich nicht zusammenfügen ließ, weil jemand eine Handvoll Teile einfach weggenommen hatte.

»Was wird denn nun?«, fragte Sebastian sie beklommen.

»Du bleibst fürs Erste hier. Ich muss eine Menge Tests und Untersuchungen anstellen, um einen genauen Befund zu erhalten. Darauf können wir dann die Behandlung aufbauen.«

Der junge Mann deutete ein Lächeln an. »Ich vertraue dir, Chrissi. Du machst es schon richtig …«

Da war sich Christina Rohde allerdings nicht mehr sicher, als sie am nächsten Tag die ersten Befunde in Händen hielt. Sebastians Zustand war nämlich weitaus ernster, als es auf den ersten Blick ausgesehen hatte. Sie wollte alle Ergebnisse abwarten, doch bereits jetzt zeichnete sich ein Bild ab, das ihr Angst machte. Angst um den alten Freund, dessen Leben womöglich an einem seidenen Faden hing …

Währenddessen saß Dr. Berger im Büro des Chefarztes und legte ihm den Fall Hanna Waldner dar. Dr. Daniel Norden war ein wenig verwundert über die emotionale Art, mit der sein Gegenüber argumentierte, hütete sich aber, dies auszusprechen. Er war ja froh, dass Erik Berger mal sein Schneckenhaus verließ und Gefühl zeigte. Selten genug kam das vor.

»Ich glaube, dass ich vielleicht der Einzige bin, der zu Hanna Zugang finden kann. Natürlich wäre eine psychologische Hilfestellung sinnvoll und wünschenswert. Trotzdem möchte ich sie nicht einfach in die Psychiatrie abschieben. Hanna braucht einen Menschen, den sie kennt und dem sie vertrauen kann.«

»Und Sie wären dieser Mensch?«

Erik Berger stutzte. »Trauen Sie mir das nicht zu?«

»Das habe ich nicht gesagt. Sie sollten sich nur der großen Verantwortung bewusst sein, die Sie damit übernehmen.«

»Hanna ist krank. Aber wir reden hier noch längst nicht vom Delirium tremens. Sie ist depressiv, ihre Trinkerei ist doch nichts weiter als ein Hilfeschrei der Seele.«

»Depressionen sind hier wohl die Grunderkrankung. Und wir wissen beide, wie schwer diese zu behandeln sind«, gab Dr. Norden zu bedenken.

»Was soll ich denn sonst tun?« Dr. Berger sprang auf und begann, unruhig im Raum hin und her zu laufen. »Ich kann Hanna nicht einfach im Stich lassen.« Er atmete tief durch. »Ich sehe sie noch vor mir, die kluge, hübsche angehende Ärztin. Sie war so optimistisch, so voller Leben …«

»Waren Sie in sie verliebt?«

»Was soll diese Frage? Das ist doch sehr persönlich«, reagierte Dr. Berger nun wieder auf die für ihn übliche schroffe Art. »Ich mochte sie, das war alles. Und das tue ich noch heute. Ich will ihr helfen!«

»Ich verstehe Sie ja, Herr Kollege. Aber wir reden hier von einem eher ungewöhnlichen Vorgang. Und ich muss letztendlich dafür geradestehen, was in dieser Klinik geschieht.«

»Wenn es Ihnen nicht passt, nehme ich eben Urlaub und kümmere mich in meiner Freizeit um Hanna«, schnauzte er unbeherrscht.

»Denken Sie wirklich, dass das die Lösung ist?«

Erik Berger musterte seinen Chef argwöhnisch. An dessen ruhigem Blick kühlte sich aber schließlich auch sein aufschießendes Temperament ab, und er gab zu: »Ich habe wohl übertrieben, tut mir leid. Bitte, raten Sie mir, was ich tun soll. Ich wäre dafür wirklich dankbar. Dieser Fall macht mich hilflos. Und das ist ein Zustand, den ich nicht ertrage.«

»Es kann ein Zeichen von Stärke sein, auch mal schwach sein zu können. Und gerade in unserem Beruf sind Demut und eine gewisse Portion Bescheidenheit nicht das Schlechteste. Ich finde es grundsätzlich gut, was Sie vorhaben, Herr Kollege. Deshalb mein Vorschlag zur Güte: Frau Waldner bleibt fürs Erste auf der Inneren, wird dort behandelt. Sie können sich um sie kümmern, soweit es Ihre Zeit zulässt. Aber ich möchte so zeitnah wie möglich ein psychiatrisches Gutachten und eine Diagnoseempfehlung. Wir brauchen in dem Fall etwas Greifbares, sonst kriege ich Ärger mit dem Verwaltungsrat der Klinik.«

Dr. Berger hatte bereits eine abfällige Bemerkung auf der Zunge, schluckte diese aber herunter. Er wusste, dass Daniel Norden ihm weit entgegenkam. Und er schätzte das durchaus.

»Ich danke Ihnen«, quetschte er etwas mühsam aus sich heraus.

»Schon gut. Halten Sie mich auf dem Laufenden.«

Erik Berger versprach es und verließ gleich darauf das Büro des Chefarztes, um nach Hanna zu sehen.

»Sie hat eine unruhige Nacht hinter sich, ihr Zustand ist stabil.« Dr. Schön reichte dem Kollegen das Krankenblatt.

»Sieht gar nicht so schlecht aus. Haben Sie schon medikamentiert, Herr Kollege?«

»Umfassend, damit sie den Entzug reibungslos übersteht.«

»Gut, ich sehe dann jetzt nach ihr.«

»Seien Sie vorsichtig. Sie hat einer unserer Lernschwestern schon eine Tasse an den Kopf geworfen.«

Dr. Berger seufzte. »Ich sehe mich vor …«

Hanna lag apathisch in ihrem Krankenbett und reagierte auch nicht auf Erik Bergers Anwesenheit. Erst als er sie untersuchte, fauchte sie: »Dir habe ich diesen ganzen Mist also zu verdanken. Bild dir nur nicht ein, dass du bei mir den guten Samariter spielen kannst. Ich verzichte auf deine Hilfe. Und jetzt verschwinde und komm nicht wieder!«

»Tut mir leid, aber den Gefallen kann ich dir nicht tun.«

»Was willst du eigentlich von mir?«

»Ich versuche, dir zu helfen, Hanna. Ist das so schwer zu verstehen? Du bist doch selbst Ärztin.«

»Das ist lange her. Ich habe alles vergessen.«

»Unsinn. Du warst die Beste im Anatomiekurs. Keine hat den ersten Schnitt so sauber und ohne zu zögern gemacht wie du. Ich habe dich damals dafür bewundert.«

»In eine Leiche zu schneiden, ist keine Kunst. Aber es dauert, bis ­dieses verdammte Fleisch endlich tot ist …«

»Hanna.« Dr. Berger nahm ihre Hand, doch sie zog sie mit einer heftigen Bewegung fort. Er konnte eben noch einer neuerlichen Ohrfeige ausweichen. »Wieso hasst du dein Leben so?«

»Das geht dich nichts an. Verschwinde und lass mich endlich in Ruhe. Wie oft muss ich dir noch sagen, dass ich deine Hilfe nicht will.«

»Ich gehe aber nicht. Ich kann nicht.«

»Und warum? Hast du einen Schuldkomplex? Wenn du deine Frau nicht retten konntest, muss ich es sein?« Sie lächelte fein, als sie sah, dass er blass wurde. Endlich war es ihr gelungen, den Finger in die Wunde zu legen und seiner schimmernden Rüstung zumindest einen Kratzer zu verpassen. »Na, was ist? Wollen wir uns gegenseitig unsere traurigen Lebensgeschichten erzählen? Du machst den Anfang. Komm schon, Sunnyboy, du bist doch sonst nicht auf den Mund gefallen. Ich höre!«

Er wandte sich wortlos zum Gehen, sie höhnte: »Tja, ist nicht so lustig, wenn andere in den eigenen Wunden herumstochern, oder? Umgekehrt gibt mehr her.«

Dr. Berger drehte sich noch einmal um und bedachte sie mit einem Blick, der sie verstummen ließ. Dann sagte er mit ruhiger Stimme: »Ich sehe später wieder nach dir.«

Als er das Krankenzimmer verließ, schwieg Hanna sich aus.

*

Dr. Christina Rohde brütete über ihrem Laptop. Die Bilder, die sie immer wieder betrachtete, hatten ihr alle Hoffnung genommen, Sebastian noch helfen zu können. Sein Zustand war so schlecht, dass es eigentlich nur noch eine Lösung gab. Doch davor schreckte sie zurück. Das war eine Entscheidung, die sie allein nicht treffen konnte. Dafür benötigte sie Rat, eine zweite Meinung.

Mit einem Seufzen griff sie nach dem Telefon und rief im Chefbüro an. Katja Baumann bat sie um einen Moment Geduld, dann ließ sie die Chirurgin wissen: »Sie können den Chef noch vor der Visite sprechen, wenn Sie gleich herkommen.«

Christina Rohde war damit einverstanden. Sie lud die Bilder auf ein handliches Tablet und machte sich dann auf den Weg.

Dr. Norden war bereits über den Fall informiert, er kannte zwar nicht jeden Patienten der Behnisch-Klinik persönlich, was auch gar nicht möglich gewesen wäre, doch er hielt sich stets auf dem Laufenden, wusste nicht nur durch die täglichen Visiten über die Situation auf jeder Station Bescheid.

»Sebastian Brunner ist ein alter Freund von mir, wir sind zusammen zur Schule gegangen«, schickte Dr. Rohde voraus, bevor sie auf das medizinische Problem zu sprechen kam.

»Wie ist sein derzeitiger Zustand?«

»Schlecht. Der Kollege in Bad Tölz hat bereits vermutet, dass dies nicht der erste Myokardinfarkt war. Ich habe den Patienten gründlich durchgecheckt und seine Vermutung bestätigt gefunden. Es müssen mehrere weniger schwere Infarkte gewesen sein, die Sebastian vermutlich nicht wirklich bemerkt hat. Sein Leben steckt in einer Krise, seine Firma ist pleite, seine Frau hat ihn verlassen. Wie er selbst gesagt hat, ist ihm dieser ganze Kummer wohl auf sein Herz geschlagen.«

»Wie sieht Ihre Therapie aus?«

»Ich habe konventionell medikamentiert, allerdings ohne nennbaren Erfolg. Deshalb habe ich eine CT angefertigt und bin dabei auf das hier gestoßen.« Sie reichte Dr. Norden das Tablet, der Chefarzt betrachtete die Bilder und machte dabei ein sehr ernstes Gesicht.

»Die koronaren Verschlüsse sind nicht zu übersehen. Das gesamte System der Herzkranzgefäße ist in Mitleidenschaft gezogen worden. Ich muss Ihnen widersprechen, Frau Kollegin. Die vorangegangenen Infarkte waren keineswegs leicht. Sie haben einen umfassenden Schaden hinterlassen.«

»Ich habe daran gedacht, mehrere Stents zu setzen. Doch leider ist da nichts mehr, was sich noch umgehen ließe.«

»Ich fürchte, in diesem Fall werden Sie weder mit konventioneller Medikation noch mit einem mini­malinvasiven Eingriff weiterkommen. Sie wissen, was das bedeutet?«

Dr. Rohde räusperte sich. »Ich hatte gehofft, dass Sie zu einem anderen Schluss kommen würden. Deshalb wollte ich noch eine zweite Meinung, als ich diesen Befund gesehen habe.«

»Das ist ein Kandidat für eine Transplantation, ohne jeden Zweifel. Wir müssen ihn auf die Liste setzen lassen.«

»Ein neues Herz.« Christina Rohde atmete scharf aus. »Sie werden verstehen, dass ich einen solchen Eingriff nicht durchführen kann.«

»Sie sind qualifiziert, Frau Kollegin«, erinnerte der Chefarzt sie. »Ich traue Ihnen diese OP zu, das sollten Sie wissen.«

»Danke, Chef. Aber es liegt nicht daran, wie Sie sich sicher denken können. Ich kann Sebastian nicht operieren.«

»Das verstehe ich selbstverständlich. Ist Ihnen Prof. Wolf Burkhard aus Zürich ein Begriff?«

»Der bekannte Gefäßchirurg? Er ist eine Koryphäe auf dem Gebiet der Herztransplantationen.«

»Und er ist zufällig ein guter Bekannter von mir. Ich werde mit ihm über den Fall reden. Und zwar schnellstmöglich, um sicherzustellen, dass er verfügbar ist, wenn wir das passende Organ haben.«

Dr. Rohde nickte und erhob sich. »Ich danke Ihnen, Chef. Sie nehmen mir eine große Last von der Seele. Jetzt werde ich noch mit Sebastian reden.«

»Soll ich das vielleicht übernehmen?«

Sie lächelte schmal. »Nein, das schaffe ich schon. Er vertraut mir. Ich denke, es ist leichter für ihn, wenn er es von mir erfährt. Immerhin ist so eine Diagnose für den Betroffenen ein echter Schock. Ich werde für ihn da sein, ihm beistehen.«

»Wenn Sie trotzdem Hilfe brauchen sollten, geben Sie mir Bescheid, Frau Kollegin«, bat Dr. Norden noch, denn er konnte sich denken, dass dieses Gespräch – auch wenn es unter alten Freunden stattfand – alles andere als einfach werden würde. Wie Sebastian Brunner allerdings tatsächlich reagieren würde, ahnte der Chefarzt der Behnisch-Klinik in diesem Moment ebenso wenig wie Christina Rohde …

Der Patient war leicht eingenickt, als Dr. Rohde sein Zimmer betrat. Christina zögerte, es fiel ihr nun doch schwer, mit Sebastian zu reden. Bedachte man, was er in letzter Zeit schon an Tiefschlägen hatte einstecken müssen, so fühlte sie sich nun fast wie der Bote, der ihm den Todesstoß versetzen musste. Obwohl sie doch im Gegenteil nur versuchte, ihm zu helfen …

»Chrissi, alles in Ordnung?« Sebastian lächelte ihr matt zu. »Du machst so ein ernstes Gesicht. Schlechte Neuigkeiten?«

Sie setzte sich an sein Bett und erwiderte sein Lächeln ein wenig gequält. »Wie man es nimmt, Bastian. Du brauchst ein neues Herz.«

Er musterte sie befremdet. »Soll das ein Witz sein?«

»Im Dienst mache ich nie Witze. Dein Herz ist zu geschädigt, um geheilt zu werden. Die Infarkte, die du bereits erlitten hast und die nicht ­behandelt wurden, haben großen Schaden angerichtet. Deshalb bleibt nur eine Transplantation.«

Der Kranke nahm diese Neuigkeit erstaunlich gelassen auf. Er schwieg eine Weile, blickte sinnend vor sich hin und wollte schließlich wissen: »Und wenn ich nichts machen lasse? Was passiert dann?« Er merkte, dass sie ihm gleich vehement widersprechen wollte, hob die Hand und bat: »Nur mal rein theoretisch gesprochen. Erklär es mir!«

Dr. Rohde zögerte kurz, dann ließ sie ihn wissen: »Mit einem dermaßen geschädigten Herzen hast du noch eine Lebenserwartung von ein paar Monaten, vielleicht von einem halben Jahr. Du wirst schwächer, schließlich ein Pflegefall und später vermutlich ein Komapatient. Warum willst du das wissen?« Sie stellte diese Frage, obwohl sie bereits eine mehr als finstere Ahnung hatte, wie die Antwort lauten würde. Und sie sollte sich leider nicht getäuscht haben.

»Weil ich kein neues Herz will. Wenn das Schicksal mir so einen Wink gibt, werde ich den bestimmt nicht übersehen.«

»Ich fürchte, ich verstehe dich nicht …«

»Natürlich tust du das, Chrissi. Du hast mich immer verstanden, hast immer gewusst, was in mir vorgeht. Wir waren beste Freunde.«

»Wir sind auch jetzt noch Freunde, deshalb werde ich dich ganz bestimmt nicht einfach sterben lassen.«

»Aber das ist es, was ich will. Natürlich sehne ich den Tod nicht herbei. Doch es ist auf lange Sicht die beste Lösung. Mein Leben ist verfahren, ich sehe keine Perspektive mehr. Wenn die Natur mir nun ein Türchen ins Freie öffnet, warum soll ich es nicht benutzen? Was spricht dagegen?«

»Alles, einfach alles. Jedenfalls für mich. Ich bin Ärztin geworden, um Menschenleben zu retten. Ich werde ganz bestimmt nicht tatenlos zusehen, wie mein bester und ältester Freund sich hinsetzt und auf den Tod wartet. Das steht gegen meine Überzeugung und gegen alles, woran ich glaube.«

»Aber, Chrissi, an dir ist ja eine Predigerin verloren gegangen«, spöttelte Sebastian.

»Es ist mein Ernst, Bastian. Wenn du mit deinem Leben nicht mehr zufrieden bist, ist das deine Sache. Sie hat hier in der Behnisch-Klinik allerdings keine Bedeutung. Ich werde alles tun, damit mein Patient gesund wird. Und der bist nun zufälligerweise du. Schon vergessen? Du hast mich gebeten, mich um dich zu kümmern. Und das werde ich tun.«

»Aber nicht so.«

»Wie, das musst du schon mir überlassen.«

Der Kranke lachte leise. »Willst du mich denn zwingen, weiter zu leben? Ein Leben, das mir nichts mehr bedeutet, das mir nur noch eine Last ist? Und wie willst du das anstellen?«

»Indem ich dich vom Gegenteil überzeuge. Das Leben ist nämlich viel zu kostbar, um es einfach wegzuwerfen. Ich habe in den Jahren, die ich nun Ärztin bin, hoffnungslose Fälle gesehen, die um Tage, um Stunden gekämpft haben. Schwerkranke, die ihre Hände nach dem Leben ausstreckten. Keiner will sterben, wenn er bei klarem Verstand ist. Das Leben endet für uns alle früh genug. Du solltest nicht den Fehler machen, vorzeitig aufzugeben, Bastian.«

»Vorzeitig kann man das kaum nennen. Ich habe nichts mehr, wofür es sich noch lohnt zu leben.«

»Tatsächlich?« Christina lächelte schmal. »Das wollen wir doch erst mal sehen …«

*

Während Hanna Waldner in den kommenden Tagen ihren Entzug hinter sich brachte, redete sie konsequent kein Wort mit Dr. Berger. Wann immer er in ihrem Krankenzimmer auftauchte, erntete er nur Schweigen und abweisende Blicke.

Als es der Patientin körperlich langsam besser ging, bekam sie Besuch von Dr. Tim Möller. Der Psychologe stellte ihr viele Fragen, ignorierte dabei alle Provokationen und Schimpfwörter, die aus ihrem Mund kamen, und notierte nur die für seine Diagnosestellung relevanten Äußerungen der Patientin. Wobei diese nicht unbedingt verbaler Natur sein mussten. Körpersprache und Verschwiegenes sagten oft mehr über einen Kranken aus als das allzu Offensichtliche.

Schließlich kam der Psychiater zu dem Schluss: »Die Patientin ist schwer depressiv, es besteht akute Suizidgefahr.«

»Können wir es verantworten, Sie auf der Inneren zu lassen, wenn Sie sie therapieren?«, wollte Dr. Norden von ihm wissen.

Dr. Möller hob die Schultern. »Sie können es versuchen. Aber ich denke, es wäre besser, sie in meine Klinik zu verlegen.«

Daniel Norden dachte kurz nach, dann beschloss er: »Ich möchte es zunächst bei der jetzigen Regelung belassen und wäre Ihnen dankbar, wenn Sie die Patientin hier behandeln würden, Herr Kollege. Ich weiß, das ist nicht der übliche Weg, aber der Kollege Berger kennt Frau Waldner schon lange und möchte ihr während der Behandlung Hilfestellung leisten.«

Dr. Möller wirkte nicht begeistert. »Sie laden sich da eine Bürde auf«, warnte er. »Eine Suizidgefährdung darf nicht auf die leichte Schulter genommen werden. Die Patienten entwickeln im Laufe der Zeit Routine darin, normales Verhalten vorzuspielen. Das hat nichts mit ihrem wahren Zustand zu tun. Nur ein geübter Psychologe kann diese Camouflage erkennen. Und das ist wichtig, um den Patienten nicht die Chance zu geben, sich doch noch auszuklinken.«

»Wir werden auf sie achten.«

»Das genügt nicht. Sie müssen sie ständig im Auge behalten, rund um die Uhr«, mahnte der versierte Psychiater. »Ich hatte erst kürzlich einen Fall, an dem ich selbst gescheitert bin. Ein Patient, der jahrelang drogenabhängig war und unter zahlreichen Zwangsneurosen litt. Er schien auf dem Weg der Besserung zu sein. Doch ich habe mich täuschen lassen. Er spielte den Genesenen, bis er die Gelegenheit hatte, sich einen letzten Schuss zu setzen. Ich konnte es nicht verhindern. Leider können wir den mentalen Zustand eines Kranken nicht so akkurat bestimmen wie seinen körperlichen. Das würde uns vieles erleichtern.«

Wenig später war das Gespräch beendet, und Dr. Berger kehrte zu Hanna Waldner zurück, die ihn mit einem abschätzigen Blick musterte und sich dabei ausschwieg.

»Du bleibst fürs Erste hier, Dr. Möller wird sich um dich kümmern und …«

»Der Seelenklempner ist ein Schwachkopf. Ich habe ihm nur Mist erzählt, und er hat ihn gekauft. So leicht möchte ich mal mein Geld verdienen.«

»Immerhin ist ihm aufgefallen, dass du einen Flirt mit Gevatter Hein am Laufen hast.«

»Wow, wie witzig.« Sie schnaubte verächtlich. »Und so wahr!«

»Deine Pläne werden allerdings vorerst auf Eis gelegt. Dafür sorge ich. Und zwar so lange, bis es dir wirklich wieder besser geht. Du musst gar nicht erst versuchen, mir etwas vorzumachen. Ich kenne mich mit Schmerzen und Trauer aus. Mich wirst du nicht an der Nase herumführen.«

»Erik, du hast dir viel vorgenommen. So forsch und entschlossen wie du bist, könnte es dir gelingen. Allerdings hat die Sache einen Haken. Du hast dir nämlich das falsche Objekt für deine Rettungsmission ausgesucht. Auch wenn es nicht in deinen Dickschädel reingeht: Ich will nicht gerettet werden!«

»Du kannst nichts dagegen tun.« Er lächelte ihr etwas vage zu. »Ich helfe dir, ob du willst oder nicht. Jetzt muss ich wieder auf meine Station zurück. Wir sehen uns dann morgen.«

Hanna musterte ihn mit verschlossener Miene und schwieg sich aus. Erst als Dr. Berger ihr Zimmer verlassen hatte, murmelte sie: »Ich fürchte, dir steht eine herbe Nie­derlage bevor …«

*

»Ich fühle mich gar nicht so schlecht. Vielleicht werde ich ja doch wieder gesund, und ihr habt euch geirrt.« Sebastian Brunner warf Dr. Rohde einen fragenden Blick zu. »Wäre das denn nicht möglich?«

»Das müsste dann schon an ein Wunder grenzen. Ich habe dir doch die Aufnahmen deines Herzens gezeigt, Bastian. Es ist einfach zu geschädigt, um sich erholen zu können. Daran kann auch die moderne Medizin nichts ändern.«

»Man hat aber schon von solchen Fällen gehört. Der Körper hat doch Sebstheilungskräfte.«

»Schon, aber die reichen in einem solchen Fall leider nicht aus. Bitte, Bastian, sei jetzt vernünftig und füge dich in das Unabänderliche. Du brauchst die Transplantation.«

»Nein, das will ich nicht. Allein die Vorstellung, dass ein anderer sterben muss, damit ich wieder gesund werde, ist für mich einfach unerträglich. Zumal das Leben mir nichts mehr bedeutet.«

»Und deine Frau? Bedeutet sie dir auch nichts mehr?«

Er senkte den Blick. »Das ist nicht fair, Chrissi.«

»Ich will auch nicht fair sein, ich will dich überzeugen, das Richtige zu tun. Und das ist in deinem Fall nun mal die Zustimmung zu einer Herztransplantation.«

Er schüttelte den Kopf. »Es bleibt beim Nein.«

Dr. Rohde nutzte ihre Mittagspause, um Irene Brunner ausfindig zu machen und anzurufen. Sie war ein wenig erstaunt, dass Sebastians Frau gleich bereit war, sich nach Feierabend mit ihr zu treffen. Am Telefon klang sie besorgt. Wusste sie nicht, wie es um ihren Mann stand? Christina fragte sich, ob Sebastian sie auch in diesem Punkt beschwindelt hatte.

Das Treffen mit Irene Brunner würde ihr hoffentlich Aufschluss darüber geben.

Sebastians Frau war eine hübsche, schlanke Blondine mit klaren blauen Augen. Sie wirkte zupackend und bodenständig und war Dr. Rohde gleich sympathisch. In Jeans und Pulli sah sie noch sehr jung und mädchenhaft aus.

»Sie sind Ärztin. Ist mein Mann krank?«, fragte sie als Erstes zögernd, so als fürchte sie sich vor der Antwort.

»Ja, das ist er, er ist sehr krank«, sagte Christina offen.

Irene erschrak sichtlich. Sie brauchte ein paar Sekunden, um sich zu fangen, dann wollte sie wissen: »Was hat er? Bitte, seien Sie ehrlich zu mir, Frau Dr. Rohde. Ich habe ihn eine Weile nicht gesehen, aber mir ist schon vorher aufgefallen, dass es ihm nicht gut geht. Er hat mir aber nicht sagen wollen, was mit ihm los ist.«

»Sie leben in Scheidung?«

Die junge Frau seufzte. Bekümmert erzählte sie: »Ich wollte das nicht. Ich habe zu Sebastian gesagt, wir stehen das zusammen durch. Die Firma, der Prozess, es geht doch da nur ums Geld. Irgendwie überstehen wir das. Aber er hat sich zu sehr vor mir geschämt. Er hat sich wohl wie ein Versager gefühlt, obwohl ich das nie so empfunden habe, keine Sekunde. Ich liebe meinen Mann. Doch ich konnte ihn nicht halten. Er meinte wohl, dass er mir mit der Scheidung einen Gefallen tut.«

Christina starrte ihr Gegenüber verdutzt an. Das klang doch ganz anders als die Version ihres alten Freundes!

»Bitte, sagen Sie mir, was mit ihm los ist!«

»Bastian braucht ein neues Herz.«

»Bastian? Sie kennen ihn besser?« Gleich ging sie auf Abstand, Enttäuschung und Eifersucht zeichneten ihren Blick. »So ist das also. Er schickt Sie wohl, damit ich die Trennung akzeptiere.«

»Er weiß nicht, dass ich hier bin. Es ist ein bisschen anders, als es aussieht. Ihr Mann und ich, wir kennen uns seit der Grundschule. Er ist mein ältester Freund. Wir sind uns rein zufällig in Bad Tölz über den Weg gelaufen, als ich dort ein Wochenende zum Skilaufen war. Er hatte einen Infarkt, übrigens war es nicht der Erste. Er bat mich, ihn mit nach München zu nehmen, in die Behnisch-Klinik, wo ich arbeite. Ich habe ihm den Gefallen getan, obwohl es vernünftiger gewesen wäre, wenn er sich in einer Klinik in Bad Tölz hätte behandeln lassen. Aber das wollte er nicht. Er sagte, dass er nicht unter Fremden und Menschen bleiben wolle, die er nicht kenne, denen er nicht vertraue.«

»Demnach vertraut er Ihnen.«

Dr. Rohde nickte. »Wie gesagt, wir kennen uns schon sehr lange. Ich habe ihn gründlich untersucht und noch die Meinung des Chefarztes eingeholt, um eine abgesicherte Diagnose zu stellen. Es ist definitiv so, dass er eine Transplantation braucht. Ein neues Herz.«

»Mein Gott, das ist schrecklich«, murmelte Irene zutiefst betroffen. »Ich hatte ja keine Ahnung …«

»Das ist leider nicht alles, es gibt noch ein weiteres Problem. Deshalb habe ich Sie angerufen. Ich brauche nämlich Ihre Hilfe.«

Irene Brunner wirkte verstört. »Was könnte denn da noch sein?«

»Ihr Mann weigert sich, der Transplantation zuzustimmen.«

»Was? Das glaube ich einfach nicht! Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn. Oder gibt es noch eine andere Behandlung?«

»Leider nein. Ohne ein neues Organ wird Ihr Mann sterben. Ihm bleiben dann nur noch wenige Monate. Seine Beschwerden werden sich verschlimmern, es wird ein Leidensweg sein, dessen Ende absehbar ist.«

Die junge Frau biss sich auf die Lippen, trotzdem konnte sie nicht verhindern, dass ihr die Tränen kamen. Christina war nun überzeugt, dass Sebastian ihr nicht die Wahrheit über seine Ehe gesagt hatte. Seine Frau liebte ihn nach wie vor, das war offensichtlich. Er hatte sie verlassen und die Scheidung eingereicht, weil er sich für sein Versagen schämte. Oder das, was er als sein Versagen betrachtete, denn er war ja nicht derjenige, der die Firma in den Konkurs getrieben hatte.

»Bastian war schon früher ein sehr sensibler Mensch, der mit Niederlagen nicht gut umgehen konnte«, sinnierte sie. »Er zieht sich dann zurück, gibt sich selbst die Schuld und braucht eine Weile, um sich zu fangen. Früher war das nicht weiter schlimm. Da ging es höchstens um eine vergeigte Schulaufgabe oder einen Test, der in den Sand gesetzt wurde. Heute geht es um sein Leben. Ich habe nicht einfach zusehen können, wie er aufgibt. Ich möchte ihm helfen. Und ich nehme an, Sie wollen das auch, nicht wahr?«

Irene schnäuzte sich und lächelte tapfer. »Ich bin sehr froh, dass Sie zu mir gekommen sind, Frau Dr. Rohde. Zum ersten Mal, seit Sebastian fort ist, habe ich wieder die Hoffnung, dass es doch noch nicht zu spät für uns ist, dass wir es schaffen könnten.« Sie drückte Christinas Hand. »Wenn wir es gemeinsam versuchen, werden wir Sebastian retten, nicht wahr?«

Die Medizinerin nickte. »Ja, das werden wir!«

*

Dr. Berger war gerade damit beschäftigt, einen gebrochenen Arm zu schienen, als Schwester Inga in den Behandlungsraum kam und ihn wissen ließ: »Dr. Schön lässt Sie bitten, so schnell wie möglich auf seine Station zu kommen.«

»Ich arbeite, falls Ihnen das entgangen ist«, erwiderte er ungehalten. »Ich komme, wenn ich Zeit habe.«

»Er sagt, es sei ein Notfall.«

Der Mediziner schwieg sich aus, arbeitete konzentriert weiter und verließ den Raum erst, als sein Patient versorgt war.

Dr. Schön saß auf heißen Kohlen. »Da sind Sie ja endlich!«, begrüßte er Erik Berger ärgerlich. »Vielleicht kümmern Sie sich mal um Ihre Patientin. Sie benimmt sich nämlich unmöglich.«

»Wenn ich mich nicht irre, ist das Ihre Station, Herr Kollege. Wieso übernehmen Sie das nicht?«, erwiderte er verstimmt.

»Das will ich Ihnen gerne verraten. Renitente Patienten, die meine Pflegekräfte terrorisieren, ihre Notdurft absichtlich ins Bett verrichten und schließlich versuchen, das Fenster einzuschlagen, um herauszuspringen, gehören in die Psychiatrie. Wenn Sie dem kein Ende setzen und dafür sorgen, dass Frau Waldner sich halbwegs gesittet benimmt, sehe ich mich gezwungen, mit dem Chef über die Verlegung der Patientin in die Klinik des Kollegen Möller zu reden.«

Dr. Berger musterte den Internisten mit verschlossener Miene, schließlich versprach er: »Ich kümmere mich darum.«

»Worum ich sehr bitten möchte!«

Als Erik Berger gleich darauf Hannas Krankenzimmer betrat, flog ihm als Erstes eine Tasse an den Kopf. Er rieb sich die Stirn und fragte: »Was soll der Quatsch, Hanna? Spinnst du?«

»Ich will hier raus!«, schrie sie. »Raus, raus, raus! Ich halte es keine fünf Minuten länger in diesem Käfig aus. Ich brauche was zu trinken, und ich will endlich wieder tun können, was mir gefällt. Wenn du mich zwingst, hier zu bleiben, schneide ich mir die Pulsadern auf!«

Er musterte sie kühl. »Womit?«

»Ich werde schon was finden!« Sie grabschte nach einer Scherbe der Tasse, die auf dem Boden gelandet war. Glitzernd starrte sie den Arzt an. »Damit vielleicht, was meinst du?«

»Du musst viel Kraft aufwenden, um damit einen Schnitt zu machen, der tief genug zum Ausbluten ist. Traust du dir das zu? Mit einem so stumpfen Schneidegerät tut das höllisch weh.«

Sie ließ die Scherbe fallen und ging auf Dr. Berger los. Wie besessen trommelte sie gegen seine Brust und zeterte: »Du verdammter Mistkerl! Es ist alles deine Schuld. Warum kannst du mich nicht in Ruhe lassen? Ich will, dass es endlich vorbei ist, ich habe genug gelitten!«

Mit einer beherzten Bewegung bekam er ihre Hände zu fassen und hielt sie eisern fest.

Während sie schrie und raste, blieb er ruhig, bis sie schließlich erschöpft verstummte. Dann ließ er sie los, und sie sank kraftlos zurück auf ihr Bett.

»Du hast jetzt zwei Optionen, Hanna«, ließ er sie wissen. »Entweder bleibst du hier, das geht aber nur, wenn du dich nicht weiter wie eine Irre aufführst. Oder aber der Kollege Schön überweist dich in die Klinik von Dr. Möller. Da haben sie Routine, was tobende Patienten angeht, und ihre Methoden, diese ruhig zu stellen. Du kannst es dir aussuchen.«

Sie starrte ihn kalt an. »Du willst mich also in die Psychiatrie abschieben. So weit ist es mit deiner Hilfe also nicht her. Ich bin ja auch nicht die pflegeleichte Patientin, an der du ein gutes Werk tun kannst. Mir geht es so richtig dreckig. Das ist dir auf Dauer zuwider, gib’s nur zu, du Heuchler. Dein ganzes Getue ist nur Profilierungssucht!«

»Jetzt hör mir mal zu, Hanna!« Er packte sie bei den Schultern und starrte sie streng an. »Ich habe mich dafür eingesetzt, dass du hier bleiben kannst, obwohl das gegen alle Regeln ist. Im Normalfall wärst du mit deiner Anamnese sofort in der Psychiatrie gelandet. Und ich glaube, da wärst du tatsächlich besser aufgehoben! Ich weiß selbst nicht, warum ich es mir in den Kopf gesetzt habe, dir zu helfen. Vielleicht war es eine Schnapsidee. Sentimentalitäten sind selten ein guter Ratgeber. Ich habe nur gehofft … Ach, reden wir nicht darüber. Nimmst du dich jetzt zusammen, oder legst du es darauf an, überwiesen zu werden? Ich warne dich, das ist kein Witz, sondern todernst. Also?«

Sie schaute ihn mit einem seltsam verschleierten Blick an, der Erik Berger an früher erinnerte, an die schöne, etwas unnahbare Hanna, der alle Männer zu Füßen gelegen hatten und die jedem mit ihren Schilleraugen den Verstand hatte rauben können.

»Warum tust du das für mich, Erik? Was versprichst du dir davon? Ich verstehe das einfach nicht.«

»Ich möchte dir helfen. Hast du wirklich alles vergessen, was unseren Beruf ausmacht? Du bist doch Ärztin, du hast den hippokratischen Eid abgelegt, du hast mal ebenso empfunden wie ich. Was ist geschehen, dass dir diese Denkweise dermaßen fremd geworden ist?«

»Das Leben ist geschehen. Es hat mir alle Ideale genommen und mich gebrochen. Es hat so lange auf mich eingeschlagen, bis nur noch ein blutendes Bündel von mir übrig war. Und auch das hatte keine Existenzberechtigung mehr. Das Leben hat mich zerstört, Erik. Der Mensch, den du gekannt hast, existiert nicht mehr. Diese schadhafte Hülle, alles, was noch von mir übrig geblieben ist, das ist nichts weiter als Restmüll. Ich werde dafür sorgen, dass diese Hülle auch noch verschwindet.«

»Wie kannst du so reden?«

»Und wie kannst du mir mit dem hippokratischen Eid kommen, nachdem mein Herz gebrochen und meine Seele zerstört worden ist? Dazu gehört eine Menge Unverschämtheit, auch Selbstgefälligkeit. Du weißt nichts von dem, was geschehen ist. Also hör gefälligst auf, dir eine Meinung über mich anzumaßen und mir Vorschriften zu machen!«

*

Nach dieser Auseinandersetzung beschloss Dr. Berger, auf eigene Faust etwas über Hanna Waldners Vergangenheit in Erfahrung zu bringen. Er ahnte, dass er ihr nur helfen könnte, wenn er darüber Bescheid wüsste, was geschehen war, was sie so sehr aus der Bahn geworfen hatte. Sie würde es ihm nicht sagen, sie schwieg eisern. Vielleicht war sie auch gar nicht mehr in der Lage, sich einem anderen Menschen anzuvertrauen. Sie schien mit allem abgeschlossen zu haben, deshalb wehrte sie sich auch so vehement gegen seine Hilfe. Kannte er die Hintergründe, konnte er gezielter versuchen, ihr beizustehen, ihr zumindest die Gewissheit zu geben, dass sie nicht allein war?

Am nächsten Tag nahm der Mediziner sich deshalb ein paar Stunden frei und fuhr zum Klinikum rechts der Isar, wo Hanna ihren Facharzt gemacht und einige Jahre gearbeitet hatte.

Die Leiterin der Pädiatrie dort war eine ältere Kollegin, die bereits kurz vor der Rente stand. Eine kleine, noch sehr agile Person mit wachen Augen und einem ansteckenden Lächeln. Das kurz geschnittene graue Haar und die Lachfalten um die Augen bildeten einen interessanten Kontrast zu ihrer spontanen jugendlichen Art. Dr. Vera Hundhammer war eine echte Persönlichkeit.

»Hanna Waldner, ja, sie war eine gute Ärztin, ich habe sie sehr geschätzt und es bedauert, sie zu verlieren.«

»Können Sie mir sagen, warum sie gekündigt hat?«

Dr. Hundhammer musterte ihn aufmerksam. Sie schien sich nicht sicher zu sein, was sie von Erik Berger zu halten hatte.

Der gab sich Mühe, nicht zu schroff zu wirken, wie es sonst seine Art war. »Ich habe mit Hanna zusammen studiert, kenne sie schon länger«, versuchte er, sein Anliegen verständlich zu machen und nicht einfach neugierig zu erscheinen. »Vor einer Weile ist sie bei mit in der Notaufnahme gelandet, in einem mehr als desolaten Zustand. Seither versuche ich, ihr zu helfen, aber sie lehnt jede Hilfestellung ab.«

»Trinkt sie noch?«, fragte die Ärztin mit ruhiger Stimme.

Dr. Berger war überrascht. »Sie wissen …«

»Was sich vor ein paar Jahren abgespielt hat, war eine schreckliche Tragödie. Die Kollegin Waldner verlor völlig die Kontrolle, deshalb musste ich ihr schließlich nahelegen, zu gehen. Ich habe ebenfalls versucht, ihr zu helfen, doch leider ohne Erfolg. Sie hat irgendwann aufgegeben und sich nur noch mit Alkohol betäubt. Ich habe mich oft gefragt, was wohl aus ihr geworden ist.«

»Eine hoffnungslose Trinkerin, die unter schweren Depressionen leidet und suizidgefährdet ist«, nannte Erik Berger die Dinge beim Namen. Dr. Hundhammer senkte den Blick, betrachtete angelegentlich ihre schmalen Hände und spielte mit den beiden Witwenringen an ihrer Rechten. Schließlich gab sie sich einen Ruck und berichtete: »Als Hanna auf meine Station kam, war sie eine hoffnungsvolle junge Ärztin. Sie hatte eine Gabe, mit den kleinen Patienten umzugehen, um die ich sie beneidete. Nie hat ein Kind in ihrer Gegenwart geweint. Sie hingen an ihr wie die Kletten. Sie war eine kluge Medizinerin und ein überaus herzlicher Mensch. Sie ­lernte hier einen Kollegen kennen und lieben. Thomas Ohlschläger war Chirurg, ein sympathischer junger Mann. Als die beiden heirateten, konnte man sie durchaus als Traumpaar bezeichnen. Hanna wurde bald schwanger und bekam eine kleine Tochter. Lilli. Ein Sonnenschein mit blauen Augen und blonden Locken. Alles, was Hanna tat, schien ihr zu gelingen, sie führte das perfekte Leben. Bis zu jenem Tag, an dem Lilli spurlos verschwand.« Dr. Hundhammer seufzte. »Die Kleine war drei Jahre alt. Es war ein schöner Sommertag, ein Wochenende. Die Ohlschlägers fuhren mit Lilli an die Isar. Sie grillten, trafen Freunde, genossen ihre Freizeit. Dann verstauchte sich in der Nähe ein Angler den Fuß. Thomas kümmerte sich um ihn, Hanna holte ihre Notfalltasche aus dem Auto. Lilli war kurz allein, nur ein paar Minuten. Als Hanna zurückkam, war das Kind fort. Sie und ihr Mann suchten, bis es dunkel wurde. Ihre Freunde halfen ihnen, schließlich verständigte man die Polizei. Doch das Kind blieb unauffindbar.«

»Was war geschehen?«, fragte Dr. Berger betroffen.

»Das weiß man bis heute nicht. Zunächst ging die Polizei davon aus, dass Lilli in der kurzen Zeit, in der sie unbeaufsichtigt war, ins Wasser gefallen, ertrunken und von der Strömung abgetrieben worden sei. Das ist zwar eigentlich eher unwahrscheinlich, denn die Isar ist dort flach und fließt sehr langsam. Aber für so ein kleines Kind hätte sie doch zur Gefahr werden können. Ein paar Kilometer flussabwärts gibt es eine Staustufe und ein Wehr. Dort fand man in einem Gitter Lillis rechten Schuh. Ein weiterer Beweis für die Unfalltheorie konnte aber nicht erbracht werden. Die Polizei hat dann mit sogenannten Mantrailer-Hunden gesucht. Sie folgten einer Spur, die weg vom Fluss führte, auf einen Parkplatz und danach bis zur Autobahn.«

»Um Gottes Willen. Ist sie entführt worden?«

»Davon ist wohl auszugehen. Danach ermittelte die Polizei noch jahrelang. Es gab sogar eine Soko, die sich mit dem Fall beschäftigte. Doch Lilli blieb verschwunden. Niemand hatte etwas gesehen, es gab keine Zeugen und keine Beweise. Vermutlich hat sie jemand in diesen wenigen unbeobachteten Momenten geschnappt und einfach mitgenommen. Wer und aus welchen Motiven, darüber möchte ich lieber nicht nachdenken.«

»Das ist schrecklich«, murmelte Dr. Berger mit rauer Stimme.

»Hanna und Thomas sind nicht damit fertig geworden. Ein paar Jahre später ließen sie sich scheiden, Thomas ging nach Norddeutschland. Hanna begann zu trinken, es wurde bald schlimmer. Ich habe noch eine Weile meine schützende Hand über sie gehalten, habe versucht, sie zum Entzug zu überreden. Ich wollte sie als Ärztin nicht verlieren. Und ich mochte sie auch privat sehr gern. Als mein Mann noch lebte, sind wir öfter zusammen essen gegangen, sie war häufig bei uns zu Besuch, später auch zusammen mit ihrem Mann und der Kleinen. Es war immer schön, sie um sich zu haben. Umso mehr bedauerte ich, ihr nicht helfen zu können. Sie kapselte sich ab in ihrem namenlosen Schmerz, ließ niemanden mehr an sich heran. Schließlich ging es nicht länger, ich musste ihr die Kündigung nahelegen. Ich habe noch eine Weile versucht, Kontakt zu halten, aber sie schloss mich aus, ging mir aus dem Weg. Sie wollte nichts mehr mit ihrem alten Leben zu tun haben. Ich glaube, sie wollte nur vergessen.«

Dr. Berger nickte. »Ja, das passt zu dem, was ich festgestellt habe. Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit, Frau Dr. Hundhammer.«

»Was werden Sie jetzt tun?«

»Nach allem, was ich nun weiß, müsste ich Hanna in die Psychiatrie überweisen. Ich kann es eigentlich nicht verantworten, sie in der Behnisch-Klinik auf der Inneren zu belassen. Aber ich möchte noch nicht aufgeben.«

»Sie sind ein guter Freund. Ich wünsche Ihnen alles Gute, Herr Kollege. Doch ich fürchte, Sie werden scheitern. In meiner langen Berufspraxis habe ich gelernt zu akzeptieren, dass man nicht jeden retten kann.«

»Ja, ich weiß. Trotzdem werde ich es versuchen.«

*

Bevor Dr. Erik Berger zur Behnisch-Klinik fuhr, machte er noch einen Abstecher zum Polizeipräsidium. Er wusste selbst nicht genau, was er sich davon erhoffte. Doch nun, da er Hannas Geschichte kannte, wünschte er sich einfach etwas Greifbares, einen Halt, den er ihr bieten, einen winzigen Lichtschimmer, den er in ihre Dunkelheit schicken konnte.

Hauptkommissar Gerd Woller gab sich zunächst einmal sehr zugeknöpft und verwies auf das Dienstgeheimnis, dem er sich verpflichtet fühlte.

»Ich kann Ihnen nicht einfach Details eines Falles erzählen, den ich bearbeitet habe. Wie stellen Sie sich das denn vor?«, fragte er ziemlich ungehalten.

Dr. Berger schaute den schlanken Mittfünfziger mit dem raspelkurzen eisgrauen Haar und den klugen Augen ruhig an.

»Ich weiß, was es bedeutet, an eine Schweigepflicht gebunden zu sein«, hielt er dem Kommissar entgegen. »Und ich bitte Sie ja nicht darum, Dienstgeheimnisse auszuplaudern. Lilli Ohlschlägers Mutter liegt in der Behnisch-Klinik, ich versuche, ihr zu helfen. Es will mir nicht gelingen, deshalb suche ich nach etwas, das … ihr vielleicht wieder Lebensmut geben könnte.«

»Da sind Sie bei mir leider an der falschen Adresse. Der Vermisstenfall ist bis heute ungeklärt.«

»Haben Sie die Sache denn aufgegeben?«

»Natürlich nicht. Wir haben durchaus auch ein Berufsethos, Herr Dr. Berger. Besonders wenn Kinder verschwinden, lassen wir nicht locker. Erwachsene klinken sich manchmal aus, lassen ihr altes Leben hinter sich, gehen einfach, ohne sich zu verabschieden und fangen irgendwo neu an. Bei Kindern ist das eher nicht der Fall. Und ein so kleines Mädchen wie Lilli Ohlschläger wäre auf eigene Faust nicht weit gekommen, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»Sie ist entführt worden, das steht doch wohl fest.«

»Nichts steht fest. Alles, was wir haben, sind Vermutungen. Es gab keine Augenzeugen, niemand hat gesehen, dass das Kind verschleppt wurde.«

»Es hat sich bestimmt nicht in Luft aufgelöst.«

Der Kommissar verzog ärgerlich den Mund. Er mochte diesen Arzt nicht, der hier einfach auftauchte und großspurig Dinge erfahren wollte, die ihn eigentlich nichts angingen. Doch er brachte es auch nicht über sich, Dr. Berger die Tür zu weisen.

Der Vermisstenfall Lilli Ohlschläger war ihm unter die Haut gegangen und verfolgte ihn auch nach all den Jahren, die nun vergangen waren, noch immer.

»Und die Spur, die die Hunde damals gefunden haben?«, hakte Erik Berger noch einmal nach. »Sie führte zur Autobahn.«

»Sie wissen erstaunlich gut Bescheid.«

»Die Kollegin Hundhammer hat mir die Geschichte erzählt.«

»Frau Ohlschlägers Vorgesetzte in der Klinik.«

»Der Fall ist Ihnen noch sehr präsent.«

»Natürlich, was denken Sie denn? Ich mache hier meinen Job, aber der ist mehr als Routine. Wenn ein Kind verschwindet, löst das meist eine Tragödie aus. Sehen Sie, Herr Dr. Berger, der gewaltsame Tod eines Kindes ist das Schlimmste, was Eltern erleben können. Schlimmer noch ist aber die Ungewissheit. Schmerz, Verzweiflung, Trauer, all das stumpft im Laufe der Jahre ab. Man lernt, damit zu leben, wie es so schön heißt. Aber niemals abschließen zu können, Tag für Tag, Nacht für Nacht mit der quälenden Frage zu leben, was geschehen ist, das zermürbt einen Menschen, das zerstört ihn. Deshalb beschäftigen wir uns auch immer wieder in regelmäßigen Abständen mit diesen Cold Cases. Kein Kollege geht gerne mit ungelösten Fällen in den Ruhestand. Aber manchmal lässt sich das nicht ändern.«

»Haben Sie in letzter Zeit noch mal in dem Fall ermittelt?«

»Das habe ich tatsächlich. Vor einer Weile tauchten Fotos eines Mädchens auf einer illegalen Webseite für Pädophile auf. Wir sind im Rahmen anderer Ermittlungen darauf gestoßen. Das Kind sah Lilli ähnlich, das Alter stimmte auch.«

»Sie meinen, Lilli könnte von einem Kinderschänder entführt worden sein?«, entsetzte Dr. Berger sich.

»Es wäre denkbar. Es war eine Spur und so etwas wie die Hoffnung, dass die Kleine noch lebt. Aber es war ein anderes Kind, wie sich schließlich herausstellte.«

»Es gibt also keine neuen Erkenntnisse, nichts, was ich Hanna sagen könnte, um ihr ein wenig Hoffnung zu machen.«

Der Kommissar seufzte. »Es tut mir leid, Herr Dr. Berger, ich kann Ihnen beim besten Willen nicht weiterhelfen. Aber Sie können mir ruhig glauben, dass wir die Kleine nicht vergessen haben. Ihre Akte wird in regelmäßigen Abständen durchgearbeitet. Wir geben die Hoffnung nie auf. Es gab schon Fälle, die noch nach mehreren Jahrzehnten geklärt wurden.«

»Mag sein.« Erik Berger nickte. »Nur wird das meiner Patientin kein wirklicher Trost sein …«

*

»Bastian, wie fühlst du dich?« Dr. Christina Rohde trat an das Krankenbett ihres alten Freundes und überprüfte seine Vitalwerte, bevor sie sich einen Rollhocker heranzog, um sich zu setzen. Sebastian Brunner lag blass und matt in den weißen Kissen. Und so klang auch seine Stimme, als er versicherte: »Es geht schon. Ich freue mich immer, wenn ich dich zu Gesicht bekomme, Chrissi. Das ist sozusagen für mich der Höhepunkt des Tages. Albern, oder?«

»Du schmeichelst mir. Aber ich finde, immer nur von seiner Ärztin besucht zu werden, das ist doch ein bisschen wenig. Draußen wartet noch jemand, der gerne nach dir sehen würde.«

Der junge Mann machte ein fragendes Gesicht. »Wer sollte mich denn hier besuchen wollen? Vielleicht der Konkursverwalter?«

»Wie wär’s mit deiner Frau?«

Seine eben noch entspannte Miene verhärtete sich sofort. »Ich will Sie nicht sehen. Schick sie bitte weg.«

»Aber …«

»Hörst du schlecht? Irene und ich leben in Scheidung. Wir haben uns nichts mehr zu sagen. Und ich will nicht, dass sie mich in diesem Zustand sieht.«

»Warum? Hast du plötzlich kein Vertrauen mehr zu mir?«

Sebastian wurde blass, sein Blick begann zu flackern, als er den Kopf wandte und zögernd zur Tür schaute, wo seine Frau nun erschienen war. Christina Rohde zog sich dezent zurück.

Irene trat neben das Bett ihres Mannes und schaute ihn aufmerksam an. Er sah Angst und Sorge in ihren vertrauten Augen, aber auch all die Liebe, die sie ihm unvermindert entgegenbrachte. Er wusste das. Doch das machte es nicht einfacher für ihn; im Gegenteil. Beschämt senkte er den Blick.

»Was willst du?«, fragte er so abweisend, wie es ihm möglich war. »Gibt es Probleme mit der Scheidung? Ich dachte, unsere Anwälte hätten alles im Griff.«

»Deshalb bin ich nicht hier. Ich vermisse dich, Sebastian. Und ich bin deiner alten Freundin sehr dankbar, dass sie mir gesagt hat, was mit dir los ist.«

»Ich werde ihr die Freundschaft kündigen«, knurrte er.

»Wieso? Weil sie uns einen Gefallen getan hat? Die Trennung war doch totaler Schwachsinn. Ich liebe dich, ich möchte bei dir sein. Und ich muss dir nur in die Augen sehen, um zu wissen, dass du ebenso empfindest.«

»Du irrst dich. Es ist aus, Irene. Wir haben keine gemeinsame Basis mehr. Geh einfach und vergiss mich, das ist das Beste.«

»Für wen? Für mich ganz bestimmt nicht. Und du willst hier allein in deinem Bett liegen und den Helden spielen? Das nehme ich dir nicht ab. So, wie es dir jetzt geht, musst du Angst haben. Und dich nach jemandem sehnen, der dir beisteht.«

Er bedachte sie mit einem trotzigen Blick. »Chrissi kümmert sich um mich. Ich habe alles, was ich brauche, danke.«

»Das glaubst du doch wohl selbst nicht.«

»Und was spricht dagegen?«

»Wenn du so zufrieden und glücklich bist, warum lehnst du die Transplantation dann ab?«

»Woher weißt du das? Sie hatte kein Recht …«

»Jetzt hör aber auf! Es reicht.« Sie musterte ihn ernst. »Nico hat die Firma abgewirtschaftet und sich dann aus dem Staub gemacht, er hat dich in diesem ganzen Schlamassel sitzen lassen. Das war nicht deine Schuld. Die Polizei sucht bereits nach ihm. Sie wissen, dass er den Konkurs verschleppt hat, um sich weiter bereichern zu können. Du hast damit nichts zu tun.«

»Ich hafte aber für die Hälfte von allem.«

»Es wird sich eine Lösung finden, dafür haben wir schließlich Anwälte. Bitte, Sebastian, es ist nur Geld! Du kannst eine neue Firma gründen. Mit deinen Fähigkeiten wirst du immer Erfolg haben. Aber dich einfach hinzulegen, um zu sterben, ist der falsche Weg, glaub mir!«

»Ich weiß nicht … Es ist alles so verfahren. Ich sehe keinen Ausweg aus dieser Misere. Und selbst wenn ich der OP zustimme, wer weiß, ob es überhaupt ein passendes Spenderorgan gibt.«

Irene nahm seine Rechte und drückte sie leicht. Mit einem feinen Lächeln schlug sie vor: »Warten wir es ab. Du musst dich nur für das Leben entscheiden. Alles andere wird sich finden.«

»Wenn du das sagst, klingt es ganz einfach. Aber das ist es nicht. Ich bin weggegangen, um dich nicht in diese ganze unsägliche Geschichte hineinzuziehen. Und ich glaube nach wie vor, dass es die richtige Entscheidung war. Du solltest mich vergessen, Irene. Du findest einen Besseren als mich, wirst wieder glücklich und sorgenfrei leben.«

»Ich will aber dich, Sebastian. Ich liebe dich.«

Er seufzte und bat: »Mach es mir doch nicht so schwer …«

»Das tust du selbst. Du musst dich nur für das Richtige entscheiden, dann wird alles andere ganz einfach.«

»Ich kann nicht, Irene. Ich habe mich schon entschieden.«

»Na schön, wie du willst. Ich kann auch stur sein. Ich komme dich morgen wieder besuchen. Und übermorgen und jeden weiteren Tag, den ich brauchen werde, um dich zur Vernunft zu bringen.« Sie lächelte schmal. »Du bist mich einmal los geworden. Noch mal wird dir das nicht gelingen.«

*

Erik Berger betrat das Chefbüro und setzte sich, nachdem Dr. Norden ihm Platz angeboten hatte, vor dessen Schreibtisch. »Ich weiß nicht mehr weiter«, gab er offen zu. »Alles, was ich bisher versucht habe, um Hanna zu helfen, hat nicht funktioniert. Ich dachte, ich komme weiter, wenn ich die Hintergründe kenne. Aber das hat auch nichts gebracht.«

»Was haben Sie erfahren?«, fragte der Chefarzt interessiert.

Der Leiter der Notfallambulanz berichtete ihm daraufhin ausführlich von seinen Gesprächen mit Dr. Hundhammer und dem Kommissar, der den Vermisstenfall Lilli Ohlschläger bearbeitet hatte. Dr. Norden hörte ihm aufmerksam zu. Erst als Dr. Berger verstummte, merkte er an: »Der Kollege Möller hat heute erste Fortschritte gemacht. Frau Waldner sprach über den Verlust ihres Kindes und das Ende ihrer Ehe.«

»Sie hat sich ihm geöffnet?«, wunderte Dr. Berger sich.

»Es hat den Anschein. Ich schlage vor, Sie reden heute auch noch mit ihr. Sie kennen sie schließlich gut. Der Kollege Möller war nicht hundertprozentig davon überzeugt, dass sie wirklich ehrlich zu ihm war.«

»Sie meinen, Sie kooperiert nur, um von hier fortzukommen?«

»Es wäre denkbar. Vor allem, weil sie sich Ihnen gegenüber so abweisend gibt. Man würde annehmen, dass sie sich bei Ihnen zuerst öffnet, schließlich sind Sie ein vertrauter Mensch, im Gegensatz zu dem Kollegen Möller.«

»Wenn sie nur etwas vorspielt, werde ich es herausfinden!«

Dr. Norden war zufrieden. »Halten Sie mich auf dem Laufenden«, bat er Erik Berger noch, bevor dieser sein Büro verließ.

Hanna Waldner gab sich gelassen, als er wenig später ihr Krankenzimmer betrat. »Du musst mich nicht jeden Tag besuchen. Dr. Möller ist ganz okay, ich komme jetzt mit ihm zurecht. Es geht mir besser. Das war es doch, was du wolltest.«

»Das nehme ich dir nicht ab.«

»Na und? Ist mir egal.«

Dr. Berger musterte sein Gegenüber aufmerksam. Es dauerte nicht lange, bis Hanna nervös wurde. Sie stand auf, begann, unruhig im Raum hin und her zu gehen und vermied es dabei, den Mediziner anzusehen.

»Wenn du dir einbildest, dass du auf diese Weise schneller hier herauskommst, muss ich dich enttäuschen«, stellte er schließlich in aller Deutlichkeit klar. »Deine Depressionen verschwinden nicht von jetzt auf gleich. Ich wette, du wirst nicht mal fünf Minuten lang trocken bleiben, sobald du die Behnisch-Klinik verlässt. Welchen Sinn hätte das?«

»Mein Leben ist nun mal sinnlos, damit solltest du dich endlich abfinden, Erik. Ich will deine Hilfe nicht. Und ich werde alles tun, um hier so schnell wie irgend möglich herauszukommen. Selbst wenn ich Möller dafür wochenlang was vorspielen muss. Es ist mir egal, ich werde mein Ziel erreichen!«

»Und das wäre?«

Sie lächelte maliziös. »Mich totzusaufen, schon vergessen?«

Dr. Berger senkte den Blick und rieb sich die Stirn. »Davon wird Lilli wohl auch nicht mehr lebendig.«

»Was hast du gesagt?« Sie starrte ihn fassungslos an. »Wie kommst du dazu …«

»Ich habe mit deiner früheren Chefin geredet. Und mit dem Kommissar, der den Vermisstenfall bearbeitet. Ich musste wissen, was geschehen ist, was dich so sehr verändert hat, Hanna. Du wolltest mir nichts sagen, deshalb habe ich nachgeforscht.«

»Dazu hattest du kein Recht!« Sie schüttelte den Kopf, schlang die Arme um sich und schluchzte: »Das hättest du nicht tun dürfen, das geht dich nichts an, es ist allein meine Sache.«

»Aber, Hanna …«

»Lilli war meine Tochter, mein Kind! Jemand hat sie genommen, und wer weiß, was er ihr angetan hatte. Sie war noch so klein, sie …« Hanna schlug die Hände vors Gesicht und weinte hemmungslos. »Ich wollte nicht mehr leben ohne sie. Und ich will es auch jetzt nicht mehr! Ich will es nicht, hörst du, ich will es nicht!«

»Hanna, beruhige dich. Ich verstehe deinen Schmerz.«

»Nichts verstehst du, gar nichts!«

»Meine Frau starb an Eklampsie, der kleine Junge, den sie unter dem Herzen getragen hat, wurde nie geboren. Ich weiß, was es heißt, ein Kind zu verlieren!«

»Es ist ganz was anderes, ganz was anderes! Du hast dieses Kind nicht gekannt. Lilli war neun Monate lang ein Teil von mir. Als sie geboren wurde, hatte sie die blauesten Babyaugen, die man sich denken kann. Und goldene Locken. Ich erinnere mich an ihr Lachen, an die ersten Milchzähne, an den Geruch von Babypuder, und wie sie zum ersten Mal Mama sagte. Ich sehe sie noch an der Isar sitzen, auf der dicken Picknickdecke mit den Fransen. Und dann war die Stelle leer. Da war nur noch eine kleine Kuhle, wo sie gesessen hatte. Kalt und leer. Sie …«

Dr. Berger fing Hanna auf, als sie zusammenbrach. »Jede Nacht sehe ich ihr Gesicht vor mir. Immer fragt sie mich: »Mama, warum hast du nicht besser aufgepasst?« Ich halte diesen Schmerz nicht mehr aus, ich kann es einfach nicht mehr ertragen. Bitte, Erik, lass mich gehen, lass mich endlich sterben!« Sie weinte wie ein Kind, zitternd und so verzweifelt, dass es für einen Moment lang selbst über Dr. Bergers Kräfte ging. Dann hob er sie hoch und legte sie aufs Bett. Nach einer Beruhigungsspritze schlief sie schließlich ein.

Als der Notfallmediziner das Krankenzimmer verließ, brauchte er eine Weile, um sich zu sammeln. Bevor er auf seine eigene Station zurückkehrte, schaute er ins Ärztebüro und sagte zu Dr. Schön: »Wir sollten morgen mit dem Chef reden. Ich denke, es ist das Beste, wenn wir Frau Waldner überweisen. Ich fühle mich dem Fall nicht länger gewachsen.«

Alexander Schön nickte. Dr. Berger hörte keinen Widerspruch.

*

»Ich würde gern noch kurz mit Ihnen reden, Frau Kollegin«, sagte Daniel Norden am nächsten Tag nach der Visite zu Dr. Rohde. Diese nickte und bot an, ins Ärztebüro auf ihrer Station zu gehen. Die Chirurgie bildete stets den Abschluss der Visite.

Dr. Norden war einverstanden und folgte ihr.

»Wir haben ein Spenderorgan für Sebastian Brunner«, ließ er sie dann wissen.

Die Chirurgin war einen Moment lang perplex, dann murmelte sie bewegt: »Das ist ein echter Glücksfall. Und so bald schon …«

»Ja, es passt alles. Ich wollte Sie sofort informieren, noch bevor ich mit Prof. Bernhard rede. Immerhin steht noch immer die Zustimmung des Patienten aus. Hat sich denn mittlerweile etwas an seiner Haltung geändert?«

Christina Rohde seufzte. »Ich kann es Ihnen nicht sagen. Obwohl ich alles versucht habe, um ihn von der Notwendigkeit der Transplantation zu überzeugen, war er die ganze Zeit noch ablehnend. Vielleicht wird er zustimmen, wenn er hört, dass das Organ bereitsteht.«

»Seine Frau kümmert sich nun wohl um ihn, nicht wahr?«

»Sie besucht ihn jeden Tag.«

»Woher rührt der Gesinnungswandel? Sie sagten doch, dass sie ihn verlassen hat und die Scheidung wolle.«

»Das hat Bastian mir so erzählt. Aber die Wahrheit sieht ein bisschen anders aus. Seine Frau liebt ihn, die Trennung ging nicht von ihr, sondern von ihm aus. Und sie wusste auch nichts von seiner Erkrankung, bevor ich mit ihr geredet habe.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Sehen Sie, für einen Außenstehenden ist es auch nicht ganz einfach, das nachzuvollziehen. Bastian hat sich vor seiner Frau geschämt, sich wie ein Versager gefühlt, als seine Firma zusammenbrach. Und nachdem er auch noch erkrankt war, wollte er nur weg, denn er hatte das Gefühl, sie schonen zu müssen. Er wollte alles, was auf ihn zukam, allein durchstehen.«

»Sehr ehrenwert, aber wenig realistisch.«

»Mag sein, doch das ist so seine Art. Ich glaube, ganz allmählich gewinnt seine Frau nun wieder Einfluss auf ihn. Er ist in den letzten Tagen aufgeblüht. Zuerst hat er ihre Besuche abgelehnt. Nun wartet er schon darauf, dass sie kommt. Mit ein wenig Geschick wird es ihr hoffentlich gelingen, ihn auch zu der Transplantation zu überreden. Ich werde sie gleich anrufen.«

Irene Brunner war ganz aus dem Häuschen, als Dr. Rohde ihr Bescheid sagte. Sie versprach, sofort vorbeizukommen.

Sebastian war weniger begeistert. »Dieses Herz, das wird bestimmt ein Leben retten«, meinte er lapidar. »Aber nicht meins. Ich habe dir doch gesagt, dass ich die OP nicht will, Chrissi. Und daran hat sich nichts geändert.«

»Aber ich dachte …«

»Hör mir mal zu. Wenn ich zustimmen würde, wäre das ein riesiger Aufwand. Ich müsste lange in die Reha, und niemand kann sagen, ob ich wirklich wieder ganz gesund werde. Das will und kann ich meiner Frau nicht zumuten, zusätzlich zu allem anderen. Das geht einfach nicht, sieh es doch ein.«

»Irene liebt dich, Bastian. Sie war überglücklich, als ich ihr gesagt habe, dass es ein Spenderherz gibt. Sie kommt gleich her. Ich denke, das Beste wird sein, wenn du ihr das alles selbst sagst. Es betrifft sie ja direkt, denn du hast vor, sie schon bald zur Witwe zu machen.«

»Das klingt, als wäre es meine Schuld.«

»Ist es ja auch. Du verweigerst eine lebenswichtige Behandlung. Wie würdest du das denn nennen?«

»Ich habe mich entschieden, und dabei bleibt es.«

Dr. Rohde hob die Schultern und tat gleichmütig. »Wie du meinst«, war alles, was sie noch sagte, dann räumte sie das Feld. Obwohl sie sich über die sture Haltung ihres alten Freundes sehr ärgerte, ließ sie sich doch nichts anmerken. Denn sie war überzeugt, dass Irene Brunner ihrem Mann gehörig den Kopf waschen und ihn letztlich zur Vernunft bringen würde. Und sie sollte sich nicht getäuscht haben …

Als Irene wenig später Sebastians Krankenzimmer betrat, döste dieser vor sich hin. Er erschrak, denn sie umarmte ihn ohne Vorwarnung stürmisch, küsste ihn und jubelte: »Jetzt wird alles gut, du wirst es sehen! Wir stehen das zusammen durch. Und wenn du wieder gesund bist, fangen wir einfach neu an.«

»Irene …« Er musterte sie abweisend. »Wie kannst du mich denn so erschrecken? Hast du vielleicht vergessen, dass ich schwer herzkrank bin?«

»Deine alte Pumpe wird ausgetauscht, mein Schatz«, scherzte sie gut gelaunt und übersah einfach seine Leidensmiene. »Daran führt nun kein Weg mehr vorbei.«

»Ich habe Christina schon gesagt, dass ich den Eingriff nicht will. Das ist endgültig«, erklärte er reserviert.

»Wie bitte?« Die junge Frau musterte ihn, als halte sie ihn für übergeschnappt. »Das kommt doch gar nicht infrage.«

»Es ist mein Leben, Irene. Und meine Entscheidung.«

»Du bist wohl verrückt geworden. Hast du eine Ahnung, wie sehr der Chefarzt sich engagiert hat, um ein neues Herz für dich zu beschaffen? Was für ein Glück du hast, dass es so schnell geklappt hat? Und da willst du einfach aufgeben? Tut mir leid, aber ich begreife dich nicht!«

»Das habe ich auch nicht erwartet.«

»Du beharrst auf deinem dummen, kindlichen Trotz. Bilde dir nur nicht ein, dass du damit eine Heldentat begehst. Das ist nichts weiter als Unsinn!«

»Ich darf doch sehr bitten …«

»Abgelehnt!« Irene stemmte die Hände in die Hüften und blitzte ihre bessere Hälfte grimmig an. »Dein dummer Stolz, den kannst du im Museum ausstellen! Ich habe einen Mann geheiratet, keine Grundsatzdiskussion. Wir haben ein paar Probleme in unserem Leben, das kommt vor. Eine Firma, die pleite geht, eine Krankheit. Das sind Dinge, die viele Menschen mitmachen, mit denen sie umgehen müssen. Denkst du, die nehmen sich alle einen Strick? Ganz bestimmt nicht. Denn das ist nichts anderes als feiges, verlogenes Ausweichen. Und dafür habe ich nicht das kleinste bisschen Verständnis, dass du es nur weißt!«

»Ich tue es für dich, Irene, aus Rücksicht.«

»So ein Quatsch! Ich habe keine Lust, schon Witwe zu werden. Und es besteht auch keine Veranlassung. Also nimm dich gefälligst zusammen und sieh zu, dass du die OP hinter dich bringst. Und während der Reha machst du dir schon mal ein paar Gedanken über eine neue Geschäftsidee. Wir müssen schließlich von etwas leben. Ich kümmere mich inzwischen um die alte Firma. Wir haben einen fähigen Anwalt. Und falls es dich interessiert: Nico sitzt seit vorgestern in Auslieferungshaft auf Ibiza. Er kann sich nicht länger davor drücken, die Verantwortung für das zu übernehmen, was er angerichtet hat.«

Sebastian sagte nichts, musterte seine Frau nur unschlüssig.

»Also, was ist jetzt? Wirst du endlich vernünftig? Oder muss ich dich erst entmündigen lassen, damit diese OP gemacht werden kann?«

»Das würdest du nicht tun. Und damit kommst du nicht durch.«

Sie musterte ihn entschlossen.

»Wollen wir wetten?«

»Aber, Irene, so kenne ich dich gar nicht. Ich weiß wirklich nicht, was ich davon halten soll.«

Sie setzte sich an sein Bett, nahm seine Rechte in ihre Hände und schaute ihn ruhig an, als sie zugab: »Ich war total glücklich, als Christina Rohde mich angerufen hat. Eigentlich bin ich hergekommen, um mich mit dir zusammen zu freuen. Darüber, dass du eine zweite Chance kriegst, dass unser gemeinsames Leben noch nicht vorbei ist. Und ich würde so ziemlich alles tun, um dich endlich zur Vernunft zu bringen. Bitte, Sebastian, lass dich operieren. Tu es mir zuliebe. Das ist das Einzige, worum ich dich bitte. Ich kann mir ein Leben ohne dich nicht vorstellen. Und ich will es auch nicht.«

Er lächelte ein wenig, als er ihr zugestand: »Du kannst wirklich sehr überzeugend sein, wenn du so do­minant auftrittst, ungewohnt, aber doch reizvoll.«

»Na warte, ich werde dir gleich …«

»Schon gut, war nur ein Scherz. Also schön, ich gebe nach. Wenn es dir so viel bedeutet, lasse ich mich operieren.«

»Gott sei Dank!«, seufzte Irene da zutiefst erleichtert und fiel ihrem Mann so stürmisch um den Hals, dass dieser sie um ein wenig Rücksicht bat.

»Noch bin ich nicht belastbar, vergiss das nicht.«

Sie lächelte weich, küsste ihn und versicherte: »Ich kann warten. Jetzt weiß ich nämlich, dass alles gut werden wird.«

*

Dr. Norden warf Alexander Schön einen fragenden Blick zu und stellte fest: »Es ist Ihre Entscheidung, Herr Kollege, ob Sie auf der Verlegung der Patientin beharren.«

»Nicht ganz. Der Kollege Berger hat mich quasi gedrängt …«

»Es geht nicht mehr anders, Dr. Norden«, erklärte dieser bedrückt. »Ich habe wirklich alles versucht, aber die Situation ist mittlerweile völlig außer Kontrolle. Deshalb bin ich der Meinung, dass Frau Waldner in der Psychiatrie besser und umfassender geholfen werden kann als hier in der Behnisch-Klinik. Der Kollege Möller war ja von Anfang an dafür, sie zu verlegen. Ich habe es auf eigene Faust versuchen wollen, das war ein Fehler, den ich bereue.«

»Sie haben sich sehr engagiert, das ist nie verkehrt.«

»Wenn es sinnlos ist, sogar schädlich, dann schon.«

Dr. Norden seufzte. »Also schön, wie Sie wollen. Ich rede mit dem Kollegen Möller. Von meiner Seite steht einer Verlegung der Patientin in die Psychiatrie nichts im Wege. Ich hoffe nur, wir tun das Richtige, Kollegen.«

»Ich bin davon überzeugt«, versicherte Dr. Berger. Er zögerte kurz, dann bat er: »Allerdings wäre es mir lieber, wenn ich vorher mit Frau Waldner darüber reden könnte. Ich möchte nicht, dass sie es so nebenbei erfährt.«

»Einverstanden. Dr. Möller wird sie morgen abholen.«

Erik Berger wäre diesem Gespräch gerne ausgewichen. Er hatte kein gutes Gefühl dabei, befürchtete, alles nur noch schlimmer zu machen. Doch er war es Hanna schuldig, wollte ihr so ein letztes Mal beweisen, dass ihm an ihr lag, er sich um sie sorgte.

Die Patientin lag apathisch in ihrem Krankenbett, als der Mediziner den Raum betrat. Sie reagierte auch nicht, als er sie ansprach. Erst nach einer ganzen Weile wandte sie langsam den Kopf und schaute ihn ausdruckslos an. Er erschrak über das Ausmaß des Schmerzes, der in ihrem Blick lag, und der in seltsamem Kontrast zu ihrer offensichtlichen Apathie zu stehen schien. Behutsam erklärte er: »Du wirst morgen verlegt. Dr. Möller möchte sich intensiver um dich kümmern, das geht hier nicht. Deshalb nimmt er dich mit in seine Klinik.«

»So?« Hanna hob lethargisch die Schultern. »Von mir aus.«

»Ich möchte nicht, dass du denkst, ich hätte dich einfach aufgegeben. Es wäre mir lieber gewesen, wenn du bleiben könntest. Aber …«

»Ist schon gut, brich dir nichts ab. Ich weiß selbst, dass ich ein Fall für die Psychiatrie bin. In deiner ordentlichen Klinik habe ich nichts zu suchen. Seelische Wracks wie mich sperrt man weg. Und das ist auch besser so.«

»Hanna, bitte. Versuch es zu verstehen.«

»Was denn? Ich mache dir keinen Vorwurf. Du kannst ja nichts dafür. Es war einfach ein dummer Zufall, dass ich ausgerechnet auf deiner Station gelandet bin, als ich schon fast jenseits von Gut und Böse war. Ein anderer hätte mich gleich in die Klapse gesteckt.«

»Ich wünschte, ich könnte mehr tun.«

»Schon okay. Du hast mir bewiesen, dass dir an mir liegt. Das ist ein schönes Gefühl. Leider bedeutet es mir nichts mehr. Aber ich weiß deine Bemühungen trotzdem zu schätzen.«

»Wenn du willst, begleite ich dich morgen.«

Sie musterte ihn nachdenklich, dann tat sie etwas, das er nicht erwartet hatte. Sie lachte. Es war tatsächlich wieder jenes perlende Lachen, das einst so unverkennbar zu ihr gehört hatte. Fast wie eine Erinnerung an etwas Verlorenes.

»Nein, das wirst du ganz bestimmt nicht tun«, sagte sie zweideutig. »Und jetzt lass mich allein, ich bin müde.«

Er fühlte sich plötzlich überflüssig und ging ohne Widerrede. Als er aber die Tür des Krankenzimmers hinter sich zuzog, befiel ihn unvermittelt und ohne ersichtlichen Grund ein kaltes Gefühl von Endgültigkeit. Dr. Berger war ein Verstandesmensch. All die Emotionen, die dieser Fall für ihn mit sich gebracht hatte, irritierten ihn und machten ihm zu schaffen. Doch dieses Gefühl war anders. Es versetzte ihn in Angst. Fast wie eine Ahnung, wie das Fanal von kommendem Unheil. Auch wenn er nicht sagen konnte, woher es stammte und was es bedeutete …

*

Nachdem Erik Berger gegangen war, stand Hanna auf und trat hinter das Fenster. Sie starrte eine ganze Weile hinaus in die Abenddämmerung, die sich allmählich über München senkte. Der Himmel war rauchblau, über dem Horizont, dort, wo sich das typische Panorama der bayerischen Hauptstadt mit den charakteristischen Zwillingstürmen der Liebfrauenkirche abmalte, lag ein sanfter Rosaton am Firmament. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die ersten Sterne flimmerten und der Mond aufging. Hanna fragte sich, ob es vielleicht eine Vollmondnacht werden würde. Sie wusste es nicht. Welches Datum, welche Uhrzeit, wie die Gestirne standen, all das hatte sie lange nicht mehr gekümmert. Seit die Welt sie am Boden einer Flasche verließ, hinter einem Nebel aus vierzig Prozent Alkohol versank, war ihr alles einerlei geworden. Sie sah nun nicht nur die Stadt, über der ein weiterer kurzer Wintertag sich dem Ende zuneigte, sie sah auch ihr Spiegelbild. Schwach nur, doch es genügte, um all die Veränderungen wahrzunehmen, die ihr ebenfalls egal gewesen waren, als sie im dauerhaften Rausch Vergessen von Schmerz und Verzweiflung gesucht hatte.

Nun schaute sie zum ersten Mal seit langer Zeit wieder hin. Sie sah ein Gesicht, das kaum noch Ähnlichkeit mit dem hatte, das ihr ein Leben lang aus dem Spiegel entgegengelächelt hatte. Damals, als Thomas noch bei ihr gewesen war. Als sie eine Familie waren und Lilli …

»Du bist schön, Hanna«, das hatte ihr Mann oft gesagt. Er hatte sie geliebt, doch es waren nur Äußerlichkeiten gewesen. Und als die Wunden auf ihrer Seele anfingen, sich in ihren Augen, ihrem Gesicht abzuzeichnen, da war er gegangen, hatte einfach aufgesteckt. Zu viele Probleme, zu viel Drama. Die Kleine war fort, das war schlimm, zweifellos. Doch das Leben ging weiter. Für ihn auf jeden Fall.

Wo er nun war, würde er gewiss glücklich sein oder das, was er dafür hielt. Befreit von den Schatten der Vergangenheit, von dem Kind, das er nicht hatte aufwachsen sehen, von der Frau, die nur noch weinen konnte. Er hatte sie im Stich gelassen, aber sie machte es ihm nicht mehr zum Vorwurf.

Lange war Hanna bitter gewesen. An diesem Winterabend aber legte sich dieses Gefühl, wurde schwächer, verschwand einfach. Es nahm alle anderen Emotionen mit, ließ nur Leere zurück. Stille. Und vielleicht zum ersten Mal, seit Lillis Schuh im Gitter der Staustufe gefunden worden war, eine Ahnung von Frieden. Hanna lächelte. Auch das hatte sie lange nicht mehr getan. Sie empfand eine leise Dankbarkeit Erik Berger gegenüber. Er hatte ihr die Entscheidung leicht gemacht. Bevor sie gehen musste, bevor sie in ein Zimmer wechselte, dessen Fenster vergittert war, bevor man auf sie aufpassen und sie zwingen würde, weiter zu existieren, konnte sie endlich den letzten Schritt tun. Der letzte Winterabend also.

Keine Bitterkeit, keine Trauer, keine Schmerzen. Sie war vom Alkohol losgekommen und ganz klar im Kopf. Sie wusste, dass es ihre Krankheit war, die Depressionen, die ihr diese Lösung zeigten und sie ermunterten, sie zu wählen. Und sie tat es gern. Was immer kommen würde, die Qual des Hier und Jetzt würde enden, an diesem Abend, in dieser Nacht.

Als die Schwester kam, ihr Tabletten und einen Schluck Wasser brachte, um sie herunterzuspülen, spielte sie ein letztes Mal die geläuterte Patientin, die tat, was man von ihr erwartete. Sie senkte den Blick, denn die Schwester musterte sie aufmerksam. Nur nicht auffallen, keinen Verdacht erregen. Nicht jetzt, nicht so kurz vor dem Ziel.

Endlich war Hanna wieder allein, setzte sich aufs Bett und starrte blicklos vor sich hin. Ein letztes Mal ließ sie die Erinnerung an das Unsägliche zu, zum ersten Mal seit langer Zeit in nüchternem Zustand. Der Schmerz in ihrem Innern war unverändert stark, ihr Herz blutete, die Seele schrie. Nichts hatte sich geändert. Und nichts würde sich ändern in Dr. Möllers Klinik, zwischen Gerede und Medikamenten. Nur sie allein konnte es ändern, und sie war fest entschlossen, es zu tun.

Lange saß Hanna so da, ließ die Zeit vergehen, wartete auf die Nachtschwester. Nachdem diese ihre Runde gemacht hatte und im Schwesternzimmer verschwunden war, wurde es allmählich Zeit.

Mit erstaunlicher Ruhe kleidete Hanna sich an und verließ auf leisen Sohlen ihr Krankenzimmer. Es war still auf dem leeren Klinikflur. Hinter verschlossenen Türen wurden Kranke allmählich wieder gesund. Kein Ort für Hanna, denn sie war darüber hinaus. Es gab keine Heilung für ein gebrochenes Herz und eine zerschundene Seele. Nur Frieden. Und den musste sie sich nun selbst verschaffen.

Sie lief den langen, blank geputzten Flur entlang und stieß an dessen Ende auf eine Tür, die zu einer Treppe führte. Dies war der richtige Weg, das wusste sie instinktiv.

Sehr behutsam legte Hanna ihre Rechte gegen die Tür und drückte sie auf. Lautlos schwang sie zurück, gab den Blick frei auf ein Treppenhaus. Ein langes Geländer, Steinstufen, Neonröhren, die das Ganze in kaltes Licht tauchten. Das war er also, der letzte Weg.

Hanna verharrte einen Moment. Und dann geschah etwas, womit sie nicht gerechnet hatte. Sie empfand plötzlich Angst. Eine tief sitzende, allumfassende Urangst vor der Dunkelheit und dem Tod. Dieses Gefühl, das so unvermittelt aufgetaucht war, verstärkte sich in ihrem Innern, blähte sich auf, wurde zu groß und zu schwer, um es zu tragen. Hanna ging in die Knie und wimmerte leise. Sie wollte nicht aufgeben, nicht zögern. Sie hatte in den vergangenen Jahren alles getan, um ihr Leben endlich loszuwerden. Sie durfte jetzt nicht kneifen, nur das nicht!

»Elender Feigling«, zischte sie unter Tränen.

Mühsam zog sie sich an der Türklinke hoch, noch immer unfähig, den nächsten Schritt zu tun, um wenigstens das Treppenhaus zu betreten. Die Angst, die längst zu Panik geworden war, lähmte sie. Ihr Körper schien den Autopiloten angeschaltet zu haben, bekämpfte sie im Selbsterhaltungs-Modus. Aber sie wollte nicht nachgeben, sie wollte ihren Willen durchsetzen!

Da wurde ganz in der Nähe eine Tür geöffnet, und gleich darauf rief jemand: »He, Sie, was machen Sie da?«

Dieser Ruf galt Hanna. Sie begriff es. Und es war, als ob sich genau da alle Schaltkreise in ihrem Körper schließen würden, um sie endlich wieder handlungsfähig zu machen.

Mit einem verzweifelten Aufschrei warf sie sich gegen die Tür ins Treppenhaus, stolperte, fiel, raffte sich wieder auf und hetzte die Stufen nach oben.

Schwester Lore trat wenig später auch durch die Tür, warf einen Blick nach oben und unten, hörte entfernt ein Klappen und eilte dann zum Krankenzimmer von Hanna Waldner.

Gleich darauf lief sie zurück ins Schwesternzimmer und rief die Notfallambulanz an.

»Dr. Berger, kommen Sie schnell! Ihre Patientin ist nicht mehr in ihrem Zimmer«, rief sie in den Hörer.

»Haben Sie eine Ahnung, wohin sie gegangen ist?«, fragte er.

Schwester Lore schluckte. »Ich fürchte, aufs Dach …«

*

Erik Berger ließ das Telefon einfach fallen und rannte zum Lift. Er ahnte, dass es nun auf Minuten ankam. Während der Aufzug ihn ins oberste Stockwerk brachte, verständigte er per Handy Polizei und Feuerwehr. Ein Gefühl der Unwirklichkeit erfüllte ihn kurz, aber intensiv. Er dachte an die schlechte Vorahnung, die er nach dem letzten Gespräch mit Hanna gehabt hatte. Sie war so seltsam ruhig und gefasst gewesen. Er hatte geahnt, dass etwas nicht stimmte. Warum hatte er sie nur allein gelassen, nicht dafür gesorgt, dass zumindest eine Schwester in ihrer Nähe wachte?

Wenn sie springt, ist es meine Schuld, dachte er und hatte plötzlich einen bitteren Geschmack auf der Zunge. Bevor der Lift hielt, rief er noch Dr. Norden zu Hause an und schilderte ihm mit knappen Worten die Lage. Der Chefarzt versprach, sich sofort auf den Weg zu machen.

Dann hatte Dr. Berger sein Ziel erreicht. Er steuerte die Tür zum Treppenhaus an. Nur hier hatte man Zugang zum Gebäudedach.

Als er gleich darauf die Sicherheitstür öffnete, wurde beim Hausmeister Alarm ausgelöst, das wusste er. Dass der nur wenige Augenblicke nach ihm erschien, bestätigte seine böse Vorahnung. Die Tür war also schon einmal geöffnet worden in dieser Nacht …

»Herr Dr. Berger, was machen Sie hier?«, wollte er verständnislos wissen.

»Es ist jemand auf dem Dach. Bleiben Sie hier, Becker. Ich habe schon die Polizei und die Feuerwehr alarmiert. Der Chef wird auch bald kommen.«

»Ein Selbstmörder?«, fragte der stämmige Mann in der grauen Trachtenstrickjacke und schlug mit verschreckter Miene ein Kreuz. »Ich warte da auf den Chefarzt.«

Dr. Berger nickte, dann betrat er das Flachdach der Behnisch-Klinik. Es war ein weitläufiges Areal mit ­Tageslichtkuppeln, schmalen Edelstahlabgasrohren, Zuleitungen für Klimaanlage, Technik und Strom. Er musste sich erst orientieren.

Die Winternacht war klar und kalt. Der Himmel über München flimmerte von Sternen, deren Licht sich mit dem Widerschein der Stadt mischte. Eine schmale Mondsichel hing über den Doppeltürmen der Liebfrauenkirche wie eine vergessene Laterne.

Der Atem gefror, ein scharfer Wind wehte auf dieser Höhe. Erik Berger schauerte, doch es war nicht nur die Kälte, die ihm zu schaffen machte. Wo war Hanna? War sie bereits …

Er lief los. Es hatte keinen Sinn, sich nur umzuschauen, er musste in jeden Winkel der riesigen Fläche laufen, hinter jeden Vorsprung blicken. Vielleicht hatte er Glück und fand Hanna, bevor sie … Er hielt kurz inne. Was sollte er tun? Er hatte in den zurückliegenden Wochen alles nur Menschenmögliche versucht, um ihr zu helfen, und nichts erreicht. Würde er sie nun zurückhalten können? Mit Worten wohl kaum. Ihm blieb nur eine Option: Er musste sie finden und festhalten, sie ganz einfach physisch zwingen, nicht vom Dach in die Tiefe zu springen.

Dr. Berger atmete schwer. Er fing an zu schwitzen, obwohl er gerade eben noch gefroren hatte, und ahnte, dass dies die Angst war, die ihm im Nacken saß. Die Angst, zu versagen, zu spät zu kommen. Diese Vorstellung setzte ihm schwer zu. Er begriff, wie wichtig diese Rettungsmission für ihn war.

Zum ersten Mal seit dem Tod seiner Frau hatte er sich emotional engagiert, sich auf einen Fall eingelassen, sich wirklich ganz eingebracht. Er konnte nun nicht aufgeben, er durfte es nicht. Er wollte Hanna retten, um jeden Preis!

Endlich sah er eine Bewegung ganz in seiner Nähe. Mittlerweile hatten seine Augen sich an die schlechten Lichtverhältnisse gewöhnt. Er erkannte den schmalen Umriss eines Menschen ganz am Rande des Daches, und der heiße Schreck fuhr ihm in alle Glieder. Es war Hanna, die dort stand. Ihr Haar wehte im Nachtwind, sie trug nur eine Hose und einen Pulli, keine Schuhe. Ihre Erscheinung war so seltsam, so umwirklich, fast irreal. Sie passte einfach nicht an diesen Ort.

Unvermittelt sah er sie noch einmal vor seinem geistigen Auge an jenem regnerischen Frühlingstag auf dem Campus. Ihr Lächeln, ihre Unbekümmertheit in der Gewissheit, dass das Leben noch vor ihr lag, ein Wunderland voller Licht und Freude. Doch jetzt war da nur noch Dunkelheit. Der Weg schien zu Ende.

Erik Berger wollte das nicht zulassen. Er schob diese Gedanken fast ärgerlich von sich und konzentrierte sich auf die Aufgabe, die vor ihm lag wie auf eine schwierige Behandlung. Doch dies hier war anders.

Schwerstverletzte, die auf dem Tisch starben, waren sein Alltag, gehörten zu seinem Beruf. Er hatte gelernt, das wegzustecken, er wusste, dass er andernfalls seine Arbeit nicht mehr ausüben konnte. Hanna aber, die Hanna, die er gekannt und gemocht hatte, das war viel, viel schwerer …

Sehr vorsichtig näherte er sich ihr. Einen Schritt vor den anderen, fast ging er auf Zehenspitzen. Der Kies, mit dem das Flachdach bestreut war, knirschte trotzdem leise. Sie würde ihn hören und …

Seine Gedanken zerfaserten, als sie sich unvermittelt zu ihm herumdrehte und ihn ansah. Für die Länge eines Herzschlages schien die Zeit stillzustehen. Erik Berger sah die Angst in Hannas Augen, die Verzweiflung, den stummen Schrei. Doch es war kein Schrei nach Hilfe. Sie wollte nicht gerettet werden. Es war die Bitte um Erlösung, die Sehnsucht nach Frieden, nach der Ruhe, die sie mit dem Verschwinden ihrer Tochter verloren hatte.

»Hanna!« Er tat einen Schritt nach vorne, hob hilflos die Hände. Der stärker werdende Nachtwind zerrte an seiner Kleidung, griff mit kalten Händen in sein Haar. Er merkte es kaum. Er war ihr nun nah, und doch schien die Distanz unüberwindlich. Er wollte etwas sagen, sie bewegen, vom Rand des Daches zurückzutreten, sich ihm ein letztes Mal anzuvertrauen. Er wünschte sich verzweifelt die Gabe, zu ihr vorzudringen, sie endlich umzustimmen, ihr nur einen einzigen Grund zu geben, am Leben zu bleiben. Doch ihm fiel nichts ein außer: »Bitte, tu es nicht!«

Sie schien zu lächeln, dann drehte sie sich von ihm fort. Es sah aus, als wolle sie vom Dach mitten in den samtschwarzen Nachthimmel hinein fliegen. Sie breitete die Arme aus und ließ sich nach vorne kippen.

In diesem Moment hechtete Dr. Berger ohne nachzudenken zum Rand des Daches. Er bekam Hanna zu fassen, seine Hände krallten sich in ihren Pulli, rutschten ab. Er griff nach, wurde von seinem eigenen Schwung nach vorne katapultiert. Plötzlich sah er die Straße und den Parkplatz viele Meter unter sich. Doch er gab nicht nach, hielt eisern fest. Seine Hände fassten Hannas Arme. Er presste die Finger zusammen, so fest er konnte, zugleich spürte er, wie er langsam Richtung Dachkante rutschte. Fand er keinen Halt, würde Hanna ihn mit in die Tiefe reißen. Noch immer hielt er sie fest, doch seine Hände rutschten ab. Schließlich musste er sich mit seiner Rechten an der Dachkante festkrallen, um nicht selbst zu fallen.

»Hanna, halt durch«, keuchte er tonlos, während seine Linke ihren Arm noch immer festhielt. Er sah in ihr Gesicht, sah die Angst in ihren Augen, aber auch den Schmerz, der sie selbst jetzt nicht verlassen wollte.

»Hanna, bitte …«

Sie blickte ihn für ein paar Sekunden an, ruhig und mit der fast heiteren Gelassenheit eines Menschen, der am Ende mit allem abgeschlossen hat und in Frieden gehen kann. Und dann meinte er, etwas wie ein Lächeln gesehen zu haben, das eigentlich nur in ihren Augen stattfand. Später konnte er nicht mehr sagen, ob es wirklich dagewesen war oder ob er es sich nur eingebildet hatte. Als Hannas Hand dann aus seiner rutschte, schloss Erik Berger die Augen. Stille umgab ihn. Nur das Rauschen des Winterwindes, der sich in den Kaminen auf dem Klinikdach verfing und seltsame, fremde Geräusche verursachte.

Irgendwann hörte er die Sirenen von Feuerwehr und Polizei. Blaulicht zuckte nervös über die Fassade der Behnisch-Klinik. Und dann legte sich eine Hand auf seine Schulter.

Mühsam und widerwillig öffnete Dr. Berger die Augen und sah in das vertraute Gesicht von Dr. Norden. Dieser reichte ihm die Hand und bat: »Kommen Sie. Hier können Sie nichts mehr tun.«

*

»Hier, trinken Sie das, es wird helfen.«

Erik Berger nahm die Kaffeetasse, in die Daniel Norden einen doppelten Brandy gegossen hatte, und trank den Alkohol in kleinen Schlucken. Er wärmte tatsächlich von innen.

»Ich habe versagt«, klagte er sich an. »Es ist meine Schuld, dass Hanna Waldner tot ist. Ich habe sie auf dem Gewissen.«

»Das stimmt nicht, und Sie wissen es.«

»Es stimmt!« Dr. Berger stellte die Tasse hart auf dem Schreibtisch des Chefarztes ab und fuhr mit bitterer Stimme fort: »Ich habe alles falsch gemacht. Aber keine Sorge, das wird mir nicht noch einmal passieren!«

»Was meinen Sie damit?«

»Es war das erste und letzte Mal, dass ich mich emotional engagiert habe. Ein Arzt kann nur etwas leisten, wenn er auf Distanz bleibt. Was wir hier tun, ist unsere Arbeit. Es hat keinen Sinn, sich in etwas hineinzusteigern. Es führt zu nichts. Und am Ende steht man mit leeren Händen da.«

»Sie haben das Richtige getan, Herr Kollege«, versicherte Dr. Norden ihm. »Aber es ist leider so, dass man nicht jeden Patienten retten kann.«

»Das hat die Kollegin Hundhammer auch gesagt.«

»Weil es stimmt. Sie erreichen nichts, wenn Sie sich nun Vorwürfe machen. Wir sind eben alle nur Menschen und keine Maschinen. Auch wenn Sie das Beste wollen, ist das keine Garantie dafür, Erfolg zu haben.«

»Gerade in diesem Fall war es mir wichtig. Hanna hatte etwas Besseres verdient. Aber ich habe erbärmlich versagt. Ich hätte sie gleich in die Klinik von Dr. Möller überweisen sollen. Dann würde sie jetzt noch leben.«

»Solche Gedanken sind sinnlos. Wir müssen nun einmal mit den Entscheidungen, die wir treffen, leben.«

»Ich weiß nicht, ob ich das kann.« Erik Berger erhob sich. »Entschuldigen Sie mich, ich möchte jetzt lieber allein sein.«

Daniel Norden ließ ihn nicht gerne gehen, er ahnte, was in Dr. Berger vorging. Auch für ihn war es schwer, einen Patienten zu verlieren. Selbst nach vielen Jahren Berufserfahrung, wenn vieles zur Routine geworden war, blieb das schmerzliche Gefühl der Niederlage bestehen. Daniel Norden hatte gelernt, damit umzugehen. Es war das liebende Verständnis seiner Frau Fee, das ihm dabei half.

Erik Berger war nun allein. Doch er wollte es offensichtlich so, und der Chefarzt der Behnisch-Klinik mochte ihm seine Hilfe, seinen Beistand auch nicht aufdrängen.

Der Notfallmediziner verließ wenig später die Behnisch-Klinik. Er fuhr lange ziel- und planlos durch die nächtliche Stadt, bis er schließlich an der Isar landete.

Die Sonne lugte bereits über den Horizont, als er über den kiesbe­streuten Uferstreifen an dem träge fließenden Fluss entlang lief. Hier und da gab es vereiste Stellen, das Wasser fand trotzdem seinen Weg. Als die Sonne höher stieg, kräuselte sich Nebel über dem Flussbett.

Dr. Berger blieb stehen und ließ seinen Blick schweifen. Für den Bruchteil einer Sekunde meinte er, Hanna käme ihm am Ufer entgegen. Sie lächelte, und ihre Schilleraugen blitzten.

Sein Herz begann, schneller zu schlagen. Doch als die Frau näher kam, begriff er, dass er sich getäuscht hatte.

Bekümmert kehrte er schließlich zu seinem Wagen zurück und fuhr nach Hause. Das Gefühl des Verlustes, der Niederlage setzte ihm zu. Er meinte, alles falsch gemacht zu haben.

Schlaf fand er nun keinen. Sonst war er nach dem Nachtdienst hundemüde und fiel fast wie besinnungslos ins Bett. Nun aber blieb er auf, dachte gar nicht daran, sich hinzulegen. Er war unruhig, unglücklich. Ganz allmählich begriff er, was in dieser Nacht geschehen war. Und es fiel ihm mehr als schwer, dies zu akzeptieren. Er hatte es gut mit Hanna gemeint, hatte alles versucht, ihr zu helfen. Dabei war ihm aber etwas Wesentliches entgangen. Nämlich dass er gegen ihren Willen gehandelt hatte. Sie hatte nicht gerettet werden wollen. Mehr als einmal hatte sie ihm das in aller Deutlichkeit gesagt. Doch er hatte ihr nicht geglaubt, hatte stur an dem fest gehalten, was er für den richtigen Weg gehalten hatte. Und war auf ganzer Linie gescheitert.

»Sie können nicht jeden retten.« Die Worte von Hannas ehemaliger Chefin geisterten durch seine Gedanken.

Erik Berger dachte an seine Frau. Einer jener hoffnungslosen Fälle. Auch damals hatte er nicht aufgeben wollen, obwohl er gewusst hatte, dass es sinnlos war. Und nur wieder das Gleiche. Und wieder eine Niederlage.

Der Mediziner trat hinter die bodentiefen Fensterscheiben im Wohnraum und blickte nach draußen. Ein sonniger Spätwintermorgen. Ein paar Meisen turnten in den kahlen Zweigen des Apfelbaums herum. Sie wirkte ausgelassen, so als sei schon Sommer. Das Leben ging weiter. Es war der erste Morgen, den Hanna nicht mehr erlebte. Dieser Gedanke tat ihm unerwartet weh. Und er begriff, dass es nicht nur Schuld war, die ihn quälte. Er hatte Hanna gern gehabt. Damals, als sie zusammen studiert hatten, war er in sie verliebt gewesen. Doch er hatte schon zu dieser Zeit Probleme gehabt, seine Gefühle zu zeigen. Und dann war die Gelegenheit verpasst gewesen. Jahre später hatte er auch die zweite Chance, Hannes Leben eine andere Richtung zu geben, verpasst. Es war ihm nicht gelungen, zu ihr vorzudringen, ihr zu helfen. Sie hatte ihn reden lassen. Sie hatte all seinen Bemühungen mit Gleichgültigkeit gegenüber gestanden, während sie sich im Stillen von den letzten Resten ihres traurigen Lebens verabschiedet hatte. Ein für alle Mal. Und sie hatte ihm niemals, nicht für den Bruchteil einer Sekunde die Möglichkeit gegeben, ihr zu helfen.

»Sie wollte nicht gerettet werden«, sagte er in die Stille des Raums. Und als diese Tatsache zu ihm vordrang, nicht nur in seinen Verstand, sondern auch in sein Herz, wurde er endlich ruhiger und begann mit dem, was in der vergangenen Nacht geschehen war, abzuschließen.

*

Prof. Wolf Bernhard war ein kleiner, eher schmächtiger Mann jenseits der Sechzig. Sein graues Haar war akkurat gescheitelt, die tiefblauen Augen hinter der Brille mit dem schmalen Gestell blickten ruhig und klug in die Welt. Er machte kein großes Aufheben von seiner Person, liebte die Oper und aß für sein Leben gern Hausmannskost.

Nachdem er Sebastian Brunner am Vortag sehr gründlich untersucht und sich danach noch ausführlich mit Dr. Norden über den Fall unterhalten hatte, erschien er an diesem Morgen pünktlich um acht Uhr in der Behnisch-Klinik, um die Herztransplantation durchzuführen.

Während das OP-Team sich im Waschraum vorbereitete, lächelte der Professor in die Runde und bat: »Dass Sie mir nur nicht vor Ehrfurcht erstarren, Kollegen. Ich brauche Sie alle, und ich brauche Ihre Bestleistung und höchste Konzentration.«

»Keine Sorge, Herr Professor, jeder wird sein Bestes geben«, versicherte Dr. Norden, der den Eingriff aus einem Nebenraum durch eine Glasscheibe verfolgen würde.

Schließlich kam es nicht alle Tage vor, dass in der Behnisch-Klinik eine Herztransplantation stattfand.

»Nun, mein lieber Kollege, ich freue mich, mit Ihrem sehr motivierten Team zu arbeiten. Aber Sie wissen, dass dies nicht der einzige Grund für mich war, nach München zu kommen.«

Daniel Norden musste schmunzeln und senkte die Stimme, als er versicherte: »Fee wird morgen für uns kochen. Einen traditionellen Schweinsbraten mit Blaukraut und Knödeln, wie Sie ihn sich gewünscht haben.«

Der Professor wirkte sehr zufrieden. »Wunderbar! Meine liebe Frau war eine begnadete Köchin. Seit ich Witwer bin, muss ich leider auf ihre lukullischen Schlemmereien verzichten. Das vermisse ich doch sehr …« Er rieb sich die Hände. »Aber nun frisch ans Werk, einen Patienten sollte man niemals warten lassen!«

Bevor Dr. Norden nach nebenan ging, trat er auf den Klinikflur vor den Operationssälen, wo Irene Brunner wartete. Sie war sehr blass, die Aufregung stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben.

»Frau Brunner, Sie sind schon hier.«

Sie nickte. Am Vortag hatte der Chefarzt ihr geraten, erst am Nachmittag in die Behnisch-Klinik zu kommen, denn für den Eingriff waren mehrere Stunden angesetzt. Irene hatte sich damit einverstanden gezeigt, doch dann hatte sie es daheim nicht mehr ausgehalten.

»Ich wollte Sebastian vor der Transplantation noch einmal sehen«, gab sie zu. »Ich glaube, das hat uns beiden geholfen.«

»Das verstehe ich. Trotzdem sollten Sie nicht die ganze Zeit hier warten. Vielleicht gehen Sie unten ins Café oder ein bisschen bummeln? Lenken Sie sich ab. Die Wartezeit wird Ihnen noch lang genug werden. Ich weiß das aus Erfahrung. Untätig herumzusitzen, ist für viele Menschen in einer solchen Situation das Schlimmste. Und Ihr Mann ist ja nun wirklich in den allerbesten Händen.«

Irene seufzte. »Ja, Sie haben wohl Recht, Herr Doktor. Es wird das Beste sein, wenn ich Ihrem Rat folge.«

Dr. Norden nickte. »Sobald es etwas Neues gibt, werden Sie es sofort erfahren«, versprach er ihr noch.

Nachdem die junge Frau gegangen war, kehrte Daniel Norden dann in den OP zurück und bezog Stellung hinter dem Fenster, das ihm sozusagen einen Logenplatz bot.

Prof. Bernhard arbeitete nun sehr konzentriert und ohne jede Verzögerung. Der Zustand des Patienten blieb zunächst stabil. Doch als das neue Organ eingepflanzt war, meldete der Anästhesist einen plötzlichen Blutdruckabfall. Alle Werte sackten innerhalb weniger Sekunden ab, ein schriller Alarmton erfüllte den OP: Herzstillstand!

Die sofort eingeleiteten Notmaßnahmen hatten nicht gleich Erfolg. Wertvolle Sekunden verstrichen. Alle Anwesenden hielten automatisch den Atem an.

Prof. Bernhard blieb Herr der Lage. Dies war nicht die erste Herztransplantation, die er durchführte. Er kannte alle möglichen Komplikationen, die auftreten konnten, und ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Der Eingriff war gelungen, alle Gewebsmerkmale stimmten überein. Es war der »störrische Körper«, wie der Gefäßchirurg dies bei sich nannte, der nicht auf Anhieb mitspielen wollte. Doch ihm blieb keine Wahl, der Professor war fest entschlossen, den Eingriff zu einem guten Ende zu bringen.

Kaum zwei Minuten später schlug das neue Herz regelmäßig. Der Zustand des Patienten stabilisierte sich nun rasch. Und dann dauerte es nicht mehr lange, bis feststand, dass die OP erfolgreich gewesen war.

Wolf Bernhard winkte ab, als sein OP-Team ihm begeisterten Beifall spendete, und verschwand recht schnell im Waschraum.

»Er ist zu bescheiden«, stellte Christina Rohde fest, die ihm assistiert hatte. »Das war eine wahre Meisterleistung.«

Dr. Norden konnte ihr nur zustimmen. »Sagen Sie Frau Brunner bitte gleich Bescheid, sie wartet draußen.«

Irene fiel mehr als nur ein Stein vom Herzen, als sie erfuhr, dass alles gut ausgegangen war.

»Na, sehen Sie, ich habe Ihnen doch gesagt, zusammen schaffen wir es, Sebastian zu helfen«, meinte sie und wischte sich verschämt über die Augen. »Ohne Sie hätte das aber nicht geklappt, Christina. Ich danke Ihnen wirklich von Herzen!«

»Das Schlimmste ist zwar vorbei, aber vor Bastian liegt jetzt noch eine lange Phase der Genesung. Und dabei wird er Sie mehr denn je brauchen, Irene«, mahnte die Chirurgin.

»Ich werde da sein«, versicherte Irene. »Darauf können Sie sich verlassen. Ich werde die ganze Zeit an seiner Seite sein!«

*

Nach der Visite kehrte Daniel Norden an diesem Tag nicht gleich in sein Büro zurück, sondern schaute vorher noch in der Notfallambulanz vorbei. Wie er erwartet hatte, war Erik Berger schon wieder auf seinem Posten.

»Sind Sie ausgeschlafen?«, fragte er den Kollegen direkt. »Sie hätten heute ruhig freinehmen können.«

Der Mediziner musterte seinen Chef distanziert aus eisblauen Augen. »Warum sollte ich? Es geht mir gut.«

»Tatsächlich?«

»Sie scheinen mir das nicht zu glauben.«

»Aus naheliegenden Gründen.« Dr. Norden seufzte. »Sie müssen mir nichts vormachen, ich war letzte Nacht schließlich auch auf dem Dach. Ich weiß, was geschehen ist. Und so ein Erlebnis lässt niemanden kalt. Es hat keinen Sinn, es einfach beiseite schieben und verdrängen zu wollen. Das wissen Sie so gut wie ich.«

»Wird es eine Untersuchung geben?«, wechselte Dr. Berger das Thema. Er war nicht gewillt, über seine Gefühle zu sprechen, meinte, sich damit nur eine Blöße zu geben. Und diese Vorstellung gefiel ihm ganz und gar nicht.

»Nein, es war eindeutig ein Selbstmord ohne Fremdeinwirkung.«

»Der hätte verhindert werden können.«

»Wie meinen Sie das?«

»Ich habe Hanna im Stich gelassen«, klagte er sich da mit zusammengebissenen Zähnen selbst an. »Zuerst habe ich ihr meine Hilfe aufgedrängt. Doch als sie mich wirklich gebraucht hätte, war ich nicht da. Das werde ich mir nicht verzeihen.«

»Sie wissen, dass es nicht Ihre Schuld war, was geschehen ist. Die Patientin litt unter schweren Depressionen. Und sie hatte bereits Jahre des Alkoholmissbrauchs hinter sich.«

»Das sind nur Fakten. Sie sagen nichts über die Wahrheit aus.«

»Und die wäre?«

Dr. Bergers markante Miene verhärtete sich, als er meinte: »Ich sollte mich in Zukunft an die Lehrbücher halten und nicht auf Gebieten wildern, die mir fremd sind. Ich werde weiterhin Wunden nähen, Brüche schienen und Unfallopfer stabilisieren. Meine Zuständigkeit ist der Körper, die Psyche werde ich den Kollegen überlassen, die dafür qualifiziert sind. Hätte ich das die ganze Zeit so gehalten, würde Hanna Waldner noch leben.«

»Das stimmt nicht, und Sie wissen es.«

»Doch, es stimmt. Und ich möchte mich jetzt nicht weiter darüber auslassen. Ich habe die Sache mit mir selbst abgemacht, sie ist für mich erledigt.«

»Sie machen einen Fehler, Herr Kollege. Ich habe Sie im Umgang mit der Patientin erlebt. Sie haben sich wirklich engagiert, mit Herzblut. Ich kann es beurteilen. Und ich habe Sie dafür bewundert. Es ist schön zu sehen, wenn ein Mensch sich weiterentwickelt, neue Seiten an sich entdeckt. Sie sollten das nicht gleich aufgeben, bloß weil Sie einen Rückschlag erlebt haben.«

»Mein Egotrip hat einen Menschen das Leben gekostet. Ich finde, das ist Grund genug, es sein zu lassen.« Er schnaubte verächtlich. »Ein für alle Mal.«

Dr. Norden musste einsehen, dass seine Worte bei Erik Berger momentan in den Wind gesprochen waren. Dr. Berger konnte sehr stur und verbohrt sein. Nicht umsonst hatte er in der Behnisch-Klinik den Ruf eines gefühllosen Metzgers. Aber das war nicht die Wahrheit, der Chefarzt hatte es selbst anders erlebt. Er beschloss, Dr. Berger auch weiterhin zu mehr menschlichem Engagement zu ermuntern. Auch wenn dies vielleicht ein langwieriges und vermutlich auch unsicheres Unterfangen war. Doch er wollte es versuchen.

*

Es dauerte noch einige Tage, bis Irene ihren Mann zum ersten Mal besuchen durfte. Nach der Transplantation musste Sebastian eine Woche auf der Intensivstation der Behnisch-Klinik verbringen. Und auch als es ihm besser ging, wurde er dort noch eine Weile unter genauer Beobachtung gehalten. Um eine Infektion zu vermeiden, durfte Irene Sebastian nur durch eine Scheibe sehen. Er scherzte schon wieder darüber und war guter Dinge.

»Hoffentlich darf ich bald hier heraus«, meinte er. »Ich fühle mich, als ob ich ausgestellt werde. Dabei bin ich ja nun auch wieder nicht so sehenswert …«

Irene musste schmunzeln. »Für mich schon«, versicherte sie.

»Ich würde dich gern in den Arm nehmen.«

»Ein bisschen Geduld, dann hast du mich wieder«, versprach sie. »Dr. Rohde sagt, es wird jeden Tag ein wenig besser.«

»Geduld war noch nie meine starke Seite.«

»Wie geht es dir, Sebastian? Was ist das für ein Gefühl, ein neues Herz zu haben? Kannst du es beschreiben?«

»Eigentlich spüre ich keinen Unterschied. Mein Brustkorb tut weh. Ich werde den Eindruck nicht los, dass man mich sozusagen generalüberholt hat.«

»Der Eindruck trügt nicht. Du wirst noch einiges aushalten müssen, bis die Rippen wieder zusammengewachsen sind. Aber wie gesagt …«

»Es wird jeden Tag ein bisschen besser, ich weiß …« Er seufzte. »Gibt es sonst noch Neuigkeiten? Hier drinnen fühlt man sich ja vollkommen abgeschnitten vom Rest der Welt.«

»Nico wird bald angeklagt. Er zeigt sich anscheinend kooperativ, um eine geringere Strafe herauszuschlagen.«

»Was genau heißt das?«

»Na ja, wie es aussieht, ist ein Großteil der Gelder, die er aus der Firma gezogen hat, noch vorhanden. Auf einem Schweizer Nummernkonto. Wenn er alles, was noch da ist, zurückzahlt, wird er nicht so lange ins Gefängnis müssen.«

»Das sind ziemlich gute Neuigkeiten.«

»Der Konkursverwalter sieht es ebenso. Vielleicht kommen wir sogar mit einem blauen Auge davon. Je nachdem, wie das Gericht entscheidet, wird die Firma möglicherweise nicht liquidiert.«

»Tatsächlich? Das hätte ich nicht für möglich gehalten. Dann habe ich ja noch eine Chance, trotz Nicos Verrat. Das ist einfach wunderbar!«

Irene lächelte. »Das ist es. Nun siehst du, wie töricht es von dir gewesen wäre, einfach aufzugeben. Ich habe dir doch gesagt, dass es immer einen Ausweg gibt.«

»Vor allem, wenn man Menschen hat, denen man wichtig ist.« Sebastian erwiderte ihr Lächeln warm. »Es tut mir leid, dass ich dir soviel Kummer gemacht habe, Irene. Kannst du mir verzeihen?«

»Schon geschehen. Aber vergiss Christina Rohde nicht. Ohne sie wären wir jetzt nicht hier.«

»Ich werde ihr danken, sobald sich die Gelegenheit dazu bietet«, versicherte er ihr entschlossen.

Es dauerte gar nicht lange, bis Sebastian seine alte Freundin wieder zu Gesicht bekam. Bereits am nächsten Tag erschien Dr. Rohde auf der ITS und erkundigte sich nach seinem Zustand.

»Der Patient würde gerne mit Ihnen reden, Frau Kollegin«, ließ Dr. Schulz sie wissen. »Wenn Sie kurz Zeit haben …«

»Lässt sein Zustand denn schon Besuch zu?«

»Er ist stabil. Und seine Frau kommt täglich vorbei.«

Christina Rohde zögerte nicht lange. »Gut, dann sehe ich am besten gleich nach ihm …«

Sebastian freute sich sehr, Christina zu sehen. Obwohl die Schutzkleidung, die sie trug, um keine Keime einzuschleppen, ihm doch recht fremdartig erschien.

»Du siehst aus wie eine Raumfahrerin«, scherzte er.

»Dafür fehlt mir das Raumschiff«, ging sie auf seinen Ton ein. »Wie fühlst du dich, Bastian?«

»Noch ein bisschen wacklig.«

»Das wird sich bald geben, du wirst sehen.«

»Hast du schon eine Ahnung, wann ich wieder auf deine Station komme, Chrissi?«

»Es wird noch etwas dauern, aber gar nicht so lange. Wenn deine Genesung so gut fortschreitet, sehen wir uns schon bald auf der Chirurgie wieder.«

»Darauf freue ich mich.«

»Der Kollege Schulz sagte, dass du mich sprechen willst.«

»Ja, das stimmt.« Er lächelte ihr zu. »Ich möchte dir danken, für alles. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll, so tief stehe ich in deiner Schuld.«

»Unsinn. Prof. Bernhard hat dich operiert.«

»Davon rede ich aber nicht. Du hast dich vorbildlich um mich gekümmert, hattest immer Geduld und Verständnis. Ich verdanke dir nicht nur mein Leben, sondern auch meine Ehe.«

»Nun hör aber auf. Dafür sind Freunde schließlich da.«

»Du solltest das nicht herunterspielen. Dass du mich im Zug nach München gebracht hast, war mutig. Und ebenso mutig hast du dich für mein Glück eingesetzt. Das werde ich dir niemals vergessen, Chrissi.«

»Bastian, hör auf damit, sonst flüchte ich!«

Er lachte. »Also schön. Wenn du nicht gelobt werden willst, akzeptierst du vielleicht einen großen Blumenstrauß und eine Einladung zum Essen?«

»Mal überlegen. Also, die Blumen schenkst du besser Irene. Aber ich gehe gern mit euch beiden essen, wenn du wieder gesund bist. Darüber würde ich mich wirklich freuen.«

»Es wird noch eine Weile dauern.«

»Ich habe Geduld. Und ich vergesse es nicht, keine Sorge.«

»Dann bin ich zufrieden. Noch mal danke, Chrissi. Du bist die beste Freundin, die ein Mensch haben kann.«

Sie lächelte geschmeichelt und versicherte: »Ich gebe mir Mühe. Aber jetzt muss ich wieder auf ­meine Station. Und du solltest dich bemühen, gesund zu werden. Ich freue mich schon auf unsere Verabredung zum Essen …«

*

Es dauerte noch einige Zeit, bis die Brunners mit Dr. Rohde essen gehen konnten. Sebastians Genesung zog sich über Wochen hin. Es gab kleinere Rückschläge, aber kontinuierliche Fortschritte. Nach zwei Wochen durfte der Patient die ITS verlassen und wurde auf die Chirurgie verlegt, wo er noch einige Wochen verbringen musste.

Irene besuchte ihren Mann täglich, kümmerte sich um ihn, freute sich über jeden noch so kleinen Fortschritt und tröstete ihn, wenn es einfach nicht vorwärts ging. Und sie hielt ihn auch auf dem Laufenden, was die Vorgänge um die insolvente Firma anging. Nico Schubert wurde schließlich in einem Prozess zu einem halben Jahr auf Bewährung verurteilt, nachdem er einen Großteil der unterschlagenen Firmengelder zurückgegeben hatte.

Irene setzte sich dafür ein, die Firma ihres Mannes zu erhalten, doch letztlich musste der Konkursverwalter doch seines Amtes walten, denn es gab einfach zu viele offene Verbindlichkeiten und zu wenig Stammkapital.

Irene war niedergeschlagen, doch als sie Sebastian beichtete, dass seine Firma abgewickelt war, nahm dieser es gelassen auf.

»Wir starten neu. Ich habe schon einige Ideen. Die Kontakte bleiben uns ja, ich muss sie nur ein wenig aufpolieren. Und mit einer charmanten Frau wie dir an meiner Seite wird mir das bestimmt ganz schnell gelingen«, schmeichelte er.

Irene lächelte. »Charmeur.«

»Ist doch wahr. Ich habe übrigens auch gute Neuigkeiten. Der Professor kommt morgen her und untersucht mich noch einmal. Das ist sozusagen der abschließende Check-Up. Und wenn er zufrieden ist, kann ich endlich in die Reha gehen.«

»Das ist wunderbar!«, freute Irene sich von Herzen.

Prof. Wolf Bernhard pflegte bei seinen Patienten eine abschließende Untersuchung vorzunehmen, auch um die Erfolge seiner Arbeit festzuhalten. Er plante, darüber ausführlich zu publizieren, doch das hatte Zeit bis zu seinem Ruhestand, der allerdings nicht mehr allzu weit entfernt, sozusagen schon am Horizont zu sehen war.

Dr. Norden freute sich, seinen guten Bekannten wiederzusehen und ließ ihm natürlich freie Hand. Schließlich lagen alle Befunde vor, und der Mediziner konnte Sebastian Brunner grünes Licht geben.

»Ich bin zufrieden, Sie können in die Reha«, ließ er den Patienten wissen und lächelte ihm freundlich zu.

»Vielen Dank, Herr Professor. Sie haben mein Leben gerettet«, erwiderte Sebastian, und man merkte, dass die Worte von Herzen kamen.

Ein solches Lob hörte der Professor gern. Es war für ihn immer wieder Ansporn und Inspiration, weiterzumachen und besser zu werden. Bevor er München wieder verließ, nahm er gerne noch eine Einladung der Nordens zum Essen an. Und so kam es, dass er sich schon bald verabschiedete, um nicht zu spät zu kommen …

»Immer der Nase nach«, scherzte er und wirkte sehr vergnügt.

»Dann heißt es jetzt, erst einmal Abschied nehmen«, stellte Sebastian fest und drückte Christina Rohde beide Hände. »Aber wir sehen uns bald wieder. Wenn ich ganz gesund bin …«

»Stehe ich auf der Matte für ein opulentes Dankesessen«, scherzte sie und drückte den alten Freund herzlich. »Alles Gute, Bastian. Noch ein wenig Geduld, dann wirst du dich wieder so gut fühlen wie in unserer Jugendzeit, als du einer der besten Leichtathleten der Schule warst.«

Irene wirkte überrascht. »Ehrlich? Das wusste ich ja gar nicht. Ich dachte immer, mein Mann wäre ein reiner Verstandesmensch, der mit Sport nichts am Hut hat.«

Christina lachte. »Ups, da habe ich wohl ein Geheimnis verraten. Sie sehen, Irene, Bastian ist immer für eine Überraschung gut …«

Sie hängte sich bei ihrer besseren Hälfte ein und bedachte ihn mit einem schrägen Blick. »Ich finde, fürs Erste waren das genügend Überraschungen. Jetzt wollen wir uns lieber nur darauf konzentrieren, dass du gesund wirst, mein Schatz.«

Er grinste schief. »Ich tue mein Bestes, versprochen!«

Dr. Rohde kehrte ins Ärztebüro auf ihrer Station zurück, nachdem die Brunners gegangen waren. Sie fühlte sich fast ein wenig einsam, doch diese Empfindung verflog rasch, als sie zu einem Patienten gerufen wurde, dessen Zustand sich plötzlich verschlechtert hatte. Da gab es dann keine Gelegenheit mehr für persönliche Erwägungen, Gefühle oder Gedanken. Christina Rohde war eben Medizinerin mit Leib und Seele. Der Beruf stand bei ihr an erster Stelle. Und daran würde sich so bald nichts ändern.

*

»Sag mal, Mama, muss das sein?« Dési Norden betrachtete das Kalbsragout, das leise vor sich hin schmurgelte, unwillig.

»Was hast du denn dagegen? Es duftet himmlisch, finde ich«, hielt ihr Zwillingsbruder Janni ihr begeistert entgegen. »Also, dieser Prof. aus Zürich kann ruhig öfter mal zu Besuch kommen. Dann zaubert Mama die leckersten Sachen.«

»Ich frage mich, ob das Kalb auch deiner Meinung ist.« Dési wandte sich zum Gehen. »Ich fahre zu einer Freundin, da gibt’s was Veganes. Ihr müsst nicht auf mich warten, tschüs!«

»Tun wir sowieso nicht«, frotzelte Janni und warf seiner Mutter einen treuherzigen Blick zu. »Soll ich den Tisch decken?«

»Das wäre lieb.« Fee Norden seufzte. Ganz so begeistert wie ihr Sohn war sie nicht von Prof. Bernhards Besuch. Die Kocherei nach einem langen Arbeitstag war ihr lästig.

Doch als der Gast dann mit verzückter Genießermiene am Tisch saß, vergaß sie ihren Ärger und genoss den Abend doch noch.

Prof. Bernhard hatte sie mit einem schönen Blumenstrauß überrascht und lobte ihr Essen über den grünen Klee. Da kamen sogar die medizinischen Fachgespräche zu kurz. Und als der Nachtisch verputzt war, stellte der Kollege glücklich fest: »Das war das Beste, was ich seit langem gegessen habe! Vielen Dank!«

»Keine Ursache, kommen Sie nur bald mal wieder zu Besuch«, meinte Janni nicht ganz selbstlos. Den strengen Blick, mit dem seine Mutter ihn daraufhin bedachte, ignorierte er.

Der Professor saß dann noch eine Weile mit den Nordens zusammen, man fachsimpelte und plauderte angeregt. Schließlich fuhr Daniel ihn zum Bahnhof, wo er einen späten Zug nach Zürich bestieg.

Als der Chefarzt der Behnisch-Klinik wieder heimkam, räumte Fee gerade die Spülmaschine ein. Die Blumen standen auf der Arbeitsplatte wie eine stumme Mahnung.

»Ich sollte dir wohl auch mal wieder Blumen schenken, mein Herz«, sinnierte er. »Du hast es verdient.«

Fee bedachte ihn mit einem vielsagenden Blick und klappte den Spüler zu. »Nicht nötig, wenn du mich in Zukunft mit solchen Gästen verschonst.« Sie schauten sich in die Augen und mussten beide lachen. Dann küsste Daniel seine Fee zärtlich und versprach: »Wenn der gute Professor mal wieder in München gebraucht wird, gehen wir essen. Großes Ehrenwort …«

Chefarzt Dr. Norden Staffel 7 – Arztroman

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