Читать книгу Dr. Norden Bestseller Staffel 19 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 6

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Dr. Daniel Norden war schon im Begriff, seine Praxis zu verlassen, um noch einige Hausbesuche zu machen, als Loni ihm nachgelaufen kam.

»Eben hat Frau Hemming angerufen. Miriam scheint mal wieder krank zu sein«, sagte sie hastig. »Sie möchten doch bitte vorbeischauen.«

»Ist schon merkwürdig«, sagte er, »am Sonntag hat sie doch in Bestform das Tennisturnier gewonnen. Wahrscheinlich zeigt sie für die Schule mal wieder eine lustlose Tendenz.«

Er kannte seine Pappenheimer. Miriam Hemming wäre am liebsten schon nach der mittleren Reife vom Gymnasium abgegangen, um sich nur noch dem Sport zu widmen, aber Martin Hemming hatte diesen Wünschen ein entschiedenes Nein entgegengesetzt. Für Professor Dr. Hemming, der zusätzlich noch mit der Ehrendoktorwürden ausgezeichnet war, schien es undenkbar, daß seine Tochter mit der mittleren Reife von der Schule abging.

An diesem Tag sollte Dr. Norden jedoch von Miriams Mutter etwas erfahren, das ihn sehr nachdenklich stimmte und ihm Miriams Trotz begreiflich machte.

Die Hemmings bewohnten eine schöne alte Villa, die bestens erhalten und stilvoll renoviert war. Auch die Inneneinrichtung ließ keinen Zweifel aufkommen, daß hier überaus kultivierte Menschen lebten, die zudem auch das nötige Geld besaßen, um sich Kostbarkeiten aller Art zu leisten. Und irgendwie schien Miriam nicht ganz in diese Welt zu gehören.

Sie war achtzehn und wie viele ihrer Altersklasse aller Konventionen abhold. Sie lief am liebsten in verwaschenen Jeans und saloppen Pullovern herum, drückte sich vor allen gesellschaftlichen Veranstaltungen, wann immer ihr dies möglich war.

Dr. Norden wußte sehr genau, daß es die Eltern nicht leicht mit Miriam hatten, doch an diesem Tag schien sie tatsächlich krank zu sein.

Sie war kein Sensibelchen, sondern ein sehr sportliches Mädchen. Tennis, Reiten, Schwimmen, Skilaufen, überall wollte sie vorn sein, siegen und Pokale sammeln, als sichtbare Zeichen ihres Könnens. Der erfahrene Arzt Dr. Norden ahnte, daß sie von einem maßlosen Ehrgeiz getrieben wurde, sich auf Gebieten zu beweisen, die Martin Hemming überhaupt nicht interessierten. Aber warum das so war, sollte er eben erst an diesem Tag erfahren.

Miriam litt an Magen- und Kopfschmerzen, und das war nicht gespielt. Nur die Ursache konnte Dr. Norden nicht gleich ergründen.

»Haben Sie was Verdorbenes gegessen, Miriam?« fragte er.

»In diesem Haus kommt so was nicht auf den Tisch«, erwiderte sie abweisend. »Wir hatten gestern abend einen Treff, da haben sie so ein komisches Gesöff gebraut, du lieber Himmel, sagen Sie bloß nicht weiter, daß ich solchen unfeinen Ausdruck gebraucht habe. Der liebe Papa ist pikiert. Ich habe von dem Zeug ja nicht viel getrunken, aber Lissy hat mir dann noch eine Tablette gegeben und mir damit wohl den Rest.«

»Was für eine Tablette?« fragte Dr. Norden.

»Weiß ich nicht. Ich habe gedacht, sie hilft, aber das Gegenteil war der Fall. Ihnen sage ich das, aber meine Eltern würden nur wieder auf Lissy losgehen. Ich muß morgen fit sein. Ich habe Fahrprüfung.«

Das war ihr natürlich wichtiger als die Schule. Und ein wenig wunderte sich Dr. Norden doch, daß ihr solche Wünsche doch erfüllt wurden, obgleich sie in der Schule den in sie gesetzten Erwartungen nicht entsprach. Dabei konnte man nicht sagen, daß es ihr an Intelligenz gemangelt hätte. Auch da hatte Dr. Norden seine eigene Meinung.

»Was war denn das für ein Gesöff, Miriam?« fragte er.

»Eine Bowle. Sie haben wohl alles reingekippt, was noch vorhanden war, und schlecht geschmeckt hat es auch nicht. Aber ich glaube, daß die meisten gelitten haben. Und ich habe natürlich auch noch eine Standpauke bekommen, als ich nach Hause kam. Ist man nun mit achtzehn Jahren mündig oder nicht?«

»Das kommt auf die persönliche Reife an«, erwiderte Dr. Norden.

»Und die sprechen Sie mir nicht zu«, stieß Miriam hervor.

»So will ich es nicht sagen, Miriam. Sie nehmen alle Vorteile, die Ihnen das Elternhaus bietet, gern in Anspruch. Und ich stehe auf dem Standpunkt, daß man sich erst als mündiger Bürger erweist, wenn man auch auf eigenen Füßen stehen kann, sein Geld selbst verdient und gelernt hat, damit umzugehen.«

Sie runzelte die Stirn. »Mein Stiefbruder ist fünfundzwanzig und studiert immer noch. Ihm wird doch Reife zugebilligt, obgleich er auch alle Vorteile, die ihm das Elternhaus bietet, in Anspruch nimmt.«

»Ihr Stiefbruder?« entfuhr es Dr. Norden staunend.

Ihre Lider senkten sich. »Martin Hemming ist nicht mein richtiger Vater. Ich dachte, Sie wissen das.« Dann preßten sich ihre Lippen aufeinander. »Man möchte nicht darüber reden«, fügte sie trotzig hinzu.

»Ich werde nicht darüber reden«, sagte er. »Ist es das, was Sie aufsässig macht, Miriam.«

»Man ist immer gleich aufsässig, wenn man nicht so will wie die Eltern. Warum soll ich eigentlich so lange auf der Schulbank hocken, wo man doch von mir erwartet, daß ich bald mal eine gute Partie mache? Natürlich muß es ein Akademiker sein und möglichst zehn Jahre älter, bestens situiert.« Sie lächelte spöttisch, aber es war ein schiefes Lächeln. »Freilich sollte ich mich auch entsprechend benehmen, aber sie können lange warten. Ich werde nämlich überhaupt nicht heiraten.«

Dr. Norden betrachtete sie ernst. »Es wird ja nicht mehr lange dauern, dann können Sie Ihren Eltern beweisen, was in Ihnen steckt, Miriam«, sagte er ruhig. »Sie sollten sich vorher nur darüber klar werden, daß ein gutes Leben teuer ist. Vielleicht denken Sie auch mal darüber nach, was allein Sportgeräte und die Trainerstunden kosten. Ich meine, wenn man mündig sein will, sollte man das auch wissen.«

Sie sah ihn jetzt mit einem seltsamen Ausdruck an. »Sie werden es vielleicht nicht glauben, aber ich mache mir Gedanken darüber, Herr Dr. Norden«, sagte sie tonlos. »Zumindest seit gestern.«

Mehr sagte sie dazu nicht, aber es schien ihr schon besserzugehen.

»Trinken Sie Kamillentee und essen Sie dazu Zwieback, Miriam«, empfahl er ihr. »Und von diesen Tropfen nehmen Sie stündlich zehn. Es ist ein homöopathisches Mittel und schmeckt auch nicht schlecht. Ich denke, daß Sie dann morgen fit sein werden.«

»Aber sagen Sie Mama nichts, daß ich morgen Fahrprüfung habe«, flüsterte Miriam. »Ich will sie nämlich überraschen.«

»Dann toi, toi, toi, aber vielleicht können Sie sich dazu durchringen, Ihre Eltern auch mit einem einigermaßen guten Abitur zu überraschen.«

Draußen wartete Regine Hemming, eine schlanke, zierliche Frau, die man wirklich schön nennen konnte. Sie sah Dr. Norden fragend an.

»Morgen geht es Miriam bestimmt wieder besser«, sagte er beruhigend. »Sie hat gestern abend anscheinend so ein Mixgetränk nicht vertragen. Jedenfalls war es ihr wirklich schlecht, Frau Hemming.«

»Es ist ja unser Kummer, daß sie so viel mit dieser Lissy und deren Clique beisammenhockt«, sagte Regine Hemming leise. »Mein Mann regt sich darüber sehr auf.«

Sie sah ihn hilflos an und deutete dann auf die Wohnzimmertür. »Wenn Sie ein paar Minuten Zeit hätten«, fügte sie stockend hinzu.

Er nickte zustimmend. Er spürte, daß auch sie Rat brauchte. Regine kam auch gleich zur Sache.

»Ich hörte zufällig, daß Miriam über ihren Stiefbruder sprach, Dr. Norden«, begann sie zögernd. »Wir wollen solche Bezeichnung eigentlich nie aufkommen lassen, aber leider hat Miriam voriges Jahr durch eine Nachlaßsache erfahren, daß Martin nicht ihr richtiger Vater ist. Miriams Vater, ich war mit ihm nur ein paar Monate verheiratet, als er auf tragische Weise ums Leben kam, hatte gar nicht erfahren, daß ich ein Kind erwartete. Er war Bankangestellter und wurde bei einem Überfall auf die Bank getötet. Seine Mutter, die schwer krank war, starb vor Kummer. Sein Vater ging zu einem Freund nach Südafrika. Er unterstützte mich finanziell. Als Miriam geboren war, ergab es sich, daß ich Martin kennenlernte. Seine Frau war bei der Geburt von Bendedikt gestorben. Der Junge war sechs Jahre. Er hatte mich gern. Ich will es kurz machen. Es war anfangs eine Vernunftsheirat, aber ich kann sagen, daß wir uns sehr gut verstanden, und es gab überhaupt keine Probleme, auch zwischen Miriam und Benedikt nicht, bis die Nachricht kam, daß Miriams Großvater gestorben war und sie zur Erbin eingesetzt hatte. Es war ein recht beträchtlicher Nachlaß. Dadurch erfuhr sie jedoch, daß sie einen anderen Vater gehabt hatte, und seither hat sich ihr Verhältnis zu Martin und auch zu Benedikt geändert. Ich kann es nicht begreifen, was da in ihr vor sich ging. Mir machte sie den Vorwurf, daß ich es ihr nicht hätte verschweigen dürfen. Wir haben es doch nur gut gemeint. Wir hatten ein harmonisches Familienleben. Ich fürchte fast, daß sich Miriam dadurch so verändert hat, weil sie nun über ein eigenes Vermögen verfügen kann. Sie ist ja achtzehn. Sie dürfen mich nicht mißverstehen, Dr. Norden. Es ist für Miriam eine Gefahr, von diesem Geld zu wissen.«

Das ist es also, dachte Dr. Norden. Sie fühlt sich unabhängig, sie wagt nur noch nicht den Absprung. Aber zugleich wußte er auch, daß Miriam in dieser intakten Familie zu verwurzelt gewesen war, um Hals über Kopf alles im Stich zu lassen.

»Ist es denn so viel Geld, daß sie sich damit eine Existenz aufbauen könnte?« fragte er.

Regine nickte.

»Das schon, aber Miriam läßt sich ja so leicht ausnutzen. Sie ist gutgläubig und großzügig. Wir wollen sie doch nicht verlieren. Dr. Norden, ich fürchte, daß sie unter dem Einfluß dieser Clique in eine Situation getrieben wird, der sie nicht gewachsen ist. Meinen Mann hat Miriams Benehmen so empfindlich getroffen, daß er jetzt zu einer ungerechten Einstellung neigt. Es gibt jetzt auch zwischen uns Spannungen. Ich bin doch Miriams Mutter. Was soll ich nur tun, damit Miriam begreift, daß wir es nur gut meinen?«

»Vielleicht sollten Sie einmal ganz offen mit ihr sprechen, was Ihnen an ihrem Umgang nicht gefällt, und was Ihren Mann kränkt.«

»Ich habe es versucht, aber sie scheint zu denken, daß ich Martin damals nur geheiratet habe, um mir ein gutes Leben zu verschaffen. Und plötzlich wirft sie mir auch vor, daß ich Benedikt ohnehin viel lieber hätte als sie.«

»Das ist doch ein Zeichen von Unreife«, sagte Daniel Norden. »Immerhin ist zu bedenken, daß sie sehr verwöhnt worden ist und ihr praktisch jeder Wunsch erfüllt wurde, abgesehen davon, daß sie die Schule vorzeitig verlassen wollte.«

»Sie wirft mir vor, daß ich ihr den gütigen Großvater vorenthalten habe, dabei hat er niemals den Wunsch geäußert, Miriam zu sehen, und ich bin sogar davon überzeugt, daß er davon absah, um Miriam nicht in Konflikte zu bringen. Ich hatte ihm mitgeteilt, daß Martin Miriam adoptieren wolle, als wir geheiratet hatten, und er hat mir sehr freundlich seine Zustimmung mitgeteilt. Er schrieb, daß es gut sei, wenn das Kind einen anständigen Vater bekäme.«

»Weiß Miriam das?« fragte Dr. Norden.

»Sie benimmt sich sehr unfair, wenn ich darüber mit ihr sprechen möchte. Und ich muß zugeben, daß ich dadurch auch äußerst gereizt werde, wenn sie sagt, daß Martin gar nicht das Recht hätte, über ihr Leben zu bestimmen. Ich will nicht, daß meine Ehe zerstört wird, aber sie scheint es darauf anzulegen.«

»Vielleicht sehen Sie das jetzt auch zu kraß, Frau Hemming.«

»Wir leiden unter den Spannungen, Benedikt, der Miriam doch wirklich stets ein guter Bruder war. Und am schlimmsten ist es, wie sich Miriam gegenüber Nadja benimmt.«

»Wer ist Nadja?«

»Benedikts Freundin.«

»Entspricht sie Ihren Vorstellungen?«

Er sah, wie sie zögerte. Ihr Blick irrte ab. »Wir kennen sie nur flüchtig«, erwiderte Regine ausweichend. »Jedenfalls läßt Miriam kein gutes Haar an ihr, und als Benedikt Nadja einmal mitbrachte, benahm sie sich so beleidigend, daß es peinlich war. Seither hat Nadja unser Haus nicht mehr betreten.«

»Und wie verhält sich Benedikt?«

Regine zuckte die Schultern. »Aus ihm wird man sowieso nicht klug. Ich glaube nicht, daß er jetzt schon an eine feste Bindung denkt.«

»Vielleicht spielt bei Miriam eine gewisse Eifersucht mit?«

»Eifersucht?« fragte sie bestürzt.

»Es könnte sein. Solange sie nicht wußte, daß sie einen anderen Vater hat, war alles in Ordnung, wie Sie sagen. Dann aber hatte sich etwas verändert. Sie könnte sich in eine Abseitsstellung gedrängt gefühlt haben.«

»Aber das ist doch absoluter Unsinn, ich meine, es ist völlig abwegig.«

»Aus Ihrer Sicht, aber nicht aus der Miriams. Der Vater war plötzlich nicht mehr der Vater, der Bruder nicht der Bruder, und die Mutter gehörte auch zu den beiden. Wahrscheinlich war sie gerade in einer Pubertätsphase, in der Mädchen besonders empfindlich sind. Es könnte sein, daß gerade eine heimliche Liebe mitspielte oder eine enttäuschende Freundschaft. Sie sollten dies einmal behutsam mit Miriam erörtern. Ich möchte mich da jetzt nicht einmischen. Es könnte alles noch verschlimmern.«

Aber später sollte er bereuen, daß er nicht mit Miriam gesprochen hatte.

*

Daniel Norden sprach am Abend mit seiner Frau Fee über Miriam. Sie kannte das Mädchen vom Tennisclub her.

»Weißt du, was Miriam für Bekannte hat?« fragte er.

»Im Club hält sie sich meistens nur zum Spielen auf, und man reißt sich darum, gegen sie anzutreten. Sie ist schon eine Klasse für sich, unheimlich stark für ein

Mädchen. Beim Schwimmen ist sie allerdings mit einer Clique zusammen, die nicht gerade sympathisch ist.«

»Du siehst sie auch dort?« fragte Daniel erstaunt.

»Ich gehe doch mit den Kindern jeden Dienstag eine Stunde, und wenn wir gehen, sind die schon eingetroffen. Da geht es dann gleich laut zu. Die Lissy Ainmiller ist so eine Type. Ich verstehe nicht, daß Miriam sich mit ihr abgibt.«

»Du meinst, weil Ainmiller Metzger ist?«

»Blödsinn. Die Eltern werden sicher nicht viel Freude an ihrer Tochter haben. Lissy ist unter die Punker geraten. Sie sieht grauenhaft aus. Und die dazugehörigen Buben sind auch rechte Rowdys. Ich verstehe schon, wenn Hemming solchen Umgang für seine Tochter nicht gern sieht.«

»Sie ist seine Adoptivtochter«, warf Daniel ein.

»Was du nicht sagst«, staunte Fee. »Woher weißt du das?«

»Von Mutter und Tochter, und seit Miriam davon weiß, scheint es die Probleme zu geben.«

Er erzählte ihr, was er von Regine Hemming erfahren hatte. Fee sah ihn nachdenklich an.

»Sie müßte froh sein, daß sie so einen Vater bekommen hat«, meinte sie.

»Sie hat sich da in andere Ideen verrannt, Liebes. Sie hatte einen Großvater, der ihr eine ganze Menge Geld hinterlassen hat, und vielleicht denkt sie nun, daß ihr Vater so eine Art Märchenprinz gewesen ist. Was man nie kennenlernte, kann man leicht mit einem Glorienschein umgeben. Und ein Mädchen in diesem Alter hat noch Träume.«

»Jede spinnt auf ihre Weise«, sagte Fee lächelnd. »Manche ziehen sich verrückt an, manche laufen den Sekten nach oder ruinieren sich mit Drogen, und andere verlieben sich unsterblich oder wollen Karriere machen, gleichwo. Miriam ist eben sportbegeistert.«

»Aber das paßt doch nicht zu ihrem Umgang«, meinte Daniel.

»Nun, Lissy ist auch eine gute Schwimmerin, wenn es ihr wohl auch mehr darauf ankommt, ihren ganz attraktiven Körper zur Schau zu stellen, und was diesen Umgang anbelangt, könnte Miriam sich ja gerade aus Protest diesen Umgang gesucht haben.«

»Wieso aus Protest, da komme ich nicht mit.«

»Sie wollte nicht mehr zur Schule gehen, und dann sah sie plötzlich auch ihre Welt in Unordnung geraten. Vielleicht hat sie für Martin Hemming geschwärmt, wie viele Mädchen für ihren Vater schwärmen. Ich zum Beispiel. Für mich war Paps doch auch der Größte, der Beste. Ich hatte allerdings keinen Bruder.« Sie machte eine kleine Pause. »Wir hatten doch schon mal so einen Fall mit Stiefgeschwistern, die wie Königskinder zusammen nicht kommen konnten, obgleich sie sich so lieb hatten. Bis das Schicksal sich gnädig erwies und die Hindernisse aus dem Weg geräumt wurden.«

»Benedikt Hemming hat eine Freundin, die Miriam nicht ausstehen kann. Wohl gemerkt, Miriam kann diese Nadja nicht ausstehen.«

»Nadja? Sollte das Nadja Möneman sein?«

»Weiß ich nicht. Frau Hemming hat den Nachnamen nicht erwähnt.«

»Wenn es sich um Nadja Möneman handelt, könnte ich Miriam verstehen. Das ist ein Unterschied wie Tag und Nacht. Nadja ist eine Mondscheinprinzessin, so ätherisch, daß man meint, sie müsse jeden Augenblick zerfließen Ja, sie himmelt Benedikt Hemming an, und wie, dabei hat sie es faustdick hinter den Ohren.«

»Feelein, ich muß doch bitten. Keine Verleumdungen«, sagte Daniel warnend.

»Ich sage ja gar nichts weiter. Ich weiß, was ich weiß.«

»Und was weißt du?«

»Du denkst doch, daß ich sie verleumden will«, meinte Fee neckend. »Aber ich habe Nadja schon zweimal rein zufällig mit dem gleichen Mann gesehen, aber es war nicht Benedikt Hemming. Den kenne ich ja vom Tennisclub.«

»Meine Güte, man hat doch Bekannte«, sagte Daniel. »Man trifft sich mal hier, mal dort, da braucht doch nichts dabei zu sein.«

»Nicht, wenn man im Auto schmust, oder besagten Mann besucht. Aber ich will Nadja Möneman nicht verleumden. Ich sage nur, was ich mit eigenen Augen gesehen habe, und beide Male nicht weit entfernt von hier.«

»Wo?«

»Jetzt bist du aber neugierig«, lachte sie. »Du weißt doch, daß ich Muttchen Peiper öfter besuche und ihr ein bissel was zum Naschen bringe, seit sie nicht mehr aus dem Haus gehen kann, und meine Beobachtungen betreffen das Nebenhaus, das an einen Fotografen vermietet ist. Er heißt Rainer Volkmann.«

»Du hast nie was davon gesagt.«

»Bis jetzt war es ja auch nicht von Interesse«, meinte Fee heiter.

»Sieht er gut aus?« fragte Daniel.

»Es kommt auf den Geschmack an. Mein Typ wäre er nicht, mein Schatz. So auf Elvis Presley getrimmt. Aber wir wollten ja über Miriam reden.«

»Bei uns ist es schon komisch«, brummte Daniel, »kaum fällt ein Name, wird schon ein ganzer Roman drumherum gesponnen.«

»Die besten Romane schreibt das Leben«, sagte Fee mit einem hintergründigen Lächeln.

*

Benedikt Hemming setzte sich mit lustloser Miene an den Abendbrottisch.

»Was ist dir denn für eine Laus über die Leber gekrochen?« fragte sein Vater.

»Nichts, ich bin mit meinen Gedanken bei meiner Doktorarbeit. Manchmal habe ich das Gefühl, daß ich bei den Versuchen die Arbeit mache und Möneman streicht die Lorbeeren ein.«

Martin Hemming blickte überrascht auf. »Vielleicht hängt sich Nadja deshalb so an dich, damit du bei der Stange bleibst«, sagte er kühl und sachlich. Regine zuckte zusammen und sah ihren Mann verschreckt an. Obgleich sie ihn nun ganz zu kennen glaubte, reagierte er manchmal ganz anders, als sie erwartet hatte. Und Benedikt auch. »Wo steckt denn Miriam?« fragte er.

»Sie fühlt sich nicht wohl«, erwiderte Regine. »Dr. Norden war schon da und hat ihr Tee und Zwieback verordnet.«

»Hat sie auch einen Kater?« fragte Benedikt beiläufig.

»Wieso auch?« fragte Martin Hemming gereizt.

»Weil ich ein paar Leute kenne, die auch auf der Party waren. Da müssen sie ein schlimmes Zeug zusammengemixt haben«, erwiderte Benedikt. »Keine Sorge, Gift war es nicht.«

»Ihr habt wirklich eine seltene Art von Humor«, stellte Martin Hemming fest.

»Sag nur nicht, daß es in eurer Jugendzeit anders war. Das ist doch längst widerlegt«, meinte Benedikt.

»Aber Miriam ist ein Mädchen« erklärte sein Vater unwillig.

»Auch Mädchen müssen ihre Erfahrungen machen. Sei doch nicht immer gleich so brummig, Paps.«

Regine warf ihm einen dankbaren Blick zu. »Ich werde mal nach Miriam sehen«, erklärte Benedikt Hemming.

Regine war sich nicht sicher, ob er recht daran tat, aber sie wollte ihn nicht zurückhalten. Ihr ging soviel durch den Sinn, und jetzt sah sie ihren Mann wieder ängstlich an, eine zornige Bemerkung fürchtend.

»Es muß sich doch bei uns mal wieder normalisieren«, brummte er jedoch nur. »Schau mich nicht immer so an, als würde ich beißen, Regine.«

Ihr Gesicht entspannte sich. Ein Lächeln legte sich nun um ihren hübschen Mund. Sie sah sehr anmutig aus.

»Wenn Miriam doch nur ein bißchen mehr von dir hätte«, sagte er leise.

Regine dachte daran, daß so manch einer gesagt hatte, sie sei Martin ähnlich, und tatsächlich niemand auf den Gedanken gekommen war, daß sie einen anderen Vater haben könnte.

Für Benedikt war dies allerdings auch ein Schock gewesen. Er konnte sich zwar daran erinnern, daß Regine erst später zu ihnen gekommen war, denn da war er schon sieben Jahre gewesen, oder wenigstens fast, aber das Baby hatte ja auch von Anfang an dazu gehört, und er hatte sich keine Gedanken gemacht, daß sein Vater nicht auch Miriams Vater wäre.

Sie hatten sich immer gut verstanden. Er hatte die Kleine bewacht und beschützt, ihr bei den Schulaufgaben geholfen, ihr den ersten Schwimm­und auch den ersten Tennisunterricht gegeben, und wenn es in der Schule irgendwo haperte, war sie immer zu ihm gekommen. Wenn sie mal krank war, hatte er bei ihr gesessen und ihr die Langeweile vertrieben.

Als er jetzt eintrat, verzog sie unwillig das Gesicht.

»Laß uns doch mal wieder miteinander reden, Miriam«, sagte er bittend. »Es hat sich doch nichts geändert zwischen uns.«

»Meinst du«, sagte sie aggressiv.

»Dann sag doch, was dich beschwert.«

»Behandelt mich doch nicht immer wie ein Kind. Ich bin erwachsen.«

»Das bestreitet doch niemand, aber auch Erwachsene haben ihre Probleme. Ich habe gehört, was man da gestern abend zusammengemixt hat. Und so unterschiedlich wie die Zutaten sind auch diese Typen, Miriam. Da muß doch etwas Unbekömmliches herauskommen.«

»Hauptsache, deine Nadja ist dir bekömmlich!« brauste sie auf, und da war er doch konsterniert.

»Jedenfalls bewegt sie sich nicht in Punkerkreisen!« stieß er erzürnt hervor.

Miriam kniff die Augen zusammen. »Du wirst hoffentlich dahinterkommen, mit was für Leuten sie sich herumtreibt«, sagte sie wütend. »Laß mich in Ruhe, ich will schlafen.«

»Dann wünsche ich dir eine gute Nacht«, sagte er heiser und ging.

Er wünschte auch seinen Eltern eine gute Nacht. »Miriam ist müde und nicht zu einem Gespräch aufgelegt«, erklärte er nur.

Ihm ging diese Bemerkung über Nadja nicht aus dem Sinn. Es war ja nicht so, daß er gar nichts an Nadja auszusetzen gefunden hätte, aber er wußte auch, daß Miriam nicht unbegründet boshafte Bemerkungen machte. Aber die Abneigung beruhte auf Gegenseitigkeit, denn Nadja ließ es nicht an abfälligen Bemerkungen über Miriam mangeln.

Nun, ihm gefiel Miriams Umgang auch nicht. Wenn sie sich schon so erwachsen fühlte, sollte sie es endlich auch darin beweisen, wählerischer zu werden.

Es ärgerte ihn maßlos, wenn sie in einen Topf mit Lissy Ainmiller geworfen wurde und Jochen Breitenfeld als ihr Busenfreund galt.

Er schlief sehr unruhig in dieser Nacht. Wirre Träume bewegten diesen Schlaf, ließen Miriams und Nadjas Gesichter ineinander fließen, und dann das Bild, wie Nadja auf Miriam zustürzte und Miriam abwehrend die Hände hob.

Als er herunterkam, saßen die Eltern und Miriam bereits am Frühstückstisch. Miriam sah sehr blaß aus und war schweigsam. Aber sie war nahezu damenhaft gekleidet, trug ein Trachtenkostüm und eine weiße Bluse mit Lochstickerei. Es war seltsam, daß er sich alles so genau merkte, auch daß sie weiße Kniestrümpfe und grüne Wildlederschuhe anhatte.

»Ich kann dich zur Schule bringen«, sagte Benedikt.

»Danke, ich fahre mit der S-Bahn, wie immer«, erwiderte sie. »Ich gehe heute nachmittag noch schwimmen. Training.«

»Nimm was zu essen mit«, sagte Regine.

»Ich kaufe mir Würstl«, bekam sie zur Antwort. Dann verabschiedete sich Miriam auch schon mit einem kurzen Tschüs.

»Sie kann so hübsch aussehen«, bemerkte Martin. »Vielleicht besinnt sie sich jetzt doch.«

Benedikt dachte wieder an Miriams Bemerkung über Nadja und an seinen Traum.

»Vielleicht hätte man ihr doch die Freiheit lassen sollen, sich nur auf den Sport zu konzentrieren«, sagte

er.

»Später hätte sie es bereut«, erklärte Martin. »Ich kenne das. Sie hat ja sonst Freiheiten genug.«

Regine äußerte sich nicht. Sie dachte darüber nach, warum Miriam sich heute so zivil gekleidet hatte. Gerade das Trachtenkostüm hatte sie überhaupt nicht gemocht, obwohl es besonders hübsch war.

*

An diesem Morgen brachte Fee Norden ihre beiden Buben zur Schule, da sie in der Stadt einige Besorgungen machen wollte und sie mit dem Frühstück ziemlich spät fertig geworden waren.

Und so geschah es, daß sie Miriam Hemming sah und sich ebenfalls wunderte, daß das Mädchen so schick gekleidet war. Miriam war allerdings nicht zur S-Bahn gegangen. Fee Norden bemerkte, wie sie in den Wagen einer Fahrschule einstieg. Gestern war sie krank, und heute nimmt sie Fahrstunde, dachte Fee. Ob Daniel sich nicht doch von ihr hinters Licht führen läßt? Sie schwänzt dafür doch bestimmt wieder die Schule.

Sie kannte den Fahrlehrer. Er war ein Patient von Daniel, ein netter junger Mann. Ob sie sich für den so flott hergerichtet hat, fragte sich Fee auch.

Doch besagter Fahrlehrer, namens Hans Lingner, staunte ebenfalls.

»Wenn Sie meinen, daß Sie den Prüfer beeindrucken können, Fräulein Hemming, muß ich Sie warnen. Bei dem kommt es bloß darauf an, daß Sie nicht den winzigsten Fehler machen.«

»Ich habe nicht die Absicht, irgendeinen Mann zu beeindrucken«, konterte Miriam eisig. »Hoffentlich muß ich nicht zu lange warten, ich habe heute nämlich noch allerhand vor.«

Sie brauchte nicht zu warten. Sie kam zuerst an die Reihe und beeindruckte auch Hans Lingner mit ihrer Ruhe und Konzentration. Sie ließ sich durch nichts irritieren, auch nicht durch einen irreführenden Hinweis des Prüfers.

Als sie dann ihren Führerschein in Empfang nahm, zeigte sie auch keine strahlende Freude wie so viele. Sie sah den Prüfer an und bemerkte ironisch: »Ich finde es unfair, wenn Sie Fahrschüler irritieren. Ich könnte mich beschweren, hoffentlich merken Sie sich das.« Und dann ging sie, und die beiden Männer blickten ihr sprachlos nach.

»Mit der möchte ich mich nicht anlegen«, sagte Hans Lingner. »Das ist ein eiskaltes Girl.«

Miriam bestieg wenig später ein Taxi und ließ sich zur Bank bringen. Dort wurde sie äußerst zuvorkommend behandelt. Von dort aus bestieg sie die S-Bahn und fuhr zum Hauptbahnhof. Aus einem Schließfach nahm sie einen Koffer, und wenige Minuten später verließ der Intercity-Zug nach Frankfurt München. In einem Abteil Erster-Klasse saß Miriam Hemming allein.

*

Am Nachmittag wurde Dr. Norden zum Metzgermeister Ainmiller gerufen. Sie bewohnten einen modernen Bungalow in einem Neubauviertel am Rand der Stadt. Man hatte es zu etwas gebracht und zeigte das gern. Aber die Ainmillers waren nicht übermütig geworden. Sie waren fleißige Leute. Erna Ainmiller stand jeden Tag von früh bis spät im Geschäft. Ihre Mutter führte den Haushalt. Lissy Ainmiller war kein Einzelkind, sie hatte noch zwei jüngere Geschwister, die härter an die Kandare genommen wurden als sie, da die Eltern es schon längst eingesehen hatten, daß sie der hübschen Tochter zu viele Freiheiten gelassen hatten.

Jetzt waren sie allerdings äußerst besorgt um ihre Tochter, die völlig apathisch und fiebernd im Bett lag.

Es war Mittwochnachmittag, das Geschäft war geschlossen. Erna Ainmiller hatte vor Aufregung rote Flecken im Gesicht, als sie Dr. Norden empfing.

»Es ging Lissy schon gestern nicht gut, aber mein Mann hat Krach gemacht, weil sie am Abend zuvor auf dieser Party war. Er hat verlangt, daß sie zur Schule gehen soll. Ich habe das dann doch verhindert, aber Hermann darf es nicht wissen, Herr Doktor. Ich weiß nicht, was die jungen Leute treiben. Ich muß mich halt ums Geschäft kümmern, und meine Mutter hat einfach nicht mehr die Nerven, sich durchzusetzen.«

»Ich habe schon gehört, daß da so ein Mixgetränk, angeblich eine Bowle, eine scheußliche Wirkung hatte. Miriam Hemming war auch krank. lch war gestern bei ihr. Aber Frau Hemming rief mich heute vormittag an und sagte, daß Miriam wieder zur Schule gegangen wäre.«

»Das hat sie gesagt? Das stimmt aber nicht. Miriam war auch nicht in der Schule. Jochen Breitenfeld war vorhin hier und hat sich nach Lissy erkundigt. Da hat er es gesagt.«

So war Dr. Norden nach den Ainmillers der erste, der davon erfuhr, daß Miriam nicht in der Schule gewesen war.

Aber er mußte sich jetzt um Lissy kümmern, deren Zustand so bedenklich war, daß er sie in die Klinik bringen ließ. Die Aufregung im Hause Ainmiller war grenzenlos, als er erklärt hatte, daß sie Vergiftungserscheinungen aufwies.

Sie war nicht ansprechbar, als sie mit dem Notarztwagen in die Behnisch-Klinik gefahren wurde. Eine Diagnose war nicht gleich zu stellen. Entweder hatte sie bedeutend mehr als Miriam von dieser sogenannten Bowle getrunken, oder sie hatte zusätzlich Tabletten genommen, die in der Verbindung mit dem Alkohol diese schreckliche Wirkung hervorriefen. Allerdings konnte auch eine bisher nicht erkannte organische Erkrankung mitspielen, und es stellte sich nach eingehender Untersuchung dann auch heraus, daß eine schwere Nierenbeckenentzündung vorlag. Eine andere Untersuchung ergab, daß Lissy eine beträchtliche Menge barbiturhaltiger Medikamente eingenommen haben mußte.

Jetzt schwebte sie jedenfalls in Lebensgefahr, und Dr. Norden hätte gerne Miriam befragt, was sie über Lissys Gewohnheiten wußte, aber als er bei den Hemmings vorbeifuhr, erklärte ihm Regine, daß Miriam nicht zu Hause sei und wohl erst später kommen würde, da sie noch zum Schwimmen gehen wollte.

»Ich will Ihnen keinen Schrecken einjagen, Frau Hemming«, sagte Dr. Norden, »aber ich habe erfahren, daß Miriam heute nicht in der Schule war.«

Regine wurde blaß. »Woher wissen Sie das?« fragte sie bebend.

Er berichtete, was mit Lissy geschehen war. »Mein Gott«, rief Regine aus, »sie wird doch nicht irgendwo zusammengeklappt sein.«

»Dann wären Sie wohl schon benachrichtigt worden«, erwiderte Dr. Norden beruhigend.

»Wenn sie einen Ausweis dabei hat, aber den läßt sie doch meistens zu Hause.«

»Jetzt nur keine Aufregung. Miriam geht es längst nicht so schlecht wie Lissy. Aber wenn sie heimkommt, wäre ich sehr dankbar, wenn sie mich anrufen würde.«

Zutiefst beunruhigt ging Regine hinauf zu Miriams Zimmer. Das Hausmädchen hatte aufgeräumt und das Bett gerichtet. Sonst sah es aus wie immer, denn Miriam war äußerst ordnungsliebend, fast pedantisch, was ihr eignes Reich betraf. Es war ein sehr hübsches Zimmer. Sie hatte es sich ganz nach ihrem Geschmack einrichten können, als sie dem Spielalter entwachsen war und hatte Geschmack dabei bewiesen. Sie bevorzugte klare Linien und klare Farben. Regine hatte ihren Kindern nie nachspioniert. Auch Benedikt bezeichnete sie als ihr Kind. Es gab in dem Haus keine verschlossenen Türen

und Schubladen, Martins Arbeitsbereich ausgenommen, aber er verwahrte ja auch Unterlagen, die geheim waren.

Regine wußte, wo Miriam ihre Papiere aufbewahrte, ihre Zeugnisse, Ausweise, ihre Urkunden, die sie für sportliche Leistungen bekommen hatte, ihr Sparbuch und ihre Kontoauszüge, seit sie über diese allein verfügen konnte.

Sie öffnete jetzt die Schreibtischschublade. Die Ausweise, die Kontoauszüge und das Sparbuch waren nicht vorhanden.

Ihr wurde es plötzlich schwarz vor Augen, denn sie entdeckte einen Zettel, auf dem in flüchtiger Schrift geschrieben stand:

Sucht mich nicht, ich gehe meine eigenen Wege. Es muß sein. Ich liebe Euch sehr, über ich fühle mich nicht mehr dazugehörig.

O nein, dachte Regine, das kann doch nicht sein, das darf nicht sein, und als sie unten die Tür gehen hörte, eilte sie die Treppe hinunter, hoffend, daß Miriam doch kommen würde. Aber es war Benedikt. Ihre Augen waren blind vor Tränen, als sie Halt am Treppengeländer suchte.

»Was ist, Mami?« fragte er erschrocken. Er eilte auf sie zu und stützte sie.

»Miriam ist weg, sie hat uns verlassen«, murmelte sie tonlos.

»Das ist doch nicht möglich«, sagte Benedikt fassungslos. Und dann kam auch schon Martin. Er erstarrte, als Benedikt ihm die Erklärung gab.

Er rannte die Treppe hinauf und fand den Zettel auf dem Schreibtisch, wohin ihn Regine gelegt hatte.

»Wenn da nicht diese Lissy dahintersteckt«, stieß er erbittert hervor.

»Bestimmt nicht«, flüsterte Regine. »Lissy liegt schwerkrank in der Behnisch-Klinik. Dr. Norden war bei mir. Von ihm habe ich erfahren, daß Miriam nicht in der Schule war, und da habe ich in ihrem Zimmer nachgeschaut. Und nun das, ich verstehe es nicht, Martin«, weinte sie auf.

»Wir müssen Ruhe bewahren«, sagte er rauh. »Manchmal rennen sie einfach weg, wenn irgendwas passiert ist, und dann überlegen sie es sich doch und kommen heim.«

»Aber was könnte passiert sein?« tragte Benedikt.

»Vielleicht wird sie nicht versetzt, oder es ist was mit einem Freund. Herrgott, es gibt doch so viele Möglichkeiten, wir müssen alles durchdenken und nachforschen. Aber jetzt können wir doch noch hoffen, daß sie zurückkommt.«

Doch zu dieser Zeit saß Miriam schon in einem Flugzeug, das nach Südafrika flog. In ihrem leichten Gepäck befand sich ein Brief, den sie vor ein paar Tagen bekommen hatte und über den sie zu niemandem gesprochen hatte.

In diesem hatten die Freunde ihres Großvaters geschrieben, daß sie sich freuen würden, wenn sie einmal zu Besuch kommen würde, denn sicher würde sie sich doch dafür interessieren, wie ihr Großvater gelebt hatte. Und er hätte sich doch so sehr gewünscht, sie bei sich zu haben.

Meine Chance, hatte sie gedacht. Es gibt jemanden, der mich aufnehmen wird. Ich brauche nicht ohne Ziel hinauszugehen in die Welt. Und wie so manche ihres Alters dachte sie nicht, was dies für Folgen haben könnte. In ihrer inneren Zerrissenheit hatte sie einen Ausweg gesucht und einen Weg gefunden. Sie hatte es als einen Fingerzeig des Schicksals betrachtet, als dieser Brief kam, und zugleich als eine Herausforderung an sie, sich selbst und den anderen zu beweisen, daß sie unabängig ihren Weg gehen konnte.

Es war halb acht, als bei Dr. Norden privat das Telefon läutete. Fee nahm den Hörer auf, denn Daniel war gerade bei den Kindern, um ihnen den Gutenachtkuß zu geben. Er war gerade erst heimgekommen. Sie hatten noch nicht miteinander sprechen konnen.

Sie war erstaunt, als Martin Hemming sich meldete. »Meiner Frau geht es nicht gut«, sagte er heiser. »Ich wäre Dr. Norden sehr dankbar, wenn er noch kommen könnte.«

»Ich sage meinem Mann Bescheid«, erwiderte Fee, und seufzend legte sie den Hörer wieder auf.

Wieder nichts mit einem gemütlichen Abend, dachte sie.

»Du möchtest zu den Hemmings kommen«, sagte sie, als er die Treppe herunterkam.

»Hat Miriam angerufen? Wir hätten das auch am Telefon besprechen können.«

»Martin Hemming sagte, daß es seiner Frau nicht gutgeht. Miriam ging es heute morgen jedenfalls wieder so gut, daß sie Fahrstunde nehmen konnte.«

»Fahrstunde?«

»lch habe gesehen, wie sie in Lingners Wagen einstieg.«

»Merkwürdig, in der Schule war sie nicht.«

»Woher weißt du das?« fragte Fee erstaunt.

»Lissy Ainmiller ist schwerkrank. Ich habe sie in die Behnisch-Klinik bringen lassen. Wer weiß, was da wieder passiert ist. Eigentlich ist Miriam doch ein recht anständiges Mädchen. Weiß der Himmel, was so manchmal in diese Teenager fährt.«

Aber er machte sich auf den Weg zu den Hemmings. Und dort fand er alle vor, nur nicht Miriam. Regine hatte die Verzweiflung gepackt. Sie hatte einen regelrechten Schüttelfrost.

Martin Hemming zeigte Dr. Norden den Zettel, den Miriam hinterlassen hatte.

Der Arzt schüttelte den Kopf. »Vielleicht eine Kurzschlußhandlung, weil Lissy Ainmiller so schwer erkrankt ist, oder es klappt mit den Fahrstunden nicht so, wie er es sich vorgestellt hat. Diese jungen Dinger drehen da manchmal durch.«

»Wieso Fahrstunden?« fragte Martin. »Weißt du davon was, Benedikt?«

»Nein, sie hat nichts gesagt.«

»Dir auch nichts, Regine?«

»Nein, mir auch nicht. Ich verstehe überhaupt nichts mehr«, weinte Regine auf.

»Sprechen Sie doch mal mit Hans Lingner«, sagte Dr. Norden. »Meine Frau hat heute morgen zufällig gesehen, wie Miriam in einen Wagen der Fahrschule einstieg.«

»Wenn sie nur nicht in schlechte Gesellschaft geraten ist«, sagte Regine schluchzend. »Das mit der Party hat mir gar nicht gefallen.«

»Ich werde da gleich mal nachfragen«, sagte Benedikt entschlossen. »Ich kenne ja ein paar aus dieser Clique.«

Und er machte sich gleich auf den Weg. Dr. Norden gab Regine ein Beruhigungsmittel. Mehr konnte er jetzt nicht für sie tun. Trostworte halfen ihr auch nicht.

Martin Hemming begleitete Dr. Norden zur Tür. »Ich verstehe das Mädchen nicht«, sagte er leise und man sah ihm an, wie besorgt auch er war. »Wir haben uns doch immer so gut verstanden. Sie hätte nie erfahren dürfen, daß sie adoptiert ist. Diese Erbschaft von ihrem Großvater hat sie völlig aus dem Gleichgewicht gebracht.«

»Gibt es da noch andere Verwandte?« fragte Dr. Norden.

»Regine hatte mit niemandem Verbindung. Ich kann es mir auch nicht vorstellen, sonst wären die doch auch erbberechtigt gewesen. Ich gönne es Miriam ja, daß sie ein ganz ansehnliches Vermögen bekommen hat, aber bei uns hatte sie doch auch alles. Sie war nicht anspruchsvoll. Sie hatte immer einen sozialen Tick. Nicht, daß ich etwas dagegen gehabt hätte, aber leider hat sie sich auch ihren Umgang unter jungen Leuten gesucht, die nur provozieren wollten.«

»Dafür hat sie sich aber noch recht normal benommen«, sagte Dr. Norden.

Martin Hemming wurde verlegen. »Sie hatte sehr viel gegen unseren Bekanntenkreis.«

»Auch gegen die Freundin Ihres Sohnes«, bemerkte Dr. Norden beiläufig. »Vielleicht hat es sie gestört, daß diese so voll akzeptiert wurde.«

»Aber davon kann doch gar nicht die Rede sein«, sagte Martin Hemming heiser. »Ich bin da sehr vorsichtig. Benedikt macht mit Dr. Möneman Versuche, die er auch für seine Doktorarbeit verwenden will, und ich hege den Verdacht, daß er dabei von Möneman ziemlich ausgenutzt wird und Nadja ihn bei der Stange halten will. Sie ist eine Katze, die ihre Krallen nicht zeigt. Aber das behalten Sie bitte für sich, sonst stehe ich noch als Vater da, der seinen Kindern alles versauern will.«

Die Beobachtungen, die Fee über Nadja Möneman gemacht hatte, wollte Dr. Norden lieber für sich behalten. Es sah ein bißchen zu sehr nach Klatsch aus.

»Rufen Sie mich bitte an, wenn ich gebraucht werden sollte«, sagte er, »und vor allem dann, wenn Miriam wieder heimkommt. Bitte, seien Sie nicht zu streng mit ihr.«

»Ich werde froh sein, wenn sie kommt«, erwiderte Professor Hemming.

*

Fee atmete auf, als ihr Mann doch so bald wieder heimkam. »Ist Miriam wieder da?« fragte sie.

»Nein, und anscheinend ist sie ausgebüxt. Aber ich halte sie doch für so vernünftig, daß sie wieder nach Hause geht.«

Er berichtete von dem Zettel, er sagte auch, welche Gedanken sich Professor Hemming über Nadja machte.

»Er ist ein kluger, besonnener Mann«, sagte Fee. »Hoffentlich gerät Benedikt auch nach ihm. Er ist doch gar nicht der Typ, der sich um den Finger wickeln läßt.«

Das war Benedikt Hemming nun gewiß nicht. Er hatte die jungen Leute aufgesucht, die er aus der Clique kannte, jene, mit denen man halbwegs vernünftig reden konnte, und zu denen gehörte auch Jochen Breitenfeld. Und von dem hatte er dann etwas erfahren, was ihn veranlaßte, Nadja aufzusuchen. Es war zwar spät, aber diesmal setzte er sich über die Konventionen hinweg.

Man war erstaunt, als er im Hause Möneman erschien. Ihm wurde gesagt, daß Nadja sich doch eigentlich mit ihm treffen wollte. So hatte sie es jedenfalls gesagt.

Er entschuldigte sich mit der Ausrede, daß er es vergessen haben könnte, weil es seiner Mutter nicht gutgehe und verabschiedete sich wieder, um auch hier ein Elternpaar konsterniert zurückzulassen. Und dann machte er sich auf den Weg zu Rainer Volkmann, denn das war der Name, den Jochen Breitenfeld erwähnt hatte.

Er sah mehrere Wagen vor dem kleinen, alten Haus stehen, aus dem laute Musik erschallte. Und er entdeckte auch Nadjas Wagen.

Benedikt war an sich ein besonnener junger Mann, doch die Aufregung um Miriam machte ihn unruhig und aggressiv. Er überlegte nicht lange. Er läutete.

Ein junges Mädchen in einem sehr offenherzigen Kleid öffnete ihm. »Na, da kommt ja noch ein Mannsbild«, rief es aus. »Nur herein.«

»Ist Nadja da?« fragte Benedikt barsch, aber das Mädchen hatte schon eine Tür aufgestoßen, und er sah Nadja Wange an Wange mit Rainer Volkmann tanzen. Er kannte ihn vom Sehen.

»Danke, das genügt«, rief er laut. Nadjas Kopf fuhr herum. Ihre Augen flackerten.

Benedikt ging schon hinaus. Sie kam ihm nachgelaufen. »Stell dich doch nicht so an«, sagte sie. »Wieso bist du hier?«

»Deine Eltern sagten mir, daß du mit mir verabredet wärest. Mich kannst du in Zukunft nicht mehr als Alibi benutzen, Nadja«, sagte er aggressiv.

»Mein Gott, mach doch nicht solch Theater. Ein paar Freundinnen haben mich verzogen, ist das denn so schlimm?«

»Die Spatzen pfeifen es schon von den Dächern, daß du hier ein und aus gehst, nur ich Blödmann habe das noch nicht gewußt. Und Miriam hat es mir nicht gesteckt.«

»Du weißt doch selbst, in welchem Milieu sie sich wohl fühlt.«

»Und du? Was ist das hier für ein Milieu? Nadja, der reine Engel«, höhnte er. »Amüsier dich gut.«

»Benedikt, ich bitte dich, ich habe mich einmal überreden lassen…«

»Halt den Mund«, fauchte er sie an, »sonst bringe ich dir Zeugen, wie oft du einsam und traurig zu Hause von mir geträumt hast, du verlogenes Biest!« Jetzt war der Gaul mit ihm durchgegangen. »Und dein Vater kann sich einen anderen Trottel suchen, der die Arbeit für ihn macht.«

Da stand Rainer Volkmann in der Tür. »Komm rein, Nadja. Laß den Heini doch laufen, diese Flasche«, rief er. »Jetzt wird er es schon aufgeben, dir nachzulaufen.«

Benedikt maß Nadja mit einem verächtlichen Blick. »Dein Milieu«, sagte er eisig. »Da gehörst du hin.«

Und dann stieg er in seinen Wagen. Mit verzerrtem Gesicht drehte sich Nadja zu Volkmann um. »Jetzt hast du alles kaputtgemacht!« zischte sie. »Wenn mein Vater das erfährt, es ist nicht auszudenken!«

*

Als Benedikt heimkam, war er grau im Gesicht. »Was ist mit Miriam?« fragte sein Vater erregt.

»Wo ist Mami?« fragte Benedikt tonlos.

»Sie schläft. Dr. Norden hat ihr etwas gegeben. Ist etwas Schlimmes passiert?«

»Keiner weiß, wo Miriam ist«, erwiderte Benedikt. »Aber ich muß mit dir reden, Papa. Ich habe eine ganze Menge erfahren.«

»Möchtest du einen Drink?«

»Einen Magenbitter, mir ist schlecht.«

»Haben sie dir auch so ein Gesöff vorgesetzt?«

»Ich werde mich hüten, so was zu trinken. Aber ich glaube, die Clique hat auch fürs Nächste genug. Das hat so ein Typ eingebrockt, der Volkmann heißt. Ich muß mich erst beruhigen.«

»Wir haben Zeit, viel Zeit, mein Junge. Wenn ich nur wüßte, wo Miriam steckt.«

»Das weiß keiner. Lissy vielleicht, aber die ist nicht ansprechbar. Ich habe mit Jochen Breitenfeld gesprochen. So schlimm sind diese Burschen gar nicht. Und von Miriam haben sie ihre eigene Meinung. Bei der läuft nichts, hat jeder gesagt, von wegen Sex und Drogen. Und Lissy hat nur den Größenwahn. Sie will zum Film, und deshalb hat sie sich an diesen Volkmann herangemacht. Aber der Clou kommt noch, Paps. Nadja hat ein Verhältnis mit diesem Fotografen.«

»Mit welchem Fotagrafen?« fragte Martin Hemming rauh.

»Eben diesem Rainer Volkmann. Und Miriam hat das gewußt. Jochen Breitenfeld hat es mir gesagt. Sie hat sich an jenem Abend mit Lissy gestritten. Lissy wollte sie auch zu Aufnahmen überreden.«

»Zu Aufnahmen?«

»Na ja, so Reklameaufnahmen. Ich weiß doch auch noch nicht so genau, was er macht, aber ich werde mich damit befassen. Jedenfalls sind mir über Nadja die Augen aufgegangen.«

»Wenigstens etwas Gutes«, sagte Martin ruhig. »Nun erzähle mal der Reihe nach.«

*

Es war so gewesen, daß acht junge Leute Geburtstag feiern wollten. Das Geburtstagskind war ein Schulfreund, und die anderen hatten alle etwas mitgebracht, wie es üblich war.

Sie hatten eine Bowle angesetzt.

Lissy kam mit Verspätung.

»Jochen Breitenfeld hat gesagt, sie wäre ziemlich high gewesen«, erklärte Benedikt mit düsterer Miene.

»High? Du meinst aufgeputscht?« fragte Martin.

»Ich kann es nicht feststellen, Paps, aber Jochen meinte es. Sie sagte, daß sie einen tollen Job hätte und kippte noch eine Flasche in die Bow­le. Jochen sagt, daß Miriam ziemlich wenig davon getrunken hätte, und sie muß Lissy ziemlich scharf angeredet haben. Und dann ist dieser Volkmann aufgekreuzt. Da ist Miriam ganz sauer geworden. Sie hat Lissy rausgezogen, und Jochen ist ihnen gefolgt. Miriam hat Lissy ein paar runtergehauen, und über Nadja haben sie geredet, und dann hat Miriam wohl zu Lissy gesagt, es wäre aus zwischen ihnen, wenn sie sich so billig machen würde. Jochen hat gesagt, es wäre sowieso alles Krampf gewesen. Im Grunde haben sie eines Tages alle die Nase voll und kriegen einen Moralischen, wenn nicht einer dabei ist, der sie aufstachelt. Sie reden über die Schule, über die Zukunft, meine Güte, dieses Stadium machen doch alle mal durch, so oder so, die einen früher, die andern später.«

»Weich nicht aus, Benedikt. Du weißt jetzt, was du von Nadja zu halten hast, aber was ist mit Miriam?«

»Jochen sagt, daß sie überhaupt kaum noch was geredet hat, sondern immer nur dabeisaß und zuhörte. Er hat sie dann nach Hause gebracht. Sie hat gesagt, daß sie alles anekelt. Ja, und sie hat gesagt, daß das ja dumme Jungens wären, aber daß ich auch nicht gescheiter wäre und auf so eine miese Nudel wie Nadja hereinfalle, könne sie nicht begreifen. Und dieser achtzehnjährige Jochen hat es mir auch noch mal ins Gesicht gesagt. Es hat mich getroffen, Paps. Und ich konnte mich davon überzeugen, daß es nicht nur Klatsch ist. Aber wie dem auch sei, damit zaubern wir Miriam nicht herbei.«

Mit schweren Schritten ging Martin Hemming durch den Raum. »Ich habe mit Lingner gesprochen, mit dem Fahrlehrer. Miriam hat ihre Fahrprüfung glänzend bestanden. Das wäre also kein Grund für Depressionen gewesen. Sie hat ihren Führerschein genommen und dem Prüfer noch eine Lektion erteilt, daß es unfair sei, Fahrschüler zu irritieren. Dann ist sie gegangen.«

»Aber sie ist nicht heimgekommen«, sagte Benedikt tonlos. »Und ich fühle, daß ich daran auch mitschuldig bin.«

»Du, wieso?«

»Sie hat die Achtung vor mir verloren, wegen Nadja.«

»Du liebe Güte, dramatisiere das doch nicht. Du bist ihr sechs Jahre älterer Bruder und kein Heiliger.«

»Sie sieht eben nicht mehr den Bruder in mir, Paps, sondern einen Mann, der auch nicht anders ist als Volkmann und Konsorten. Jochen, dieser Achtzehnjährige, hat gesagt, daß sie mehr im Kasten hat als die andern alle zusammen. Und sie hat sich so um Lissy gekümmert, weil die eben einen schwachen Charakter hat.«

»Und wir haben es nicht begriffen«, sagte Martin heiser.

»So ist es, Paps.«

»Wir müssen sie finden, Benedikt. Ich gehe morgen zur Polizei.«

*

Professor Martin Hemming ahnte schon, was ihm bevorstand, als er zur Polizei ging. Vor den Zeugnissen büxten viele aus, und manchmal trieben Ängste diese jungen Menschen gar in den Tod. Aber er war überzeugt, daß Miriam zu solch einer Kurzschlußhandlung nicht fähig wäre. Er hatte zudem auf der Bank erfahren, daß sie fünfzehntausend Euro abgehoben hatte. Sie konnte das ja, sie war mündig und konnte über ihr Konto verfügen. Und das sagte man ihm auch auf der Polizei. Sie sei mündig und könne über sich selbst verfügen, und mit achtzehn Jahren würde so manchen die Abenteuerlust packen.

Und dann wurde er doch gefragt, ob Anlaß zur Sorge bestünde, daß es sich um eine Entführung handeln könne. Solche nähmen in jüngster Zeit auch wieder überhand.

Nein, solche Gedanken hatten sich Martin, Regine und Benedikt noch nicht gemacht, da sie ja diesen Zettel gefunden hatten.

Es herrschte eine gedrückte Stimmung im Haus. Und sie sollten auch noch andere Aufregungen haben.

Nadja hatte Wind davon bekommen, daß Miriam die Flucht ergriffen hatte, und diese versuchte sie für sich zu nutzen. Wie raffiniert dieses sanfte Täubchen, als die die Hemmings sie kennengelernt hatten, war, sollten sie nun erfahren.

Frau Möneman erschien im Haus Hemming wie eine Rachegöttin, doch sie hatte nicht damit gerechnet, daß auch der Hausherr und Benedikt anwesend sein würden. Sie hatte sich zuerst mit Regine aussprechen wollen, wie sie erklärte. Nadja sei völlig verzweifelt, da sie ja durch Miriam in diese dumme Situation geraten sei.

»Wieso durch Miriam?« fragte Regine erregt, und da erschienen Martin und Benedikt. Frau Möneman war sichtlich eingeschüchtert, aber nun mußte sie das Gesicht wahren.

»Miriam hat Nadja doch mit Herrn Volkmann bekannt gemacht«, erklärte sie, »und sie hat Nadja auch zu dieser Party eingeladen.«

»Wenn Nadja Ihnen das so erzählt hat, ist es eine glatte Lüge«, sagte Benedikt gereizt. »Miriam hat nie ein Wort mit Nadja gewechselt, und sie hat Herrn Volkmann auch nicht persönlich gekannt, bis zu jenem Abend, an dem er mit Lissy Ainmiller auf einer Geburtstagsfeier erschien. Aber es gibt einige Zeugen dafür, daß meine Schwester diese Party sehr früh verlassen hatte, weil sie sich mit Lissy wegen Herrn Volkmann angelegt hatte. Und ich habe Nadja in einer unmißverständlichen Szene mit Herrn Volkmann beobachten können, als ich zu dessen Haus gefahren war, nachdem ich Sie aufgesucht hatte und von Ihnen erfuhr, daß Nadja eine Verabredung mit mir vorgeschützt hätte. Ich hatte nämlich schon einen Hinweis bekommen, wie intim sie mit Herrn Volkmann ist, aber dieser kam nicht von meiner Schwester.«

Frau Möneman schrumpfte zusammen. Regine fand es ein bißchen zu hart, wie Benedikt mit ihr umsprang, aber von seinem Vater erntete er einen anerkennenden Blick.

»Ich glaube, daß da einige Mißverständnisse vorliegen«, sagte Frau Möneman mit dem zaghaften Versuch, doch noch etwas zu erreichen.

»Für mich ist alles ganz klar«, sagte Benedikt.

»Aber Sie haben doch so gut mit meinem Mann zusammengearbeitet«, murmelte sie.

»Ich habe für Ihren Mann gearbeitet, wie sich herausgestellt hat, und damit ist es nun auch vorbei. Meine Doktorarbeit werde ich über etwas anderes schreiben.«

»Ich verstehe ja, daß Sie schockiert sind, Frau Möneman«, warf Martin Hemming ein, »aber darüber sollten Sie sich jetzt mit Ihrer Tochter auseinandersetzen.«

»Und Sie mit Ihrer Tochter«, rief Frau Möneman nun schrill aus. »Warum läuft ein so junges Mädchen wohl von zu Hause weg?«

Regine begann zu zittern, Martin war blaß geworden, aber da sagte Benedikt eisig: »Vielleicht, weil Miriam gefürchtet hat, daß sich ihr Bruder mit einer Nadja Möneman verloben könnte und sich noch lächerlicher macht, als es schon geschehen ist.«

Sie war schnell gegangen, nun hochrot im Gesicht. »Sie tut mir leid«, sagte Regine leise.

»Wir haben andere Sorgen, Mami«, sagte Benedikt. »Ich fahre jetzt mal zur Behnisch-Klinik und erkundige mich nach Lissy.«

»Ich werde Dr. Norden anrufen«, sagte Martin. »Er denkt wohl, daß Miriam schon wieder zu Hause ist.«

Aber Dr. Norden war nicht in der Praxis. Er war von seiner Frau Fee zu Frau Peiper gerufen worden. Fee hatte ihr Grießflammeri bringen wollen und sie in einem völlig aufgelöstem Zustand vorgefunden. Sie hatte nur aus ihr herausbringen können, daß ihr die Nacht den Rest gegeben hätte.

Als Daniel kam und ihr ein Beruhigungsmittel verabreicht hatte, erzählte sie dann, daß da drüben in der Nacht die Hölle los gewesen wäre.

»Daß ich so etwas noch erleben muß!« stöhnte die alte Dame. »Wir haben hier so ruhig gelebt.«

»Sie meinen Volkmann?« fragte Fee.

»Wie er heißt, ist mir egal. Jedenfalls geht es da zu wie auf der Reeperbahn.«

»Was wissen Sie denn von der Reeperbahn, Frau Peiper?« fragte Dr. Norden lächelnd.

»Ich habe doch lange mit meinem Mann in Hamburg gelebt, und da weiß man natürlich, wie es da zugeht. Mein Gott, wenn man es dort so treibt, mag es ja angehen. Aber hier, in unserem stillen Villenviertel! Merken denn die anderen gar nichts? Es war ja nicht nur gestern. Es ist ja jede zweite Nacht so.«

»Dann müssen Sie sich wegen nächtlicher Ruhestörung beschweren«, sagte Dr. Norden.

»Nein, mit der Polizei will ich nichts zu tun haben. Mein Leben lang bin ich davor verschont geblieben. Ich habe ja mal ganz höflich darum gebeten, daß es doch ein bißchen ruhiger auch gehen könnte. Was man mir darauf erwiderte, wagt man ja gar nicht zu wiederholen.«

»Sagen Sie es, Frau Peiper«, drängte Fee.

»Ja, vor einer Woche, da bin ich mal nachmittags rausgegangen, und da war dieser, wie heißt er doch?«

»Volkmann«, warf Fee ein.

»Dieser Volkmann kam mit so einer jungen Frau aus dem Haus. Ich habe ihn gebeten, daß es doch etwas leiser zugehen könnte, aber er hat gelacht und gesagt: Laß doch die Alte quatschen, die ist doch nahe der Verwesung. Das muß man sich dann sagen lassen.«

»Das braucht man sich nicht sagen zu lassen, Frau Peiper«, erklärte Dr. Norden.

»Aber mit der Polizei will ich nichts zu tun haben. Ich werde jetzt doch lieber auf die Insel der Hoffnung gehen. Vielleicht toben sie dann so herum, daß die andern Nachbarn auch genug kriegen. Ich verstehe nicht, daß die Meisers ihr Haus an solche Leute vermieten konnten.«

»Schreiben Sie ihnen doch mal, Frau Peiper«, sagte Fee.

»Ach, mit dem Schreiben habe ich es auch nicht mehr, und die denken dann auch nur, daß ich schrullig bin.«

»Sie wissen, daß Sie auf der Insel jederzeit willkommen sind«, sagte Daniel.

»Ja, hier halte ich es nicht mehr aus. Das ist kein Leben mehr. Mein Häusle, ich habe es doch so gern gehabt.« Und gleich kullerten Tränen über ihre Wangen. »Daß ich es mal hier allein lasse, hätte ich nie gedacht.«

»Sie könnten es doch auch vermieten, Frau Peiper«, sagte Fee.

»Auch an solche Rowdys? Gott bewahre mich.«

»An nette, anständige Leute, die sich zu wehren wissen«, schlug Fee vor. »An ein nettes Ehepaar vielleicht, das sich dann auch um Sie kümmern würde, wenn Sie wieder zurückkommen. Dieser Volkmann wird doch nicht ewig hier wohnen bleiben.«

»So billig kriegt er doch nichts mehr«, sagte Frau Peiper. »Die Meisers haben es mir doch gesagt, daß sie ganze achthundert Euro Miete bekommen.«

»Vielleicht sollten sie dann mehr verlangen«, sagte Fee. »Sie haben doch die Adresse? Ich kann ihnen ja mal schreiben, wenn es Ihnen peinlich ist.«

»Peinlich ist es mir nicht, aber die Finger wollen nicht mehr«, gestand Frau Peiper ein. »Aber freundlich wäre es schon von Ihnen, wenn die Meisers mal erfahren würden, was sich da abspielt – und wie der Garten verkommt. Ich mag gar nicht mehr hinüberschauen. Sowieso nicht, wenn sie da nackert herumspringen. Das ist ja wirklich peinlich. Ich schaue auch schon gar nicht mehr hinaus. Aber mit dem Laufen hapert es halt auch.«

Immerhin war sie fast achtzig Jahre alt, dafür geistig aber noch recht rege.

Fee warf ihrem Mann einen schelmischen Blick zu, als sie das Haus verließen.

»FKK in unserer spießigen Gegend ist schon ein bißchen stark«, meinte sie. »Aber es ist doch interessant, mit was für Leuten sich Nadja Möneman abgibt. Da sieht man, wie sehr man sich täuschen kann.«

»Na, du hast dich doch nicht getäuscht, mein Schatz«, erwiderte Daniel. »Jetzt werden wir gemütlich Kaffee trinken.«

Sie wurden von Loni mit der Nachricht empfangen, daß Professor Hemming angerufen hätte, und der Herr Doktor möge doch bitte zurückrufen.

Das tat Daniel auch gleich, und sein Gesicht war überschattet, als er an Fee die Nachricht weitergab, daß Miriam nicht nach Hause zurückgekehrt sei.

»Sie wird sich doch nichts angetan haben«, meinte Fee besorgt.

»Dazu lag ja nun wahrhaftig kein Grund vor, und dazu ist sie auch nicht der Typ. Sie befindet sich einfach in einer schwierigen Entwicklungsphase, nicht mehr Kind, noch nicht Frau und aus dem Gleichgewicht gebracht durch die Tatsache, daß sie einen anderen Vater hat.«

»Aber diese Tatsache ist doch nicht so erschütternd«, meinte Fee. »Ja, wenn Hemming eine Niete wäre, könnte man es verstehen.« Sie überlegte. »Die Ursache könnte darin liegen, daß ihre Zuneigung zu Benedikt plötzlich in anderem Licht erscheint, daß sie dadurch in einen Zwiespalt geraten ist. Die Zuneigung gilt nicht mehr dem Bruder, sondern dem Mann, und der ist mit Nadja Möneman befreundet, die von Miriam abgelehnt wird. Ich komme immer mehr zu dieser Überzeugung.«

»Die aber durch nichts bewiesen ist, Liebes, es könnte ja auch sein, daß Miriam mit einem Mann durchgebrannt ist.«

Diese Möglichkeit zog jetzt auch Martin Hemming in Betracht, aber da widersprach Benedikt heftig. »Sie hat sich nicht mit einem Mann abgegeben. Sie war immer nur mit Gleichaltrigen zusammen.«

Zwei Tage vergingen, ohne daß eine Nachricht von Miriam eintraf, und dann wurde es offiziell bekannt, daß Miriam Hemming als vermißt galt. In den Zeitungen wurde berichtet, was sie am Tage ihres Verschwindens getragen hatte, und es wurde um Auskunft gebeten, wer sie wann und wo gesehen hätte. Es meldete sich der Taxifahrer, der sie zur Bank gebracht hatte. Und daß sie dort gewesen war und Geld abgehoben hatte, wußten die Hemmings bereits. Aber mehr erfuhren sie vorerst nicht.

*

Miriam war längst in Pretoria eingetroffen. Sie mußte skeptischen Blicken standhalten, wohl wegen ihrer Jugend, wohl auch wegen des leichten Gepäcks. Aber sie besaß schon eine gute Portion Selbstbewußtsein. Dem Taxichauffeur zeigte sie die Karte von Mr. und Mrs. Morane, und sofort wurde er überaus höflich.

Die Fahrt ging durch die Stadt. Miriam war fasziniert. Und als sie dann vor einem prachtvollen Anwesen aussteigen konnte, raubte ihr dieser Anblick fast den Atem. Der Gedanke, daß ihr Großvater auch so gelebt haben könnte, betäubte sie fast, und sie hatte in diesem Augenblick vergessen, daß sie sich gegen jedweden Kapitalismus verschworen hatte.

Ein Butler öffnete ihr die Tür. Sie nannte ihren Namen und fügte dem gewohnten Hemming schnell den Namen ihres Großvaters Korff hinzu. Der Butler machte eine tiefe Verbeugung, und dann erschien schon eine weißhaarige Dame.

War Miriam doch ein wenig ängstlich gewesen, wie ihr überraschender Besuch aufgenommen werden würde, so schwand diese Beklemmung sofort, als sie gerührt in die Arme geschlossen wurde.

Warum sie nicht telegrafiert hätte, wurde sie natürlich auch gefragt. Dann wäre sie doch vom Airport abgeholt worden, versicherte Irene Morane.

Aber nun war sie ja da, und es war wie ein wunderschöner, atemberaubender Traum. Sie hörte auch, wie glücklich der gute Albert Korff gewesen wäre, diesen Tag zu erleben, aber er hätte eben gewollt, daß sie frei darüber entscheiden solle, die Verbindung zu ihm aufzunehmen. Er hätte ja gewußt, daß sie einen sehr guten Stiefvater bekommen hätte und in geordneten Verhältnissen aufgewachsen war.

John Morane kam erst später. Miriam war es schnell bewußt geworden, daß er ein prominenter Mann sein mußte. Er betrachtete sie forschend.

»Es ist schön, daß du gekommen bist, Miriam«, sagte er betont. »Ich hatte nicht erwartet, daß es deine Eltern so bald erlauben würden.«

»Sie hätten es doch nicht verhindern können«, sagte Miriam trotzig. »Ich bin achtzehn Jahre alt, schon drei Monate darüber. Ich habe sogar schon den Führerschein gemacht.«

John Morane lächelte. »Das ist den jungen Leuten sehr wichtig«, sagte er. »Wir kennen das. Wir haben Enkel in deinem Alter. Du wirst sie kennenlernen, aber zuerst mußt du dich akklimatisieren. Ich hoffe, du wirst dich wohl fühlen bei uns.«

Dessen war sich Miriam sicher. Ihr eröffnete sich eine Traumwelt. Ein Dutzend Bedienstete schwirrten herum. Ein wundervolles Essen wurde aufgetischt. Ja, es ging hier fürstlich zu.

Ein zauberhaft eingerichtetes Zweizimmerappartement mit einem Bad, wie sie es noch nie gesehen

hatte, erwartete sie. Irene Morane sagte ihr, daß sie nur zu läuten brauche, wenn sie Wunsche hätte, aber jetzt würde sie sich wohl erst einmal richtig ausschlafen wollen.

Aber vielleicht wolle sie erst zu Hause anrufen, meinte John Morane.

»Meine Eltern sind zur Zeit verreist«, schwindelte Miriam, aber wohl war ihr nicht dabei, als Johns helle Augen sie durchdringend anblickten.

Sie wollte jetzt nicht an ihre Eltern denken, und als sie dann in der Badewanne lag, wurde sie müde, und schnell schlief sie dann ein, als sie im Bett lag. Der lange Flug, die Zeitumstellung, und die neuen Eindrücke löschten die Gewissensbisse aus.

»Irgend etwas stimmt da doch nicht«, sagte John Morane zu seiner Frau.

»Vielleicht sind die häuslichen Verhältnisse doch nicht so harmonisch wie Albert angenommen hat«, sagte sie nachdenklich. »Lassen wir Miriam Zeit.«

Benedikt konnte vier Tage nach Miriams Verschwinden endlich mit Lissy Ainmiller sprechen. Die lebensbedrohende Gefahr hatten die Ärzte bannen können. Sie war allerdings sehr schwach und in einem desolaten Zustand.

Daß Benedikt sie besuchte, versetzte sie in Staunen. »Ist Miriam auch krank?« fragte sie mit schwacher Stimme. »Diese Party werden wir nicht so schnell vergessen.«

»Das glaube ich auch«, sagte Benedikt. »Erschrick bitte nicht, Lissy, aber Miriam ist ausgerissen.«

Sie riß entsetzt die Augen auf. Sie war erschrocken, doch dies schien ihre Lebensgeister zu mobilisieren.

»Das kann doch nicht wahr sein«, murmelte sie. »Ihr wißt nicht, wo sie ist?«

»Nein, das wissen wir nicht. Ich hoffte, daß sie mit dir darüber gesprochen hat.«

Ein Zucken lief über Lissys Gesicht.

Sie war ein hübsches Mädchen auch jetzt noch, viel hübscher ohne die Schminke, mit der sie sich so skurril zugerichtet hatte. Benedikt fragte sich wieder, warum diese Mädchen so ganz anders sein wollten als die andern, so extrem anders. Bei Miriam war es wenigstens dabei geblieben, daß daß sie sich nur gern überaus salopp kleidete, um ja nicht damenhaft zu wirken. Aber an jenem Tag, als sie ihr Elternhaus verlassen hatte, wirkte sie wie eine junge Dame.

»Ich muß das erst verkraften«, murmelte Lissy. »Wir haben uns gestritten, Benedikt, aber so schlimm war das doch nicht. Miriam hat gesagt: Eines Tages haue ich ab, spätestens dann, wenn er Nadja einen Ring an den Finger steckt. Dich hat sie damit gemeint. Es hat sie verdammt geschlaucht, daß du auf diese falsche Ziege hereingefallen bist. Ich habe gesagt, red doch mal mit deinem Bruder. Sag ihm doch, was das für ein Biest ist, aber das hätte sie wohl doch nicht fertig gebracht. Ich war ja auch saublöd, ich gebe es zu. Ich hätte es meinen Eltern nicht mal verdenken können, wenn sie mich zu Hause hätten krepieren lassen.«

»Red nicht solchen Schmarr’n, Lissy«, sagte Benedikt. »Kannst du dich an den Verlauf des Abends erinnern? An diesen Streit?«

»Ich versuche es ja. Mein Kopf ist leer, wie ausgepumpt bin ich.«

Sie sah ihn hilflos an. »Hilf mir doch ein bißchen weiter«, bat sie.

»Du hast diesen Volkmann mit zu der Party gebracht. Wie ist das gekommen? Wo hast du ihn kennengelernt?«

»In einer Disco. Das war schon länger her. Aber ab und zu ist er mir über den Weg gelaufen. Und dann hat er auch ein paar Fotos von mir gemacht. Er könnte einen Werbefilm machen, hat er mir erzählt. Aber dazu würde er noch so ein Mädchen wie Miriam brauchen, so einen extrem kühlen Typ, als Gegensatz zu mir. Wir wären doch befreundet, und ich könnte das vermitteln. Wir könnten ein paar tausend Euro verdienen. Das hat mich natürlich gejuckt, aber mit Miriam war darüber nicht zu reden. Sie hat geschimpft und gesagt, daß ich mich doch mit Nadja zusammentun solle. Sie war richtig böse, und das hat mich getroffen, und dann ist sie auch noch mit Jochen verschwunden. Da habe ich von dem Zeug wohl ein bißchen zuviel getrunken.«

»Und wie war es mit den Tabletten?«

»Was für Tabletten?«

»Du hast Miriam doch eine Tablette gegeben.«

»Das stimmt, ja. So eine gegen Übelkeit. Das war, bevor wir uns in die Haare kriegten. Ihr war es schon nach dem ersten Schluck übel. Eigentlich soll man die ja nehmen, bevor man was trinkt. Aber Miriam hat ja sowieso nie viel getrunken. Was ich alles geschluckt habe in dieser Nacht, weiß ich nicht mehr. Ich hänge an Miriam, und es macht mich fertig, wenn sie böse mit mir ist. So böse war sie noch nie vorher. Sie hat einen echten Haß auf Nadja, das kann ich dir sagen.«

»Du warst dann noch mit Volkmann zusammen?« fragte er stokkend.

»Ich kann mich an überhaupt nichts mehr erinnern. Ich muß den absoluten Rausch gehabt haben. Sie haben es mir ja auch schon gesagt, daß es eine Alkoholvergiftung war, aber wie es dazu gekommen ist, weiß ich wirklich nicht. Jetzt weiß ich wenigstens, wie das ist. Ich rühre nichts mehr an, was nur nach Alkohol riecht.«

Hoffentlich bleibt es dabei, dachte Benedikt, aber dann fragte er: »Und du hast keine Ahnung, wohin Miriam gefahren sein könnte?«

»Wirklich nicht, Benedikt.« Sie begann zu weinen, jammervoll und hemmungslos. »Miriam ist meine Freundin. So eine Freundin gibt es nicht wieder. Wenn ihr jemand was zuleide getan hat, bring ich denjenigen um. Ich muß hier raus. Ich werde sie suchen.«

»Du mußt erst mal gesund werden, Lissy«, sagte Benedikt. »Wir lassen sie schon suchen. Ich hatte nur gehofft, daß sie mit dir gesprochen hätte.«

Aus tränenverschleierten Augen blickte ihn Lissy an. »Ich weiß nur, daß sie dich verdammt gern hat und Nadja zum Teufel wünscht.«

Dann kam Schwester Martha und sagte, daß die Patientin jetzt wieder ruhen müsse.

Bittend rang Lissy die Hände. »Wenn Miriam sich meldet, sag ihr bitte, daß es mir schlecht geht und ich sie nötig brauche«, flüsterte sie. »Sie ist doch der einzige Mensch, mit dem ich über meine Probleme sprechen kann.«

Viel klüger war Benedikt nun auch nicht geworden, aber irgendwie sah er Lissy jetzt anders. Sie hatte auch ihre Probleme, wenngleich er nicht wußte, worin diese wurzelten. Aber sie hing an Miriam.

Ein Frösteln kroch durch seinen Körper, wenn er an Nadja dachte, und daß Miriam tatsächlich ihretwegen die Flucht ergriffen hätte. Er verspürte plötzlich den zornigen Drang, diesen Volkmann zur Rede zu stellen, und schon war er auf dem Wege zu diesem Haus.

Doch er fand es verschlossen. Die Jalousien waren herabgelassen, und auf sein Klingeln wurde ihm nicht geöffnet.

Benedikt dachte nach und wagte noch mehr. Er fuhr zu den Mönemans. Dort wurde vom Hausmädchen geöffnet.

»Fräulein Möneman ist verreist, und die gnädige Frau ist für niemanden zu sprechen«, wurde ihm abweisend erklärt.

Seine Gedanken wanderten. Volkmann war nicht da, Nadja war verreist, konnte man daraus schließen, daß beide gemeinsam das Weite gesucht hatten? Es ließ ihn im Innersten kalt, aber er dachte doch darüber nach.

Doch als er heimkam, wurden solche Gedanken ausgeschaltet. Sein Vater kam ihm mit gequältem Gesicht entgegen.

»Miriam ist entführt worden«, stieß er tonlos hervor. »Hier lies, der Brief kam mit der Post.«

Es war Maschinenschrift.

Wir haben Ihre Tochter. Wenn Sie sie lebend wiedersehen wollen, halten Sie eine Million bereit. Sie bekommen nähere Anweisungen.

Also doch, dachte Benedikt voller Entsetzen, denn wie hätte er und seine Eltern ahnen können, daß Miriam zu dieser Zeit in fröhlicher Runde mit Robin und Sabrina Morane, den Enkeln von John Morane, Freundschaft schloß.

Und natürlich konnte Miriam auch nicht ahnen, was sie mit ihrer Flucht ausgelöst hatte und wie sehr man um sie bangte, wie sehr ihre Mutter litt. Das Lachen und Tanzen wäre ihr dann wohl doch vergangen.

Doch in Pretoria herrschte die fröhlichste Stimmung, von der sie sich hatte anstecken lassen. Robin war ein Jahr älter, Sabrine ein Jahr jünger als sie, und sie hatten auch noch ein paar Freunde eingeladen, da Robin seinen neunzehnten Geburtstag feierte. Ihre Eltern wollten erst am Wochenende kommen.

Sabrina bemerkte spöttisch, daß sie den Trubel lieber den Großeltern überließen.

»Mama bekommt immer ihre Migräne, wenn es mal ein bißchen lauter zugeht«, spöttelte sie. »Aber Granny ist prima, findest du doch auch, Miriam?«

»Ja, eure Großeltern sind sehr nett«, erwiderte Miriam.

»Dein Großpapa war ja auch zu sehr ein Eigenbrötler«, meinte Sabrina. »Wie sind deine Eltern?«

»Ziemlich konservativ«, erwiderte Miriam ausweichend.

»Großeltern sind immer besser«, sagte Robin. »Die erinnern sich wenigstens daran, daß ihre Kinder auch keine Engel waren.«

Miriam kam da der Gedanke, daß auch Robin und Sabrina ihre Probleme mit ihren Eltern haben mochten. Ob das überall so war, auch bei denen, die keinen Stiefvater oder keine Stiefmutter hatten? Aber hatte es bei ihnen denn eigentlich richtige Probleme gegeben, bis auf jene, daß der Papa ihren Umgang kritisierte.

Hier schaute sie sich unter den Leuten kritisch, aber doch objektiv um, und sie stellte fest, daß eigentlich keiner aus dem Rahmen fiel.

Es wurde viel gelacht, es wurde getanzt und geplaudert, aber abends elf Uhr wurden die Gäste von Chauffeuren abgeholt, und es gab kein Murren. Es kam Miriam doch komisch vor.

»Ist das immer so, daß ihr so früh aufhört?« fragte sie.

»Die meisten haben einen weiten Weg und müssen morgen auch wieder zur Schule. Wir haben ja ein paar Tage Sonderurlaub bekommen«, erklärte Robin. »Granny macht das schon mal, auch wenn Dad nicht einverstanden ist. Aber neunzehn wird man ja bloß einmal, und schon bald beginnt für mich der Ernst des Lebens, dann muß ich mich von der Pike an hinaufdienen.«

»Hinaufdienen?« fragte Miriam erstaunt.

»Klar, nur wer gehorchen gelernt hat, soll befehlen, das gehört bei uns auch dazu«, erwiderte Robin unbeschwert. »Man muß das akzeptieren. Wenn die alten Herrschaften nicht so viel geleistet hätten, hätten wir kein so gutes Leben. Wir werden nach der feinen englischen Art erzogen. Wie ist das bei euch?«

»Unterschiedlich, demokratisch halt«, erwiderte Miriam.

»In Europa schlagen sich die jungen Leute herum und machen dauernd solche Protestmärsche, auch die aus den guten Familien«, sagte Sabrina. »So was ist bei uns unmöglich.«

»Dafür habt ihr die Rassenprobleme«, sagte Miriam.

Robin runzelte die Stirn. »Das versteht ihr wohl nicht. Wir wollen uns schließlich nicht einfach wegnehmen lassen, was Generationen geschaffen haben. Man muß das immer von zwei Seiten sehen.«

Da schwieg Miriam lieber. In heimatlichen Gefilden, in ihrem Kreis, wäre da sicher eine heftige Diskussion vom Zaun gebrochen worden. Aber sie war hier zu Gast, und Robin und Sabrina waren eben ganz anders aufgewachsen als sie.

Miriam fragte sich, was hier wohl los wäre, wenn Sabrina mit einer Metzgerstochter befreundet wäre, die sich verrückt kleidete und Kraftausdrücke gebrauchte.

Nein, so was war hier undenkbar. Es gab nicht nur Rassen-, sondern auch Klassenunterschiede, und die wurden von den jungen Leuten voll akzeptiert.

Freundlich, aber doch mit leisem Vorwurf wurde Miriam anderntags auch darauf hingewiesen, daß es wohl an der Zeit wäre, das Grab ihres Großvaters zu besuchen und auch sein Haus, das schließlich auch zu ihrem Erbe gehörte.

»Darüber habe ich noch nicht nachgedacht«, sagte sie. »Ich meine das Haus. Natürlich will ich Großvaters Grab besuchen. Aber die Einzelheiten über das Testament kenne ich noch gar nicht.«

»Hat man sie dir etwa vorenthalten?« fragte Irene pikiert.

»Ich habe mich einfach nicht dafür interessiert. Ich konnte über mein Konto verfügen, alles andere wird von dem Anwalt erledigt. Ich verstehe ja nichts davon.«

»Dann wird es aber Zeit«, warf John Morane ein. »Ich will doch sehr hoffen, daß dein Stiefvater nicht eigene Interessen im Sinn hat.«

»O nein, das darf man ihm nicht unterstellen«, begehrte Miriam auf. »Papa hat nie einen Unterschied zwischen Benedikt und mir gemacht, obgleich er doch gar nicht wissen konnte, daß Großvater mich als Erbin einsetzen würde. Wir wußten doch nicht, daß er überhaupt etwas besaß. Mami war sehr überrascht, als wir davon in Kenntnis gesetzt wurden.«

»Sehr merkwürdig«, sagte John Morane.

»Bedenke bitte, John, daß Albert seine Eigenheiten hatte«, warf Irene ein.

»Dad weiß doch auch nicht genau, wieviel du besitzt«, warf Sabrina vorlaut ein.

Ein strenger Blick traf sie. »Ich lebe schließlich noch«, erklärte John Morane.

»Ich bitte um Verzeihung«, sagte Sabrina kleinlaut.

*

Nun aber wurde Miriam damit vertraut gemacht, was ihr Erbe einschloß. Der Besuch auf dem Friedhof wurde sehr feierlich und würdevoll vollzogen. Irene hatte dazu eigens den Geistlichen gebeten, der Albert Korff zur letzten Ruhestätte geleitet hatte.

Miriam war diese Zeremonie unheimlich, gerade so, als würde ihr Großvater noch einmal begraben. Irene ging, schwarzgekleidet, neben ihr. Sie standen dann am Grab des Mannes, den Miriam nicht gekannt hatte, und der Geistliche sprach davon, welch ein großartiger Mensch er gewesen sei. Sein Leid hätte er still und duldsam ertragen, und er sei um das Glück, wenigstens sein Enkelkind bei sich zu haben, betrogen worden. Und Miriam dachte dabei, wie ihr Leben wohl verlaufen wäre, wenn sie hier, bei einem alten Mann gelebt hätte, anstatt zu Hause bei Paps und Mami und Benedikt. Ihr traten Tränen in die Augen, Tränen, die Heimweh und Sehnsucht in sich hatten und ihr nun bewußt machten, daß sie Unrecht getan hatte, so von den Eltern zu gehen.

Vom Friedhof aus fuhren sie zu dem Haus, in dem Albert Korff gelebt hatte. Es war nicht so großartig wie das der Moranes.

Es war eine Villa aus der Kolonialzeit, bestens gepflegt und erhalten.

»Wir sorgen selbstverständlich dafür, daß alles in Ordnung gehalten wird, das sind wir unserem Freund schuldig«, erklärte Irene mit großem Nachdruck. Daß Albert Korff auch dafür Kapital hinterlassen hatte, erwähnte sie allerdings nicht. Das sollte Miriam dann später erfahren.

»Wirst du für immer hierbleiben?« fragte Irene sanft, als sie die Heimfahrt antraten.

»Ich weiß nicht«, erwiderte Miriam ausweichend.

»Es ist ja auch noch zu früh, um darüber zu sprechen«, fuhr Irene fort, »aber so manches Mal denke ich jetzt doch daran, wie schön es wäre, wenn diese alte, gute Freundschaft durch eine Verbindung der Familien gekrönt würde.«

»Wieso?« fragte Miriam irritiert.

»Nun, indem du Robin heiraten würdest.«

»Liebe Güte«, entfuhr es Miriam. »Er ist doch noch ein Junge.«

»Er wird auch älter und du auch, mein liebes Kind, und du mußt auch noch lernen, dich unseren Lebensverhältnissen anzupassen. Bei uns wird die Tradition gepflegt.«

»Ich weiß so wenig über Großvater«, sagte Miriam leise.

»Ich will keine Kritik üben, Miriam, aber ich meine, daß deine Mutter es dir schuldig gewesen wäre, von ihm zu sprechen, wie auch von deinem Vater.«

»Sie wollten eben, daß ich ganz zu ihnen gehöre«, erwiderte Miriam trotzig. »Ich war doch noch ein Baby, als Mami Paps geheiratet hat. Und damals hat Großvater doch erst hier ein neues Leben angefangen.«

»Ja, mit unserer Hilfe«, betonte Irene. »Und er hatte Glück, daß er dieses Stück Land in Transvaal erwarb, auf dem dann Gold gefunden wurde. Ein Glück auch für dich. Wenn du mit einundzwanzig Jahren in alle Rechte eingesetzt wirst, hast du allen Grund, deinem Großvater dankbar zu sein. Du scheinst dir dessen jetzt noch nicht bewußt zu sein.«

»Du hast recht, Tante Irene, ich bin mir dessen nicht bewußt. Ich fühle mich dem allen auch gar nicht gewachsen, und ich weiß nicht, ob ich hier ständig leben möchte.«

»Du kannst es überdenken. Wir wären bereit, mit dir über den Verkauf des Hauses und des Landes zu verhandeln, wenn du dich für eine Rückkehr nach Deutschland entscheiden solltest. Aber das nur nebenbei, damit du dich nicht von anderen zu deinen Ungunsten beeinflussen läßt. Aber freuen würde es uns, wenn du dich mit dem Gedanken vertraut machen könntest, eine Verbindung mit Robin einzugehen.«

»Und wie denkt Robin darüber?« fragte Miriam ironisch.

»Er findet dich sehr nett. Er ist ein strebsamer junger Mann. Du würdest eine gute Wahl treffen.«

Haben sie mich deshalb eingeladen, fragte sich Miriam. Haben sie schon vorher solche Pläne gemacht, und spielt dabei mein Erbe eine Rolle?

Der Traum der ersten Tage war vorbei. Sie hatte auf den Boden der Wirklichkeit zurückgefunden und war nun so kritisch, wie sie es immer gewesen war, seit sie sich eine eigene Meinung gebildet hatte. Und sie fragte sich auch, ob sie eingeladen worden und so freundlich empfangen worden wäre, wenn ihr Großvater nicht doch einen so beträchtlichen Besitz hinterlassen hätte.

Man hatte alles fein eingefädelt. Robin ging mit ihr auf den Tennisplatz, als sie geäußert hatte, daß sie auch hier gern Sport treiben würde.

»Es ist ein exclusiver Club«, sagte er. »Du wirst die oberen Hundert kennenlernen, Miriam.«

»Da bin ich aber gespannt«, sagte sie spöttisch.

»Ich würde mich sehr freuen, wenn du dich hier wohl fühlen würdest, Miriam«, fuhr er fort.

»Es ist ein schönes Land«, sagte sie gedankenvoll.

»Du verstehst also, daß wir es mit allen Mitteln verteidigen wollen?«

»Die Weißen haben es erobert«, sagte sie nachdenklich.

»Und das daraus gemacht, was es heute ist.«

Miriam machte sich ihre eigenen Gedanken, aber sie wollte sich mit Robin nicht anlegen. Er konnte aus seiner Haut nicht heraus. Er war so erzogen.

Er war ein gutaussehender Junge und würde bestimmt einmal ein interessanter Mann werden. Er war intelligent und auch charmant. Aber er konnte auch anders sein. Das bescherte ihr dieser Tag auch noch, als sie ihn haushoch beim Tennis schlug. Das fand er gar nicht gut und war entsprechend gelaunt.

»Wenn du mir gesagt hättest, daß du so in Form bist, hätte ich mich anders eingestellt«, sagte er gereizt. »Du hast einen Aufschlag wie ein Mann.«

»Ich wäre auch lieber ein Mann«, erwiderte sie schnippisch. »Ich habe schon eine Masse Pokale gewonnen, nicht nur beim Tennis, auch beim Schwimmen und Skifahren.«

»Und darauf bildest du dir etwas ein«, sagte er gereizt.

»Ich bin ehrgeizig.«

»Emanzipierte Frauen sind mir ein Greuel«, erklärte er.

»Dann sind ja klare Linien geschaffen«, konterte sie.

Von da an herrschte eine gespannte Stimmung. Miriam spürte immer mehr, daß man sie erziehen wollte, ja, richtig erziehen zur Anpassung, und sie ahnte nun auch, warum man sich diesbezüglich noch Mühe gab, anstatt ihr nahezulegen, daß sie sich hier wohl doch nicht einfügen würde, denn sie wußte nun, daß auch der Name Korff hier bedeutet hatte.

In gewisser Weise war sie stolz auf ihren Großvater, aber andererseits war ihr nun bewußt geworden, wie frei sie aufgewachsen war, wie dankbar sie ihren Eltern sein mußte.

Sie nahm sich vor, am nächsten Tag zur Post zu gehen, und zu Hause anzurufen, denn sie wollte nicht, daß dieses Gespräch belauscht wurde.

*

Als an diesem Abend im Hause Hemming das Telefon läutete, herrschte atemlose Stille unter den drei Anwesenden.

Dann griff Martin nach dem Hörer und meldete sich. Benedikt hatte das Tonband eingeschaltet und die Kopfhörer aufgesetzt. Es war alles für solche Anrufe vorbereitet.

Regine hatte die Hände vor ihr Gesicht gelegt. Sie zitterte am ganzen Körper.

Das Band lief mit. »Ja, ich habe verstanden«, sagte Martin. »Das Lösegeld liegt bereit. Wir halten uns an Ihre Bedingungen, wenn wir ein Lebenszeichen von Miriam erhalten haben. Wir wollen wissen, daß sie lebt. Nein, Ihre Erklärung genügt mir nicht.«

Er legte auf. »Du hättest das nicht sagen sollen«, flüsterte Regine.

»Ich werfe diesen Gangstern doch nicht eine Million nach, Regine.«

»Das mußt du verstehen, Mami«, sagte Benedikt heiser. »Nun geht es schon seit einer Woche so. Mal sollen wir das Geld dahin, mal dorthin bringen, aber wir haben noch kein Lebenszeichen von Miriam bekommen.«

»Sie werden gemerkt haben, daß die Polizei eingeschaltet ist«, sagte Regine bebend. »Ich will mein Kind lebend wiederhaben.«

»Das wollen wir auch, Regine«, sagte Martin Hemming tonlos. »Bei Gott, ich würde alles geben dafür. Wenn wir nur einen Anhaltspunkt hätten, wer dahintersteckt.«

»Vielleicht jemand, der weiß, wie groß das Erbe, das Miriam bekommen hat, wirklich ist«, flüsterte Regine.

»Du wirst doch nicht Dr. Kühn verdächtigen«, sagte Martin.

»Conni Breitenfeld ist bei ihm Sekretärin«, murmelte Regine. »Sie könnte Wind davon bekommen haben.«

Benedikt sprang auf. »Ich kann das nicht glauben. Jochen hat sicher manchen Blödsinn im Kopf, aber doch nicht so was. Aber ich werde ihn auf die Probe stellen.«

»Wir sollten uns davor hüten, ungerecht zu werden«, sagte Martin ernst.

»Ich ertrage das nicht mehr lange«, murmelte Regine. Und wenn man sie ansah, konnte man nur noch Mitleid mit ihr haben.

»Ich gehe jetzt«, sagte Benedikt rauh.

»Wohin?« fragte sein Vater.

»Zu Jochen Breitenfeld.«

»Mach es nicht noch schlimmer«, warnte Martin.

»Ich bin ja nicht doof«, erwiderte der Jüngere.

Die Breitenfelds wohnten in einem älteren Reihenhaus, nette, anständige Leute, die es nicht gern gesehen hatten, mit wem ihr Sohn sich abgab. Seit jener Party hatten sie keinen Grund mehr zu klagen, denn Jochen war jeden Abend zu Hause. Er spielte jetzt mit seiner Schwester Cornelia, die Conni genannt wurde, Schach, als Benedikt kam. Die Eltern waren im Theater, und das konnte Benedikt nur recht sein.

»Nachricht von Miriam?« fragte Jochen. Benedikt schüttelte den Kopf.

»Ich wollte dich fragen, ob dir was eingefallen ist, Jochen. Hatte Miriam zu einem Jungen doch eine engere Bindung, oder hatte sie vielleicht die Bekanntschaft eines schon älteren Mannes gemacht?«

»Ich kann es mir nicht vorstellen. Viel Zeit kann sie dafür ja nicht gehabt haben. Schule, Sport – wir waren meistens beisammen. Du weißt doch, daß sie nicht so ein Mädchen ist, das sich mit jedem einläßt.«

»Dr. Kühn hat neulich gesagt, daß es nicht gut ist, wenn junge Leute über viel Geld verfügen können«, bemerkte Conni beiläufig. »Dein Vater hätte sie kürzer halten müssen.«

Benedikt sah sie an. Sie hatte ein klares, offenes Gesicht. »Wie kommst du denn auf so was?« fragte er.

»Na ja, sie hatte doch immer eine offene Hand, wenn jemand sie anpumpte«, sagte nun Jochen. »Gewundert habe ich mich schon, daß sie sogar Hunderter verborgt hat. Sie konnte sich doch ausrechnen, daß sie es nicht wiederbekommt.«

»Sie hatte ihr eigenes Konto«, sagte Benedikt.

»Wenn sie ihr Geld selbst verdienen müßte, wäre sie wahrscheinlich nicht so großzügig«, sagte Conni. »Und ein bißchen naiv ist sie anscheinend auch noch.«

»Ich habe überall herumgehorcht«, erklärte Jochen. »Manche sagen, daß sie wohl einfach die Abenteuerlust gepackt hat. Die Schule hatte sie sowieso satt. Dabei hätte sie sich doch gar nicht groß anstrengen müssen, um das Abitur zu machen. Sag mal ehrlich, hat es bei euch Krach gegeben?«

»Wir müssen fürchten, daß Miriam entführt worden ist«, sagte Benedikt schleppend, und dabei faßte er die Geschwister Breitenfeld scharf ins Auge, aber er konnte nur blankes Entsetzen in deren Gesichtern und Augen entdecken.

»Entführt?« stammelte Conni.

»Irgendwie ist es mir auch in den Sinn gekommen«, sagte Jochen rauh. »Ihr gehört ja zu den Reichen.«

»So reich sind wir nun auch wieder nicht«, bemerkte Benedikt.

»Hat man schon Lösegeld verlangt?« fragte Conni leise.

Benedikt nickte. »Ich möchte nicht darüber sprechen. Es soll auch nicht publik werden. Ich kann mich doch auf euer Schweigen verlassen?«

»Mir ist flau«, murmelte Jochen. »Wer käme dafür in Frage? Miriam geht doch nicht mit jedem mit. Sie ist doch kein Kind, das sich was einflüstern läßt.«

»Dr. Kühn hebt das vom Hocker, wenn er es erfährt«, sagte Conni. »Ihr solltet mal mit ihm sprechen, Benedikt. Ich dürfte ja eigentlich nichts sagen, aber er bekam neulich einen Anruf von einem Mr. Morane, der sich nach euren Verhältnissen erkundigt hat. Aber sag um Himmels willen nicht, daß du das von mir weißt, sonst verliere ich meine Stellung, und es ist eine sehr gute Stellung.«

»Von wo hat dieser Mr. Morane angerufen?« fragte Benedikt erregt.

»Keine Ahnung. Er sagte, daß er mit Dr. Kühn verbunden werden wolle.«

»Und woher weißt du, daß er sich über unsere Verhältnisse erkundigen wollte?«

»Dr. Kühn führt manchmal Selbstgespräche, und in diesem Zusammenhang sagte er auch, daß es nicht gut sei, wenn junge Leute viel Geld in den Händen hätten. Kann es nicht sein, daß Miriam sich eine Stellung gesucht hat, ohne euch etwas davon zu sagen?«

»Um dann gekidnappt zu werden?« fragte Benedikt düster.

»Sie wird doch nicht einem Mädchenhändler in die Hände gefallen sein«, stöhnte Jochen. »Bei diesem Volkmann treiben sich doch so zwielichtige Gestalten herum.«

»Aber Miriam war doch nicht bei ihm«, sagte Benedikt.

Jochen runzelte die Stirn. »Weißt du, sie ist manchmal mit dem Kopf durch die Wand gegangen. Vielleicht wollte sie ihn wegen dieser Sache mit Lissy zur Rede stellen. Sie hat sich ja für Lissy immer stark gemacht.«

»Warum eigentlich? Warum Lissy?« fragte Benedikt.

»Miriam hat halt den Tick, verlorene Seelen zu retten, und ich muß sagen, daß sie die einzige war, die Lissy vor dem Rutsch in die Gosse bewahrt hat. Lissy ist nicht so übel, wie es scheinen mag. Sie hat wahnsinnig darunter gelitten, daß ihr Vater Metzger ist, daß er Tiere schlachtet. Sie hat ja auch kein Fleisch gegessen und keine Wurst, und um ein Haar wäre sie so einer Sekte beigetreten, bei der das verpönt ist. Davor hat Miriam sie auch bewahrt. Deshalb kann ich mir auch vorstellen, daß Miriam sich diesen Volkmann gekauft hat.«

»Ich wollte ihn auch zur Rede stellen«, sagte Benedikt dumpf. »Aber er ist verreist.«

»Dann müssen wir herausbringen, wo er ist«, sagte Jochen. »Klopf doch mal bei Nadja auf den Busch.«

»Sie ist auch verreist«, erwiderte Benedikt.

»Das gibt aber sehr zu denken«, sagte Conni.

*

Von Frau Peiper hatten die Nordens längst erfahren, daß absolute Ruhe im Nachbarhaus herrschte, und gleich ging es ihr auch wieder besser. Sie war eben an ihre Häuslichkeit gewöhnt, und da konnte sie die Insel der Hoffnung nur locken, wenn ihr das Leben verleidet wurde. Jetzt wollte sie wieder zu Hause bleiben, und sie ging auch wieder auf die Straße und zum Einkaufen.

Man war der Meinung, daß sich auch andere Nachbarn beschwert hätten, aber Fee Norden hatte an die Hausbesitzer geschrieben gehabt und von den Meisners die Antwort bekommen, daß sie das Haus verkauft hätten und daß Herr Volkmann es schon eher hätte räumen müssen, da er die Miete schuldig geblieben war.

Diese Nachricht war allerdings nur eine halbe Freude für Frau Peiper, denn nun mußte sie ja fürchten, daß wieder laute Nachbarn einziehen würden.

Doch so war es nicht. Fee Norden erfuhr bald, daß das Haus abgerissen werden würde. Das Grundstück war groß. Es sollte geteilt werden. Zwei Häuser statt einem waren geplant. Aber die Pläne mußten erst noch genehmigt werden.

»Vielleicht erlebe ich das gar nicht mehr«, sagte Frau Peiper, »und nach mir die Sintflut.«

Sie hatte sich zu einem Galgenhumor durchgerungen, und das war gut für sie. Sie wollte sich jetzt sogar bereitfinden, ein seriöses Ehepaar ins Haus zu nehmen, wenn Fee ein solches wüßte. Sie verließ sich da nur auf Fee Norden.

Daß Rainer Volkmann der guten Frau Peiper keinen Ärger mehr bereitete, war für Fee eine Beruhigung, allerdings ahnte sie nicht, wie sehr sein plötzliches Verschwinden die Hemmings beunruhigte, und sie hatten auch noch nichts davon erfahren, daß Erpresser am Werk waren, die Lösegeld für die angeblich entführte Miriam forderten.

Für die Hemmings sollte dieser Tag einen erregenden Höhepunkt bekommen.

Benedikt hatte sich vorgenommen, Dr. Kühn aufzusuchen, seinen Eltern aber nichts davon gesagt. Er wollte gerade das Haus verlassen, als das Telefon läutete. Martin Hemming mußte eine Vorlesung an der Uni halten, Regine machte gerade einen kleinen Spaziergang durch den Garten, da es ein sonniger Tag war.

Den Hörer am Ohr, setzte Benedikt fast der Herzschlag aus, als er Miriams Stimme vernahm.

»Benni, gut, daß du es bist«, sagte sie. »Ich bin in Pretoria. Macht euch keine Sorgen, ich komme schon zurück.«

»Miriam, wer hält dich fest?« rief er aufgeregt und verständlicherweise völlig verwirrt. Doch da gab es einen Knall, es klang wie ein Schuß, und ihm fiel fast der Hörer aus der Hand. »Miriam«, schrie er dann, aber es kam keine Antwort mehr. Benedikt vernahm krachende Geräusche, aber Miriam meldete sich nicht.

Er war starr vor Entsetzen. Pretoria? Wie kam Miriam nach Pretoria? Dort hatte doch ihr Großvater gelebt?

»Was ist, Benedikt«, fragte da Regine erregt.

»Nichts«, erwiderte er tonlos, um sie nicht noch mehr zu erschrecken.

»Du hast doch Miriam gerufen«, flüsterte Regine bebend.

Seine Gedanken überschlugen sich. »Ich dachte, sie wäre es. Ich glaube, wir drehen alle durch.«

»Sie wird doch gesund zu uns zurückkommen, Benedikt?« flüsterte Regine tonlos.

»Ja, sie wird zurückkommen«, erwiderte er, doch zum ersten Mal zweifelte er jetzt daran. Kalter Schweiß bedeckte seinen ganzen Körper.

»Du darfst nicht verzweifeln, Mami«, sagte er leise. »Bitte, nimm deine Tropfen.«

Martin kam. Benedikt atmete tief durch. »Es wäre wohl doch besser, wenn Mami auf die Insel der Hoffnung gehen würde«, sagte er.

»Nein, ich bleibe«, erwiderte sie. »Ihr verheimlicht mir etwas. Es ist etwas passiert. Sagt mir doch die Wahrheit.«

»Ich werde jetzt zu Dr. Kühn fahren«, sagte Benedikt geistesabwesend. »Ich glaube nicht mehr, daß Miriam entführt worden ist. Jemand will ihr Verschwinden ausnutzen und uns erpressen.«

»Wie kommst du darauf?« fragte Martin konsterniert.

»Miriam ist in Pretoria. Ich habe gerade die Nachricht bekommen.« Von seiner Angst und Sorge sagte er nichts.

»In Pretoria?« fragte Regine erregt.

»Ich werde nach Pretoria fliegen und sie zurückholen«, sagte Benedikt tonlos. »Aber zuerst werde ich mit Dr. Kühn sprechen. Ihr laßt euch von den Erpressern nicht mehr einschüchtern. Behaltet bitte die Nerven, damit wir herausbekommen, wer dahintersteckt.«

»Ist das nicht eine Falle, Benedikt?« fragte Martin.

»Ich werde das schon herausbringen, Paps. Paß auf Mami auf.«

»Paß du jetzt auf dich auf, daß du keinen Fehler machst«, sagte Martin warnend.

*

Conni Breitenfeld hatte Benedikt noch einen flehenden Blick zugeworfen, bevor er das Zimmer ihres Chefs betrat. Benedikt hatte nicht die Absicht, sie da hineinzuziehen. Er hatte ja jetzt ganz andere Gründe, mit dem Anwalt zu sprechen. Er brauchte den Namen Morane gar nicht zu erwähnen.

Und er hielt sich nicht lange bei der Vorrede auf.

»Sie wissen ja, daß meine Schwester vor acht Tagen verschwunden ist, Herr Dr. Kühn«, begann er. »Zuerst sah es so als, als wolle sie einfach nur der Schule und gewissen Zwängen entrinnen. Dann bekamen wir einen Erpresserbrief, daß Miriam entführt sei. Wir haben bisher vermieden, daß dies publik wird, um sie nicht zu gefährden. Die Erpresser wollen eine Million.«

»Und wie kann ich Ihnen behilflich sein?« wurde er unterbrochen.

»In dieser Beziehung gar nicht. Das Geld haben wir beisammen, aber heute rief Miriam an. Ich war am Telefon. Sie sagte, sie sei in Pretoria und würde zurückkommen, aber dann gab es einen Knall. Es klang wie ein Schuß. Sie können sich vorstellen, wie mir zumute ist. Ich habe meinen Eltern davon noch nichts erzählt. Ich wollte zuerst mit Ihnen sprechen. Sie wissen ja über alles Bescheid. Der Großvater von Miriam hat in Pretoria gelebt. Könnte es möglich sein, daß sie dorthin gelockt wurde?«

»Dorthin gelockt?« wiederholte Dr. Kühn fassungslos. »Das kann ich mir nicht vorstellen. Die Moranes sind honorige Leute.«

»Der Name Morane ist mir nicht bekannt«, sagte Benedikt.

»Es sind Freunde von Herrn Korff. Geschäftspartner, sehr reich und sehr einflußreich. Kürzlich hat sich Mr. Morane telefonisch bei mir nach den Privatverhältnissen der Familie Hemming erkundigt, auch nach den finanziellen, aber er hat nicht gesagt, daß Miriam dort wäre. Sind Sie sicher, daß Miriam von Pretoria angerufen hat? Könnte es nicht sein, daß die Erpresser Sie in die Irre führen wollen?«

»Dann müßten sie wissen, daß es eine Verbindung nach Pretoria gibt. Es ist wohl kaum denkbar, daß Miriam selbst uns auf eine falsche Fährte locken will.«

»Und sie braucht ja kein Geld von Ihrer Familie«, sagte Dr. Kühn. »Sie ist eine reiche Erbin. Eine sehr reiche, wie es scheint, denn in dem Testament ist ja noch die Klausel enthalten, daß sie den ganzen Besitz erst bekommen soll, wenn sie einundzwanzig ist. Und dieser Besitz ist im Einzelnen nicht aufgeführt. Der Erb­lasser scheint ein ebenso eigenwilliger wie auch mißtrauischer Mensch gewesen zu sein. Ich hätte darüber jetzt noch gar nicht reden sollen, aber selbstverständlich ist es jetzt wichtig, daß Miriam kein Schaden zugefügt wird.«

»Sie gehört zu uns, das möchte ich betonen, und wir sind bereit, jede Summe aufzubringen, um ihr Leben zu retten, wenn es nötig sein sollte. Momentan bin ich jedoch überzeugt, daß Miriam in Pretoria ist, und es kann sein, daß sie dort in Lebensgefahr geraten ist. Würden Sie mir also bitte die Anschrift von Mr. Morane sagen?«

»Selbstverständlich. Das ist kein Geheimnis. Es ist ein weiter Weg, auch mit dem Flugzeug, Herr Hemming. Vielleicht kann manches durch ein Telefongespräch geklärt werden.«

»Ich werde mich darum bemühen«, erklärte Benedikt, »aber ich möchte an Ort und Stelle klären, was mit Miram geschehen ist. Ich kenne nämlich sehr honorige Leute, denen auch nicht zu trauen ist. Und manche können nicht genug bekommen, wenn es um Geld geht. Jedenfalls werde ich auch dafür sorgen, daß die Kriminalpolizei alles in die Wege leitet, um jene Erpresser zu finden, die uns nun schon Tage den Schlaf rauben.«

Dr. Kühn sah ihn angstvoll an. »Haben Sie keine Hoffnung mehr, daß Miriam gesund zurückkommt?« fragte er leise.

»Ich gebe die Hoffnung nicht auf, aber wenn ihr ein Leid zugefügt worden ist, werden die Schuldigen es büßen, das versichere ich Ihnen. Ich werde nicht ruhen, bis sie gefunden sind.«

Dann ging er schnell. Conni folgte ihm zur Tür. »Was ist mit Miriam?« fragte sie leise.

»Ich weiß es nicht. Ich werde sie suchen.«

»Jochen sucht sie auch. Er hat eine vage Spur gefunden. Es kann möglich sein, daß sie nach Frankfurt gefahren ist. Er hat Lissy besucht, und sie hat gesagt, daß Miriam sich am Bahnhof nach Zügen erkundigt hat, die um die Mittagszeit nach Frankfurt fahren. Da ist ein Intercity gefahren. Mehr kann ich dir jetzt nicht sagen, Benedikt. Jochen ist heute zum Bahnhof, um sich bei dem Zugpersonal zu erkundigen, ob jemand Miriam gesehen hat.«

»Er soll uns anrufen, wenn er etwas erfahren hat«, sagte Benedikt.

»Danke, Conni.«

»Hoffentlich wird das bald geklärt«, sagte sie leise.

*

Es war für Miriam nicht leicht gewesen, allein aus dem Haus zu kommen, um ungestört zu Hause anrufen zu können.

Sie hatte gesagt, daß sie dringend ein paar Einkäufe tätigen müsse, aber Irene Morane hatte darauf bestanden, daß sie wenigstens Sabrina begleiten solle, und selbstverständlich sollte der Chauffeur sie in die Stadt bringen.

Einem Stadtbummel war Sabrina nicht abhold, und sie hatten dann auch einige Boutiquen aufgesucht, in denen sich Miriam sommerliche Kleidung kaufte. Sabrina war dann ganz happy gewesen, als Miriam auch ihr ein paar schicke Kniehosen kaufte, und dann hatten sie zufällig eine Schulfreundin von Sabrina getroffen.

Endlich ergab sich eine Gelegenheit, Sabrina wenigstens für kurze Zeit loszuwerden, denn sie hatte nichts dagegen, in einem Restaurant auf Miriam zu warten, als diese erklärte, daß sie gern noch ein paar Geschenke für die Familie besorgen wolle.

Endlich kam Miriam zur Post. Dort sagte man ihr jedoch, daß ein Gespräch nach Deutschland nicht so schnell zu vermitteln sei. Sie meldete es als Blitzgespräch an.

So brauchte sie tatsächlich nur eine Viertelstunde zu warten, und ihr Herz schlug schneller, als sie Benedikts Stimme vernahm. Doch dann geschah das Unerwartete, von dem auch sie betroffen werden sollte. Eine Detonation erschütterte das Postamt. Miriam begriff nicht, was da geschah, denn sie wurde zu Boden geschleudert und verlor das Bewußtsein. Was danach geschah, bekam sie auch nicht mehr mit. Sie war nicht die Einzige, die mit dem Notarztwagen abtransportiert wurde. Und Sabrina, die vergeblich in dem Restaurant auf sie gewartet hatte, nahm an, daß Miriam sich verlaufen hätte und mit einem Taxi heimgefahren sei.

Dort warteten sie vergeblich auf Miriam, und als Martin Hemming endlich Glück hatte und eine Verbindung zum Hause Morane hergestellt hatte, erfuhr er von dem Butler nur, daß Miß Hemming hier nicht bekannt sei. Es war nicht mal böse Absicht des Butlers, denn hier war Miriam ja Miß Korff, und die Verständigung war so schlecht, daß er den Anrufer kaum verstanden hatte. Außerdem herrschte in diesem Haus nun genug Aufregung, weil Miriam nicht zurückkam, und Sabrina hatte allerhand auszuhalten. Miriam war, wie mehrere andere Verletzte auch, indessen in ein Hospital gebracht worden, einstweilen als namenlose Patientin, da ihre Handtasche nicht gefunden worden war.

Sie war bewußtlos infolge einer schweren Gehirnerschütterung und durch Glassplitter verletzt. Und im Hause Morane dachte man, daß Miriam wohl doch ein abenteuerlustiges Mädchen sei, bis sie dann von der Explosion erfuhren.

»Es kann doch sein, daß Miriam einen Brief aufgeben wollte«, sagte Sabrina. »Sie hätte sich all die Sachen doch nicht gekauft, wenn sie verschwinden wollte.«

Das hatte sie zwar schon mehrmals zu ihrer Rechtfertigung gesagt, aber nun schenkte man dieser Bemerkung doch Beachtung.

»Wir müssen uns doch darum kümmern, Granny«, sagte Sabrina drängend. »Sei doch nicht so borniert. Miriam ist ganz anders erzogen als wir, und sie will nicht wie ein Kind behandelt werden.«

»Aber wir haben doch hier die Verantwortung für sie«, stöhnte Irene. »Wenn ihr etwas passiert ist…«

»Was wir nicht zu verantworten brauchen, wenn sie eigene Wege geht«, fiel John Morane ihr ins Wort. »Ich werde mich erkundigen.«

Zu dieser Zeit befand sich Benedikt Hemming schon auf dem Weg nach Pretoria. Und in München wartete man darauf, daß sich die angeblichen Entführer von Miriam erneut melden würden.

*

Daniel und Fee Norden saßen mit den Kindern beim Abendessen, endlich mal wieder vereint bei Tisch, und sie hofften, nicht gestört zu werden.

»Ist die Miriam wirklich entführt worden, Mami?« fragte Danny.

»Wie kommst du darauf?« fragte Fee irritiert.

»Die Steffi hat es gesagt. Sie wird jeden Tag zur Schule gebracht und wieder abgeholt, weil ihre Eltern Angst haben. Und sie hat gesagt, daß die Nadja Möneman bestimmt auch entführt worden ist, weil gestern bei denen die Polizei war. Sie wohnen nämlich nebenan.«

»Das hätte gerade noch gefehlt«, sagte Daniel. »Da siehst du mal, was alles gleich geredet wird, Fee.«

»Es werden aber dauernd Kinder entführt«, sagte Felix. »Und dann werden sie sogar noch umgebracht. Das ist sehr schlimm.«

»Die armen Kinderlein«, weinte Anneka.

»Da haben wir den Salat«, brummte Daniel. »Das richtige Thema beim Abendessen.«

»Tut mir ja leid, Papi«, sagte Danny, »aber die Lehrer sagen, daß man darüber reden muß. Manche Kinder laufen ja mit jedem mit, wenn er ihnen bloß was verspricht.«

»Ihr aber nicht«, sagte Daniel energisch.

»Wir sind doch nicht blöd«, erklärte Danny. »Manchmal ist es aber auch ein netter Nachbar, der Kinder mitnimmt.«

»Und manchmal ist es sogar ein Onkel«, fügte Felix hinzu.

Anneka schmiegte sich an ihren Papi, der tröstend ihr Köpfchen streichelte.

»Wir reden nach dem Essen weiter«, sagte Daniel.

»Uns hat ja keiner entführt«, erklärte Danny. »Wir sind auch nicht reich. Die wollen immer sehr viel

Geld. In der Zeitung steht es nämlich, daß sie für Miriam Millionen haben wollen.« Er betonte jede Silbe.

Fee warf ihrem Mann einen schrägen Blick zu. »Ich bin heute noch nicht dazu gekommen, die Zeitungen zu lesen«, sagte sie.

»Danny hat im Lesen eine Eins«, sagte Felix stolz. »Weil er jeden Tag Zeitung liest.«

»Die richtige Lektüre«, brummte Daniel.

»Märchen sind auch nicht gerade schön«, wußte Danny darauf zu erwidern. »Oder findet ihr es vielleicht schön, wenn der Wolf die Großmutter frißt und das Rotkäppchen auch noch? Und dann wollen sie es uns auch noch weismachen, daß sie wieder lebend aus seinem Bauch rauskommen. Und mit den sieben Geißlein ist das ebenso.«

»Gegen solche Argumente ist nichts einzuwenden«, sagte Daniel.

»Mami und Lenni erzählen bloß schöne Märchen«, flüsterte Anneka.

»Und Lennis Essen schmeckt wieder mal prima«, sagte Daniel. Und weil er Anneka nun fütterte, aß sie auch noch etwas.

»Unsere Kinder denken sich was«, sagte Daniel, als die drei dann zu Bett gebracht worden waren.

»Ist das ein ausreichender Schutz, Daniel?« fragte Fee.

»Man muß ja Angst haben, da soviel passiert.«

»Lesen wir erst mal die Zeitung, was da über Miriam steht«, meinte er.

Ein Foto von Miriam sprang ihnen gleich in die Augen. Genau wurde beschrieben und auch die Kleidung, die sie am Tag ihres Verschwindens getragen hatte.

Professor Hemming hätte sich veranlaßt gesehen, die Polizei einzuschalten, da sie bisher von den Entführern noch kein Lebenszeichen von Miriam erhalten hätten. Eine Belohnung von hunderttausend Euro wurde ausgesetzt für Hinweise, die zur Aufklärung dieses Verbrechens führen könnten.

»Sie scheinen die Hoffnung aufgegeben zu haben«, sagte Fee deprimiert.

Da läutete das Telefon. Dr. Norden wurde dringend zu einem Patienten gerufen.

Fee blieb mit ihren Gedanken allein.

*

Als Miriam aus der Bewußtlosigkeit erwachte, flüsterte sie: »Benni, hörst du mich noch?«

Aber sie blickte in das Gesicht von John Morane. »Ich will nach Hause zu Mami und Paps und Benni«, flüsterte sie.

»Ruhig, Kleines«, sagte er väterlich. »Du kannst ja wieder nach Hause.«

»Warum liege ich hier in einem fremden Bett?« fragte sie.

»Du warst auf der Post, Miriam«, sagte er betont.

»Ja, ich wollte zu Hause anrufen«, erwiderte sie. »Ich habe mit Benni gesprochen, und dann gab es plötzlich einen Knall.«

»Eine Tankstelle in der Nähe ist in die Luft gegangen«, erklärte John Morane. »Zum Glück bist du nicht schwer verletzt worden, Miriam.«

»Ich wollte Benni doch sagen, daß ich bei euch bin und daß mir alles andere leid tut.«

»Du hast ihnen also nicht gesagt, daß du nach Pretoria geflogen bist«, sagte er leise.

»Nein. Ich werde es euch erklären. Seid mir bitte nicht böse. Mein Kopf tut so weh!«

»Es wird wieder gut, Miriam«, sagte John. »Es wird bestimmt alles wieder gut. Ich werde gleich bei euch anrufen und Bescheid sagen, daß du hier gut aufgehoben bist.«

»Du bist nicht böse, Onkel John?« fragte sie müde.

»Wir sind froh, daß nicht mehr passiert ist. Schlaf jetzt, Miriam.«

»Was ist mit Sabrina«, murmelte sie.

»Ihr geht es gut, jetzt bestimmt noch besser, wenn sie weiß, daß dir nicht viel passiert ist. Aber du hättest es bequemer gehabt, von uns aus anzurufen.«

»Ich wollte ja nicht zugeben, daß ich ausgerissen bin«, flüsterte sie. »Ich war so dumm, Onkel John.«

*

Als Benedikt in Pretoria ankam, hatte er keinen Blick für die Stadt. Er bestieg in höchster Eile ein Taxi und nannte die Adresse von John Morane.

»Vor ein paar Tagen habe ich eine junge Dame gefahren. Sie kam wohl auch aus Deutschland«, sagte der Chauffeur.

»Sie haben einen guten Blick«, sagte Benedikt.

»Man gewöhnt sich daran. Wir freuen uns, wenn Deutsche kommen.«

Warum wohl, dachte Benedikt, aber er wollte sich in keine politische Diskussion einlassen.

Auch er hielt den Atem an, als sie vor dem Besitz der Moranes hielten.

»Phantastisch«, entfloh es seinen Lippen.

»Mr. Morane ist ein großer Mann«, sagte der Chauffeur. »Soll ich warten?«

Er schien sich wirklich Gedanken zu machen. »Nein, danke«, erwiderte Benedikt.

Mit seinem Erscheinen hatte allerdings niemand gerechnet. Er wurde von John Morane junior empfangen, dem Vater von Robin und Sabrina.

»Ich bin Miriams Bruder«, erklärte er.

Johns Augenbrauen ruckten leicht empor. »Der Stiefbruder, nehme ich an?« sagte er betont.

»So genau haben wir es nie genommen«, sagte Benedikt unwillig. »Wo ist Miriam?«

»Im Hospital, Mr. Hemming.«

»Was ist mit ihr geschehen? Lassen Sie sich nicht um jedes Wort bitten.«

»Es hat doch keine Eile. Miriam ist bestens versorgt«, erwiderte der andere. »Warum sind Sie gekommen, wenn ich das fragen darf?«

»Weil wir uns um Miriam sorgen und erpreßt werden, weil sie angeblich entführt worden ist.«

»Das ist die Höhe«, sagte John. »Sie müssen das näher erklären.«

»Ich will Miriam sehen und sprechen«, erwiderte Benedikt. »Vorher erkläre ich gar nichts.«

»Soll das heißen, daß Sie uns mißtrauen?« fragte John.

»Es bedeutet nur, daß ich Miriam sehen will.«

»Gut, fahren wir zum Hospital. Meine Eltern sind bereits dort.«

»Ich will Sie nicht bemühen. Sie brauchen mir nur zu sagen, welches Hospital es ist. Ich kann mir ein Taxi bestellen«, erklärte Benedikt.

John Morane junior lächelte flüchtig. »Wir kommen zwar nicht jedem Fremden gleich mit offenen Armen entgegen, aber wir sind gastfreundlich, Mr. Hemming«, erwiderte er freundlich. »Sie werden hoffentlich Verständnis dafür haben, daß wir uns Gedanken machten, warum Miriam ihren Angehörigen nichts von ihrer Reise nach Pretoria sagte.«

»Miriam wurde verwirrt durch die Tatsache, daß sie einen anderen Vater hatte als eben unseren Vater. Bis zu jenem Tag, an dem sie dies erfuhr, war unsere Welt völlig in Ordnung, Mr. Morane.«

»Und Sie können sich nicht vorstellen, daß es Miriam gefallen könnte, hier in unserer Welt zu leben, in der sie ganz allein entscheiden könnte, wie sie sich ihr Leben einrichten will?«

»Wenn es so ist, will ich es aus ihrem Mund hören.« Benedikt straffte sich. »Sie wird nicht vergessen haben, daß sie eine Familie hat.«

»Das wird sich herausstellen«, sagte John. »Fahren wir, Mr. Hemming.«

*

Miriam konnte sich nicht beklagen. Sie war umgeben von Fürsorge und Verständnis. Irene hielt ihre Hände und beteuerte ihr, wie glücklich sie alle wären, daß sie nun bald wieder bei ihnen sein würde. John Morane senior versicherte ihr, daß er nun bald versuchen würde, ihre Mutter telefonisch zu erreichen und ihr alles zu erklären.

»Ich werde ihr sagen, daß sie uns auch willkommen ist, Miriam«, sagte er. »Mach dir keine Sorgen, Kleines, es wird alles schnell wieder in Ordnung sein.«

Aber mit Benedikts Erscheinen hatten auch sie nicht gerechnet. Und als er in der Tür stand, war alles für Miriam vergessen.

»Benni«, schluchzte sie auf. »Du bist da. Oh, Benni seid ihr mir sehr böse?«

»Wir sind nur froh, daß wir dich wiederhaben«, erwiderte Benedikt stockend.

»Das sind John und Irene Morane, Freunde von meinem Großvater, Benni«, stellte Miriam vor. »Sie sind sehr lieb zu mir und sehr besorgt. Wie hast du mich gefunden?«

»Ich habe mit Dr. Kühn gesprochen, als dein Anruf so abrupt unterbrochen wurde «, entgegnete er. »Du kannst nicht wissen, wieviel Aufregung du uns bereitet hast, Miriam.«

»Jetzt darf Miriam nicht aufgeregt werden«, warf Irene ein. »Der Arzt hat das ausdrücklich gesagt. Sie hat eine Gehirnerschütterung.«

»Benni kann mir alles sagen, Tante Irene«, flüsterte Miriam.

»Ich habe sehr unüberlegt gehandelt. Und ich habe erst hier richtig begreifen gelernt, daß man den Eltern zu Dank verpflichtet ist und ihnen entsprechenden Respekt zollen muß.«

Benedikt riß seine müden Augen auf. Diese Worte klangen sehr bedeutungsvoll, und sie schienen das Ehepaar Morane auch an einer empfindsamen Stelle zu treffen.

»Wir lieben dich, Miriam«, sagte er, »das sollst du auch begreifen. Wir hatten schreckliche Angst um dich, besonders dann, als wir den Erpresserbrief bekamen.«

»Einen Erpresserbrief?« fragte sie bestürzt. »Wieso?«

»Angeblich bist du entführt worden.«

»Aber das ist doch Unsinn«, wehrte sie ab.

»Für uns nicht. Wir wurden in Angst und Schrecken versetzt, Miriam.«

Ein Zucken lief über ihr Gesicht. »Es tut mir leid. Ich habe mich so dumm benommen«, flüsterte sie. »Ich würde sehr gern allein mit Benedikt sprechen«, sagte sie dann bittend zu John und Irene.

»Da scheint etwas schleunigst geklärt werden zu müssen«, sagte John Morane vorwurfsvoll. »Wir werden hoffentlich nicht verdächtigt, dich hierher gelockt zu haben, Miriam.«

»Ich werde meine Eltern schnellstens anrufen, daß ich Miriam gefunden habe und sie in Sicherheit ist«, erwiderte Benedikt.

»Tun Sie das, junger Mann, so schnell wie möglich, dann können Sie mit Miriam sprechen«, sagte John im Befehlston. »Wir fahren zu meinem Stadtbüro. Von dort aus können Sie telefonieren. Und Irene bleibt indessen bei Miriam.«

Hier herrschen aber strenge Töne, dachte Benedikt. Vielleicht ist das nur gut, damit Miriam mal sieht, wie es anderswo zugeht. Aber Miriam hatte ja schon längst eingesehen, daß sie keinerlei Grund gehabt hatte, sich über ihren Paps zu beklagen. Gewiß waren auch John und Irene freundlich, aber sie erwarteten tatsächlich Respekt, wenn nicht gar Ehrfurcht. Und zwischen Robin und Sabrina und deren Eltern herrschte diese Tonart vor. Man hatte sich den Eltern zu fügen.

*

Benedikt mußte eine Anzahl Fragen beantworten. Er tat es mit nachsichtiger Gelassenheit, und er nahm es auch hin, daß John Morane im Zimmer blieb, als die Telefonverbindung zustande gekommen war, und er ließ sich kein Wort entgehen, das Benedikt sagte.

»Ja, Paps, ich bin hier in Pretoria und habe schon mit Miriam gesprochen. Ich bin jetzt im Büro von Mr. Morane. Man ist sehr entgegenkommend. Beruhige Mami, Miriam wird bald wieder bei euch sein. Nein, augenblicklich weiß ich noch nicht mehr, aber um eine Entführung handelt es sich bestimmt nicht. Mr. Morane hat darauf bestanden, daß ich euch sofort anrufe, damit ihr beruhigt seid.« Dann lauschte er eine Weile, und sein Gesicht verdüsterte sich. »Versucht doch, diese Erpresser in eine Falle zu locken«, sagte er. »Ihr könnt der Entwicklung ruhig entgegensehen, da Miriam in Sicherheit ist. Und die Million würde ich nicht im Hause lassen, Paps. – Ja, es ist gut, ich weiß ja, daß du vorsichtig bist.«

Er fühlte John Moranes wachsamen Blick auf sich ruhen, und als das Gespräch beendet war, fragte dieser sofort: »Sie sprachen von einer Million, Mr. Hemming?«

»Ja, diese Summe forderten die Erpresser.«

»Und Sie haben sie beschafft?« fragte John staunend.

Benedikt gestattete sich ein kleines spöttisches Lächeln. »Wir sind zwar nicht so reich wie Sie, aber Miriams Leben ist uns wichtiger.«

»Ich meine, daß sie sehr unvernünftig gehandelt hat und uns auch in eine fatale Situation brachte. Wie konnte sie das tun? Unsere Enkel würden das nicht wagen.«

»Vielleicht werden bei uns junge Menschen früher erwachsen«, sagte Benedikt. »Nur nicht so schnell erwachsen genug, um ganz vernünftig zu denken. Miriam war in einen Zwiespalt gedrängt durch die Tatsache, daß sie einen anderen Vater hatte als den, an dem sie mit kindlicher Liebe hing, und durch die andere Tatsache, daß ihr Großvater ihr ein Vermögen hinterließ, das doch eine gewisse Verlockung darstellt. Man ist neugierig, wie dieser Großvater lebte, dazu in einen Konflikt gedrängt, weil der Vater und der Bruder plötzlich Stiefvater und Stiefbruder sind. Ich weiß nicht, was alles in Miriam vor sich ging. Ich werde es jetzt sicher erfahren.«

»Und wenn sie hierbleiben will?«

»Sie wird es zu entscheiden haben«, erwiderte Benedikt. »Mir scheint es aber doch so, als hätte sie Sehnsucht nach zu Hause.«

»Sie ist sehr eigenwillig«, stellte John mit gerunzelter Stirn fest, und Benedikt hörte Mißbilligung aus diesen Worten heraus. »Mein Enkel Robin hat sich sehr um sie bemüht, aber sie hat ihn vor den Kopf gestoßen. In unseren Kreisen wird die Emanzipation von den jungen Mädchen nicht gefördert.«

»Und nicht gebilligt«, entfuhr es Benedikt.

»Ganz recht.«

»Ich würde jetzt sehr gern zum Hospital fahren, Mr. Morane«, sagte Benedikt.

»Ich sage dem Chauffeur Bescheid. Ich habe noch eine wichtige Konferenz. Selbstverständlich sind auch Sie unser Gast, Mr. Hemming.«

»Verbindlichen Dank, aber ich möchte nicht lästig sein«, erwiderte Benedikt. »Das Gespräch möchte ich auch bezahlen.«

»Aber ich bitte Sie, das kommt doch gar nicht in Frage.«

»Wir sind Ihnen sehr dankbar, Mr. Morane, Ihnen und Ihrer Familie.«

»Sie würden uns kränken, wenn Sie von unserer Gastfreundschaft keinen Gebrauch machen würden.«

Höfliche Floskeln, dachte Benedikt, mehr ist da nicht drin. Aber er war nicht frei von Vorurteilen, was die Familie Morane anging. Daran änderte sich auch nichts, als Irene ihn ganz besonders herzlich bat, doch Gast in ihrem Haus zu sein.

»Ich muß bald wieder zurück«, erklärte Benedikt.

»Aber du wirst doch bleiben, bis ich mitkommen kann«, sagte Miriam hastig.

»Du kannst doch nicht gleich wieder die Strapazen auf dich nehmen, Miriam«, sagte Irene fürsorglich. »Nein, das können wir nicht erlauben.«

»Ich werde alles mit Miriam besprechen, Mrs. Morane«, erklärte Benedikt.

Und als Irene Morane dann endlich ging, atmete Miriam auf.

»Sie wollen mich doch so gern mit Robin verheiraten«, sagte sie anzüglich.

»Wie alt ist er?« fragte Benedikt.

»Neunzehn.« Miriam lachte auf. »Und er hat es bestimmt nicht verkraftet, daß ich ihn beim Tennis geschlagen habe. Aber Großvater hat anscheinend etwas hinterlassen, was sehr wertvoll für sie ist.«

»Dich«, sagte Benedikt rauh.

»Dummkopf, das Land ist ihnen doch wichtiger. Wenn man mal so viel besitzt, kann man nicht mehr genug kriegen. Hier sind die Reichen alle so.«

»Bei uns sind sie auch nicht anders, Miriam.«

»Du magst recht haben. Ich habe bisher darüber noch zu wenig nachgedacht. Aber du darfst nicht denken, daß sie mich hergelockt haben. Sie haben mir nur geschrieben, daß sie sich freuen würden, wenn ich sie mal besuche. Und mich muß der Hafer gestochen haben.«

»Wegen Nadja?« fragte er leise.

Sie errötete heiß. »Quatsch!« stieß sie hervor. »Aber ich mag sie wirklich nicht. Du kannst es ruhig wissen, Benni.«

»Es ist doch vorbei, Miriam. Man kennt sich, man geht mal zusammen aus. Es war doch nichts Ernstes.«

»So hat es aber ausgesehen«, sagte Miriam trotzig. »Wie sie dich angehimmelt hat…«

»Andere doch auch. Zum Beispiel Volkmann, mit dem sie viel intimer war oder noch ist. Warum hast du es mir früher nicht so direkt gesagt wie jetzt?«

»Es hätte doch blöd ausgeschaut, so nach Rache, weil ihr gegen Lissy wart. Lissy ist nicht halb so schlimm wie Nadja.«

»Lissy ist nach jener komischen Party sehr krank geworden«, sagte Benedikt.

»Ernsthaft?« fragte Miriam erschrocken.

»Sie liegt noch immer in der Behnisch-Klinik. Und sie sorgt sich um dich genauso wie wir und Jochen Breitenfeld.«

»Jo hat gesagt, daß das alles Mist ist, und daß man die nicht ändern kann, die schon zu tief im Dreck stecken«, sagte Miriam nachdenklich. »Mit ihm kann, man wirklich ernsthaft reden. Aber jetzt mußt du erst mal erzählen, was es mit der angeblichen Entführung auf sich haben soll.«

»Das möchten wir auch gern wissen, Miriam. Jemand hat dein Verschwinden zu dieser Gemeinheit ausgenutzt. Mami ist nur noch ein Endchen Licht.«

»Ich traue mich gar nicht mehr heim«, flüsterte Miriam unter Tränen. »Wie konnte ich bloß so gemein sein. Aber ich habe überhaupt nicht mehr nachgedacht, als Nadja mir sagte, daß ihr nun bald Verlobung feiern würdet.«

»So ein Blödsinn, davon war nie die Rede. Sie wollte dich nur ärgern.«

»Das ist ihr jedenfalls gelungen«, gab Miriam zu. »Aber Mami und Paps waren ja auch sehr angetan von ihr.«

»Sie haben das Gesicht gewahrt, da Möneman ja mein Doktorvater war. Und von wegen nicht heimtrauen, Miriam. Es ist alles vergessen, wenn wir wieder beisammen sind. Oder findest du es hier schöner?«

»Bestimmt nicht, aber ich bin schlauer geworden und möchte erst mal wissen, warum die Moranes so erpicht darauf sind, daß ich zur Familie gehöre. Bis jetzt habe ich mir ja nicht viel Gedanken gemacht über Großvaters Nachlaß. Das Geld ist anscheinend das Wenigste. Alles andere soll ich ja erst bekommen, wenn ich einundzwanzig bin. Aber wie es aussieht, muß ich eine sehr gute Partie sein. Du hast doch viel mehr Durchblick als ich, Benni. Wenn wir nun schon mal hier sind, könnten wir das doch gemeinsam herausbringen. Ich bin so froh, daß du da bist.« Und dann schlang sie beide Arme um seinen Hals und küßte ihn auf beide Wangen, und der hielt sie fest und sagte leise: »Du bist ein schreckliches Mädchen, Miriam, ein schrecklich liebes Mädchen. Jetzt will ich aber wissen, was dich bewegt hat, die Flucht zu ergreifen. Ganz genau will ich es wissen, da du ja vorher noch in aller Seelenruhe die Fahrprüfung gemacht hast.«

»Das wißt ihr?« fragte sie staunend.

»Was wir in Erfahrung bringen konnten, haben wir selbstverständlich zurückverfolgt.«

»Von Seelrenruhe ist da aber nichts drin gewesen. Aber ich wollte unbedingt den Führerschein haben, weil der bei einer Stellungssuche auch manchmal von großem Vorteil sein kann. Ich wußte ja nicht, daß ich hier bei Superreichen landen würde, die mir übrigens niemals gestatten würden, eine untergeordnete Stellung anzunehmen. Man hat hier seine Prinzipien und sein Image. Hier herrscht Klassengeist, Benni.«

»Und Rassenhaß«, sagte er bitter.

»Darüber spricht man nicht in vornehmen Kreisen. Nur von Besitz, Gold und Diamanten und davon, daß dieses Land alles den Weißen zu verdanken hat. Das muß natürlich verteidigt werden.«

»Du hast nun wohl auch Besitz zu verteidigen«, meinte Benedikt.

»Ich will nach Hause«, flüsterte sie.

»Sobald es der Arzt erlaubt, wenn du es so willst«, erwiderte Benedikt weich.

*

Endlich konnte Regine wieder ruhig schlafen. Miriam war nicht mehr in Gefahr. Benedikt war bei ihr, und sie hatte nichts als Dankbarkeit empfunden.

Aber auch Martin empfand keinen Groll gegen Miriam. Es wollte ihm nur noch immer nicht in den Sinn, daß sie sich mit ihnen nicht über ihre Probleme auseinandergesetzt hatte.

Mehr noch aber beschäftigte ihn die Frage, wer hinter der Erpressung stecken mochte.

Kaum hatte er es gedacht, läutete das Telefon. Wieder meldete sich die heisere, verstellte Stimme.

An diesem Abend um zehn Uhr müsse die Übergabe des Geldes erfolgen, sonst würde Miriam nicht mehr nach Hause zurückkehren.

Bedauerlicherweise habe sie einen starken Husten und wäre so heiser, daß sie kaum sprechen könne, aber ein paar Worte könne sie schon sagen.

»Ja, ich höre«, sagte Martin.

»Papa«, sagte eine krächzende Stimme. »Benni soll das Geld bringen. Ich will nach Hause.«

Martin überlegte blitzschnell. Wußten diese Leute, daß Benedikt fern war? Wollten sie auf den Busch klopfen?

»Gut, er wird kommen, Miriam«, sagte er beherrscht. »Man soll mir genaue Anweisungen geben.«

»Habt ihr das Geld auch wirklich?«

»Natürlich, es liegt griffbereit vor mir.«

»Danke.«

Gut gemacht, dachte er, das mit der heiseren Stimme. Aber die gehörte eindeutig einer Frau. Also waren zumindest ein Mann und eine Frau an dieser »Entführung« beteiligt.

Dann bekam er die Anweisung, wohin das Geld gebracht werden sollte, und ausdrücklich wurde nochmals verlangt, daß Benedikt es bringen solle und allein.

Was würde wohl geschehen, wenn wir darauf hereinfallen würden, wenn wir nicht wüßten, wo Miriam wirklich ist, fragte sich Martin Hemming.

Er rief den Kommissar an und informierte ihn. Daß Miriam in Pretoria war, hatte er ihm bereits mitgeteilt.

»Wir werden das in die Hand nehmen«, erklärte der Kommissar. »Legen Sie Kleidung Ihres Sohnes bereit, die er oft trägt. Ich schicke einen Lieferwagen. Das Auto Ihres Sohnes ist fahrbereit?«

»Ja, und man kann auch vom Haus aus in die Garage gelangen. Mir wäre gar nicht wohl, wenn wir nicht wüßten, daß Miriam in Sicherheit ist.«

»Darum brauchen Sie sich ja keine Sorgen mehr zu machen«, erwiderte der Kommissar. »Hoffentlich gelingt es uns, diese Burschen zu schnappen. Sie sprechen zu niemandem darüber, daß Ihre Tochter gefunden ist. Ein Risiko gehen wir ja nicht mehr ein.«

*

Nach einem erquickenden Mittagsschlaf fühlte sich Regine bedeutend wohler, und ihr Gesicht hatte auch wieder ein bißchen Farbe bekommen.

Zum ersten Mal nach diesen sorgenvollen Tagen konnte sie mit ihrem Mann eine gemütliche Teestunde genießen, doch diese sollte ihnen nicht vergönnt sein, denn kaum hatten sie sich niedergesetzt, läutete es.

Das Hausmädchen Tilde war beurlaubt worden, damit durch sie die Pläne nicht durchkreuzt werden konnten. So begab sich Martin Hemming selbst zur Tür. Und da sollte er staunen, denn vor ihm stand Nadja Möneman, wie immer schickt gekleidet, aber doch recht angegriffen aussehend.

»Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich störe, aber dürfte ich einmal kurz mit Benedikt sprechen? Ich muß ihm etwas erklären«, sagte sie unsicher.

»Benedikt ist momentan nicht anwesend«, erwiderte Martin.

»Dürfte ich auf ihn warten?« fragte Nadja.

Das kam Martin Hemming doch schon ein bißchen merkwürdig vor. »Ich weiß nicht, wann er zurückkommt. Wie Sie ja wissen, befinden wir uns in einer recht prekären Lage, Fräulein Möneman.«

»Ich bin heute erst zurückgekommen«, murmelte sie. »Stimmt es tatsächlich, daß Miriam entführt worden ist?«

»Ja, leider stimmt es.«

»Das ist ja schrecklich. Ich wollte es nicht glauben. Es tut mir jetzt doppelt leid, daß ich so dumme Bemerkungen zu Benedikt gemacht habe. Ich möchte mich dafür entschuldigen.«

»Vielleicht suchen Sie sich dafür einen anderen Tag aus«, sagte Martin. »Wir sind alle überreizt. Ich werde Benedikt sagen, daß er Sie anruft.«

Sie blickte zu Boden. »Ich wollte Ihnen nur auch sagen, daß mein Vater Ihnen sehr gern finanziell helfen würde, wenn Sie das Lösegeld nicht aufbringen sollten.«

»Das ist nicht nötig. Wir sind dafür gerüstet und hoffen, daß Miriam bald wieder bei uns sein kann. Sie verstehen bitte, daß wir bis dahin nicht sehr gesellig sind.«

»Selbstverständlich. Ich würde gern helfen. Kann ich etwas tun?«

»Wir erledigen das besser allein, Fräulein Möneman.«

Ihre Blicke huschten jetzt umher, aber da Martin die Haustür bereits wieder geöffnet hatte, blieb ihr nichts anderes übrig, als sich zu verabschieden. Vom Küchenfenster aus blickte er ihr nach und blieb dort stehen, bis ihr Wagen davongefahren war.

»Wer war es?« fragte Regine, als er sich zu ihr setzte.

»Nadja.«

»Merkwürdig, daß sie gerade heute kommt«, sagte Regine gedankenlos.

»Sie wollte Benedikt sprechen. Sie läßt nicht locker.«

»Sie ist für ihn erledigt. Du hättest sie fragen sollen, wo dieser Volkmann steckt.«

»Das wäre sehr ungeschickt gewesen, mein Liebes.«

»Du meinst doch nicht etwa, daß sie mit den Gangstern unter einer Decke steckt?« fragte Regine bestürzt.

»Immerhin wäre es möglich, daß dieser Volkmann mit dabei ist. Und schon manche Frau ist wegen eines Mannes auf die schiefe Bahn geraten.«

»Das wäre für die Mönemans doch entsetzlich, Martin«, ächzte Regine.

»Sehen wir diese Affäre doch mal ganz realistisch. Diese Erpresser haben Miriam nicht. Sie wollen Geld und sind unsicher, Regine, weil sie nicht wissen, wo Miriam steckt, Und so raffiniert Nadja auch sonst sein mag, ich halte sie doch für so töricht, daß sie sich vorschicken läßt, um uns auszuhorchen. Aber mir kommt da eine Idee.«

»Was für eine?«

»Das wirst du gleich hören. Ich rufe Mönemans an. Du sagst doch immer, daß Benedikt und ich eine ganz ähnliche Stimme am Telefon haben. Dann spiele ich jetzt eben mal Benedikt.«

»Riskiere nicht zuviel, Martin«, bat Regine.

»Ach was, wir sind frei von Ängsten, und das Geld werden wir auch nicht los. Da können wir doch auch mal ein bißchen Theater spielen.«

Jedenfalls schien es ihm gut zu gelingen, abgesehen davon, daß sich seine und Benedikts Stimme tatsächlich ähnlich waren. Möneman war am Apparat.

Er schien konsterniert zu sein, als Martin sich mit Benedikt Hemming meldete.

»Lange nichts von Ihnen gehört«, sagte er stockend.

»Kann ich Nadja sprechen?« fragte Martin gedämpft.

»Sie ist noch verreist. Tut mir leid, Benedikt.«

»Sie war aber vorhin bei uns, und mein Vater sagte mir, ich möge sie anrufen.«

»So? Ich habe sie noch nicht gesehen.«

Das klang grimmig. »Ich werde es ihr ausrichten, wenn sie kommen sollte.«

Das Gespräch war beendet. Möneman legte keinen Wert auf eine Unterhaltung, das gab er deutlich zu verstehen. Nun, immerhin hatte Benedikt seine Mitarbeit aufgesteckt, und außerdem war er wohl auch nicht gut auf seine Tochter zu sprechen.

»Sie war noch gar nicht zu Hause«, erklärte Martin seiner Frau.

»Ich möchte wissen, was sich da abgespielt hat«, meinte Regine.

*

Als Nadja ihr Elternhaus betrat, spielte sich allerlei ab. Mit zornrotem Gesicht ging Ludwig Möneman auf seine Tochter los und packte sie bei den Schultern.

»Was fällt dir eigentlich ein?« schrie er sie an. »Wo treibst du dich herum?«

»Au, du tust mir weh, Vater«, sagte sie klagend. »Können wir nicht in Ruhe miteinander sprechen?«

»Über was denn? Über deine Affären, über die Orgien, die du mit diesem Fotografen gefeiert hast?«

»Wer setzt denn solchen Tratsch in die Welt?«

»Ich weiß, daß es kein Tratsch ist«, ereiferte er sich. »Die Spatzen pfeifen es von den Dächern. Lissy hat ausgepackt.«

»Diese Skandalnudel!« zischte Nadja.

»Die Skandalnudel bist du. Mir kannst du nichts mehr vormachen.«

»Um Benedikt zu becircen, war ich dir gerade recht«, höhnte sie. »Da hättest du nichts dagegen gehabt, wenn ich mit einem Kind dahergekommen wäre, damit er dir ja nicht durch die Lappen geht. Ohne ihn kommst du wohl nicht mehr weiter, und nun gehst du auf mich los. Sei beruhigt, ich bleibe nicht lange. Ich will nur meine Sachen holen und mich von Mama verabschieden.«

»Sie ist nicht hier. Sie will auch nicht mehr hier leben, und ich werde dir nicht sagen, wo sie sich versteckt hält. Was wolltest du übrigens bei den Hemmings?«

Sie kniff die Augen zusammen. »Ich bin erwachsen, ich bin dir keine Rechenschaft schuldig.«

»Benedikt hat angerufen. Er hat gesagt, daß du dort warst.«

»So?« fragte sie sichtlich überrascht. »Er ist also doch zu Hause.«

»Wo sollte er denn sein? Du wirst ja wohl gehört haben, daß Miriam entführt worden ist.«

»Ich glaube dieses Märchen nicht«, entgegnete Nadja wegwerfend. »Sie ist abgehauen, und sie drehen es so, daß sie entführt ist.«

»Und wofür sollte Hemming eine Million zusammengekratzt haben?«

»Weißt du das bestimmt?« fragte Nadja.

»Er hat sich bis über die Haarwurzeln verschuldet. Eine gute Partie würdest du jedenfalls nicht mehr machen, falls du Benedikt noch mal herumkriegen solltest.«

»Ich lege keinen Wert darauf. Ich habe andere Chancen, lieber Vater«, sagte sie mit einem frivolen Lächeln. »Du gestattest aber doch, daß ich Benedikt anrufe. Man braucht ja nicht in Feindschaft auseinanderzugehen.«

»Mein Gott, was habe ich da nur aufgezogen«, stöhnte Möneman. »Warum muß ich so gestraft werden?«

Nadja setzte sich auf seinen Schreibtisch, schlug die Beine übereinander und zog das Telefon zu sich herüber. Sie wählte Hemmings Nummer.

Diesmal meldete sich Regine. Sie hatte jetzt ihre Ängste überwunden. Im liebenswürdigsten Ton bat Nadja darum, mit Benedikt sprechen zu dürfen.

»Moment, ich rufe ihn«, sagte Regine.

Martin war auf den Anruf vorbereitet. Er hatte schon eine Zeit geübt, Benedikts Tonfall genau herauszubringen, denn Nadja hatte ja oft mit ihm telefoniert. Aber auch sie ließ sich täuschen, wenngleich sie überaus erstaunt schien.

»Ich muß mit dir sprechen, Benedikt«, sagte sie unsicher. »Können wir uns heute abend treffen?« Sie hörte, daß dies nicht möglich sei. »Schade, dann vielleicht morgen? Gut, ruf mich an. Ich hoffe, daß du mir nicht mehr böse bist.«

»Wie kann ein Mensch nur so falsch sein«, ächzte Ludwig Möneman.

»Ich bin nur diplomatisch, in deinem Interesse, Vater«, sagte sie lässig.

»In meinem Interesse? Du bringst uns in Verruf.«

»Dann sei doch froh, wenn ich euch verlasse. Du kannst dich ja mit Hemming zusammentun und mit ihm über die verlorenen Töchter weinen. Ich habe diese Moralpredigten satt. Und jetzt laß mich in Ruhe. Ich packe meine Sachen.«

»Das wirst du nicht tun!« schrie er sie an.

»Du bleibst hier, bis diese Sache mit den Fotos geklärt ist.«

»Von welchen Fotos redest du?« fragte sie schrill.

»Von diesen!« stieß er wütend hervor, griff in seine Schreibtischschublade. »Ich habe keine Lust, mich dafür erpressen zu lassen. Ja, das habe ich mit Hemming gemein, daß man uns erpreßt, es sollte mich sehr wundern, wenn da nicht der gleiche Kerl dahinterstecken würde.«

Nadja war kreidebleich geworden. Schreckensstarr waren ihre Augen auf die unzweideutigen Fotos gerichtet. Sie zitterte wie Espenlaub.

»Du hast dafür bezahlt?« fragte sie. »Wieviel?«

»Bisher zwanzigtausend. Für deine Mutter wäre es sonst das Ende gewesen, aber morgen gehe ich zur Polizei. Mach, was du willst. Geh vor die Hunde, lande restlos in der Gosse. Ich werde mit meiner Frau irgendwohin gehen, wo uns niemand kennt und wo niemand erfahren wird, daß wir mal eine Tochter hatten.«

»Dafür wird ein anderer bezahlen, heute noch!« stieß Nadja hervor.

Und ehe er es sich versah, war sie aus dem Haus.

*

Der Lieferwagen war gekommen. Ungesehen gelangte der junge Beamte, der Benedikts Figur hatte, ins Haus. Er zog die bereitgelegten Sachen an.

»Bringen Sie sich nur nicht in Gefahr«, sagte Martin Hemming besorgt.

»Ist ja unser Beruf«, wurde ihm geantwortet.

Wenig später verließ Benedikts Wagen die Garage. Es war schon ziemlich dunkel draußen, man konnte das Gesicht des jungen Beamten nicht erkennen. Aber er wurde auch nicht beobachtet oder gar verfolgt. Er fuhr Umwege, auch an einem Streifenwagen vorbei und gab ein Zeichen.

Dann lenkte er den Wagen zu der Kreuzung, die im Forst lag und als Übergabeort bezeichnet worden war.

Dort lag schon jemand auf der Lauer, allerdings in gemessener Entfernung, zitternd vor Erregung. Es war Nadja.

Als eine schattenhafte, dunkelgekleidete Gestalt auftauchte, sprang sie diese an.

»Du Schuft!« schrie sie gellend. »Du hundsgemeiner Schuft, auch meinen Vater erpreßt du. Das wirst du büßen!«

Und da sah der Mann, daß sie einen Revolver in der Hand hatte, einen Revolver, den er ihr selbst gegeben hatte, für alle Fälle, wie er zynisch bemerkt hatte.

Aber er sah auch, wie ihre Hand zitterte. Mit einer raschen Bewegung umklammerte er ihren Arm, drehte ihn um, so daß sie einen gellenden Schmerzensschrei ausstieß, doch dann fiel der Schuß.

Er wurde gehört von den drei Polizisten, die sich im Gehölz versteckt hielten, und die sprangen nun auf, rannten los.

Sie fanden Nadja blutend am Boden liegen. »Es war Volkmann, Rainer Volkmann«, flüsterte sie. Dann verlor sie das Bewußtsein.

Aber er war verschwunden, untergetaucht in der Dunkelheit des dichten Waldes. Und der junge Inspektor in Benedikts Wagen kam um einige Minuten zu spät, um den Schuß noch zu hören. Er hörte nur Stimmen, Knacken von morschen Zweigen, und dann sah er das Blaulicht des Streifenwagens.

Er eilte darauf zu, sah, wie Nadja von einem Beamten dorthin getragen wurde, und hörte, wie ein anderer zu ihm sagte: »Einsatz Ende. Er ist geflohen. Sein Name ist Volkmann.«

»Na dann«, sagte der Inspektor, »alles okay.«

»Und die Entführte?« fragte der Polizist verblüfft.

»Ist längst in Sicherheit.«

Man konnte ja ruhig sein. Anders wäre es gewesen, wenn sie nicht gewußt hätten, daß Miriam lebte und gut aufgehoben war. Und nun wußte man auch, daß Volkmann der Täter, der Erpresser war, und noch nicht weit gekommen sein konnte.

Doch Nadja war schwerer verletzt, als zuerst angenommen worden war. Der Schuß war in den Rücken gegangen. Sie verlor viel Blut auf der rasenden Fahrt zur Behnisch-Klinik, die diesmal rein zufällig gewählt wurde, weil sie am nächsten lag. Die Polizisten verstanden sich zwar auf Erste Hilfe, aber länger als diese Fahrt hätte es wohl noch gedauert, bis ein Notarzt gekommen wäre.

In der Behnisch-Klinik war man verständigt worden, ohne jedoch zu erfahren, um wen es sich bei der Verletzten handelte. Im OP war alles bereit. Dr. Dieter Behnisch und seine Frau Jenny hatten die Operationskleidung bereits angelegt, und sie nahmen sich auch keine Zeit, nach den Personalien zu fragen, da sie wußten, daß Eile nottat, als sie die Schußwunde betrachtet hatten. Die Kugel mußte die Lunge schräg durchschlagen haben und war irgendwo steckengeblieben. Obgleich die Ärzte ihr ganzes Können einsetzten, wurde der Herzschlag immer schwächer, kam zum Stillstand, und der durch den Blutverlust geschwächte Körper erschlaffte. Nadja Mönemans Leben verlöschte. Später mußten die Ärzte feststellen, daß der Schuß aus nächster Nähe sie so unglücklich getroffen hatte, daß auch Herzkranzgefäße zerrissen worden waren.

Dann erfuhren sie den Namen. »Nadja Möneman«, murmelte Dr. Jenny Belmisch bestürzt. »Die Eltern müssen benachrichtigt werden.«

Doch im Hause Möneman meldete sich niemand. Ludwig Möneman war zu seiner Frau gefahren, um ihr zu sagen, daß sie ihre Tochter abschreiben könnten, noch bevor er erfuhr, daß sie tot war.

Rainer Volkmann wurde kurz nach Mitternacht gestellt, als er versuchte, nach Österreich zu entkommen.

Er wußte, daß sein grausames Spiel verloren war, als man ihm sagte, daß Nadja tot sei und er wegen Mordes angeklagt werden würde. Es sei Notwehr gewesen, verteidigte er sich.

Sie hätte auf ihn schießen wollen und bei dem Versuch, ihr die Waffe zu entreißen, hätte sich der Schuß gelöst.

Man konnte es ihm jetzt nicht widerlegen. Ihm wurde eine Fangfrage gestellt. Wo Miriam Hemming sei, wurde er gefragt.

»Das weiß ich nicht. Nein, ich weiß es nicht!« schrie er. »Es war Nadjas Idee, diese verdammte Gesellschaft zu erpressen.«

»So, auch Dr. Möneman mit den Fotos seiner Tochter?« wurde er gefragt.

Da begriff Rainer Volkmann, daß es aus war, daß er nur noch versuchen konnte, das Schlimmste abzuwenden.

»Ich wollte sie nicht töten«, stöhnte er. »Sie wollte mich umbringen. Es ist ganz anders, als Sie denken.«

Das würde sich ja herausstellen, wurde ihm erwidert.

*

»Jetzt können einem die Mönemans nur noch leid tun«, sagte Martin Hemming zu seiner Frau, als sie von diesem dramatischen Ende erfuhren.

»Wie würde uns aber zumute sein, wenn wir nicht wüßten, wo Miriam ist«, seufzte Regine.

»Wir wissen es und wollen uns nicht mehr damit beschweren, Liebes. Hoffentlich sind die Kinder bald wieder bei uns.«

»Du wirst es Miriam nicht nachtragen, Martin?«

»Wir werden in aller Ruhe darüber sprechen, und ich hoffe, daß sie in Zukunft über ihre Probleme mit uns spricht. Wir sehen jetzt ja auch manches in anderem Licht, auch diese Freundschaft mit Lissy. Aber jetzt muß ich Dr. Norden anrufen. Er wird ja von Nadjas Tod schon erfahren haben.«

Ja, das war der Fall, und die Nordens waren noch nicht frei von Sorge um Miriam. Sie atmeten auf, als ihnen diese nun genommen wurde.

»Was diesem Mädchen nur eingefallen ist, daß es einfach nach Südafrika fliegt«, meinte Dr. Norden kopfschüttelnd.

»Das Geld hatte sie, neugierig war sie sicher auch, und Trotzreaktionen sind in diesem Alter nicht ungewöhnlich«, meinte Fee. »Ich kann mich noch ganz gut daran erinnern, wie wütend ich war, wenn du mich wie ein dummes kleines Mädchen behandelt hast.«

»Das hast du dir auch bloß eingebildet«, widersprach Daniel. »Ich war deprimiert, wenn du mir die kalte Schulter gezeigt hast. Aber das haben wir ja schon oft genug durchgekaut. Fang jetzt bloß nicht wieder mit diversen Flirts an, hinter denen du auch jedes Mal gleich was Ernstes vermutet hast.«

»Man kann leicht lachen, wenn man Siegerin geblieben ist«, sagte Fee neckend. »Wahrscheinlich wäre ich auch eine boshafte Intrigantin geworden, wenn du eine andere geheiratet hättest.«

»Du doch nicht, Feelein. Es ist überhaupt Blödsinn, darüber ein Wort zu verlieren. Ich hätte niemals eine andere geheiratet.«

*

Miriam und Benedikt wußten noch nichts von Nadjas Tod. Sie hatten augenblicklich andere Sorgen, denn so eine Art Tauziehen um Miriam hatte begonnen.

Irene Morane meinte, daß Miriam sich doch hier erst auskurieren und erholen solle. Die ganze Familie gab sich die größte Mühe, ihr zu versichern, wie lieb man sie gewonnen hätte.

»Ich werde bestimmt wiederkommen«, erklärte Miriam. »Aber jetzt muß ich erst heim. Ich habe etwas gutzumachen, das müßt ihr verstehen.«

Man sagte nicht, daß man dafür kein Verständnis hätte. Die Familie, Robin eingeschlossen, war äußerst diplomatisch. Sabrina jedoch hatte offensichtlich Gefallen an Benedikt gefunden. Sie wollte ihn aus rein egoistischen Gründen zum Bleiben bewegen.

Miriam blieb dies glücklicherweise verborgen, da sie noch ein paar Tage in der Klinik bleiben mußte, sonst hätte sie wahrscheinlich noch energischer auf eine schnelle Heimreise gedrängt.

Ihr war es längst bewußt, daß sie keine schwesterlichen Gefühle für Benedikt hegte und dadurch in diese Konfliktsituation gedrängt worden war. Doch Benedikt benahm sich wie der große, fürsorgliche Bruder, und irgendwie schien Nadjas Schatten zwischen ihnen zu stehen.

Martin hatte angerufen, aber zu dieser Zeit war Benedikt in der Klinik bei Miriam gewesen. Ihm war dann von Irene ausgerichtet worden, daß der Fall geklärt und Volkmann verhaftet worden sei. Von Nadjas Tod hatte ihr Martin nichts gesagt. Und Irene unterschlug auch seine Bitte, Miriam auszurichten, wie sehr sie sich schon auf ihre Rückkehr freuten.

Sabrina, darauf bedacht, sich bei Benedikt ins rechte Licht zu setzen, zeigte sich jedoch mitteilsam. Und sie war noch zu naiv, um zu begreifen, daß sie damit gegen die Interessen der Familie handelte. Sie wollte es Benedikt nur schmackhaft machen, an einem Leben in Pretoria Gefallen zu finden.

Sie erzählte, was sie und Robin einmal alles erben würden, aber sie erzählte auch, daß Miriam in ein paar Jahren noch viel reicher sein würde, und daß ihr Großvater darauf bedacht sei, daß sie sich nicht von falschen Beratern verunsichern lassen solle.

Anfangs maß Benedikt ihrem Geplauder keine Bedeutung bei, aber dann wurde er von ein paar Bemerkungen doch nachdenklich gestimmt.

»Eigentlich gehört Miriam doch gar nicht zu euch«, sagte Sabrina leichthin. »Es besteht doch keine Blutsverwandtschaft. Sie hat ganz andere Eltern als du.«

»Regine ist ihre Mutter«, sagte Benedikt. »Und wir sind eine richtige Familie, Sabrina.«

»Aber Onkel Albert hat nur sie als Erbin eingesetzt«, sagte Sabrina. »Ihr habt überhaupt keinen Anspruch.«

Da wurde es ihm zum ersten Mal so recht bewußt, worum es dieser Familie ging, bei allem Wohlwollen, das sie an den Tag legten, bei aller Gastfreundschaft, die stets betont wurde.

»Wir würden auch keinen Anspruch darauf erheben«, erklärte er. »Uns geht es gut.«

»Aber Miriam scheint da doch anders zu denken. Warum wäre sie sonst von zu Hause ausgerissen? Und Granny meint, daß du Miriam wegen ihres Geldes heiraten würdest oder könntest. Du bist ja nicht ihr richtiger Bruder, du bist überhaupt nicht verwandt mit ihr. Würdest du das tun, Benedikt?«

Blanke Eifersucht brannte in ihren Augen.

Benedikt war konsterniert. »Ich sollte, könnte Miriam wegen ihres Geldes heiraten?« fragte er fassungslos. »Was denkt ihr euch denn noch alles aus?«

Erschrocken sah ihn Sabrina an. »Sag bloß nichts, daß ich mit dir darüber rede«, murmelte sie. »Ich möchte ja auch nur wissen, wie du darüber denkst. Ich werde bestimmt noch viel reicher sein als Miriam, wenn ich mal heirate.«

»Dann paß nur auf, daß du nicht an den Falschen gerätst, der nur dein Geld will«, sagte Benedikt ironisch.

»Du bist doch nicht so«, sagte sie. Sie war doch noch recht naiv, aber auch zielstrebig, und Benedikt geriet ganz hübsch in Bedrängnis, da sie ihm nicht von der Seite wich. Die Familie schien das nicht mal ungern zu sehen. Man war immer noch bemüht, Robin und Miriam zusammenzubringen, obschon Robin wenig Neigung zeigte, da Miriam ihm viel zu eigenwillig war.

Das bewies sie allerdings auch darin, daß sie schnellstens nach Hause wollte, und dagegen hatte Benedikt nicht das geringste einzuwenden.

Die Familie Morane zeigte sich betrübt, doch mehr noch waren sie wohl gekränkt, daß es nicht so lief, wie sie es sich vorgestellt hatten.

Miriam sagte, daß sie bestimmt wiederkommen würde, und sie sei sicher, daß der Nachlaß ihres Großvaters gut verwaltet würde.

Benedikt erklärte, daß seine Eltern sich gewiß sehr freuen würden, wenn die Familie Morane auch einen Besuch in München machen würde, doch da zeigte sich nur Sabrina begeistert, und dafür wurden ihre verweisende Blicke zuteil.

Miriam atmete auf, als sich das Flugzeug in die Lüfte hob.

»Für’s erste bin ich bedient«, sagte sie leise. »Mich muß der Hafer gestochen haben, Benni.«

»Mich würde es sehr interessieren, was der eigentliche Anlaß war, Miriam. Wir haben hin und her gerätselt und sind zu keiner plausiblen Erklärung gekommen.«

»Ich weiß es selbst nicht«, erwiderte sie ausweichend. »Mir war alles zuwider. Nein, ihr nicht«, schwächte sie die Bemerkung schnell ab.

»Ich wollte nur einfach nicht gestehen, daß Paps recht hatte. Ich begriff, daß ich nirgendwohin gehörte.«

»Red nicht solchen Unsinn.«

»Ich war doch selber schuld«, erklärte sie ruhig. »Ich hatte mich in eine blöde Situation gebracht. Ich wurde eigentlich von niemandem mehr akzeptiert. Im Tennisclub distanzierten sie sich, Lissy schien auch nicht mehr zu retten, in der Clique war ich sowieso Außenseiter, und außerdem brachte es mich auf die Palme, daß Nadja mit ihrem scheinheiligen Getue überall Anklang fand und gegen mich hetzte. Ich mußte da raus, und als der Brief von den Moranes kam, sah ich einen Weg.«

»Du hättest mit den Eltern darüber sprechen können«, sagte Benedikt.

»Sie hätten es mir ausgeredet. Sie hätten darauf bestanden, daß ich erst das Abitur mache, aber in der Schule habe ich es nicht mehr ausgehalten. Und als Lissy sich dann auch noch mit diesem Volkmann eingelassen hat und mich dazu überreden wollte, als Fotomodell schnell Geld zu verdienen, war ich völlig down. Da wurde mir auch bewußt, daß ich mich selbst in einen miesen Ruf gebracht hatte.«

»Nun übertreib mal nicht«, sagte Benedikt. »Ich glaube eher, du hattest endlich begriffen, daß du ausgenutzt worden warst, daß jeder dich anpumpte.«

»Woher weißt du das?«

»Von Jochen. Er hatte diese dumme Phase auch überwunden. Und wenn du nicht so viel Geld gehabt hättest, wäre es dir sicher auch schon früher bewußt geworden, daß du dich tatsächlich in der falschen Gesellschaft befunden hast. Lissy ist wohl auch zur Besinnung gekommen.«

»Und was ist mit Nadja?« fragte Miriam zaghaft.

»Ich weiß es nicht. Für mich war das erledigt, als ich sie bei Volkmann überraschte. Sie hat mich ganz

hübsch hinter’s Licht geführt, Miriam, aber man muß auch solche Erfahrungen machen.«

»Ich hatte solche Angst, daß du sie heiraten würdest«, flüsterte sie.

»Und warum hast du nicht gesagt, was du von ihr und Volkmann wußtest?«

»Ihr hättet doch gedacht, daß ich mir das nur einbilde. Ihr hattet doch nur die beste Meinung von ihr. Sie war die wohlerzogene Tochter. Sie benahm sich damenhaft und wurde mir als gutes Beispiel hingestellt.«

»Und du dachtest, nun gerade nicht. Du wolltest uns provozieren.«

»Wohl war mir dabei nicht, aber in der Clique hatte jeder seine Probleme.«

»Alle fühlten sich unverstanden«, bemerkte Bendikt nachdenklich.

»Es ist nicht so einfach, reif zu werden«, sagte Miriam nachdenklich.

»Mit achtzehn Jahren kann man das auch nicht sein.«

Miriam schloß die Augen. »Du verstehst das vielleicht nicht, aber für mich war es schrecklich, daß Paps nicht mein Vater war, und du nicht mein Bruder. Ihr wußtet es, nur ich nicht.«

»Und was wäre gewesen, wenn du es gewußt hättest?«

»Mir ist es in Pretoria bewußt geworden, wie dankbar ich für die schöne Kindheit und Jugend sein muß.«

»Und was nun, Miriam?«

»Ich würde gern weiter zur Schule gehen, aber das wird ja wohl kaum möglich sein.«

»Wenn du dich doch entschließt, Robin zu heiraten, brauchst du doch nicht mehr die Schulbank zu drücken«, scherzte er.

»Hör doch auf damit. Willst du mich ärgern?« ereiferte sie sich.

»Nein, ich will dich nicht ärgern, Miriam«, sagte er sanft. »Ich halte es für gut, wenn du das Abitur machst. Du kannst es schaffen, und du kannst beweisen, was in dir steckt. Du kannst es vor allem jenen beweisen, die dich falsch eingeschätzt haben. Du hattest den Mut, Lissy die Stange zu halten, obwohl du dafür von den anderen links liegengelassen wurdest. Du brauchst dich jetzt doch nicht zu verstecken, weil du einen anderen Weg eingeschlagen hast. Paps wird das mit der Schule schon in Ordnung bringen.«

»Das fehlte noch. Ich werde selbst mit dem Direx sprechen.«

»Fein«, sagte Benedikt anerkennend. »Die Familie hält zu dir, Kleine.« Unwillkürlich legte er den Arm um ihre Schultern, und als sie zu ihm aufblickte, erfüllte ihn ein wunderliches Gefühl der Zärtlichkeit, wie er es bisher noch nicht empfunden hatte. Und plötzlich kamen ihm Sabrinas Worte in den Sinn. »Man kann sich auch sehr lieb haben, wenn man nicht direkt verwandt ist«, sagte er leise.

»Aber es ist jetzt anders«, flüsterte sie scheu.

»Ja, es ist anders, Miriam, und wohl noch schöner«, erwiderte er weich. Und dann streiften seine Lippen ihre Stirn, und sie kuschelte sich in seinen Arm.

Worte waren überflüssig. Sie waren sich nahegerückt wie nie zuvor. Sie fühlten es, und das genügte ihnen jetzt. Begreifen konnten sie es beide noch nicht, wie sehr sich nun alles für sie verändert hatte. Aber was machte das, wenn sie von Glück erfüllt waren.

*

Lissy war aus der Klinik entlassen worden. Sie hatte sich so verändert, daß Regine Hemming sie nicht wiedererkannte, als sie plötzlich vor ihr stand.

»Sie wünschen?« fragte sie zurückhaltend.

»Erkennen Sie mich denn nicht, Frau Professor? Ich bin Lissy. Ich wollte nur fragen, wie es Miriam geht.« Lissys Stimme bebte, ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Lissy«, sagte Regine staunend, »komm herein. Entschuldige, aber ich habe dich wirklich nicht erkannt.«

»Ich weiß ja, daß ich anders aussehe«, sagte Lissy leise, »ziemlich normal.«

»Und dünn bist du geworden.«

»Das schadet nun wieder nichts«, meinte Lissy.

Regine konnte feststellen, wie eine andere Frisur, wie hübsche Kleidung das Mädchen zu ihrem Vorteil verändert hatte. Und vor allem war das Gesicht nicht mehr so unnatürlich geschminkt.

»Wieder ganz gesund?« fragte Regine leicht befangen.

»Es geht so, aber ich wollte nicht mehr in der Klinik bleiben. Mich hat das alles so aufgeregt. Schließlich habe ich es mir ja selber eingebrockt. Schließlich habe ich auch Miriam enttäuscht. Sie hat sich doch solche Mühe gegeben, mich zur Vernunft zu bringen.« Sie tippte sich an die Stirn. »Da droben hat es bei mir eben nicht mehr richtig getickt.«

»Und jetzt tickt es richtig?« fragte Regine mit einem leichten Lächeln, das aufmunternd auf Lissy wirkte.

»Auffallen um jeden Preis ist albern, aber das auch noch als Lebensanschauung zu propagieren ist Blasphemie.«

»Darüber können wir uns unterhalten«, meinte Regine.

»Ich wollte Ihnen nicht auf den Wecker, ich meine, auf die Nerven fallen«, sagte Lissy errötend. »Ich muß immerzu an Miriam denken und warum sie ausgerissen ist.«

»Wohl, um zu beweisen, wie erwachsen und selbständig sie ist«, erwiderte Regine, »aber sie wird zurückkehren. Ich denke, daß sie schon auf dem Heimflug ist.«

»Ich habe gehört, daß Nadja tot ist«, sagte Lissy.

»Ein trauriges Kapitel für ihre Eltern«, bemerkte Regine.

»Ich war für meine auch ein trauriges Kapitel«, erklärte Lissy. »Plötzlich gibt es einen Knacks, und dann sieht man alles ein. Aber erst muß man ordentlich eins aufs Dach kriegen. Für Nadja war es wohl zu spät. Hat es Benedikt sehr getroffen?«

»Er wußte, daß sie mit Volkmann liiert ist«, erwiderte Regine ausweichend.

Lissy nickte.

»Miriam hatte Nadja durchschaut. Für sie war es schrecklich, daß Benedikt mit ihr verbandelt war. Das darf ich doch sagen?«

»Mir wäre es lieber gewesen, wenn Miriam mit uns darüber gesprochen hätte, Lissy.«

»Sie hat nie etwas Schlechtes über andere weitergesagt. Sie hat immer gemeint, daß man die Menschen nur besser machen kann, wenn man ihnen hilft, mit ihren Konflikten fertig zu werden. Von ihren eigenen Problemen hat sie nie gesprochen, und ich war viel zu egozentrisch, um zu merken, daß sie welche hatte. Es tut mir so leid, daß sie meinetwegen auch mit Ihnen Schwierigkeiten bekommen hat. Meine Mutter hat gesagt, daß ich schuld bin.«

»Woran?« fragte Regine.

»Daß Miriam weggelaufen ist, daß sie mit mir in einen Topf gesteckt wurde. Darüber habe ich nie nachgedacht. Das wollte ich Ihnen auch sagen.«

»Sehen wir es mal nicht so eng, Lissy«, meinte Regine nachsichtig. »Jeder Mensch hat seine Fehler. Sicher waren wir in mancher Beziehung auch zu engstirnig.«

»Das sagen Sie? Mein Vater sagt, daß ich öfter hätte Prügel kriegen müssen, aber jetzt ist er zufrieden, daß ich vernünftiger geworden bin. Wie es ausgehen kann, hat man ja bei Nadja gesehen. Wenn ich mir vorstelle, daß Volkmann Miriam tatsächlich entführt hätte…«

»Stellen wir es uns nicht vor«, sagte Regine fröstelnd. »Miriam wird dich anrufen, wenn sie zurück ist, Lissy.«

»Danke, Frau Professor, und entschuldigen Sie bitte vielmals, wenn ich so lange geschwatzt habe.«

Fallen ist keine Schande, nur das Liegenbleiben, ging es Regine durch den Sinn, als Lissy gegangen war. Lissy hatte sich aufgerappelt. Sie hatte gelernt aus ihren Fehlern, gelernt auch aus Nadjas Unglück. Es blieb nur die Frage, wie Nadja auf die schiefe Bahn geraten konnte. Eine Frage, die keine Antwort mehr finden würde, die Nadjas Eltern wohl ewig beschäftigen mußte. Welch ein erschütterndes Drama für dieses Ehepaar, das sich erst in der Mitte des Lebens befand.

*

Dr. Norden hatte es erlebt, wie Ludwig Möneman zusammengebrochen war, vor der Tatsache stehend, seiner Frau die ganze Wahrheit sagen zu müssen, vor den Trümmern seiner Existenz, nur noch Schmach und Schande ertragen zu müssen. Da konnte nur die Zeit helfen.

Und Fee erschrak vor dem Triumph der alten Frau Peiper, die es ja ganz genau gewußt haben wollte, daß es mit diesem Volkmann ein schreckliches Ende nehmen würde und daß das ganze »Gesindel« um ihn herum eingesperrt gehörte.

Aber nun mußte sie den Krach ertragen, der durch das Abreißen des Hauses entstand, und sie jammerte unentwegt, wie lange sie den Lärm erst ertragen müsse, wenn da gebaut würde. Und das Rechte wäre es auch nicht, fremde Leute im Haus zu haben, von denen man nicht wisse, ob man nicht bestohlen würde. Man könne ja niemandem mehr trauen. Und dann bekam Fee auch noch den Vorwurf zu hören, daß sie auch nur so selten käme.

»Ich habe eine Familie, Frau Peiper«, erklärte Fee sehr bestimmt. »Es wäre für Sie doch wirklich besser, Sie würden in ein nettes Seniorenheim gehen. Geld genug haben Sie, und Gesellschaft finden Sie dort auch.«

»Ja, es wird wohl besser sein«, sagte Frau Peiper da. »Das hier ist auch nicht mehr meine Welt, und es wird immer schlimmer. Wenn man alt wird, gilt man ja nichts mehr. Aber Sie werden auch mal alt, und dann werden Sie es erleben, wie man behandelt wird.«

»Ich habe sehr viel Verständnis für die alten Menschen, Frau Peiper«, sagte Fee, dieser versteckten Vorwürfe müde, »aber alte Menschen müssen halt auch Verständnis für die Jüngeren haben. Ich will Sie damit gewiß nicht kränken, und daß Volkmann ein Taugenichts ist, wissen wir ja nun alle, aber es ist kein Grund, jedem zu mißtrauen.«

Sie war schon ein bißchen traurig, daß die alte Dame jetzt so aggressiv und sogar boshaft wurde. Aber Daniel meinte, daß dies auch die fortschreitende Verkalkung mit sich brachte.

»Dann bewahre mich der Herrgott davor, daß ich mal so alt werde«, sagte Fee seufzend.

Er küßte sie auf die Nasenspitze. »Dann wirst du eine bezaubernde Uroma sein, Feelein«, sagte er lächelnd. »Silberweiße Löckchen kringeln sich um dein liebliches Gesicht, und mit sanfter Stimme erzählst du unseren kleinen Nachkommen, wie es zu unserer Zeit war.«

»Ach du lieber Himmel«, lächelte sie, »ich werde doch nicht im Alter noch zu Locken kommen, und was unsere Nachkommen erwartet, möchte ich jetzt auch lieber noch nicht wissen.«

»Eins wissen wir, Fee, die Menschen werden immer verschieden sein, solange sich die Erde dreht.«

*

Regine und Martin Hemming warteten am nächsten Tag am Flughafen auf die Ankunft der Maschine, die Benedikt und Miriam bringen sollte. Viel zu früh waren sie da gewesen, und das Warten wurde ihnen lang. Doch endlich war es soweit. Die Maschine war gelandet, und nun brauchten sie doch nicht mehr lange zu warten, denn die Zollabfertigung hatten sie schon in Frankfurt hinter sich gebracht, wo sie hatten umsteigen müssen.

Sie sahen die beiden kommen, Arm in Arm. »Wie ein Liebespaar«, flüsterte Regine atemlos.

»Vielleicht sind sie inzwischen eins«, meinte Martin trocken.

Fassungslos sah sie ihn an. »Ist doch gar nicht so abwegig«, meinte er, aber da waren die beiden auch schon da, und sie lagen sich in den Armen. Miriam in Martins, Regine in Benedikts.

»Da habt ihr sie wieder«, sagte Benedikt mit schwingender Stimme.

»Ich schäme mich so, daß ich euch solchen Kummer bereitet habe«, flüsterte Miriam.

»Ist längst vergessen«, sagte Martin rauh. »Blaß bist du, Kleines. Ich denke, da scheint immer die Sonne.«

»Miriam kommt ja gerade erst aus dem Hospital«, erklärte Benedikt, »und sie wollte sich lieber zu Hause erholen. Die Sonne allein macht’s auch nicht. Aber es war alles in allem recht interessant.«

»Und lehrreich«, fügte Miriam hinzu.

»Und wir können von Glück sagen, daß sie da nicht gleich verheiratet worden ist«, scherzte Benedikt.

»Jetzt macht es aber halblang«, brummte Martin. »Auf, nach Hause.«

»Was ist alles passiert?« fragte Benedikt.

»Darüber reden wir später. Zuerst ist Miriam an der Reihe.«

»Sie muß ruhen«, erklärte Benedikt.

»Sie ist gerade von einer Gehirn­erschütterung genesen.«

»Wie ist das eigentlich passiert?« fragte Regine.

»Eine Tankstelle ist in die Luft geflogen, während ich mit Benni telefoniert habe, und da hat es auch die Post erschüttert. Denkt nur nicht, daß da unten nicht genauso viel passiert wie hier.«

Benedikt ließ sich über die Familie Morane aus, bis Miriam einwarf: »Vergiß aber nicht zu sagen, daß es Sabrina auf dich abgesehen hatte.«

»lch werde eines Tages noch viel reicher sein als Miriam«, äffte er treffend Sabrinas hohe Stimme nach und erntete dafür ein dreistimmiges Lachen.

Es würde viel zu erzählen geben, aber daheim angekommen, rollten bei Miriam erst Tränen der Wiedersehensfreude, und sie weigerte sich nicht, sich in ihr Bett zu legen.

Regine bestand darauf, und sie wollte auch gleich Dr. Norden anrufen.

»Laß mich erst schlafen, Mami«, bat Miriam. »Ich habe mich so auf mein Bett gefreut.«

Es mochte aber auch sein, daß ihr erst jetzt so richtig bewußt wurde, was sie an jenem Tag zurückgelassen hatte, jetzt, da sie wieder eingehüllt war in Liebe und Fürsorge.

Regine blieb an ihrem Bett sitzen und hielt ihre Hand. »Wie geht es Lissy?« fragte Miriam leise.

»Sie hat sich sehr verändert. Sehr zu ihrem Vorteil, Kleines. Sie war gestern hier, und wir haben uns lange unterhalten. Ich habe ihr gesagt, daß du sie anrufen wirst, wenn du zurück bist.«

»Ist sie zu Hause?«

»Ja.«

»Und sind ihre Eltern auch nett zu ihr?«

»Sie ist sehr zufrieden.«

»Und was ist mit Nadja?« fragte Miriam.

»Wurde es euch nicht ausgerichtet?« fragte Regine.

»Was meinst du?«

»Nadja ist tot!«

*

Das hatte Benedikt auch eben erst von seinem Vater erfahren, als dieser ihm geschildert hatte, wie man Volkmann gefaßt hatte.

»Und das hat sie mitgemacht?« fragte er tonlos. »Dazu war sie fähig?«

»Vielleicht hat sie ihm nur alle Informationen verschafft«, erklärte Martin. »Jedenfalls hatte sie wohl auch eine Auseinandersetzung mit ihm. Er schweigt sich darüber aus. Er will das Bestmögliche für sich herausholen. Es steht fest, daß er Möneman mit eindeutigen Fotos von Nadja erpreßt hat. Nicht nur du hast dich in ihr getäuscht. Wir alle.«

»Bis auf Miriam«, stieß Benedikt hervor.

»Ich verstehe nicht, daß sie darüber nicht gesprochen hat«, sagte Martin heiser.

»Hätten wir ihr geglaubt? Sei mal ehrlich, Paps. Uns hat ihr Umgang nicht gepaßt, dabei war Nadja ancheinend viel leichtfertiger als Lissy, wenn auch raffinierter. Die Clique war in so einer spinnösen Phase, einer steckte den andern an, und dazwischen saß Miriam, die für jeden das Beste wollte, jedem helfen wollte und mit dem Schock nicht fertig werden konnte, daß du nicht ihr Vater, ich nicht ihr Bruder war.«

»Mit dem Letzteren scheint sie indessen aber doch gut fertig geworden zu sein«, bemerkte Martin anzüglich. »Wenn ich zurückdenke, muß ich feststellen, daß sie sich um deine Flirts nicht gekümmert hat, solange sie der Überzeugung war, daß du ihr Bruder bist. Geändert hat sich das erst, als sich der Zustand änderte. Der heißgeliebte Bruder, dem sie alles anvertraute, wurde zu einem nicht verwandten männlichen Wesen.«

»Alles okay, Paps, darüber reden wir jetzt besser nicht. Miriam will ihr Abitur machen, und es gibt noch manches, was sie ins reine bringen muß. Versuche bitte nicht, ihre Gefühle für mich zu erforschen.«

»Das überlasse ich dir. Ich werde mich hüten«, meinte Martin lächelnd. »Würdest du mir aber bitte sagen, wie du denkst, damit ich nicht wieder Erziehungsfehler mache?«

»Erziehen brauchst du nichts mehr. Du kannst es ruhig mir überlassen, mich ihres Seelenlebens anzunehmen.«

»Wie beruhigend«, sagte Martin erleichtert. »Na, dann trinken wir zwei Männer mal einen guten Schluck auf eure Zukunft.«

*

Später gesellte sich Regine zu ihnen. »Miriam schläft jetzt«, sagte sie. »Wieso hat man euch nicht gesagt, daß Nadja tot ist?«

»Man hat nur das gesagt, was man für richtig hielt, liebste Mami. Man hat es vielleicht auch vergessen, weil es für die Moranes nichts Wichtigeres gibt als Geld und Besitz. Und es war für Miriam ein heilsamer Schock, daß sie erlebte, wie in dieser Familie über die jeweilige nächste Generation verfügt wird. Man erbt nur, wenn man gehorcht und sich anpaßt.«

»Und das wird akzeptiert?« fragte Regine.

»Geld hat eine ganz besondere Macht, aber es scheint auf Miriam noch allerhand zu warten, da man sogar ihre Eigenwilligkeit akzeptierte.«

»Aber sie hat doch für diesen Robin nicht das geringste übrig«, sagte Regine.

»Das wird ihr Glück sein«, meinte Benedikt. »Ihr gestattet, daß ich mich bis zum Abendessen auch ein bißchen hinlege?«

Er drückte Regine einen Kuß auf die Wange, zwinkerte seinem Vater zu und entschwand.

»Was habt ihr geredet?« fragte Regine wachsam.

»Über alles, was uns so in den Sinn kam, Liebes. Er wird künftig Miriams Seelenleben überwachen. Wir brauchen uns darum nicht mehr zu kümmern. Wie hat sie es aufgenommen, daß Nadja tot ist?«

»Sie hat nur gefragt, ob Benedikt es schon weiß. Ich habe ihr gesagt, daß er es sicher von dir erfahren würde.«

»Für ihn war diese Geschichte vorher abgeschlossen, Regine. Ihm ist es nur auch unbegreiflich, daß sie diese Entführungsgeschichte mitgemacht hat.«

»Wer wird das je begreifen? Aber man fragt sich ja ebenso, wie Mädchen aus guten Familien mit Terroristen gemeinsame Sache machen, sogar bewußt morden. Wenn Frauen unter dem Einfluß eines Mannes stehen, wenn sie ihm hörig werden, und das wird für negative oder gar kriminelle Zwecke ausgenutzt, ist das schon ein Motiv, wenn auch keine Rechtfertigung. Und das Motiv für Miriams Flucht kenne ich jetzt auch genau.«

»Na, dann sag es schon«, meinte er schmunzelnd.

»Unglückliche Liebe.«

Er nahm sie in den Arm. »Na, so unglücklich ist die jetzt wohl nicht mehr. Man scheint sich doch ziemlich einig zu sein. Aber so empfindsame Pflänzchen soll man erst gedeihen lassen, Regine. Wir können der Zukunft jetzt ruhig entgegensehen, Liebes.«

»Meinst du, daß sie zum Abitur noch zugelassen wird?«

»Das werden wir schon schaukeln. Aber jetzt muß sie sich erst ein paar Tage erholen.«

Dieser Meinung war auch Dr. Norden, der nach der Sprechstunde kam.

»Da ist ja die Weltreisende wieder«, sagte er heiter. »Aber muß man sich bei so einem Ausflug auch noch eine Gehirnerschütterung zuziehen?«

»Ich kann doch nichts dafür, daß die Tankstelle in die Luft geflogen ist«, sagte sie. »Aber es war schon ein gewaltiger Schreckschuß.« Sie blinzelte zu ihm empor. »Kriege ich keine Standpauke?«

»Ich werde mich hüten«, sagte er.

»Aber Mami hat sich doch sehr aufgeregt«, meinte Miriam kleinlaut.

»Das kann ich nicht leugnen. Was meinen Sie, Miriam, wie meine Frau sich aufgeregt hätte. Mütter machen sich um ihre Kinder immer Sorgen, egal, ob sie zwei oder zwanzig Jahre sind und noch älter. Aber den Papa hat es auch geschlaucht.«

»Es war ja auch töricht«, sagte Miriam leise. »Aber ich konnte ja nicht wissen, daß man sich das so zunutze macht. Wer kommt denn schon auf so was!«

»Sie sind doch ein gescheites Mädchen, Miriam«, sagte Dr. Norden ernst. »Sie sollten doch wissen, daß auch andere Gefahren lauern, wenn junge Mädchen allein herumreisen.«

»Ich wollte ja nicht herumreisen. Ich wollte nur weit weg sein, und ich wußte ja, wohin ich gehen konnte. Ich hatte genügend Geld und brauchte mich von niemandem abhängig zu machen. So habe ich es wenigstens gedacht. Und dann habe ich gemerkt, was man sich so alles einredet.«

»Und daß man gar nicht so erwachsen ist, wie man meint«, sagte Dr. Norden. »Aber vom Heimweh werden auch sehr Erwachsene befallen, Miriam.«

Sie seufzte. »Wenn doch wenigstens einer richtig mit mir schimpfen würde.«

»Wenn Sie es wollen, kann ich Ihnen tüchtig die Leviten lesen, mein liebes Kind. Aber Sie wissen ja schon selbst, was Sie angerichtet haben.«

»Ja, ich weiß es. Volkmann hätte gar nicht auf den Gedanken mit der Entführung kommen können, wenn ich sofort meine Eltern angerufen hätte. Und dann würde Nadja vielleicht auch noch leben, und ihre Eltern hätten all dies nicht durchmachen müssen.«

»Was Nadja getan hat, mußte sie selbst verantworten, Miriam. Deswegen brauchen Sie sich keine Vorwürfe zu machen. Und Sie werden jetzt, genauso wie Lissy, wissen, daß Eltern es nur gut meinen mit ihren Kindern, wenn sie warnen und Kritik üben. Man wird mit jedem Jahr ein bißchen klüger.«

»Ich weiß jetzt aber auch ganz genau, daß nicht alle Eltern so sind wie meine. Sie müßten mal die Moranes kennenlernen, Dr. Norden. Da geht es zu wie beim Militär. Wehe, wer nicht pariert. Sie nennen das Tradition.«

Nun mußte Dr. Norden doch lächeln. »Andere Länder, andere Sitten, Miriam.«

»Verheiratet hätten sie mich auch gleich, wenn ich ja gesagt hätte. Dabei ist Robin erst neunzehn, und außerdem war er wütend, daß ich ihn beim Tennis geschlagen habe. Emanzipierte Frauen mag man da nämlich auch nicht.«

»Aber man hätte beide Augen zugedrückt, da Sie doch eigentlich eine Ausreißerin waren?« fragte Dr. Norden doch erstaunt.

»Mein Großvater war ein reicher Mann, und ich bin seine Erbin«, sagte sie ironisch. »Das Vermögen soll im Land bleiben und möglichst in der Familie. Dabei könnte ich die Goldminen sowieso nicht mitnehmen.«

Das sagte sie unbeschwert, aber Dr. Nordens Blick wurde nachdenklich.

»Es wäre besser, wenn Sie hier nicht als die reiche Erbin bekannt würden, Miriam«, sagte er. »Sonst könnten Sie womöglich doch noch entführt werden.«

»Ich rede mit niemandem darüber, Dr. Norden. Ich bin wirklich um einiges klüger geworden. Ich frage mich nur, warum Großvater mir alles hinterlassen hat und nicht auch die Moranes bedachte, die doch seine besten, einzigen Freunde waren, wie sie stets betonten.«

»Nun, vielleicht dachte Ihr Großvater, daß diese Moranes reich genug wären, und vielleicht sah er in ihnen nicht die besten Freunde, Miriam.«

»Und vielleicht dachten sie auch, daß sie die dumme kleine Deutsche mit ihrer großartigen Gastfreundschaft ganz schnell für sich gewinnen könnten.« Sie sah den Arzt fragend an. »Ob ich zu mißtrauisch geworden bin?«

»Sie haben ja Zeit, darüber nachzudenken und sich ganz genau zu informieren, warum Ihr Großvater dieses Testament so verfaßt hat, daß Sie erst mit einundzwanzig Jahren ganz über den Nachlaß verfügen können. Ihre Eltern machen sich jetzt schon Sorgen, daß Sie dann doch nach Pretoria gehen könnten.«

»Was soll ich dort? Hier ist mein Zuhause.«

»Aber es ist doch ein schönes Land«, meinte Dr. Norden.

»Wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten. Ich bin so froh, daß ich wieder zu Hause bin.«

Sie war reifer geworden und doch noch so jung. Es war viel geschehen in diesen wenigen Tagen, und doch waren die zwei Wochen zur Ewigkeit geworden, so erfüllt von Angst, Spannung, Ungewißheit.

Am nächsten Tag gab es ein rührendes Wiedersehen zwischen Miriam und Lissy, und auch Miriam mußte die Freundin lange betrachten, da sie nichts mehr von jener Lissy finden konnte, von der sie sich im Streit getrennt hatte.

»Ich kann nicht mehr sagen, was ich alles gequatscht habe«, meinte Lissy. »Ich weiß nur, daß ich nie mehr im Leben Bowle trinke.«

»Das war bestimmt nicht die richtige Mischung«, stellte Miriam fest. »Und es war auch wirklich nicht die richtige Gesellschaft, Lissy.«

»Als du weg warst, wäre ich am liebsten gestorben«, flüsterte Lissy. »Und jetzt kann ich es gar nicht mehr begreifen, daß ich so gesponnen habe.«

»So gefällst du mir viel besser«, sagte Miriam. »Aber ich habe ja gewußt, daß du nur verklemmt bist und das überspielen wolltest.«

»Und du hast dich von Nadja provozieren lassen, genau das Gegenteil von ihr sein zu wollen.«

»Das mag auch eine Rolle gespielt haben, aber ich will dir die Wahrheit sagen.

Eines Tages wirst du sie ja sowieso erfahren. Meine Mutter war nämlich schon einmal verheiratet, und ich stamme aus dieser Ehe. Paps hat mich dann bloß adoptiert, und als ich das erfahren habe, hat es mich umgeworfen. Ich weiß jetzt, daß ich blöd reagiert habe.«

Lissy sah sie staunend an. »Da hast du aber verdammtes Glück gehabt, solchen Vater zu bekommen.«

»Paps war auch vorher verheiratet und hat Benedikt mit in die Ehe gebracht«, fuhr Miriam gedankenverloren fort. »Seine Mutter war gestorben und mein Vater auch, und ich war noch ein Baby, als Paps und Mami geheiratet haben.«

Lissy versank in Schweigen. Sie dachte angestrengt nach.

»Dann bist du ja eigentlich gar nicht mit Benedikt verwandt«, sagte sie atemlos.

»Nein, wir sind eigentlich gar nicht verwandt.« Miriams Augen bekamen einen träumerischen Ausdruck.

»Das ist wahnsinnig romantisch«, seufzte Lissy. »Wenn ich so einen Bruder wie Benedikt hätte, und er wäre gar nicht mein richtiger Bruder, dann würde ich mich bestimmt in ihn verlieben.« Sie kicherte. »Und stell dir mal vor, wenn zwei, die Geschwister waren, dann heiraten würden, alles würde kopfstehen.«

»Wir werden schon dafür sorgen, daß es vorher bekannt wird, daß wir keine Geschwister sind«, sagte Miriam mit einem hintergründigen Lächeln, und da blieb Lissy der Mund offenstehen.

Doch noch bevor sie etwas sagen konnte, fuhr Miriam fort: »Du kannst ruhig schon mal beiläufig erwähnen, wie es sich wirklich verhält, aber wenn du ein Sterbenswörtchen darüber verlierst, daß ich Benedikt mal heiraten werde, kündige ich dir die Freundschaft.«

Lissy schnappte nach Luft. »Will er denn auch?« fragte sie verwirrt.

»Das wirst du schon erleben, aber jetzt mache ich erst das Abitur.«

»Wozu denn das, wenn du schon ans Heiraten denkst?«

»Um zu beweisen, daß ich es schaffe.«

»Ich werde Kosmetikerin«, sagte Lissy. »Damit sind meine Eltern auch einverstanden. Fleisch und Wurst kann ich halt nicht verkaufen, aber essen tu ich es jetzt schon, und es schmeckt mir auch.« Sie machte eine kleine Pause. »Bleiben wir Freundinnen, Miriam?«

»Ich glaube, jetzt sind wir erst richtige Freundinnen geworden«, erwiderte Miriam nachdenklich. »Wir haben die Jugendtorheiten überstanden.«

»Laß dich bloß nicht mehr anpumpen. Die lachen sich doch nur ins Fäustchen. Aber das habe ich dir schon früher gesagt.«

»Du hast mich nie angepumpt, Lissy.«

»Ich wollte dich ja auch nie als Freundin verlieren. War ich ein sehr lästiges Anhängsel?«

»Nein, das nicht. Ich hatte immer nur Angst, daß du ganz den Halt verlierst. Wir waren schon zwei seltsame Mädchen, Lissy.«

»Warum hast du zu mir gehalten, obgleich deine Eltern doch gegen mich waren?« fragte Lissy.

»Weil du ehrlich bist, und weil ich wußte, wie falsch Nadja war. Aber inzwischen habe ich auch erfahren, daß auch sehr ehrbare Leute egoistische Motive mit falscher Freundlichkeit übertünchen. Aber wir müssen noch sehr viel dazulernen, Lissy.«

*

Dann lernte Miriam in der Schule, und sie brachte es zu einem guten Abschlußzeugnis. Sie war darauf nicht so stolz wie ihre Eltern, denn sie wußte ja, daß sie es ohne Probleme noch besser hätte schaffen können. Es war ja nicht so, daß der Knoten erst jetzt bei ihr gerissen war. Sie hatte mit sich in einem Widerstreit der Gefühle gelegen. Sie hatte sich verletzt gefühlt und aus Trotz die andern kränken wollen.

Ganz offen hatte sie mit ihren Eltern darüber gesprochen. Jetzt konnte sie es.

»Ich wollte nicht so sein wie Nadja«, sagte sie.

»Wir sind ja froh, daß du nicht so bist«, erklärte Martin.

»Zuerst war ich wirklich nur eifersüchtig auf sie«, gab Miriam zu. »Auch das soll gesagt sein. Sie war so hübsch, und immer so schick gekleidet, und was meint ihr, wie es mich gewurmt hat, als sie mal zu Benni sagte, er solle mich ins Kino schicken, damit ich nicht dauernd an ihm hänge.«

»Hat sie das?« fragte Benni.

»Du wirst es doch nicht vergessen haben«, sagte Miriam vorwurfsvoll. »Du hast mir nämlich zehn Euro geben wollen, und da war ich stocksauer. Und bald darauf bekam ich Großvaters Erbe. Das ist mir dann in den Kopf gestiegen. Ich habe jedem Geld geliehen, der mich angepumpt hat, und Lissy hat dafür gesorgt, daß Nadja das erfahren hat. Hat sie dich eigentlich nie gefragt, woher ich das Geld habe, Benni?«

»Sie hat mal angedeutet, daß du viel großzügiger mit dem Geld umgehen würdest als ich«, gab Benedikt zu. »Und da habe ich wohl doch gesagt, daß du eine ganze Menge geerbt hast.« Er war blaß geworden. »Habe ich da etwas ausgelöst, was ich bestimmt nicht wollte?«

»Reden wir nicht mehr davon«, lenkte Miriam ab.

»Doch, jetzt reden wir davon. Nadja hat mich nämlich auch gefragt, was ich denn geerbt hätte. Und da habe ich gesagt, daß sie das alles gar nichts angehe. Mir haben die Sticheleien gegen Miriam nicht gefallen. Es klingt doch blöd, wenn ich jetzt sage, daß ich Miriam in Schutz genommen habe.«

»Ich bin ja gern bereit, es dir zu glauben«, sagte Miriam weich.

»Dann glaub mir bitte auch, daß es mir gar nicht gefällt, daß du so viel geerbt hast«, stieß er hervor. »Und ich möchte auch nicht, daß der Name Nadja mich mein Leben lang begleitet. Ich rede ja auch nicht über deine Clique.«

»Ihr werdet doch nicht streiten, Kinder?« sagte Regine erschrocken.

»Es ist besser, wenn alles auf den Tisch kommt«, warf Martin ein.

»Das meine ich auch«, sagte Miriam. »Ich pfeife auf das Geld, damit du es weißt, Benni. Ich hatte immer einen sozialen Tick, das habt ihr mir doch auch vorgeworfen.«

»Ich habe nur bemängelt, daß du diesen falsch verwertet hast«, lenkte Martin nachsichtig ein, »aber inzwischen bist du ja selbst zu solchen Erkenntnissen gekommen.«

»Wir werden gemeinsam überlegen, was wir mit Großvaters Geld anfangen«, sagte Miriam. »Wie war er eigentlich, Mami? Ich weiß ja kaum was über ihn.«

»Ich habe ihn ja auch nicht richtig gekannt«, sagte Regine. »Er wollte uns damals überreden, mit ihm auszuwandern, aber ich wollte nicht. Vielleicht dachte er später, daß sein Sohn am Leben geblieben wäre, wenn wir es getan hätten.«

»Ich habe gestern mit Dr. Kühn gesprochen«, sagte Miriam zur Überraschung der anderen. »Das Testament ist ganz eindeutig und sachlich. Dr. Kühn hat für mich Erkundigungen bei Experten eingezogen, die der Meinung sind, daß die Goldvorräte auf Großvaters Land in drei Jahren erschöpft sein werden. Und wenn ich einundzwanzig bin, kann ich über den Gewinn verfügen, und das Land fällt an John Morane oder seine Erben. Ich meine, sie können zufrieden sein, falls Großvater sich doch getäuscht hat. Aber am besten wird es sein, wenn wir gemeinsam mal hinfliegen und ihr euch alles anschaut. Sollte ich nämlich vor meinem einundzwanzigsten Lebensjahr heiraten, fällt das restliche Vermögen an dich, liebe Mami, und dann kannst du dich damit herumärgem.«

»Guter Gott«, stöhnte Regine.

»Der Großvater hat bestimmt nicht daran gedacht, daß ich mal meinen Bruder heiraten werde und das Geld sowieso in der Familie bleibt«, meinte Miriam verschmitzt. »Aber mir ist das sowieso egal.«

»Mir auch«, sagte Benedikt. »Ich warte keine zwei Jahre mehr. Es ist nur gut, daß wir beweisen können, daß wir keine Geschwister sind.«

»Was sagt man dazu«, lachte Martin. »Hör nur, wie sie reden, anstatt uns erst mal zu sagen, was sie eigentlich vorhaben.«

»Das solltet ihr doch eigentlich wissen«, sagte Benedikt. »Heiraten und euch zu Großeltern machen.«

»Hoffentlich in der richtigen Reihenfolge«, seufzte Regine.

»Nur keine Angst«, sagte Miriam. »Wir müssen ja noch viel klären. Und die Hochzeitsreise machen wir doch auch mit euch gemeinsam. Nach Pretoria! Wenn die Moranes es mit zwei Ehepaaren zu tun haben, können sie ja nicht auf den Gedanken kommen, einen der Familie einzuverleiben. Und Sabrina hat dann auch keine Chance mehr bei Benni.«

»Sie hatte nie eine«, konterte der sogleich.

»Habt ihr es euch auch genau überlegt?« fragte Regine stockend.

»Mami, wir kennen uns ein ganzes Leben und haben Höhen und Tiefen überwunden, sind bereit, nicht mehr über unsere Fehltritte zu reden und in der Überzeugung, daß ihr nichts daran auszusetzen haben werdet, ein reiches, unerwartetes Erbe für eure Enkel zu verwalten…«

»Halt die Luft an, Miriam«, fiel ihr Benedikt ins Wort, »schließlich ist es das Wichtigste, daß wir uns lieben.«

»Zweifelt jemand daran?« fragte Miriam schelmisch.

*

Niemand konnte daran zweifeln, am wenigsten Dr. Norden, denn er war der erste, der feststellen konnte, daß sich bei den jungen Hemmings Nachwuchs einstellte, als sie ein knappes Vierteljahr später von ihrem sechswöchigen Aufenthalt in Pretoria zurückkehrten.

Die Hochzeit hatte im engsten Kreis stattgefunden, und die Bekannten der Hemmings hatten dann Zeit genug gehabt, sich mit den unwiderlegbaren Tatsachen abzufinden, daß auch Stiefgeschwister ein glückliches Ehepaar werden konnten.

Was sich so in Pretoria getan hatte, erfuhr Dr. Norden gleich nach der Heimkehr, denn diesmal war der Rückflug Miriam überhaupt nicht bekommen.

»Das war wirklich das letzte Mal, daß ich dort war«, sagte sie stöhnend. »Das Essen hat mir nicht geschmeckt, diese Familie Morane ist mir total auf die Nerven gegangen, und in Großvaters Haus waren die Betten miserabel. Außerdem mag ich es nicht, wenn immer noch von Gold und Diamanten geredet wird. Es ist nur ein Glück, daß Paps so souverän ist. Dagegen kommt auch der große John Morane nicht an. Schade, daß Sie die langen Gesichter nicht sehen konnten, als Benni und ich als Ehepaar aufgekreuzt sind, und Mami als Ersatzerbin deklariert worden ist. Die Arme kann es ja gar nicht verkraften, daß sie nun diese ganzen Formalitäten bewältigen muß.«

»Aber Sie werden es schon verkraften, daß Sie nun Mutter werden, Miriam«, sagte Dr. Norden lächelnd. »Ich hoffe, daß Sie für Ihre Appetitlosigkeit und die schlechten Betten dadurch entschädigt werden.«

Miriam saß steckerlgrad in ihrem Bett. Riesengroß waren ihre Augen in dem noch blassen Gesicht, aber nun färbte es sich schon rosig.

»Sagen Sie das bitte noch mal, Dr. Norden«, flüsterte sie.

»Sie werden ein Baby haben, Miriam.«

»Benni hat gemeint, daß ich eigentlich noch zu jung sei«, flüsterte sie. »Aber wie werde ich es lieben, Dr. Norden, und Gott soll meinen Benni beschützen, daß er uns erhalten bleibt. Aber für Mami ist es vielleicht gut, daß sie den Paps bekommen hat. Ich weiß gar nicht, was ich rede. Ich bin ja so glücklich, so überglücklich.« Und dann rollten die Tränen, und Dr. Norden tupfte sie ab. »Und jetzt habe ich Hunger«, lachte Miriam.

»Sie dürfen diese Neuigkeit jetzt verkünden, ich ziehe mich an.«

Aber schon wenige Minuten später war Benedikt bei ihr und half ihr. Auf seinen Armen trug er sie in den Wohnraum zu den Eltern, und nachdem Regine ihre Tochter gerührt geküßt hatte, nahm Martin Miriam ganz sanft in die Arme und sagte zärtlich: »Ich werde mich bemühen, ein besserer, verständnisvollerer Großvater zu werden, mein Kleines, als ich ein Vater war.«

»Du warst der beste Vater, und laß es dir ja nicht einfallen, auszuwandern und deinen Enkeln bloß ein reiches Erbe zu hinterlassen«, flüsterte Miriam.

»Ich werde mich doch nicht um das Schönste bringen, was mir geschenkt worden ist«, sagte Martin leise.

Dr. Norden Bestseller Staffel 19 – Arztroman

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