Читать книгу Dr. Norden Bestseller Staffel 19 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 9

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Fee Norden hatte sich eine lange Liste für ihren Einkaufsbummel gemacht. Einmal im Monat fuhr sie in die Stadt, und da mußte alles erledigt werden. Bummel konnte man das eigentlich auch nicht nennen, weil ihr ein paar Stunden Stadtluft völlig reichten.

Nun schien es tatsächlich Sommer werden zu wollen, wenn man das auch mit äußerster Skepsis betrachtete.

Die Kinder waren aus allem herausgewachsen, und Felix war jetzt auch schon fast so groß wie Danny, der außerdem seine Hosen und Jacken völlig auftrug. Und die kleine Anneka sollte auch hübsche Kleid­chen haben, obwohl sie lieber auch Hosen anzog.

»Und was brauchst du, Schatz?« fragte Fee ihren Mann mit einem schelmischen Lächeln.

»Dich brauche ich. Paß schön auf dich auf. Was ich an Kleidung brauche, weißt du sowieso besser als ich.«

»Ich fahre mit der S-Bahn und lasse alles schicken«, sagte sie. »Man findet eh keinen Parkplatz. Ich muß auch nach einem Geburtstagsgeschenk für Lenni schauen. Fällt dir etwas ein?«

»Liebe Güte, auch das weißt du besser«, meinte er. »Wie wäre es denn mit einer hübschen Urlaubsreise?«

»Na, da käme ich aber nicht an«, erwiderte Fee. »Sie ginge ein, wenn sie die Kinder nur ein paar Tage nicht sehen würde. Willst du etwa nicht, daß sie mit uns nach Holland fährt?«

»Ich habe nichts dagegen, aber ich meine nur, daß sie sich auch mal von den wilden Trabanten erholen sollte.«

»Für Lenni sind unsere wilden Trabanten die reinsten Engel, mein Schatz, und wehe, wenn jemand was anderes sagen würde.«

»Dann kannst du dir auch mal beim Einkaufen Zeit lassen, Feelein. Hetz dich nicht so ab. Hier läuft alles, und du kannst auch mal richtig bummeln.« Sie bekam einen zärtlichen Kuß. Daniel mußte in die Praxis. Aber er nahm sich noch die Zeit, seiner kleinen Tochter auch einen Kuß zu geben, die nun noch recht verschlafen die Treppe herunterkam.

Sie konnte länger schlafen als ihre Brüder, die bereits zur Schule gingen. Sie hatte auch nichts dagegen, daß ihre Mami dann gleich in die Stadt fuhr, denn nun war sie Lennis Allerliebste und ließ sich verwöhnen.

Die gute Lenni, dachte Fee, wenn wir sie nicht hätten.

Sie konnte wirklich unbesorgt sein, da Lenni die Kinder wie ihre Augäpfel hütete.

Sie fuhr mit dem Wagen bis zur S-Bahnstation. Um diese Zeit konnte man in der Bahn auch leicht einen Sitzplatz finden, und man brauchte sich um nichts zu kümmern. Und diesmal hatte Fee sogar ein reizendes Gegenüber. Ein junges Mädchen war es. Langes, lockiges dunkles Haar umgab ein ovales Gesichtchen von solcher Reinheit, daß Fee es entzückt betrachtete, und wunderschöne topasfarbene Augen, von einem Kranz dunkler Wimpern umgeben, blickten auch immer wieder zu Fee hinüber.

Plötzlich sagte das Mädchen: »Es stimmt doch, daß Sie Frau Dr. Norden sind. Ist das sehr unhöflich?«

»Aber nein, ich bin Fee Norden«, erwiderte sie. »Sie kennen mich?«

»Nur aus der Distanz. Ich wohne seit ein paar Wochen bei Frau Bucher. Ich habe Sie mit Ihren Kindern gesehen und Frau Bucher hat mir gesagt, daß Sie Frau Dr. Norden sind. Ich heiße Donata Sassen.«

Donata, die Geschenkte, ging es Fee durch den Sinn. Es paßt zu diesem Mädchen. Da stimmt wirklich alles. Was mag sie für einen Beruf haben?

Ahnte Donata ihre Gedanken? »Ich will mich heute um eine Stellung bewerben«, sagte sie leise.

»Da wünsche ich Ihnen viel Glück«, sagte Fee herzlich.

»Das könnte ich schon brauchen. Eigentlich wollte ich ja Lehrerin werden, aber da hat man ja jetzt kaum noch Chancen. Mit Sprachen findet man höchstens nur noch etwas als Büroangestellte.«

»Sie haben das Studium abgebrochen?« fragte Fee.

Donata nickte. »Es ist aussichtslos. Ich muß Geld verdienen.« Sie wurde verlegen. »Entschuldigen Sie, daß ich Sie mit meinen Problemen belästige.«

»Sie belästigen mich durchaus nicht. Sollte es mit der Stellung nicht klappen, kommen Sie doch mal zu mir. Wir kennen eine Menge Leute.«

»Sie sind sehr liebenswürdig«, sagte Donata verhalten.

»Man macht selten nette Bekanntschaften«, erwiderte Fee. »Bis wohin fahren Sie?«

»Zum Isartor.«

»Ich steige am Marienplatz aus. Aber es würde mich freuen, wenn Sie mal bei mir vorbeischauen würden, Fräulein Sassen. Frau Buchers Haus ist ja gleich um die Ecke. Kommen Sie gut mit ihr aus?«

»Ein bißchen schwierig ist sie schon, aber ich empfange ja keine Herrenbesuche«, sagte Donata lä­chelnd.

Zu Fees Bedauern waren sie da schon am Marienplatz. »Ich hoffe, daß wir uns wiedersehen«, sagte Fee herzlich, und nichtahnend, unter welchen Umständen sie sich dann wiedersehen sollten.

*

Sie machte ihre Besorgungen. Sie lief nicht ungezielt herum, denn sie kannte die Geschäfte, wo sie gut einkaufen konnte und freundlich bedient wurde. Dort war sie bekannt.

Und Fee Norden bediente man gern. Sie war immer freundlich, und wußte genau, was sie wollte. Sie brauchte den Euro nicht umzudrehen, aber sie verglich die Preise.

Für Lenni erstand sie ein hübsches Dirndl mit passender Steppjacke. Sie konnte sich auf ihr Augenmaß verlassen und kannte Lennis Größe ganz genau.

Dann sah sie ein weißes festliches Dirndl, wunderhübsch bestickt. Unwillkürlich stellte sie sich Donata darin vor. Seltsam war das schon, aber das Mädchen ging ihr nicht aus dem Sinn.

Sie verbrachte diesmal tatsächlich längere Zeit in der Stadt als sonst. Sie gönnte sich auch noch einen Eisbecher, bevor sie auf müden Füßen zur S-Bahn zurückging. Die Sonne blendete sie, aber ihr war es doch, als würde sie da weiter vorn Donata entdecken.

Jemand grölte herum, ein Betrunkener wohl, und Fee blieb zurück, denn so was mochte sie nun gar nicht, und sie vernahm auch schon, daß da gepöbelt wurde.

Und dann geschah es. Sie sah Donata. Ja, sie täuschte sich nicht. Das Mädchen war an der Rolltreppe und hinter ihr zwei Männer, die aufeinander einschlugen.

Fee wollte Donata rufen, sie warnen, doch ihr blieb der Ton in der Kehle stecken, denn der untersetzte, schmuddelige Mann torkelte, stieß das Mädchen an und stürzte. Aber Donata stürzte auch.

Fee stieß einen angstvollen Schrei aus.

»Donata!« Dann erstarrte sie, aber nur für knappe Sekunden, wenngleich diese ihr endlos schienen, dann hastete sie die Steintreppe herunter.

»Sie kennen die junge Frau?« fragte jemand, während Fee entsetzt, außer sich vor Schrecken, die leblose Gestalt anstarrte. Sie kniete bei ihr nieder, bekam gar nicht mehr mit, was sich um sie abspielte.

»Ambulanz, Notarzt«, stieß sie hervor, »schnell!«

Der eine Betrunkene wehrte sich gegen den Griff eines Polizisten, der andere schrie, daß er es nicht gewesen sei, aber Fee nahm das alles gar nicht wahr. Tränen rannen ihr über die Wangen, als sie das Mädchen betrachtete, das vor wenigen Stunden noch ihr Entzücken hervorgerufen hatte.

Doch dann kam der Notarzt und auch zwei Sanitäter mit einer Trage.

»Ich bin Ärztin«, stammelte Fee. »Ich kenne Donata Sassen. Zur Behnisch-Klinik bitte.«

»Das kann mir nur recht sein, Frau Dr. Norden«, sagte der Arzt.

Sie blickte auf. »Sie sind es, Dr. Rühl«, murmelte sie. So sehr besorgt war sie um Donata, daß sie sich diesmal nicht über die Neugierigen ärgern konnte, die erst beiseite gedrängt werden mußten. Die beiden Betrunkenen waren von der Polizei abgeführt worden. Bevor Fee in den Notarztwagen stieg, wurde sie noch von einem Polizisten gefragt, ob sie Zeugin gewesen sei. Sie nickte mechanisch und nannte ihren Namen. Ihr Herz hämmerte schmerzhaft, während sie Dr. Rühl Verbandsmaterial zureichte.

»Ein so bezauberndes Mädchen«, flüsterte sie.

Dr. Rühl warf ihr einen kurzen Blick zu. Das sagt eine bezaubernde Frau, dachte er. Er kannte Fee Norden zwar nur flüchtig, aber er wußte, wie Dr. Daniel Norden um diese Frau beneidet wurde. Auch von ihm, denn er war bisher von Frauen nur enttäuscht worden. Allerdings, und das gestand er sich ein, konnte er schon rein äußerlich nicht mit einem Daniel Norden konkurrieren, aber auch vor dem Arztkollegen hatte er großen Respekt. Christoph Rühl war dreißig Jahre alt, hatte eigentlich Chirurg werden wollen, sich dann aber auf die Orthopädie verlegt, als seine Schwester bei einem Verkehrsunfall schwer verletzt wurde.

Fee nahm nur im Unterbewußtsein wahr, wie korrekt er die Verletzte versorgte. Sie war noch immer halb betäubt.

»Sie sind gut bekannt mit dem Mädchen?« fragte Christoph Rühl, als der Notarztwagen mit Blaulicht und Martinshorn der Behnisch-Klinik entgegenfuhr.

»Ich habe sie heute morgen in der S-Bahn kennengelernt«, erwiderte Fee tonlos. »Ein so anmutiges, liebenswertes Geschöpf. Ich kann nicht begreifen, warum ausgerechnet ihr das geschehen mußte.«

»Sie waren sehr nahe, wie es scheint«, sagte Dr. Rühl leise. »Ich möchte mir nicht vorstellen, wenn es Ihnen geschehen wäre.«

Fee zuckte zusammen. Sie senkte den Kopf, dachte an Daniel und ihre Kinder. »Sie war geistesabwesend«, murmelte sie. »Sie merkte nicht, was sich hinter ihr abspielte. Vielleicht hat sie die Stellung nicht bekommen.«

Dr. Rühl war bestürzt. Es bewegte ihn, wie sehr sich Fee Norden mit diesem Mädchen beschäftigte, einem Mädchen, das sie nur flüchtig kennengelernt hatte, wie sie sagte.

»Sie lebt«, sagte er mit klangloser Stimme.

»Aber wie wird sie leben?« fragte Fee heiser.

»Und das nur, weil solche Kerle sich schon am hellichten Tag betrinken müssen.«

Aber nun waren sie schon bei der Behnisch-Klinik angekommen. Fee sprang zuerst aus dem Wagen. »Ich sage Dr. Behnisch Bescheid, wir sind befreundet«, sagte sie hastig.

Da kam ihr Dr. Jenny Behnisch schon entgegen. »Fee«, sagte sie erschrocken. »Ist was mit den Kindern?«

»Nein, ein Unfall. Ich möchte, daß ihr das Mädchen versorgt, bestens, Jenny. Ich erzähle dir alles später.«

»Du bist so erregt, Fee«, sagte Jenny.

»Kümmere dich nicht um mich. Donata braucht Hilfe.«

*

»Mami bleibt heute lange aus«, sagte Anneka zu Lenni.

»Sie muß ja auch viel einkaufen«, erwiderte Lenni.

»Meinetwegen nicht, ich trage lieber Jeans«, sagte Anneka. »Ich wäre auch lieber ein Bub.«

»Wir sind froh, daß du ein Mädchen bist«, sagte Lenni liebevoll und strich zärtlich über das Lockenköpfchen. »Spiel doch mit Danny und Felix im Garten, Kleines.«

»Ich bin aber lieber bei dir. Manchmal sind die Brüder sehr frech, Lenni.«

»Es sind halt Buben«, meinte Lenni nachsichtig.

»In der Schule lernen sie viele Dummheiten, das ist nicht gut.«

Lenni lächelte in sich hinein. Sie würde auch Dummheiten lernen, die kleine Anneka, wenn sie erst zur Schule gehen würde.

Allerdings konnte sie auch sehr beleidigt sein, wenn ihre Brüder Kraftausdrücke gebrauchten.

Nun konnten sie das Martinshorn vernehmen. »Onkel Dieter bekommt wieder Arbeit«, sagte Anneka.

Sie kannte das schon. Sie konnte nur nicht ahnen, daß ihre heißgeliebte und jetzt so sehr vermißte Mami diesen Transport begleitete.

Die Buben kamen hereingestürzt. »Mami immer noch nicht zu Hause?« fragte Danny, »da hat sich sicher wieder einer verletzt.«

»Mami ist mit der S-Bahn gefahren«, sagte Anneka ängstlich. Doch Lenni wurde jetzt auch unruhig, angesteckt von den Kindern, die plötzlich nur noch auf Fee warteten.

Fee konnte in der Behnisch-Klinik jetzt nichts mehr tun. Sie war auch nicht dazu fähig.

»Ich komme nachher noch mal vorbei«, sagte sie zu Jenny, die Dr. Rühl begrüßte. »Ich hoffe, daß es nicht so schlimm ist, wie es jetzt ausschaut.«

Fee lief zu Fuß nach Hause. Sie brauchte nur zehn Minuten, wenn sie die Abkürzung durch den Wald nahm, und die war sie schon oft genug gegangen.

Daß ihr Wagen am S-Bahnhof stand, hatte sie im Augenblick ganz vergessen.

Die Kinder standen am Gartentor, wurden blaß, als sie so schnell angelaufen kam.

»Ist was mit dem Wagen?« fragte Danny.

»Nein, nein, fragt jetzt nichts, ich muß mich erst beruhigen.« Sie stürzte ins Haus. Lenni wurde auch blaß. »Mir fehlt nichts«, sagte Fee tonlos, »ich wurde nur Zeuge eines schrecklichen Unfalls, Lenni.«

»O Gott«, murmelte Lenni. Sie hatte auch gleich Herzklopfen. Sie hatte durch einen schrecklichen Unfall ihren Mann und ihre Mutter verloren und war daran fast verzweifelt, bis Daniel und Fee Norden ihr neuen Lebensmut eingeflößt hatten.

Fee verschwand im Bad, wusch sich und kleidete sich rasch um. Die Kinder hatten sich indessen schon um Lenni geschart, die frischen Kaffee zubereitete.

Daß Fee jetzt nichts essen würde, wußte sie.

»Sag endlich, was passiert ist, Mami«, verlangte Danny, der Älteste der Norden-Kinder.

»Es war zu schrecklich«, erwiderte Fee.

»Nun sag es schon«, drängte auch Felix. »Hat sich einer verlaufen?«

»Nein, ein sehr nettes, hübsches junges Mädchen wurde von einem Betrunkenen die Rolltreppe im Bahn­hof hinuntergestoßen. Ich habe sie in die Behnisch-Klinik bringen lassen.«

»Hast du sie denn gekannt, Mami«, fragte Danny erschrocken.

»Ich habe sie heute morgen in der Bahn kennengelernt, sie saß mir gegenüber. Sie wohnt bei Frau Bucher.«

»Die ist aber nicht so nett«, meinte Felix. »Sie kann Kinder nicht leiden.«

»Sie ist eine alte alleinstehende Dame, die ihre Ruhe haben will«, sagte Fee.

»Aber du hast gesagt, daß das junge Mädchen bei ihr wohnt, Mami«, wurde Fee erinnert.

»Das ist eine erwachsene junge Dame«, erwiderte Fee.

»Na gut, und was ist nun mit ihr?« erkundigte sich Danny, der nicht viel von Frau Bucher hielt.

»Sie ist jetzt in der Behnisch-Klinik. Sie ist schwer verletzt.«

»Onkel Dieter bringt sie schon wieder hin«, meinte Felix. »Hauptsache, dir ist nichts passiert.«

Wer sollte den Kindern solche Reaktion verübeln. Lenni bestimmt nicht. Sie war selbst froh, daß Fee heil zu Hause war. Und Fee konnte auch nichts sagen. Die Kinder kannten Donata ja nicht. Ihr fiel aber ein, daß Frau Bucher ihre Mieterin wohl auch irgendwann vermissen würde.

Sie hatte zwei Tassen Kaffee getrunken und fühlte sich nun etwas besser.

»Mein Wagen steht noch am Bahnhof, ich muß ihn abholen, und dann will ich noch mal zur Klinik fahren und mich nach Donata erkundigen.«

»Du redest, als würdest du sie kennen, Mami«, sagte Danny eifersüchtig.

»Ich kenne sie ja, und sie hat mir gefallen«, erklärte Fee. »Und euch würde sie auch gefallen.«

»Wir können doch mitkommen zum Bahnhof«, meinte Felix.

»Das könnt ihr, aber zur Klinik fahre ich allein.«

»Na schön«, maulte Danny, »aber Papi kommt auch bald heim.«

»Da hat es noch Zeit«, sagte Fee.

»Wenn das arme Mädchen krank ist, kann sich Mami doch kümmern«, warf jetzt Anneka ein. »Ihr habt nur was gegen Mädchen.«

Sie sagte schon ihre Meinung, und da schwiegen die Buben. Sie spürten auch, daß die Mami sehr betrübt war, und da nahmen sie sich zusammen.

Sie gingen zum Bahnhof. Es war ein ziemlich weiter Weg von der Villenkolonie, aber sie maulten diesmal nicht. Sie hatten es ja selbst gewollt. Anneka tappelte an der Hand ihrer Mami dahin.

»Mußt nich so arg traurig sein, Mamichen«, sagte sie leise. »Das Mädchen wird schon wieder gesund. Onkel Dieter und Tante Jenny machen das schon, und Papi kümmert sich bestimmt auch.«

Sie hatte ein mitfühlendes Herzchen, aber die Buben wollten auch nicht zurückstehen.

»Wir meinen es auch nicht so, Mami«, sagte Danny. »Wir haben eben am meisten Angst um dich und Papi.«

»Und um Lenni«, fügte Anneka hinzu.

»Ist ja schon gut«, sagte Fee leise. »Ich habe mich wahnsinnig erschrocken gehabt.«

Nun wurde nicht mehr viel geredet. Der Wagen stand da, die Kinder kletterten hinein. Fee fuhr sie nach Hause.

»Ihr versteht doch, daß ich mich um Donata kümmern möchte«, sagte sie.

»Freilich, Mami«, sagte Anneka zuerst, und die Buben nickten.

»Aber komm bald wieder heim«, sagte Danny.

»Ich werde nicht lange bleiben.« Sie blickte auf die Uhr. Halb fünf Uhr war es schon, der Tag ging schon wieder zur Neige.

Sie fuhr zu Frau Bucher. Das tat sie mit gemischten Gefühlen, denn diese alte Dame war bekannt für ihr abweisendes Wesen. Fee fragte sich, warum sie ausgerechnet ein so reizendes Mädchen wie Donata aufgenommen hatte.

Als sie geläutet hatte, atmete sie tief durch, denn gleich darauf erschien Frau Bucher, in dunkles Grau gekleidet, wie man sie hier kannte. Schneeweiß war ihr Haar, nachtdunkel ihre Augen. Fee dachte, daß sie einmal eine sehr schöne Frau gewesen sein mochte. Stolz war ihre Haltung.

»Mein Name ist Norden«, sagte Fee, als sie sich durchdringend gemustert fühlte.

»Ja, Sie sind mir bekannt. Was wünschen Sie, Frau Dr. Norden?« Die Stimme war klangvoll, nicht abweisend.

»Ich komme wegen Donata Sassen, Frau Bucher«, sagte Fee. »Sie hatte einen Unfall.«

Das feine blasse Gesicht der alten Dame versteinerte, und ihre schmalen Lippen bebten.

Nur mühsam wahrte sie Haltung. »Bitte, treten Sie ein, Frau Dr. Norden«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Was ist Donata geschehen? Wer hat ihr etwas angetan?«

Fee war bestürzt. Sie spürte, daß Frau Bucher erschüttert war, daß es ihr naheging. Und das erstaunte sie. War Donata mehr als eine Untermieterin? Jetzt schwankte die alte Dame sogar leicht. Fee stützte sie.

Das Haus, das sie nun betrat, schien nur aus Erinnerungen zu bestehen. Es war angefüllt mit Kostbarkeiten, die aber nicht zur Geltung kamen und nur jemand, der etwas davon verstand wie Fee Norden, konnte abschätzen, welche Werte es enthielt. Und Frau Bucher mußte das wissen. Man nahm keinen x-beliebigen Menschen in einem solchen Haus auf. Nicht eine so mißtrauische, extrem reservierte Frau wie Frau Bucher.

»Bitte, sagen Sie mir, was mit Donata ist«, stammelte die alte Dame.

»Sie wurde am Bahnhof von einem Betrunkenen die Rolltreppe hinabgestoßen. Ich war zufällig zugegen und ließ sie in die Behnisch-Klinik bringen, Frau Bucher.«

»Mein Gott, wer konnte dem Kind so etwas antun!« stöhnte die alte Dame.

»Bitte, beruhigen Sie sich«, sagte Fee. »Sehr gute Ärzte betreuen sie.«

»Sie haben mit Donata gesprochen?« fragte Frau Bucher leise und sich nun zur Ruhe zwingend.

»Ich lernte sie heute morgen in der S-Bahn kennen, als wir in die Stadt fuhren. Eine Unterhaltung kam zustande. Sie kannte mich vom Sehen,und ich fand mein Gegenüber sehr ansprechend. Sie sagte mir, daß sie sich um eine Stellung beworben hätte.«

»Ich hatte gleich ein ungutes Gefühl. Ein solches Mädchen ist in der Stadt nur Gefahren ausgesetzt. Ich will Sie nicht mit meinen Gedanken konfrontieren, Frau Dr. Norden. Ich finde mich in der jetzigen Zeit ohnehin nicht mehr zurecht.«

Fee betrachtete die alte Dame nachdenklich. »Donata sagte mir, daß sie seit einigen Wochen bei Ihnen wohne.«

»Ja, das stimmt, aber es ist nicht so, daß sie mir fremd gewesen wäre. Sie sagte Ihnen nicht, daß ihre Großmutter meine Schwester war?«

»Nein, das sagte sie nicht, aber wir sind ja nur eine kurze Strecke gefahren, und wir wären wohl nicht ins Gespräch gekommen, wenn die Sympathie nicht gegenseitig gewesen wäre.«

Frau Bucher faltete die Hände. »Donata ist Waise. Ich wurde davon unterrichtet. Ich habe sie gebeten, zu mir zu kommen, bei mir zu wohnen, hier zu studieren. Aber sie wollte nicht weiterstudieren. Sie wollte sich eine Stellung suchen. Sie sagte, daß es sowieso keine Chancen gäbe für eine Lehrerin. Ich will jetzt nicht darüber sprechen. Ich möchte zu ihr.«

»Sie muß erst ärztlich versorgt werden, Frau Bucher. Sie könnten jetzt doch nicht mit ihr sprechen.«

»Ist es so schlimm?« fragte die alte Dame mit erstickter Stimme.

»Ziemlich schlimm«, sagte Fee.

»Man sollte alles tun, was möglich ist. Ich komme für alle Kosten auf, gleich, welche entstehen. Oh, hätte ich doch nur offen mit ihr gesprochen, säße das Mißtrauen doch nicht so tief in mir.«

»Sie haben Donata mißtraut?« fragte Fee.

»Ihr nicht. Ich kann jetzt nicht darüber sprechen. Es sind sehr familiäre Dinge, für die Donata nicht verantwortlich ist. Sie weiß nicht einmal, daß wir verwandt sind. Aber damit muß ich jetzt allein fertig werden. Ich kann Sie nur bitten, Donata zu helfen, damit sie jedwede Hilfe bekommt.«

»Dafür ist gesorgt, Frau Bucher. Ich werde Sie anrufen, wenn ich mit den Ärzten gesprochen habe.«

»Ich kann Ihnen nur danken«, sagte Frau Bucher leise, »sehr herzlich danken, Frau Dr. Norden. Würde Ihr Mann zu mir kommen, wenn ich einen Arzt brauche?«

»Selbstverständlich«, erwiderte Fee irritiert. »Haben Sie keinen Hausarzt?«

»Bisher nicht. Ich brauchte keinen. Sie sehen mich verwundert an. Ich bin fünfundsiebzig Jahre alt und war noch nie krank. Mal eine Erkältung, das war alles, dafür habe ich Hausmittel. So elend wie heute habe ich mich noch nie gefühlt.«

»Ich werde meinen Mann zu Ihnen schicken, Frau Bucher«, sagte Fee, »wenn es Ihnen recht ist.«

Die alte Dame nickte. »Mein Herz ist müde«, murmelte sie, »ich spüre es jetzt. Aber ich muß wissen, daß Donata gesund wird. Sie muß gesund werden.«

Fee hatte allerhand zu denken, als sie Frau Bucher und dieses Haus verließ. Beiden schien es so, als wäre die Zeit stillgestanden an einem ganz bestimmten Tag. An welchem wohl?

Aber Donata war jung, und Fee sah sie vor sich, ihr bezauberndes Gesicht, ihre anmutige Erscheinung, und sie dachte sogar an das Kleid, das ihr so passend für dieses Mädchen erschienen war.

Und nun erfuhr sie, daß Frau Bucher mit ihr verwandt war. Warum machte die alte Dame ein Geheimnis daraus?

Sie fuhr zur Behnisch-Klinik, aber sie konnte nur mit Schwester Erna sprechen. Die Ärzte waren noch im OP um Donata bemüht. Deprimiert fuhr Fee wieder heim, und da kam auch gerade Daniel.

»Was ist los, Liebes?« fragte er, als er ihr blasses trauriges Gesicht sah.

Sie erzählte es ihm stockend. Tröstend legte er den Arm um sie. Er spürte, wie ihr der Schrecken und die Angst noch in den Gliedern steckte.

»Ich muß nachher noch Hausbesuche machen«, sagte er, »da fahre ich bei der Klinik vorbei. Vielleicht kann ich mit Dieter und Jenny sprechen.«

»Sie ist ein so reizendes Mädchen, Daniel. Ich mochte sie auf Anhieb. Es war furchtbar, wie sie stürzte, wie sie dann dalag – und das Blut!«

»Beruhige dich bitte, Liebling«, sagte Daniel sanft.

»Als ich eben in der Klinik war, war sie immer noch im OP«, flüsterte Fee.

»Ich werde mit Dieter sprechen, Feelein«, tröstete Daniel. »Mach dich doch nicht kaputt.« Sanft wischte er die Tränen ab, die nun über ihre Wangen kullerten.

»Vergiß dann auch Frau Bucher nicht. Es geht ihr sehr nahe. So unnahbar ist sie nicht, wie man meint. Sie hat bestimmt viel durchgemacht.«

Daniel zwang sich zu einem Lächeln. »Darf ich einen Happen essen?« fragte er neckend, um sie abzulenken.

Sie zuckte erschrocken zusammen. »Oh, entschuldige, Schatz«, flüsterte sie. »Ich bin so durcheinander.«

»Ist ja okay, Liebes, Hunger habe ich trotzdem. Und du hast bestimmt auch noch nichts gegessen.«

Das stimmte, aber sie mußte sich zwingen und würgte nur ein paar Bissen hinunter, obgleich Lenni wie immer mit Liebe gekocht hatte und sehr gut dazu. Die Kinder waren ganz still. Sie blickten nur zu ihrer Mami hin, die immer noch so blaß war.

»Mußt nicht traurig sein, Mami«, schmeichelte Anneka. »Das Mädchen wird bestimmt wieder gesund.«

»Ich hoffe es sehr, Schätzchen!«

»Papi wird sich auch schon kümmern«, meinte Danny.

Daniel Norden war schon auf dem Weg zur Behnisch-Klinik. Und jetzt waren die Ärzte zu sprechen.

Aber sie machten ernste Gesichter, als Daniel nach Donata Sassen fragte.

»Schwere Gehirnerschütterung, Rippenbrüche, eine Wirbelverletzung, ein Wadenbeinbruch links und ein Knöchelbruch rechts, Prellungen an Schultern und Armen«, lautete die Diagnose.

»Wie es mit den inneren Verletzungen aussieht, können wir noch nicht genau sagen«, erklärte Dieter Behnisch. »Sie sind jedoch sekundär. Blutungen können wir aber nicht ausschließen. Spätfolgen könnten ihr sehr zu schaffen machen.«

»Fee will wissen, ob sie überlebt«, sagte Daniel.

Dr. Behnisch zuckte die Schultern. »Ich kann es nicht sagen, aber das brauchst du Fee nicht gleich weiterzusagen. Sie hat ja selbst einen Schock bekommen.«

»Sie sagt, daß es ein bezauberndes Mädchen sei.«

»Das kann man vom rein äußerlichen augenblicklich nicht sagen, aber wir werden alles tun. Gerade hat eine Frau Bucher angerufen und gesagt, daß sie für alle Kosten aufkommt und nur die besten Ärzte beteiligt wissen will. Hoffentlich bekommt sie nicht auch noch einen Schock, wenn sie das tatsächlich bezahlen soll und die Kleine nicht versichert sein sollte.«

»Frau Bucher scheint recht vermögend zu sein«, bemerkte Daniel.

»Aber Fee sagte zu Jenny, daß Donata Sassen bei ihr nur Untermieterin sei.«

»Ein bißchen anders scheint es sich schon zu verhalten, aber das werde ich jetzt schon herausbekommen.«

»Ihr seid mal wieder heftig engagiert«, stellte Dieter Behnisch fest.

»Ihr dankenswerter Weise ja auch«, sagte Daniel. »Bitte, haltet uns auf dem laufenden.«

»Wie wir Fee kennen, wird sie jeden Tag hier sein«, sagte Dieter lächelnd, »und Jenny sitzt schon bei der Kleinen. Jedenfalls muß sie ein sehr solides Mädchen sein. Intime Beziehungen sind noch nicht nachweisbar. Wir brauchen aber noch die genauen Personalien. Und diese Frau Bucher muß schriftlich bestätigen, daß sie die Kosten für die Erste Klasse übernimmt.«

»Wenn sie einen Rückzieher macht, übernehme ich sie, damit Fee beruhigt ist«, sagte Daniel.

»Dann mach dich aber auf eine fünfstellige Zahl gefaßt. Wir müssen noch Spezialisten hinzuziehen, die nicht kleinlich in ihren Honorarforderungen sind.«

»Du meinst, daß sie mehrere Monate in der Klinik bleiben muß?«

»Ja, leider, Daniel. Dich brauche ich ja nicht zu täuschen. Und wir wollen von Glück sagen, wenn das Mädchen Donata dann wieder auf eigenen Füßen die Klinik verlassen kann.«

»Dann werdet ihr Fee allerdings sehr oft hier sehen«, sagte Daniel nachdenklich.

»Das ist dabei die einzige Freude«, erwiderte Dieter Behnisch, »aber erst muß sie mal über den Berg sein.«

Daniel konnte sie sehen, aber er sah nicht viel. Ein verbundener Kopf, eine weiße Nasenspitze, geschlossene Augen, und ein Gewirr von Schläuchen.

Er fuhr zu Frau Bucher. Er erkannte sofort, daß diese Frau über eine ungeheure Selbstbeherrschung verfügte, doch er sah auch, daß sie geweint hatte.

»Ich habe gedacht, daß ein Arzt nur meinen Tod bescheinigen muß«, sagte sie leise, »aber jetzt habe ich doch noch einiges zu erledigen, wozu ich Kraft brauche.«

Er stellte fest, daß sie einen schwachen Puls und einen niedrigen Blutdruck hatte, was im Alter wohl besser sein mochte als ein zu hoher, wenn er eben nicht noch mehr absackte.

»Ich komme gerade von der Klinik«, sagte er.

»Wie geht es Donata?«

»Zur Zeit kann man noch keine Prognosen stellen«, erwiderte er ausweichend.

»Dann sagen Sie mir die Diagnose.«

»Sie ist schwer verletzt, gnädige Frau.«

»Sie darf nicht sterben. Man wird doch alles für sie tun?«

»Selbstverständlich.«

»Ich werde die Kosten übernehmen.«

»Sie werden hoch sein«, erwiderte Dr. Norden zögernd.

»Ich werde der Behnisch-Klinik vorerst fünfzigtausend Euro zur Verfügung stellen. Genügt das?«

Dr. Norden war konsterniert. Aber sie saß schon an ihrem Sekretär und schrieb einen Scheck aus.

»Er ist gedeckt. Dr. Behnisch kann sich morgen davon überzeugen«, sagte sie ganz beiläufig.

»An sich ist nur eine Vorauszahlung für eine Woche üblich«, sagte Dr. Norden, »und Ihre Erklärung, daß Sie die Kosten übernehmen werden, falls Fräulein Sassen nicht krankenversichert ist.«

»Natürlich ist sie versichert, aber ich lasse doch nicht zu, daß sie mit wildfremden Menschen in einem Zimmer liegt.« Sie fuhr sich über die Augen.

»Ich will auch nicht, daß Donata erfährt, daß ich die Kosten trage, und wenn ich eine größere Summe vorauszahle, als möglicherweise nötig sein wird, dann deshalb, weil ich ja nicht weiß, wie lange ich noch leben werde. Erben wird sie ohnehin alles.«

Wieder folgte ein kurzes Schweigen. »Hat Ihnen Ihre Frau nicht gesagt, daß zwischen uns eine Verwandtschaft besteht, von der Donata noch nichts weiß?«

»Nein, davon hat meine Frau nicht gesprochen«, sagte Daniel.

»Ich sage es Ihnen. Ich hatte Zeit zu überlegen und mich von diesem Schrecken zu erholen. Mein Leben war eine Folge von Schrecken, Herr Dr. Norden. Als meine Schwester diesen Dietrich Sassen heiratete, bekam ich den ersten. Er war ein leichtsinniger Mensch. Er hat innerhalb kürzester Zeit ihre Mitgift durchgebracht, und die war nicht klein. Er verließ meine Schwester, noch bevor ihr Sohn geboren wurde. Er war nicht viel anders als sein Vater. Er fand aber auch eine reiche Frau. Doch die war nicht so großzügig wie meine Schwester. Sie ließ sich scheiden, als Donata drei Jahre alt war und heiratete diesmal einen vermögenden Mann. Donata wuchs in Heimen auf, in guten Heimen, dafür sorgte ihre Mutter. Aber sie war ein Kind ohne Elternhaus. Ihre Mutter kam vor zwei Jahren bei politischen Unruhen im Nahen Osten mit ihrem Mann ums Leben. Ich erfuhr durch einen Anwalt davon. Die beiden Kinder aus der zweiten Ehe wurden als Erben eingesetzt. Donata bekam nichts. Ich konnte es arrangieren, daß sie ihr Studium fortsetzte, ohne daß sie erfuhr, daß ich ihren Unterhalt bezahlte. Ich tat es damals nur, weil ich es ungerecht fand, daß ausgerechnet sie so benachteiligt wurde, denn sie hatte glänzende Zeugnisse. Ich erreichte über diesen Anwalt, den ich schon lange kenne, auch, daß sie nach München kam und dann bei mir wohnte. Ich wollte sie näher kennenlernen. Ich war nur kurze Zeit verheiratet und hatte mein einziges Kind bald nach der Geburt verloren, aber mein Mann hinterließ mir ein recht beträchtliches Vermögen, und mein eigenes konnte ich auch vermehren. Ich hatte ja keine anderen Interessen. Ich konnte reisen, und ich konnte mir alles kaufen, was mir gefiel. Ich liebe alles Schöne, aber ich traute keinem Menschen mehr, und dann kam Donata, so jung, so anmutig, so ehrlich und anständig. Wenn ich ein solches Kind gehabt hätte, wäre ich dankbar gewesen und hätte es niemals allein gelassen. Aber plötzlich enttäuschte auch sie mich.«

»Inwiefern?«

»Sie wollte nicht mehr studieren. Sie fand es aussichtslos. Sie wollte sich eine Stellung suchen. Ich dachte, es stecke ein Mann dahinter. Mein Gott, er möge mir verzeihen, alles sah ich immer gleich negativ. Und nun ist das passiert.«

»Warum haben Sie nicht mit ihr gesprochen, Frau Bucher? Warum haben Sie ihr nicht gesagt, warum Sie sich sorgen und warum Sie so großes Interesse an ihr haben?«

»Sollte ich ihr sagen, warum ich so eine Eigenbrötlerin geworden bin? Sollte ich ihr das Herz beschweren, wie ihre Eltern und Großeltern wirklich waren?« Sie blickte zu Boden. »Und hinzu kommt doch auch noch, ob ich sie für würdig befinden würde, meine Erbin zu sein. Ich war so eingeschnürt in meine Vorstellungen, in eine Enge, die mich zusammenpreßte. Ich hätte viel mehr bereit sein müssen, ihr zu zeigen, was sie mir in diesen wenigen Wochen schon bedeutete. Aber ich hatte Angst, daß sie mir spöttisch ins Gesicht lachen würde, wie es einst meine Schwester tat, als sie sagte, daß es mich nur kränkte, weil sie, die Jüngere, zuerst heirate und einen solchen Mann. Und ich hatte auch Angst, daß Donata sich auch an einen solchen Mann verlieren würde. Heutzutage ist dies doch alles noch viel leichter als früher.«

»Wie gestaltete sich eigentlich Ihr Zusammenleben in diesem Haus?« fragte Dr. Norden interessiert.

»Sie war höflich und rücksichtsvoll und ging mir aus dem Wege, wo sie konnte. Sie bekam keinen Besuch, keine Post, keine Anrufe. Ich war selbst schuld, das weiß ich jetzt. Ich hätte ihr entgegenkommen müssen, nicht sie mir. Für sie war ich ja eine Fremde, die ihr zwei Zimmer überlassen hatte. Man darf nichts erwarten, wenn man sich selbst so zurückzieht. Sie dachte wohl auch, daß ich die Miete brauche. Und ich hatte nicht den Mut und die Kraft, ihr die Wahrheit zu sagen.«

Für Dr. Norden war sie nicht die erste einsame alte Frau, mit deren Problemen er sich zu befassen hatte. Schon einige ähnliche Fälle hatte er gehabt.

»Und nun wird Donata einen Menschen brauchen, der ihr hilft, der ihr Liebe gibt«, sagte er leise. »Meine Frau hat nur eine Viertelstunde gebraucht, um dazu bereit zu sein, Frau Bucher.«

»Ich möchte es ja auch so gern«, flüsterte sie, und da füllten sich ihre Augen mit Tränen, »aber ich bin alt, und jetzt frage ich mich, ob Donata mich verstehen wird, wenn sie die ganze Wahrheit erfährt. Werde ich es ihr überhaupt noch sagen können?«

»Sie sagten doch, daß Sie immer gesund waren und nie einen Arzt brauchten. Jetzt brauchen Sie vor allem die Kraft, Ihren Schatten noch zu überspringen.«

»Und wenn ich ihr alles sage, und sie will gar nichts mehr von mir wissen?«

»Sind Sie einverstanden, wenn meine Frau Ihnen hilft, Frau Bucher? Sie hat ein wundervolles Talent zu vermitteln und Brücken zu schlagen.«

»Ja, das habe ich gefühlt. Sie zeigte mir Mitgefühl, obgleich doch Verachtung angebracht wäre.«

»Das reden Sie sich nur ein«, sagte er nachsichtig. »Sie haben sich für einen jungen Menschen eingesetzt, obgleich Sie im Leben bitter enttäuscht wurden. Sie haben Donata in Ihr Haus genommen, ohne ihr zu sagen, daß dies gnädig von Ihnen sei, denn offensichtlich hätte sie ohne Ihre Hilfe doch völlig mittellos dagestanden. Ich kenne andere Fälle, wo man sich in solchen Situationen ganz anders verhalten hat. Schließlich hatten Sie nicht die geringste Verpflichtung, sich der Enkelin Ihrer Schwester anzunehmen. So sehe ich das.«

»So sehen Sie es«, sagte sie schleppend. »Ich war nie gut zu anderen. Ich habe nie gegeben, so sehe ich das. Und jetzt kann ich es nicht mehr ändern. Ich kann es nur noch eingestehen.«

Dr. Norden schüttelte den Kopf. »Aber Sie haben doch für Donata gegeben, ohne dazu verpflichtet zu sein. Sie könnten sich jetzt Vorwürfe machen, wenn Sie dies nicht getan hätten.«

Sie wandte sich ab und ging zum Fenster. »Ich habe viele Menschen beneidet, um ihr Glück, um ihre

Kinder, um ihre Freunde. Ich habe immer nur gedacht, daß ich ausgenutzt werden würde, wenn ich Kontakte suche.«

»Viele ältere Menschen werden ausgenutzt, Frau Bucher, ja, sie werden geschröpft. Wenn sie den kleinen Finger reichen, will man die ganze Hand und dann noch mehr. Und diese Menschen werden auch oft gewarnt. Sie sind eine kluge Frau.«

Sie sah ihn nachdenklich an. »Und Sie haben eine ganz besondere Art, einen Menschen aufzurichten, Herr Dr. Norden. Welche Medizin verordnen Sie mir?«

»Ein etwas stärkendes Mittel, das ich Ihnen da lasse. Und ansonsten kann ich Ihnen nur empfehlen, selbst alle Hindernisse abzubauen, die zwischen Ihnen und Donata stehen. Wenn Sie einen Rat brauchen, stehe ich zur Verfügung. Meine Frau übrigens auch sehr gern. Und sonst kann ich nur sagen, daß jeder Mensch seine besondere Art von Selbstschutz braucht zum Überleben, und die Ihre mag nicht die schlechteste gewesen sein.«

»Wenn ich nun aber eigentlich gar nicht so lange leben wollte?«

»Das liegt nicht in unserer Hand. Und jetzt wollen Sie doch leben.«

»Bis ich alles geregelt habe.«

Dr. Norden lächelte flüchtig. »Ich denke, daß Sie sich Zeit lassen können«, meinte er.

*

Fee hatte indessen Besuch von der Polizei bekommen. Man wollte von ihr wissen, was sie beobachtet hatte. Die beiden Beamten waren sichtlich überrascht und angetan davon, wie präzise sie ihre Angaben machte.

Sie erklärte, daß ihr dies wohl deshalb möglich sei, weil sie Donata erkannt hatte.

Sie erfuhr, daß es sich bei dem Betrunkenen um einen Stadtstreicher handelte, der zweite aber ein recht angesehener Mann sei, der von dem Stadtstreicher belästigt worden wäre.

»War er nicht auch betrunken?« fragte Fee.

»Er kam von der Beerdigung seiner Tochter. Ein tragischer Fall. Er hatte wohl ein paar Gläser Cognac getrunken, und der Stadtstreicher war ihn um Geld angegangen und ihm auf den Fersen geblieben«, erwiderte der Beamte. »Jetzt ist dieser Mann völlig verzweifelt. Sie haben vielleicht in der Zeitung gelesen, daß Mutter und Tochter von einem Lastwagen überfahren wurden. Die Frau war sofort tot, die Tochter ist nun, trotz aller ärztlichen Bemühungen, gestorben.«

»Wie schrecklich«, sagte Fee leise.

»Dr. Forster ist Kunsthistoriker. Er ist völlig aus dem Gleichgewicht gebracht. Wir haben ihn wieder freigelassen. Er wird sich mit Ihnen in Verbindung setzen, Frau Dr. Norden. Er ist bereit, dem Opfer zu helfen. Bei dem Stadtstreicher ist ja nichts zu holen. Er wird ja nicht mal voll verantwortlich gemacht werden können. Und den Leuten fehlt es ja auch an der Einsicht, daß sie ihre Lage selbst verschulden.«

Fee unterdrückte eine unwillige Bemerkung, denn augenblicklich dachte sie nur daran, daß Donata das schuldlose Opfer eines Asozialen geworden war. Früher hatte sie immer nach Erklärungen gesucht, warum diese Außenseiter der Gesellschaft zu solchen geworden waren, warum auch intelligente Menschen zu Trinkern und Drogensüchtigen werden konnten, bis sie völlig haltlos wurden.

Nein, jetzt wollte sie davon nicht sprechen. Die Beamten hatten ja auch genug Ärger mit diesen Menschen. Und dann war da auch noch dieser Dr. Forster, ein vom Schicksal geschlagener Mann, der nun dieses Unglück hatte mit ansehen müssen. Vielleicht hatte der Betrunkene ihn stoßen wollen und dabei Donata erwischt.

Das sprach sie dann auch aus. Der Beamte nickte. »Ja, so mag es gewesen sein, so denkt es auch Dr. Forster, und er hat immer wieder gesagt, warum es denn nicht ihn getroffen hätte.«

Als Daniel heimkam, hatten sie genug Gesprächsstoff. Den hatten sie zwar immer, aber drei Schicksale auf einmal hatten sie selten beschäftigt, denn zu Donata und Frau Bucher mußten sie nun auch noch Dr. Forster einbeziehen.

»Daß der Mann durchdreht, wenn ihm soviel genommen wurde, ist zu verstehen«, meinte Daniel. »Warum Frau Bucher Donata nichts von den verwandtschaftlichen Beziehungen gesagt hat, kann ich nicht begreifen.«

»Sie mag gefürchtet haben, daß Donata sie auch nicht verstehen kann und sich von ihr abwendet«, meinte Fee gedankenvoll. »Sie wollte ihr wohl erst näherkommen.«

»Damit hat sie sich aber anscheinend schon ein bißchen viel Zeit gelassen. Anscheinend wußte sie Donata doch schon recht gut einzuschätzen.«

»Es ist sehr schwer, die richtigen Worte zur rechten Zeit zu finden, Daniel«, sagte Fee sinnend. »Vielleicht ist Donata ihr immer gerade dann ausgewichen, wenn sich Frau Bucher dazu entschlossen hatte. Nun, es wird sich wohl herausstellen, ob sich da eine Brücke schlagen läßt.«

Daniel sagte seiner Frau nicht, wie ernst Donatas Zustand von Dr. Behnisch beurteilt wurde.

*

Donata kam nicht zu Bewußtsein, am nächsten Tag nicht und auch nicht am übernächsten. Ihr Zustand war unverändert. Dr. Forster hatte sich telefonisch bei Fee Norden gemeldet und sie um eine persönliche Unterredung gebeten. Sie war dazu gern bereit.

Er war ein Mann von fünfzig Jahren, sah aber viel älter aus. Fee erkannte in ihm jenen Mann nicht wieder, der mit dem Stadtstreicher gestritten hatte. Von ihm erfuhr sie dann, daß da noch ein Dritter gewesen sei, der sich aber aus dem Staub gemacht hatte.

»Ich weiß nicht, wie ich in diese Situation geraten konnte, gnädige Frau«, sagte er tonlos.

»Ich weiß, daß Sie sich in einer verzweifelten Stimmung befanden«, sagte Fee verständnisvoll.

»Ich war so leer. Mir war alles gleichgültig, und jetzt ist der Gedanke schrecklich für mich, daß ich mitschuldig geworden bin an dem Unglück des jungen Mädchens.«

»Das dürfen Sie nicht so sehen«, meinte Fee einsichtig.

Er suchte nach Worten, fuhr sich immer wieder mit dem Taschentuch über die Augen, dachte dabei wohl auch an seine Frau und seine Tochter.

»Ich bin nicht unvermögend, und ich habe jetzt niemanden mehr«, sagte er mit klangloser Stimme. »Alles, was mein Leben ausmachte, ist zerstört. Ich möchte nun wenigstens diesem jungen Mädchen helfen, soweit mir dies möglich ist. Ich habe gehört, daß sie keine Angehörigen hat.«

»Keine direkten, aber sie ist gut versorgt«, erwiderte Fee.

»Aber ich möchte etwas für sie tun, alles, was in meiner Macht steht. Dieses Unglück hat mich aufgerüttelt. Mir ist bewußt geworden, daß ich nicht der einzige Mensch bin, den das Schicksal so bitter schlägt. Meine Romy war auch so jung. Wenn sie doch wenigstens am Leben geblieben wäre.«

»Sie mußten wahrhaftig einen schweren Schicksalsschlag hinnehmen, Herr Dr. Forster«, sagte Fee. »Niemand wird Ihnen aus diesem Geschehen, dessen Zeuge ich wurde, einen Vorwurf machen.«

Er faltete seine Hände. Ein Zucken lief über sein Gesicht. »Es wäre schrecklich, wenn sie sterben würde«, murmelte er. »Ich würde es als eine zusätzliche Strafe empfinden. Als Strafe dafür, daß ich jeden Glauben verloren habe.«

Fee sah ihn voll an. »Ich kann Sie sehr gut verstehen«, sagte sie mitfühlend.

»Ich habe nie getrunken. Mal ein Glas Wein, ein Bier oder ein Glas Sekt, doch nur in Gesellschaft, oder wenn es ein Familienfest zu feiern galt. Man findet im Alkohol kein Vergessen, das weiß ich jetzt. Es wird immer schlimmer. Man verliert auch seine Selbstachtung. Aber was kann mir das Leben noch bedeuten in dem leeren Haus. Verzeihen Sie, daß ich immer davon rede, gnädige Frau.«

»Sprechen Sie sich aus«, sagte Fee sanft.

»Ich wollte mir Mut antrinken und mich umbringen«, murmelte er. »Aber dann kam dieser schreckliche Mensch, der in mir einen Saufkumpan sah. Entschuldigen Sie bitte dieses schlimme Wort, aber so hat er geredet, und unwissend auch all das schlecht hingestellt, was mein Leben ausmachte. Meine Familie, mein Heim, eben alles. Es ist ja alles so sinnlos, wenn man nicht mehr weiß, wozu man noch lebt.«

Wie sollte Fee da trösten? Sie überlegte. »Es gibt so viele Menschen, die es wert sind, daß man ihnen hilft, Herr Dr. Forster, junge Familien, die verzweifelt Wohnraum suchen. Sie sagten doch, daß Sie ein Haus haben, ein Haus, das Ihnen jetzt zu leer ist. Es könnte doch wieder mit Leben erfüllt werden.«

»Durch fremde Menschen? Nein, dazu habe ich nicht die Kraft.«

»Jetzt noch nicht, das verstehe ich, aber Sie könnten sich doch mit dem Gedanken befassen. Ich denke da an eine junge Mutter, die zwei Kinder hat, deren Mann an Lymphdrüsenkrebs starb. Es fällt ihr schwer, die Miete für die teure Neubauwohnung aufzubringen. Sie bringt sich und die Kinder mit einer kleinen Rente und durch Heimarbeit über die Runden. Es ist nur ein Beispiel. Solch eine Frau könnte Ihren Haushalt in Ordnung halten, und es wäre Leben in Ihrem Haus. Sie sind doch ein Mann, der Kinder mag, das spüre ich.«

»Wir hätten gern mehrere Kinder gehabt«, sagte er leise, »aber meine Frau konnte keine mehr bekommen. Unsere Romy war unser ein und alles.« Ein trockenes Schluchzen klang durch diese Worte.

Er rang nach Fassung, dann fuhr er fort: »Auch meine Frau und ich waren Einzelkinder. Wir haben es uns so schön vorgestellt, wenn wir Enkel haben würden. Romy war mit einem lieben Menschen verlobt, aber Rolf ist jung. Er wird eine andere Frau finden. Er ist nach der Beerdigung gleich weggefahren. Er hat gesagt, daß es sinnlos ist, wenn wir uns gegenseitig das Herz schwermachen. Wenn er geblieben wäre, wenn wir zusammen heimgefahren wären… aber wenn das Wörtchen wenn nicht wäre. Es ist ja nichts mehr zu ändern. Ich will Sie nicht länger belästigen, Frau Dr. Norden. Ich werde Fräulein Sassen unterstützen, und meinem Leben so doch noch einen Sinn geben. Gebe Gott, daß sie am Leben bleibt.«

Fee wußte nichts mehr zu sagen. Sie bangte ja auch um Donatas Leben. Und sie hegte ein tiefes Mitgefühl für diesen verzweifelten Mann.

Da blickte er sie plötzlich voll an. »Sie sprachen von einer jungen Frau. War das nur ein Beispiel, oder kennen Sie diese persönlich?« fragte er.

»Ja, ich kenne sie«, erwiderte Fee.

»Wann starb ihr Mann?«

»Schon vor einem Jahr.«

»Wie alt sind die Kinder?«

»Sechs und acht Jahre. Sehr liebe Kinder.«

»Wie heißt sie?«

»Hiltrud Barkow.«

»Vielleicht können Sie Frau Barkow einmal unverbindlich mit mir bekannt machen. Ich könnte ihr drei Zimmer überlassen. Ich brauche für mich ja jetzt nur noch das Erdgeschoß.«

Fee staunte, und sie freute sich. »Ich meinte nur, daß Sie es sich durch den Kopf gehen lassen könnten.«

»Das tue ich ja«, erwiderte er. »Ja, ich muß etwas tun, und wenn Sie die Fürsprecherin sind, habe ich Vertrauen.«

»Das könnten Sie in diesem Fall gewiß haben, Herr Dr. Forster. Geteiltes Leid ist halbes Leid, so sagt man doch. Und da ist auch eine glückliche Familie vom Schicksal hart getroffen worden. Frau Barkow ist eine gebildete Frau.«

»Sie werden das arrangieren, Frau Dr. Norden, in ein paar Tagen vielleicht?« fragte er stockend.

»Sehr gern«, und als er dann mit einer tiefen Verbeugung ging, überlegte sie, wieso ihr da gerade Hiltrud Barkow in den Sinn gekommen war. Sie hatte seit einigen Wochen schon nichts mehr von ihr gehört. Das war auch so ein Mensch, der versuchte, mit seinen Sorgen, seinem Leid allein fertig zu werden. Und da Fee es nie beim Überlegen ließ, fuhr sie auch sogleich zu Hiltrud Barkow. Es war noch Zeit bis Mittag. Die Kinder waren noch in der Schule, auch die beiden von Frau Barkow.

Frau Barkow sah verweint und krank aus, als sie Fee die Tür öffnete, und Fee sah sogleich Kartons in diesem kleinen Flur.

»Ich bin schon beim Packen, Frau Dr. Norden«, flüsterte Hiltrud Barkow.

»Ich kann die Miete nicht mehr zahlen. Sie ist wieder erhöht worden. Und ich weiß noch nicht wohin mit den Kindern. Hoffentlich finde ich bis zum Ersten noch eine Bleibe.«

»Warum sind Sie nicht zu mir gekommen, Frau Barkow?« fragte Fee bestürzt.

»Sie haben doch schon genug für uns getan. Und dauernd hängen doch andere an Ihnen.«

»Verzagen Sie nicht«, sagte Fee. »Ich weiß etwas für Sie. Und jetzt bin ich überzeugt, daß es klappt. Sie müßten nur sehr viel Verständnis für einen sehr verzweifelten Mann aufbringen.«

»Aber ich will mich nie wieder binden, nie wieder«, flüsterte Hiltrud.

»Das wird Dr. Forster auch nicht wollen, gerade das nicht«, sagte Fee, und dann erzählte sie von ihm, von dieser schicksalhaften Begegnung und auch von Donata.

»Sie haben selbst eine große Familie, Frau Dr. Norden, und immer wieder kümmern Sie sich um andere. Woher nehmen Sie nur die Kraft?«

»Uns geht es gut, Frau Barkow, und dafür sind wir dankbar.«

»Und Sie haben ein Herz für Kranke und auch für Kinder, aber wo findet man heutzutage schon solche Menschen.«

»Jetzt lassen Sie den Kopf nicht hängen. Ich werde Dr. Forster nachher gleich anrufen.«

»Wie soll ich Ihnen nur danken, wenn das möglich wäre.«

Dann wäre zwei Menschen geholfen, dachte Fee, und zwei Kindern dazu.

*

Sie erreichte Dr. Forster am Nachmittag. Da war er durch sein stilles Haus gegangen, und die Tränen, die er weinte, sah niemand. Lange hatte er in Romys Zimmer am Fenster gestanden und überlegt, ob er es ertragen könne, wenn hier andere Menschen wohnen würden.

Aber es war so erdrückend still, daß ihn wieder die Verzweiflung überkam, doch da läutete dann das Telefon.

Rasch sagte ihm Fee, was sie auf dem Herzen hatte. »Es müßte ja nicht für immer sein, Dr. Forster«, sagte sie. »Sie wären jetzt der rettende Engel für Frau Barkow, und versuchen könnten Sie es doch mal.«

»Sie soll kommen«, erwiderte er. »Für mich waren Sie der rettende Engel.«

»Wann darf Frau Barkow kommen?«

»Morgen ist Samstag, und der Erste ist doch schon am Dienstag. Also soll sie morgen gleich kommen. Vielleicht ist es gut so, damit ich nicht wieder auf dumme Gedanken komme.«

»Dann würden Sie mich sehr enttäuschen«, sagte Fee mit fester Stimme.

Und als sie Hiltrud Barkow diese Nachricht brachte, weinte diese Tränen der Freude.

»Das muß aber ein sehr netter Herr sein«, sagte die sechsjährige Sabine.

»Aber heiraten tust du nicht, Mami«, sagte Klaus.

»Ich denke doch nicht daran, Kinder. Das ist doch auch ein alter Herr.«

Na ja, so alt ist er nun auch wieder nicht, dachte Fee. Aber Hintergedanken hatte sie dabei diesmal gewiß nicht. Daniel brauchte sie nicht mit irgendwelchen Anzüglichkeiten zu necken, als sie ihm erzählte, was ihr da gelungen war.

»Die gute Fee«, sagte er nur zärtlich. »Der ganz große Schatz für mich.«

»Danke, gleichfalls, mein Schatz«, erwiderte sie rasch.

Und dann läutete bei ihnen das Telefon. Es war Jenny Behnisch. Sie verkündete voller Freude, daß Donata kurz zu sich gekommen war. »Und was meinst du, was ihre einzigen Worte waren, Fee?« fragte sie.

»Sag es schon«, bat Fee.

»Fee Norden.«

»Dann funktionieren die Gehirnzellen«, sagte Fee erleichtert.

»Das EEG läßt hoffen.«

»Ich komme morgen vormittag«, sagte Fee.

»Ich rufe dich an.«

»Vergißt du es auch nicht, Jenny?«

»Wie könnte ich«, entgegnete Jenny Behnisch weich. »Übrigens hat Frau Bucher vorhin fast eine Viertelstunde von dir und Daniel in den höchsten Tönen geredet. Und sie besteht darauf, daß wir den Scheck einlösen.«

»Dann löst ihn doch ein. Abrechnen könnt ihr später. Der Wohltätigkeit sollten keine Grenzen gesetzt werden.«

*

In dieser Nacht konnte Fee ruhiger schlafen, und sie träumte. Sie sah Donata in jenem weißen Festtagsdirndl und an ihrer Seite einen Mann, dessen Gesicht sie aber nicht erkennen konnte, denn er kehrte ihr den Rücken zu und hatte seine Arme um Donata gelegt.

Was immer dies auch bedeuten mochte, beim Erwachen glaubte Fee fest daran, daß es zumindest die Genesung Donatas bedeuten würde.

Sie konnte länger schlafen als sonst, denn es war Samstag. Daniel hatte keine Sprechstunde, kein Wecker entriß sie dem Schlummer und ihren Träumen, und als sie die Augen aufschlug, beugte sich Daniel über sie und lächelte.

»Heute bin ich mal früher munter als du«, sagte er zärtlich, »aber ich könnte dich stundenlang anschauen, wenn du schläfst.«

»Nur, wenn ich schlafe?« fragte sie schelmisch.

»Du hast ausgeschaut wie ein glückliches kleines Mädchen.«

»Ich habe schön geträumt.«

Und es war ein herrlicher, klarer Morgen. Die Sonne lachte, der Himmel war wolkenlos. Da hielt es sie nicht mehr im Bett.

»Wohin werden wir wandern?« fragte Daniel die Kinder.

»Mami geht doch bestimmt erst wieder in die Klinik«, murrte Danny.

»Seid ihr mir deswegen böse?« fragte sie. »Ich halte mich doch nicht lange auf.«

»Ihr werdet doch mal eine Viertelstunde mit mir vorliebnehmen können«, scherzte Daniel, und da waren die Kinder in Verlegenheit gebracht.

»Na klar«, sagte Danny, »war ja auch nicht so gemeint.«

*

Etwa zur gleichen Zeit machte sich Hiltrud Barkow mit ihren Kindern Klaus und Sabine auf den Weg zu Dr. Forster, und das war ein ziemlich langer Weg, da sie die öffentlichen Verkehrsmittel benutzen mußten. Ein Auto konnte sich Hiltrud schon lange nicht mehr leisten.

»Da müssen wir dann aber in eine andere Schule gehen, Mutti«, sagte Klaus.

»Das wird nicht das Schlimmste sein. Nun wollen wir aber erst mal sehen, ob Dr. Forster uns haben will.«

»Vielleicht mag er Kinder doch nicht«, meinte Sabine betrübt.

»Dann hätte er gleich nein gesagt.« Hiltrud war von Zuversicht erfüllt. Sie war ihr von Fee eingeflößt worden.

Dann standen sie vor einer Villa älterer Bauart. »Das ist aber ein schönes Haus«, sagte Sabine leise.

»Und ein doll großer Garten«, murmelte Klaus. »Ob wir da auch spielen dürfen?«

»Warten wir es ab«, sagte Hiltrud, nun doch ein wenig bekommen.

Dr. Herbert Forster hatte es sich nicht verkneifen können, schon ein wenig aus dem Fenster zu lugen. Schwankend noch zwischen Zweifel und dem Willen zu helfen, war er nun sogar ein wenig aufgeregt, als er bemerkte, wie Hiltrud Barkow zögerte, auf die Klingel zu drücken, aber dann ertönte doch der Gong.

Er schöpfte noch einmal tief Atem, bevor er die Tür öffnete. Die Kinder waren ein paar Schritte hinter ihrer Mutter geblieben. Hiltrud stellte sich vor und nannte die Namen der Kinder.

»Bitte, treten Sie ein«, sagte Dr. Forster höflich. »Sie sind willkommen. Ihr auch«, wandte er sich an die Kinder, als sie zurückbleiben wollten.

»Danke schön«, sagte Sabine und machte einen kleinen Knicks, »danke auch«, sagte Klaus, Dr. Forster forschend anblickend.

»Es kommt für Sie doch wohl sehr plötzlich«, sagte Hiltrud zu­rückhaltend.

»Was du tun willst, tu sofort, lautet doch ein Sprichwort«, sagte Dr. Forster gedankenvoll. »Es sollte wohl so kommen, bevor ich mich wieder kopfscheu mache.«

Dann deutete er auf die Treppe. »Schauen Sie sich erst die Räume an, bevor wir uns unterhalten. Sie haben ja sicher eigene Möbel.«

Hiltrud nickte. Daß sie ihr Schlafzimmer schon hatte verkaufen müssen, wollte sie nicht gleich erwähnen, und ebenso war schon manches Möbel zu Geld gemacht worden.

»Nun, wir können uns darüber noch einigen«, sagte Dr. Forster. »Es sind oben noch zwei Mansardenzimmer, die bisher nicht benutzt wurden.«

»Die würden uns schon genügen«, sagte Hiltrud leise.

»O nein, so meinte ich das gewiß nicht. Nur könnten dort Möbel untergebracht werden, und wenn es Ihnen hier gefällt, kann man da ja auch Kinderzimmer einrichten.«

»Wir kriegen aber keine Kinder mehr«, warf Sabinchen nun leise ein.

Hiltrud mußte lächeln, und Dr. Forster wurde davon auch angesteckt. Drei schöne, geräumige, ­hübsch eingerichtete Zimmer sahen sie dann. Hiltrud hatte den Kindern ganz eindringlich gesagt, daß sie Dr. Forster ja nicht nach seiner Frau und Tochter fragen sollten, und das taten sie auch nicht. Sie fanden nur alles wunderschön.

»Wollt ihr in den Garten gehen, wenn ich mich mit der Mutti unterhalte?« fragte Dr. Forster schon mit etwas sicherer Stimme.

»Dürfen wir denn?« fragte Klaus.

»Wir rupfen nichts ab, bestimmt nicht«, versicherte Sabinchen. »Wir haben Blümchen lieb. Sie sind sehr teuer, wenn man sie kaufen muß.«

Hiltrud errötete, aber Dr. Forster strich der Kleinen über das Blondköpfchen.

Ein bißchen hilflos sah er Hiltrud dann doch an.

»Frau Dr. Norden hat Ihnen sicher gesagt, wie hart mich das Schicksal getroffen hat«, begann er stockend. »Und mir sagte sie, daß Sie auch Schweres erlebt haben. Wir wollen darüber jetzt bitte nicht reden. Sie haben sehr nette Kinder, Frau Barkow. Ich hoffe, Sie werden sich hier wohl fühlen. Vielleicht können Sie ein paar kleine Arbeiten für mich erledigen.«

»Das ist doch selbstverständlich«, erwiderte Hiltrud. »Für mich kommt es nur darauf an, was Sie an Miete verlangen, Herr Dr. Forster. Ich mußte unsere Wohnung aufgeben, weil ich die Miete nicht aufbringen kann.«

»Wenn Sie das Haus in Ordnung halten und ab und zu mal für mich kochen, werde ich doch keine Miete verlangen«, sagte er.

»So war das aber nicht gedacht, Herr Dr. Forster. Selbstverständlich werde ich Miete zahlen.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich vermiete nicht, aber ich bin gern bereit, Ihre Hilfe in Anspruch zu nehmen. Ich habe zwei linke Hände, und nicht nur in mir selbst muß wieder Ordnung geschafft werden. Das Haus würde es auch brauchen. Sie sehen, daß ich durchaus nicht selbstlos bin.«

»Aber sehr großzügig«, sagte Hiltrud.

»Dann sollte ich eigentlich damit anfangen, Ordnung zu schaffen.«

Die Küche hatte es vor allem nötig. Ihr war es am meisten anzusehen, daß der Hausherr nicht das geringste Interesse aufgebracht hatte, sich wenigstens zeitweise selbst zu versorgen.

Dabei war sie auf das Modernste eingerichtet.

Nun war er erst recht verlegen. »Werfen Sie bitte alles weg, was noch im Kühlschrank ist. Ich fahre jetzt zum Einkaufen, das kann ich so einigermaßen.«

Das war nun allerdings die größte Überraschung für Hiltrud, daß er sie mit den Kindern allein im Haus ließ.

Die merkten davon allerdings noch nichts. Sie tollten im Garten herum, und erst als das Auto wegfuhr, kamen sie über die Terrasse zum Haus.

»Waren wir zu laut, Mutti?« fragte Klaus. »Warum ist der Herr Doktor weggefahren?«

»Um einzukaufen, und ihr könnt mir jetzt mal dabei helfen, die Tüten zur Tonne zu bringen.«

»Darfst du das denn wegwerfen?« fragte Sabine.

»Es ist höchste Zeit, daß es wegkommt«, erwiderte Hiltrud. Für sie, die sparsame Hausfrau und Mutter war es zwar ein Jammer, was da alles verkommen war, aber sie bedachte die Verfassung, in der sich Dr. Forster befunden hatte.

Die Kinder schleppten die Plastiktüten hinaus und halfen ihr beim Säubern des Kühlschranks. Reinigungsmittel waren genug vorhanden, und im Gefrierfach befand sich auch genügend verschiedenes Fleisch, das nicht geschädigt war. Auch Konserven der verschiedensten Sorten befanden sich im Vorratsschrank. Und überhaupt herrschte in den Schränken eine nahezu mustergültige Ordnung, die verriet, daß hier eine perfekte Hausfrau geschaltet und gewaltet hatte.

Das schmutzige Geschirr, meistens Kaffeetassen und Gläser verstaute Hiltrud in der Geschirrspülmaschine. Als diese lief, säuberte sie den Herd.

Auch die Kinder halfen eifrig. »Kostet es nicht viel Miete, wenn wir hier wohnen dürfen, Mutti«, erkundigte sich Klaus zaghaft.

»Wenn wir alles schön in Ordnung halten, brauchen wir keine Miete zu zahlen. Was sagt ihr dazu?«

»Das ist toll«, sagten sie wie aus einem Munde. Und Sabine fügte hinzu: »Der Herr Doktor ist nett, und so alt ist er doch noch nicht.«

»Was ist er für ein Doktor?« wollte Klaus wissen.

»Er ist Kunsthistoriker.«

»Das kenne ich nicht«, sagte Klaus.

»Ich kenne nur Doktors, die Arzt und Zahnarzt sind«, sagte Sabine.

»Ich erkläre es euch später einmal«, sagte Hiltrud. »Oder Dr. ­Forster erklärt es euch selbst. Seid nur recht lieb zu ihm, und bitte, fragt nicht nach seiner Frau und Tochter.«

»Er ist bestimmt sehr traurig, daß sie tot sind«, flüsterte Sabine.

»Wir sind auch traurig, weil Vati tot ist«, meinte Klaus. »Sonst hätten wir bestimmt auch mal ein schönes Haus bekommen. Das hat er immer gesagt. Gell, Mutti?«

Ja, das hatte er noch gesagt, als sein Leben schon verlöschte. Wenn ich gesund werde, dann kaufen wir ein Haus mit einem schönen Garten, wie oft hatte er es gesagt. Es war sein Traum gewesen. Er hatte so gern gelebt.

Es sollte nicht sein, dachte Hiltrud. Und jetzt brauchte sie nicht mehr zu verzweifeln. Die Angst vor dem Dienstag war gewichen.

Als Dr. Forster schwer beladen zurückkam, war die Küche blitzblank und die Teppiche im Wohnraum waren auch abgesaugt. Weit offen standen alle Fenster, und frische Luft strömte herein.

»Sie haben aber schon viel geschafft«, staunte er.

»So schlimm war es gar nicht«, erwiderte Hiltrud.

»Sie sind sehr nachsichtig mit mir.« Jetzt lächelte er sogar ein bißchen verzeihungsheischend.

»Ach was, das ist nun mal Frauenarbeit.« Sie hatte zu einem leichteren Ton gefunden.

»Ich habe gegrillte Hähnchen mitgebracht. Sie waren gerade fertig. Die Kinder mögen sie doch sicher.«

Er wirkte rührend, wie er auszupacken begann. Und als die Kinder hereinkamen und sagten: »Hier riecht es aber lecker«, entspannte sich sein Gesicht.

»Dann werden wir uns mal stärken«, sagte er.

*

Fee hatte sich nicht lange in der Klinik aufgehalten, denn Donata schlief.

Aber ihre Lippen waren nicht mehr gar so bleich, und der Puls fühlte sich auch schon kräftiger an.

»Wir können hoffen, Fee«, sagte Dr. Jenny Behnisch. »Innere Blutungen sind nicht mehr zu befürchten, und da sie organisch kerngesund war, ist auch mit einer guten Heilung zu rechnen. Allerdings werden wohl ein paar Monate vergehen bis zur völligen Genesung.«

»Wenn nur die Hoffnung darauf vorhanden ist«, sagte Fee leise.

»Oh, doch, wir sind jetzt zuversichtlich, daß es ihr erspart bleiben wird, wie Dr. Rühls Schwester an Krücken zu gehen.«

»Das wußte ich nicht«, sagte Fee bestürzt.

»Ja, sie wurde auch bei einem Verkehrsunfall schwer verletzt, und daß sie nicht mehr im Rollstuhl sitzen muß, hat sie Rühl zu verdanken. Er rühmt sich dessen nicht. Er hat nur angeboten, die Bewegungstherapie, die er bei seiner Schwester angewendet hat, auch bei Donata durchzuführen, falls solche nötig sein würde. Er meint, daß sie so früh wie nur möglich einsetzen sollte. Bei seiner Schwester ist manches verschleppt worden. Er ist übrigens sehr sympathisch.«

»Das finde ich auch«, nickte Fee.

»Jetzt widme dich deiner Familie. Ich sage dir Bescheid, wenn Donata bei Bewußtsein ist.«

Die Kinder tollten mit dem Hirtenhund Bärle im nahen Wald herum.

Fee brauchte nur dem Klang der Stimmen und dem freudigen Bellen des Hundes nachzugehen, aber Bärle hatte sie schon gewittert und kam angestürmt.

»Reiß mich nicht gleich um, Bärle«, sagte Fee lachend, und schon hingen die Kinder auch an ihr.

»Wie geht es der Donata?« fragten sie. Und auch Daniel sah sie erwartungsvoll an.

»Schon ein bißchen besser«, erwiderte Fee.

»Das ist fein«, meinte Anneka. »Dann lachst du auch wieder, Mami.«

Und dann sprangen sie mit dem Hund wieder voraus.

Ihnen genügte es, daß Fee nun mit von der Partie war bei dem Spaziergang.

Eingehakt folgten ihnen Daniel und Fee. »Wußtest du, daß Rühls Schwester behindert ist?« fragte

Fee.

»Ich habe es mal gehört. Auch ein Unfallopfer. Ihr ist einer frontal in den Wagen gefahren.«

»Davon hast du mir noch nichts erzählt.«

»Ist doch schon zwei Jahre her, Fee, und wir haben dauernd mit so was zu tun. Es muß nicht ständiges Gesprächsthema bei uns sein. Wir könnten nämlich über nichts anderes mehr reden, wenn ich alles aufzählen würde, was ich so erfahre.«

Er legte den Arm um sie. »Wir könnten des Lebens nicht mehr froh werden, wenn wir uns nur mit diesen Fällen befassen würden.«

Eine Weile gingen sie schweigend, dann sagte Fee: »Ich bin gespannt, wie die erste Begegnung zwischen Frau Barkow und Dr. Forster ausgeht.«

»Nun hast du schon wieder ein anderes Sorgenkind«, stellte Daniel kopfschüttelnd fest. »Eins allein genügt dir nicht.«

»Es trifft sich halt so. Aber ich hoffe, daß da zwei Menschen auf einmal geholfen wird.«

Und das sollte sie noch am gleichen Abend erfahren.

Hiltrud Barkow ließ es sich nicht nehmen, es ihr persönlich zu sagen. Sie kam mit den Kindern vorbei, als sie von Dr. Forster kamen. Und über diese abendliche Störung war Fee erfreut.

Nun konnte Hiltrud freudigen Herzens die letzten Kisten packen, und Klaus und Sabine konnten gar nicht oft genug sagen, wie nett der Dr. Forster sei und wie gut auch die Hähnchen geschmeckt haten, aber sie vergaßen auch nicht zu erwähnen, daß sie alles schön sauber gemacht hatten.

»Siehst du, Daniel«, sagte Fee erfreut zu ihrem Mann, »so bringt auch ein Unglück Gutes.«

»Wenn du auch immer so glänzende Ideen hast«, meinte er schmunzelnd. »Wo du das nur hernimmst, Fee.«

*

Auch der Sonntag zeigte sich von freundlicher Seite, wenngleich er nicht ganz so strahlend schön war.

Es war ohnehin beschlossen, im Jagdschlössel zu essen, damit Lenni auch mal in aller Ruhe eine Mahlzeit zu sich nehmen konnte, und da es bis dorthin ein ganz tüchtiger Marsch war, würde sich auch der richtige Appetit einstellen.

Gerade, als sie aufbrechen wollten, läutete das Telefon.

»Wir sind schon weg«, sagte Daniel, denn diesmal wollte er sich nicht um seine Sonntagsruhe bringen lassen, und da Dr. Rühl Sonntagsdienst hatte, konnte er das auch wagen, denn der war nun auch schon wegen seiner Zuverlässigkeit bekannt.

Doch Fee ahnte, daß es die Behnisch-Klinik war. So etwas hatte sie meist im Gefühl, und auch diesmal hatte sie nicht falsch gedacht.

Jenny berichtete ihr, daß Donata bei Bewußtsein wäre. Für sie war dies natürlich ein Grund, sofort in die Behnisch-Klinik zu fahren.

»Marschiert nur schon los«, rief sie den andern zu, »ich komme mit dem Wagen nach. Vielleicht regnet es nachher, dann ist es besser, wenn wir trocken zurückkommen.«

»Mami ist so eine«, brummelte Danny.

»Schlau ist sie«, sagte Felix. »Bestimmt will sie noch Donata besuchen.«

Obgleich sie Donata nicht persönlich kannten, war ihnen der Name bereits so vertraut, daß er ihnen leicht über die Lippen kam.

»Laß sie doch«, meinte Anneka, »wir würden uns auch freuen, wenn Besuch kommt, wenn wir in der Klinik sein müßten.«

»Du wirst genauso wie deine Mami«, sagte Daniel, »aber ich habe es mir ja so gewünscht.«

Lenni lächelte, als die Buben meckerten, daß Anneka Papis Herzipoppi sei.

»Sie ist doch unsere Kleine«, meinte sie.

»Buben können eben nicht so gut schmusen«, brummte Danny.

»Papi hat uns doch auch lieb«, sagte Felix besänftigend. »Mußt nicht immer eifersüchtig sein, Danny.«

Fee fuhr gleich zur Klinik, als die Gesellschaft außer Sichtweite war. Eine gute Stunde mußten sie schon bis zum Jagdschlössel laufen, und die Zeit blieb ihr jetzt für Donata.

Aber als sie dann an deren Bett stand, mußte sie sich höllisch zusammennehmen, so glanzlos und weltenfern waren die Augen des Mädchens.

»Donata«, sagte Fee weich und nahm sanft die schmalen Hände des Mädchens.

»Fee Norden«, flüsterte Donata. »Ich habe die Stellung nicht bekommen.«

Fee erschrak. Bewegte das Donata mehr als das Unglück? »Wir werden schon eine andere finden, wenn Sie wieder gesund sind, Donata«, sagte sie aufmunternd, aber ein Kloß schien ihr in der Kehle zu stecken.

»Warum hat mich der Mann geschlagen?« fragte Donata.

»Er war betrunken.«

»Ich weiß nicht mehr, was geschehen ist, aber ich habe Ihre Stimme gehört. Sie waren bei mir.«

Fee mußte mehr ahnen, was Donata sagte, so schwach war die Stimme, aber alle Qualen, die das Mädchen litt, konnte man auch in den Augen lesen.

Sanft strich Fee mit dem Zeigefinger über die Augenbrauen und die Nase, die nun auch schon etwas abgeschwollen war.

»Jetzt machen Sie sich keine Sorgen, Donata. Sie müssen gesund werden. Frau Bucher vermißt Sie sehr.«

»Sie vermißt mich?«

»Sie sorgt sich um Sie.«

»Warum hat sie mir nie gesagt, wie wir verwandt sind? Stimmt das überhaupt? Sie hat mich nur gefragt, was ich weiß, aber ich weiß doch gar nichts.«

»Sie ist die Schwester Ihrer Groß­mutter.«

»Ich kenne keine Großmutter, und ich kenne auch meine Mutter kaum. Vielleicht habe ich alles vergessen.«

Sie war erschöpft, aber Fee war zufrieden, daß sie doch soviel gesagt hatte, daß sie reden und denken konnte, wenn auch manches verwirrt schien.

Aber hatte sich auch Frau Bucher nicht in manchem widersprochen? Fee versuchte, sich alles, was die alte Dame gesagt hatte, noch einmal in die Erinnerung zuruckzurufen, aber so ganz wollte ihr das auch nicht mehr gelingen. Aber zuerst, daran erinnerte sich Fee deutlich, hatte Frau Bucher sie gefragt, ob Donata nicht gesagt hätte, daß sie und Donatas Großmutter Schwestern gewesen wären. Und später hatte sie da nicht gesagt, daß Donata gar nicht wüßte, daß sie verwandt wären?

Nun, Frau Bucher war eine alte Dame, und in der Aufregung sagte man manches, was falsch verstanden werden konnte. Jetzt würde ein Gespräch sicher ruhiger und vertrauensvoller verlaufen.

Und als Fee dies dachte, kam Hortense Bucher des Weges, ein wenig gebeugt, aber doch in stolzer Haltung, geistesabwesend, nicht rechts noch links schauend, und erst als Fee kurz vor ihr stand, blickte sie auf.

»Oh, Frau Dr. Norden«, sagte sie überrascht. »Sie sind sogar am Sonntag hier!«

»Ich komme gerade von Donata. Sie war kurz bei Bewußtsein. Jetzt schläft sie wieder«, sagte Fee.

»Ich war in der Kirche«, erwiderte die alte Dame. »Ich habe gebeichtet. Jetzt ist mir etwas wohler, aber auch Ihnen müßte ich etwas beichten. Ich habe mich dazu durchgerungen, mich endlich nicht mehr selbst zu täuschen.«

»Sie sind mir keine Rechenschaft schuldig«, sagte Fee nachsichtig.

»Aber Sie werden schon herausgefunden haben, daß ich mir in manchem selbst widersprochen habe, und zu Ihrem Mann habe ich es wieder anders gesagt als zu Ihnen. Das kommt davon, wenn man die ganze Wahrheit einfach nicht wahrhaben will, wenn man selbst enttäuscht und verbittert ist. Und wenn man so mißtrauisch ist, daß man auch voraussetzt, von anderen getäuscht zu werden. Wenn Sie einmal Zeit haben, daß wir in Ruhe sprechen können, werde ich Ihnen meine Lebensgeschichte erzählen, wie sie wirklich war. Sich selbst zu bekriegen ist der schwerste Krieg, Frau Dr. Norden.«

»Sich selbst besiegen, ist der schönste Sieg«, fügte Fee nachdenklich hinzu. »Aber ich möchte es nochmals sagen, Sie sind mir keine Beichte schuldig, Frau Bucher.«

»Ich bin sie mir selbst schuldig. Sie sind noch so jung und so bewundernswert reif und voller Güte. Ich habe mich entsetzlich geschämt in diesen Tagen, meiner Kleinlichkeit, meiner Unversöhnlichkeit, und meiner Überheblichkeit, für alles, was ich falsch gemacht habe, eine Entschuldigung zur Hand zu haben.«

»Sie sollten sich jetzt nicht mit solchen Tadeln überhäufen, Frau Bucher«, sagte Fee.

»Sie sind seit vielen, vielen Jahren der erste Mensch, zu dem ich Vertrauen habe, und da ich nun auch Ihren Mann kennenlernte, wird mir bewußt, daß es tatsächlich eine vollkommene Harmonie zwischen zwei Menschen geben kann und auch in einer Familie. Ich habe nie daran geglaubt, denn schon in meinem Elternhaus gab es diese nicht. Man spricht immer von den goldenen alten Zeiten, aber so golden waren die wahrhaftig nicht, will man vom Gold des Geldes absehen, das so manche Familie über die andern erhob. Oh, entschuldigen Sie, ich möchte Sie jetzt wirklich nicht aufhalten. Dürfte ich Sie bald einmal zu einem Teestündchen bei mir erwarten, Frau Dr. Norden? Bestimmen Sie bitte den Tag.«

»Ja, am besten wäre es für mich dienstags zwischen drei und vier Uhr. Da sind die Kinder in der Gymnastikstunde«, erwiderte Fee. »Ich kann sie jetzt nicht zu oft allein lassen, da die vergangene Woche doch ziemlich turbulent war.«

»Dann sehen wir uns am Dienstag um drei Uhr?« fragte Frau Bucher bittend.

»Einverstanden, und jetzt können Sie auch schon aufatmen. Es geht wirklich aufwärts mit Donata.«

»Man wird doch nichts dagegen haben, wenn ich mich an ihr Bett setze?«

»Das brauchen Sie wirklich nicht zu fürchten, Frau Bucher.« Mit einem herzlichen Händedruck verabschiedete sich Fee. Und dann kam sie fast gleichzeitig mit der übrigen Familie beim Jagdschlössel an. Der Himmel hatte sich bewölkt, und Daniel warf seiner Frau einen schrägen Blick zu.

»Es war doch eine gute Idee, mit dem Wagen zu kommen, Fee. Wenn wir mit dem Essen fertig sind, wird es regnen.«

Und so war es auch, doch für sie immerhin auch ein Grund, noch eine Weile zu bleiben, worüber sich die Hoflechners freuten und auch der Wastl, der mit seinem Hundesohn Bärle eine wilde Hetzjagd veranstaltete.

Ja, mit dem Jagdschlössel und den Hoflechners waren Daniel und Fee Norden auch durch einen dramatischen Fall verbunden, der sich dort in der Silvesternacht abgespielt hatte, in der sie, das Ehepaar Behnisch und vor allem Dr. Leitner, der Gynäkologe, mit seiner Frau Claudia, die Gäste der Hoflechners waren, um die Geburt deren Sohnes zu feiern, der in der Leitner-Klinik zur Welt gekommen war. Aber irgendwie war es diesen Ärzten bestimmt, immer besonders dramatische oder gar abenteuerliche Fälle zugespielt zu bekommen.

Nun, das möchte wohl auch den anderen Ärzten passieren, doch diese wälzten solche Verantwortung oft schnellstens von sich, während die drei befreundeten Ärzte sich menschlich sehr engagierten, wenn es galt, anderen zu helfen. Natürlich bekamen die Ärzte auch immer was besonders Gutes zu essen, für sie war auch stets ein Tisch im Kaminzimmer reserviert, wo man ganz gemütlich und abgeschirmt sitzen konnte. Da war auch Platz für Bärle, aber wie es sich mal wieder erwies, tobte der lieber mit seinem wachsamen, aber auch noch gern spielenden Vater herum.

Jetzt kamen beide aber pudelnaß hereingetrabt, schuldbewußt und mit hängenden Köpfen.

Kathi Hoflechner machte kurzen Prozeß. »Schämt euch«, sagte sie, »sofort ins Bad, Wastl, und nimm Bärle nur gleich mit. Ich komme mit dem Fön.«

»Den mag Bärle gern«, sagte Anneka.

»Wastl aber nicht«, lachte Sepp Hoflechner.

»Da kann ihm Bärle mal ein gutes Beispiel geben.«

Jedenfalls war Bärle dann halbwegs trocken, als sie die Heimfahrt antraten, schuldbewußt machte er sich unter dem Rücksitz dann ganz dünn.

»Jetzt schämst di«, sagte Felix trocken. Bärle grummelte vor sich hin.

»Er freut sich halt auch, wenn er seinen Papi sieht«, sagte Anneka entschuldigend.

»Hunde wissen überhaupt nicht, wer ihr Vater ist, sagt der Berti Kolbe«, sagte Danny.

»Der ist ja blöd«, gab Felix seinen Kommentar dazu. »Unser Bärle ist gescheit, und der weiß genau, aus welcher Zucht er kommt. Der Berti weiß das nicht. Er hat ja keinen Vater.«

»Ihr sollt so nicht reden«, wurden sie von Fee ermahnt.

»Wenn es doch stimmt«, sagte Felix. »Mir ist das doch wurscht, aber er braucht nicht so dumm über Bärle zu reden.«

»Bärle hört das aber nicht, aber Berti könnt ihr mit solchen Bemerkungen kränken.«

»Na, so doof sind wir nicht, daß wir das sagen, wenn er es hören kann, Mami«, sagte Danny.

»Ich finde es sehr traurig, wenn Kinder keinen Vater haben«, flüsterte Anneka. »Es ist aber auch schlimm, wenn sie keine Mutter haben. Ich mag so was nicht denken.«

»Braucht ihr auch nicht«, sagte Lenni. »Jetzt sind wir gleich zu Hause, dann spielen wir.«

»Dann kommt Sport im Fernsehen«, sagte Danny.

»Muß das sein?« fragte Fee.

»Ist doch Eishockey«, sagte Dan­ny. »Papi will das auch sehen.«

»Jetzt ist Frühling, und ich mag nichts mehr von Eis und Schnee wissen«, sagte Fee. »Mir langt es, wenn es gießt.«

So verliefen bei ihnen die Diskussionen und wenn es da auch manchmal gegensätzliche Meinungen gab, lockte zumindest am Nachmittag Lennis guter Kuchen, und der Kaffeetisch wurde im Bauernzimmer gedeckt, wo es keinen Fernseher gab.

Und schließlich war man sich doch einig, daß es schöner war, wenn sie alle spielten.

*

Und welch ein Tag war es heute für Hiltrud Barkow und ihre Kinder gewesen. Am Vormittag war Dr. Forster mit dem Auto gekommen, damit sie schon einige Koffer und Kartons zu seinem Haus bringen konnten. Und dort sollte Platz geschaffen werden, damit der Möbelwagen dann am Dienstag Hiltruds Möbel bringen konnte, die sie eigentlich vorerst auf den Speicher hatte stellen lassen wollen, denn sie hatte ja bis zum gestrigen Tag keine Ahnung gehabt, wo sie diese lassen könnte.

Für sie war ein Wunder geschehen, und für die Kinder geschah eins, als Dr. Forster ihnen ihre zukünftige Schule zeigte, die gerade erst eingeweiht worden war.

»Die ist aber schön«, staunte Klaus.

»Aber Doktors Haus ist noch viel schöner«, wisperte Sabine. »Es ist einfach wunderschön.«

»Ja, wenn es euch so gut gefällt, dann freut es mich«, sagte Dr. Forster leise.

Er kam kaum noch dazu, an früher zu denken. Er war jetzt abgelenkt und beschäftigte sich mit den Kindern, die nun auch erfahren wollten, was ein Kunsthistoriker eigentlich so arbeitete.

Hiltrud konnte indessen feststellen, daß er aus den oberen Räumen alle persönlichen Dinge, die seiner Frau und seiner Tochter gehört hatten, weggeräumt hatte. Sie dachte plötzlich nicht mehr an ihr eigenes Leid, sie empfand heißes Mitgefühl mit diesem Mann, der fast zerbrochen wäre an diesem Schicksalsschlag. Sie hatte die Kinder gehabt, die sie brauchten und die sie auch ablenkten, aber er war ganz allein gewesen.

Überrascht war sie, als er beim Essen sagte, daß die Kinder doch schon die Nacht hier verbringen könnten.

»Dann können Sie alles, was noch anfällt, in Ruhe erledigen«, meinte er. »Die Kinder müssen ja auch von der alten Schule abgemeldet und hier angemeldet werden. Ich würde Ihnen ja gern etwas abnehmen, aber das sähe doch ein wenig komisch aus.«

»Sie bringen mich in Verlegenheit«, sagte Hiltrud. »Sie haben doch sicher auch einiges zu tun.«

»Ich habe noch Urlaub. Eigentlich wollte ich ja ganz aufhören, aber nun sieht alles ja schon wieder ein wenig anders aus.«

Fee Norden hatte das richtige Gespür gehabt. Da halfen sich zwei gegenseitig, und von beiden sollte sie noch viel Dankbarkeit ernten.

*

Für Dr. Christoph Rühl hatte der Sonntag keine Freude gebracht. Man hatte ihm keine Verschnaufpause gegönnt. Ein Motorradunfall, der zum Glück noch glimpflich verlaufen war, hatte ihn schon am frühen Morgen aus der Praxis geholt, dann war ein Junge beim Ausritt vom Pferd gestürzt und hatte sich das Schlüsselbein gebrochen und eine Nierenprellung zugezogen.

So kam Dr. Rühl auch am Sonntag wieder in die Behnisch-Klinik, und bei der Gelegenheit erfuhr er, daß in Donatas Befinden eine leichte Besserung eingetreten sei.

Sein junger Patient wurde ärztlich versorgt, geröntgt und verbunden, und dann konnte er von seinen Eltern mit nach Hause genommen werden. Ein Bett wäre ohnehin nicht mehr frei gewesen, denn es herrschte Hochbetrieb.

In der Praxis wurde Dr. Rühl schon von einem Patienten erwartet, der sich bei der Gartenarbeit verletzt hatte, und als dieser dann auch wieder verbunden und gegen Tetanus gespritzt entlassen werden konnte, kam vom Nebenhaus Dr. Rühls kleine Nichte Nicole herüber. Das wäre für ihn allerdings eine angenehme Unterbrechung gewesen, wenn nicht das Telefon schon wieder geläutet hätte. Da wurde er zu einer werdenden Mutter gerufen.

»Du hast heute noch nichts gegessen, Chrissy«, sagte Nicole be­kümmert. »Hast du gar kein bißchen Zeit? Mami ist so kribbelig.«

»Ich muß gleich wieder weg, Nicki. Tut mir leid, Kleines. Ist Papi nicht da?«

»Ist schon wieder weggefahren«, flüsterte die Kleine bekümmert.

Über die Ehe seiner Schwester machte sich Christoph Rühl nun auch wieder Gedanken, aber die Pflicht rief. »Ich komme nachher rüber, Nicki«, sagte er.

Mit gesenktem Köpfchen ging Nicole wieder zurück. Christoph liebte das Kind, und Nicole liebte ihn. Sie hing mehr an ihm als an ihren Eltern. Er hatte zwar selten Zeit für sie, aber wenn er sie hatte, widmete er sich dem Kind auch ganz, während sie von ihren Eltern immer nur gesagt bekam, ob sie sich nicht allein beschäftigen könne.

Dr. Rühl fuhr zu der werdenden Mutter. Der Geburtstermin sollte zwar erst in vier Wochen sein, aber sie hatte plötzlich starke Schmerzen bekommen. Zuerst hatte sie gedacht, daß sie sich den Magen verdorben hätte, aber dann schienen es doch schon Wehen zu sein.

Dr. Rühl fragte sie, warum man sie nicht gleich in die Leitner-Klinik gebracht hätte.

Sie hatte zu Hause entbinden wollen, bekam er zur Antwort, und der aufgeregte Ehemann schimpfte, daß weder der zuständige Arzt noch die Hebamme zu erreichen wäre.

Dazu wollte sich Dr. Rühl nicht äußern. Er verstand die Erregung, aber schließlich verstand er auch den Kollegen, der mit einer so frühen Geburt nicht hatte rechnen können. Jedenfalls erklärte er, daß es wohl doch besser wäre, wenn man die werdende Mutter in die Klinik brächte, da es ja auch das erste Kind sei.

Und so geschah es dann, daß er auch mit der Leitner-Klinik und deren Chefarzt Dr. Hans-Georg Leitner bekannt wurde. Dann stellte sich heraus, daß es höchste Zeit für einen Eingriff war, da das Kind jetzt nur noch schwache Herztöne hatte. Das war die Sonntagsüberraschung, von denen man in den Kliniken nicht verschont blieb.

Und nun konnte man wieder einmal darüber diskutieren, was nun besser sei, Klinik oder Hausgeburt. Dr. Leitner gehörte nicht zu den Gegnern einer solchen, aber die Fürsorge und Vorsorge mußte auch bei einer Hausgeburt gewährleistet sein. Wenn bei dieser Geburt noch etwas schiefgegangen wäre, hätte er den Ärger gehabt, das wußte er. Und auch er konnte dem Kollegen, der die junge Mutter bisher betreut hatte, keinen Vorwurf machen, daß er an diesem Sonntag eben nicht zu erreichen war. Er war nur froh, daß es nicht seinen Freund Daniel Norden traf.

Jedenfalls war das Kind gerettet, und der Mutter ging es auch bald wieder gut. Nur der Vater war enttäuscht, daß es ein Mädchen war. Über manche Menschen konnte sich auch Dr. Leitner nur wundern.

»Es wäre auch kein Junge geworden, wenn das Kind erst in vier Wochen geboren worden wäre«, meinte er anzüglich. Das konnte er sich nicht verkneifen, da er doch Freude und Erleichterung erwartet hatte, daß es noch gutgegangen war.

Es war später Nachmittag, als Dr. Rühl endlich Zeit fand, sich um seine Schwester und seine kleine Nichte zu kümmern. Er fand Jutta in Tränen aufgelöst vor, die kleine Nicole total verschüchtert.

»Zu jedem rennst du«, wurde er von Jutta sogleich mit Vorwurf bedacht, »aber ich kann sehen, wie ich allein fertig werde.«

»Wo ist Frieda?« fragte er.

»Sie hat ihren freien Tag. Bernd hatte ja gesagt, daß er zu Hause bleibt, aber dann ist er doch wieder weggefahren.«

»Wohin?« fragte Dr. Rühl.

»Ich weiß es nicht.« Zorn brannte in Jutta Kampens Augen. »Was soll er auch mit einer kranken Frau.«

»Jutta«, sagte Christoph mahnend mit einem Blick auf das Kind.

»Geh in dein Zimmer«, fuhr Jutta die Kleine an.

Nicole verschwand wortlos.

»Findest du das richtig?« fragte Christoph seine Schwester.

»Findest du es richtig, wie man mit mir umspringt?«

»Ich kann doch meine Praxis nicht an den Nagel hängen und nur für dich da sein«, sagte er ruhig. »Ich muß Geld verdienen, Jutta.«

»Und mein Mann gibt unser Geld mit vollen Händen aus«, stieß sie hervor.

»Du bist ungerecht. Es tut mir leid, daß ich das sagen muß, aber Bernd hat auch seine Sorgen. Es geht nicht immer alles so, wie man es sich vorstellt. Sei doch endlich vernünftig, Jutta. Du kannst jetzt operiert werden. Es ist wirklich nicht so schlimm, wie du es dir vorstellst.«

»Das sagst du. Und wenn ich noch restlos verpfuscht werde?« Sie brach in Tränen aus. Tröstend streichelte er ihren Rücken. Sie tat ihm unendlich leid. Schuldlos war auch sie in diese Situation gebracht worden.

»Deinetwegen habe ich mich doch auf die Orthopädie spezialisiert und dich für eine Operation bestens vorbereitet, Jutta«, sagte er mit ernstem Nachdruck. »Ich würde dir nicht zureden, wenn ich Bedenken hätte. Aber wir sind heute in der Knochenchirurgie soweit, daß man schwierige Korrekturen vornehmen kann.«

Sie schlug die Hände vor ihr Gesicht. »Mir ist jetzt alles egal. Macht mit mir doch, was ihr wollt. Bernd wird mich sowieso verlassen.«

»Rede nicht solchen Unsinn.«

»Frag ihn doch«, sagte sie tonlos.

»Das werde ich auch tun«, erwiderte er. »Jetzt bekommst du eine Spritze, dann schläfst du.«

»Gib mir doch eine, daß ich gar nicht mehr aufwache«, murmelte sie. »Ich will so nicht leben. Ich bin jung, ich will nicht an Krücken gehen. Dem Kerl, der mir das angetan hat, ist nichts passiert.«

Sie schluchzte, dann ging das Schluchzen in Wimmern über, als er ihr die Injektion verabreicht hatte, aber schließlich schlief sie ein.

Er betrachtete sie. Seine schöne Schwester, was war davon geblieben. Ihm tat das Herz weh. Er hatte sich so bemüht, ihr zu helfen. Hatte Bernd versagt?

Konnte man es versagen nennen, wenn ein Mann Anfang Dreißig, der einen verantwortungsvollen Beruf als Tiefbauingenieur hatte, und nicht nur hinter dem Schreibtisch sitzen konnte, Zukunftsangst bekam?

Tief in Gedanken versunken, ging Christoph zum Kinderzimmer. Dort saß Nicole am Boden und hielt eine Puppe und ihren Teddy in den Armen. Tränen rollten über das kleine Gesicht.

»Nicht weinen, Nicki«, sagte Christoph rauh.

»Mami hat Papi doch weggeschickt«, schluchzte das Kind. »Sie hat gesagt, daß er nicht mehr wiederkommen braucht. Sie will ihn nicht mehr sehen.«

»Mami ist krank, Nicki. Es ist so ein verflixter Tag.«

»Es sind immer verflixte Tage«, flüsterte die Kleine. »Wenn Papi nun wirklich nicht mehr wiederkommt? Und wenn Frieda nun auch wegbleibt, weil Mami nie mehr freundlich ist?«

Was kann ich nur tun, dachte der geplagte Dr. Rühl. Aber da hörte er, wie die Haustür aufgeschlossen wurde.

»Der Papi kommt«, sagte er leise zu Nicole. »Ich werde jetzt mal mit ihm sprechen. Spiel mit deinen Puppen, Kleines.«

»Kommst du dann noch mal, Chrissy?« fragte sie. »Dich habe ich doch am allerliebsten.«

Momentan dachte er noch nicht daran, daß dies auch die Konflikte vertiefen könnte. Das wurde ihm erst bewußt, als er dann mit seinem Schwager Bernd Kampen sprach.

*

Sie saßen sich gegenüber. Bernd war ein interessanter Mann, ein Frauentyp!

Christoph erinnerte sich noch gut daran, wie alle, die an der Hochzeit teilgenommen hatten, sagten, was dies für ein attraktives Brautpaar sei. Ja, da war Jutta eine strahlend schöne junge Frau gewesen.

»Mach mir jetzt bloß keine Vorwürfe, Chris«, sagte Bernd rauh. »Wenn du gehört hättest, was Jutta mir alles vorgeworfen hat, würdest du verstehen, daß ich es nicht ausgehalten habe. Ich habe wahrhaft andere Sorgen, als mich mit leichtsinnigen Weibern zu amüsieren.«

»Jutta ist überreizt. Sie kommt sich überflüssig vor«, sagte Christoph. »Du mußt das verstehen, Bernd.«

»Mein Gott, es geht doch vielen Menschen so, und die meisten haben auch noch finanzielle Sorgen. Jutta kann sich nicht damit abfinden, daß sie nicht mehr überall Mittelpunkt ist. Meinst du, es läßt mich kalt, daß sie so leiden muß? Aber wie lange redest du ihr nun schon zu, sich doch operieren zu lassen.«

»Sie hat Angst davor.«

»Sie hat zu nichts und niemandem Vertrauen, auch zu dir nicht. Für Nicole kommst du gleich nach dem lieben Gott. Mein Kind hat dich lieber als mich. Glaubst du, das mir das gefällt? Ich habe auch meine Probleme. Es war einfach alles zu schön, um wahr zu sein. Man denkt, daß es immer so bleiben müßte, eines Tages ist alles kaputt.«

»Jutta konnte nichts dafür«, sagte Christoph.

»Ich hätte diesen Kerl umbringen sollen«, stieß Bernd hervor. »Dann hätte ich wenigstens die Genugtuung, daß ich meine Frau gerächt habe.«

»Und was hätten Jutta und Ni­cole davon? Behalt du doch wenigstens deinen Verstand, Bernd. Ich weiß, wie schwer es für dich ist, aber wenn du jetzt wirklich gehst, zerbricht sie.«

»Bin ich nicht wieder da? Ich bin herumgerannt und habe nachgedacht. Sie muß sich operieren lassen, Chris. Und dann schicken wir sie auf die Insel der Hoffnung. Ich war heute im Jagdschlössel, und die Hoflechners haben mir von dem Sanatorium erzählt. Dr. Norden war mit seiner Familie dort. Eine Traumfamilie, wie ich mir eine gewünscht habe, Chris. Du kennst Dr. Norden?«

»Als Kollegen, und seine Frau lernte ich neulich anläßlich eines auch schrecklichen Unfalls kennen, der ein junges Mädchen vielleicht in eine ähnliche Situation wie Jutta bringt. Sie wurde von einem Betrunkenen die Rolltreppe im Bahnhof heruntergestoßen.«

»So wie diese Frau Norden könnte Jutta heute sein, wenn dieser Unfall nicht gewesen wäre. Wir hätten dann auch nicht nur ein Kind, und Nicki würde nicht nur nach ihrem Chrissy jammern.«

»Du wirst doch nicht eifersüchtig sein«, sagte Christoph erschrocken.

»Was denkst du denn? Wenn ich nach Hause komme, muß ich mich ganz Jutta widmen. Für das Kind bleibt doch keine Zeit, aber wie soll Nicki das begreifen. Ich wollte heute so gern ein bißchen mit ihr spielen, aber da ist Jutta durchgedreht. Ich kann doch auch nichts dafür, daß es gerade zu regnen anfing, als ich sie ins Auto setzen und mit ihr und Nicki ein bißchen herumfahren wollte. Unter Menschen will sie nicht gehen, aber was soll ich mit ihr reden, wenn sie immer wieder mit diesen versteckten Vorwürfen anfängt. Ich schwöre dir, es gibt keine andere Frau. Mir steht gar nicht der Sinn danach. Ich wäre einfach zu müde, um Abenteuern nachzujagen. Wir müssen im Geschäft jetzt genug um jeden Auftrag kämpfen. Wenn Jutta doch auch dafür ein bißchen Interesse hätte, nur ein bißchen. Sag du mir, wie es weitergehen soll, wenn sie sich nicht operieren läßt. Im Herbst kommt Nicki in die Schule. Sie möchte doch auch mit andern Kindern zusammensein, aber Jutta duldet es nicht.«

»Ich verstehe dich ja, Bernd«, sagte Christoph, »aber vielleicht läßt sich Jutta nun doch operieren. Sie hat gesagt, daß wir mit ihr machen könnten, was wir wollten. Aber sie muß eine positivere Einstellung gewinnen. Sie muß mithelfen.«

»Auf mich hört sie nicht«, sagte Bernd deprimiert. »Und ich mag ihr gar nicht mit der Insel der Hoffnung kommen.«

»Dann werde ich Dr. Norden hinzuziehen, ihn bitten, sich einmal mit ihr zu befassen. Vielleicht ist es nicht gut, wenn nur der Bruder Ratschläge gibt und sich bemüht. Geh jetzt zu Nicki. Ich sage ihr noch gute Nacht. Wahrscheinlich werde ich heute noch mal gebraucht. Es war ein turbulenter Tag.«

»Woher nimmst du nur diese Ausgeglichenheit, Chris?« fragte Bernd.

»Das bringt wohl der Beruf mit sich. Man sieht so viel Elend. Jutta ist sehr depressiv eingestellt. Sei nachsichtig mit ihr, Bernd, ich bitte dich darum. Vielleicht kommt ein Föhneinbruch.«

»Es ist Vollmond, da ist es bei ihr immer besonders schlimm«, sagte Bernd.

»Daran habe ich nicht gedacht.«

Bernd seufzte. »Ich möchte ja alles richtig machen, Chris, aber gerade dann macht man wohl manches falsch.«

Nicki blickte ihnen erwartungsvoll entgegen. »Papi spielt mit dir, Nicki«, sagte Christoph. »Ich muß mich um meine Patienten kümmern.«

»Muß ich nicht gleich ins Bett?« fragte das Kind.

»Nein, jetzt machen wir uns erst mal was zu essen«, erklärte Bernd. »Du hast doch sicher Hunger.«

»Jetzt schon. Chris hat nicht mal Zeit, was zu essen. Ist Frieda wieder da?«

Und da kam auch sie gerade. Es kehrte auch in diesem Hause wieder Ruhe ein.

*

Hortense Bucher hatte bei Donata ausgeharrt. Auf jeden Atemzug hatte sie gelauscht. Und endlich erlebte auch sie, daß Donata die Augen aufschlug.

Verwundert, als träume sie, blickte sie das schmale faltige Gesicht an.

»Frau Bucher«, murmelte sie.

Die alte Dame griff nach ihren Händen. »Ich habe mir so sehr gewünscht, daß du mal Tante Hortense zu mir sagst, Donata«, flüsterte sie. »Darf ich dich darum bitten?«

Donata sah sie fragend an. »Sind wir verwandt? Fee Norden hat so was gesagt. Ich weiß nicht, ob es stimmt oder ob ich es nur geträumt habe.«

»Ich bin die Schwester deiner Groß­mutter«, sagte Frau Bucher.

»Aber ich hatte keine Großmutter. Ich habe keine gekannt.«

»Nein, du hast sie nicht gekannt, und mir ist bewußt geworden, daß ich dir alles hätte sagen müssen, als du zu mir kamst, Donata. Aber ich hatte Angst, daß du dann gleich wieder gehen würdest, und auch ein wenig fürchtete ich, daß du so sein könntest wie Cordula, wie meine Schwester.«

Sie versank in Schweigen. Und wie war ich, dachte sie. Will ich mich weiter selbst täuschen und Donata belügen, auch sie? Muß ich nicht endlich zugeben, daß die Fehler auch bei mir lagen?

»Wir werden später einmal über alles sprechen, Donata«, fuhr sie fort. »Du mußt jetzt erst gesund werden. Aber ich möchte dir sagen, daß du bei mir immer ein Zuhause haben wirst. Ich werde alles gutmachen, was an dir versäumt worden ist.«

Und jetzt stelle ich mich schon als Wohltäterin hin, ging es ihr durch den Sinn, dabei war ich nie eine.

Sie konnte nicht so schnell aus ihrer Haut heraus, obwohl es ihr jetzt doch nicht an Selbsterkenntnis mangelte. Aber Selbsterkenntnis war etwas anderes als das Bekennen, und wenn man daran ging, geriet man doch schnell wieder ins Lügen.

Ja, es waren Lügen, mit denen sie sich das Leben selbst vergällt hatte. Lügen, aus der Enttäuschung geboren, daß ihr die heißesten Wünsche nicht erfüllt worden waren.

»Bitte, erzählen Sie doch«, sagte Donata.

Hortense schrak zusammen. »Entschuldige, Kind, aber wenn du Sie sagst zu mir, fällt es mir allzu schwer.«

»Wie soll ich sagen?« fragte Donata.

»Tante Hortense.«

»Dann sage ich Tante Hortense«, flüsterte Donata. »Das Sprechen fällt mir schwer, aber ich höre gern zu.«

»Ich weiß nicht, ob du gern zuhören wirst. Es ist auch schon spät, und du brauchst viel Schlaf, hat Dr. Behnisch gesagt.«

»Du darfst dann nicht böse sein, wenn ich einschlafe, Tante Hortense«, flüsterte Donata.

»Ich werde nicht böse sein, bestimmt nicht.«

Hortense Buchers Gesicht entspannte sich. Und mit leiser Stimme begann sie zu erzählen, doch schon bald merkte sie, daß Donata wieder hinübergeschlummert war. Dr. Behnisch kam herein.

Müde erhob sich die alte Dame. »Es ist spät, ich weiß«, murmelte sie. »Ich werde morgen wiederkommen. Donata war ein paar Minuten wach.« Sie straffte sich. »Ich möchte Ihnen sagen, daß ich die Großtante von Fräulein Sassen bin, damit Sie verstehen, warum ich so besorgt bin. Wie lange wird es noch dauern, bis sie wieder gesund wird?«

»Noch lange, gnädige Frau, aber wir können dankbar sein, daß die Hoffnung auf eine völlige Genesung besteht.«

Hortense Bucher blickte zu Boden. »Es liegt ein Fluch auf unserer Familie«, sagte sie leise. »Es ist schrecklich zu denken, daß dieses junge Menschenkind davon auch nicht verschont bleibt.«

Dann ging sie nach einem kurzen Abschiedsgruß hinaus, und Dr. Behnisch blickte ihr kopfschüttelnd nach, bis seine Frau Jenny aus einem Krankenzimmer kam und ihn am Arm packte.

»Schläfst du schon im Stehen, Dieter?« neckte sie ihn.

»Frau Bucher ist gerade gegangen. Ein bißchen skurril ist die alte Dame schon, Jenny. Sie lebt immer noch in einer anderen Welt.«

»Und du kannst die Menschen nicht ändern, Dieter. Wir können sie operieren und von manchem Übel befreien, aber umkrempeln können wir sie nicht, da die Seele nicht operabel ist.«

»Sie ist die Großtante von Donata, das hat sie mir gesagt.«

»Fee hat das schon angedeutet, aber selbst Fee ist bisher nicht aus Frau Bucher klug geworden, und wir wissen auch, daß manche Menschen sich etwas einbilden, wovon sie dann tatsächlich überzeugt sind.«

Dieter schüttelte den Kopf. »Sie hat ihre fünf Sinne beisammen, Jenny. Sie trägt nur etwas mit sich herum, mit dem sie immer noch nicht fertig geworden ist.«

Fee Norden sollte die Erste sein, die die ganze Wahrheit von Hortense Bucher erfuhr, und Fee zweifelte nicht daran, daß dies die ungeschminkte Wahrheit war.

Fee hatte die Kinder zur Gymnastikstunde gebracht und war dann zu Frau Bucher gefahren. Es erwartete sie schon ein Tisch, der mit kostbarem Porzellan auf ebenso kostbarer Spitzendecke, mit funkelnden Silberleuchtern und ebensolchem Besteck gedeckt war.

»Das Erbe der Grafen Saalegg«, sagte Hortense Bucher sarkastisch. »Ich habe es herausgeholt, damit mir der Anfang leicht gemacht wird, da es ein bitterer Beginn einer Beichte ist. Eines Tages wird Donata alles bekommen, und dann kann sie damit machen, was sie will.«

Fee war sich da noch im Zweifel, was sie von solchen Worten halten sollte. Angabe? Nein, das gewiß nicht. Das verrieten die nächsten Worte.

»Hermann Friedrich Bucher hat alles aufgekauft, was von dem Grafengeschlecht der Saaleggs übriggeblieben ist«, fuhr die alte Dame fort, »auch mich. Mir blieb auch nichts anderes übrig«, fügte sie dann bitter hinzu. »Aber setzen wir uns, liebe Frau Norden. Der Tee ist gut. Darauf habe ich immer Wert gelegt. Das Gebäck ist hoffentlich auch genießbar. Aufs Backen habe ich mich nie verstanden.«

Ihre Stimme klang monoton, wie einstudiert, aber Fee hatte es im Gefühl, daß es Hortense Bucher trotz aller Vorbereitung auf diese Stunde doch nicht leicht fiel, ihre Lebensgeschichte zu erzählen.

Und dann hörte sie diese!

»Lustig lebte der Graf Saalegg nach dem frühen Tode seiner ungeliebten Frau in den Tag hinein. Sie hatte ihm ja nur zwei Töchter geboren und keinen Erben. Liebesheiraten hat es bei den Saaleggs übrigens nie gegeben. Es wurde bestimmt, wen man zu heiraten hatte, und mir war ein Baron zugedacht, dessen Name jetzt keine Rolle mehr spielt. Aber ich verliebte mich in einen Bürgerlichen, in Dietrich Sassen.«

Fee blickte bestürzt auf. »Ja, das ist die Wahrheit, Sie haben richtig gehört. Aber Dietrich wußte, daß mein Vater diese Heirat nie billigen würde, da ich ja jenem Baron versprochen war, und so ließ er sich von Cordula, meiner jüngeren Schwester, einfangen, die ihren Triumph auskostete, mir ein Schnippchen geschlagen zu haben. Sie brannte mit Diet­rich durch, was meinen Vater sehr erzürnte, und dann wollte es das Schicksal, daß jener Baron vom Pferd stürzte und sich das Genick brach, kurz vor der Hochzeit. Für meinen Vater war das ein großer Schmerz und ein schwerer Schlag, denn um die Finanzen der Saaleggs war es da schon nicht mehr gut bestellt. Doch ein gewisser Fabrikant Bucher, bürgerlicher Herkunft und sehr reich, dabei zwanzig Jahre älter als ich, erschien als rettender Engel.«

Es ging Fee unter die Haut, wie spöttisch Hortense dies alles erzählte, manchmal sogar höhnisch. Aber dann wurde ihre Stimme ganz leise.

»Ich brachte einen Sohn zur Welt, klammerte mich an dieses Kind, und dann stellte sich heraus, daß er gehirngeschädigt war. Er starb, bevor es bekannt wurde. Und Herr Bucher starb zwei Jahre später auch. Er ließ mich als reiche Witwe zurück. Und da erweckte ich das erneute Interesse meines Schwagers, der vergebens gehofft hatte, daß etwas aus dem Erbe der Saaleggs auch Cordula zufallen würde. Aber ich machte ihm klar, daß mein Ehemann den Besitz erworben hatte und alles mir gehörte. Damals war ich dreißig Jahre alt, Frau Norden, und mein Herz war kalt, eiskalt. Auch die Bitte meiner Schwester, sie zu unterstützen, erhörte ich nicht. Ich erklärte mich lediglich bereit, ihrem Sohn eine angemessene Erziehung und Ausbildung zu ermöglichen. Aber Hasso wurde wie sein Vater. Er blendete die Frauen, er fand eine reiche Fabrikantentochter. Das waren Donatas Eltern. Elvira ließ sich scheiden, Hasso verschwand und ließ nichts mehr von sich hören. Cordula und Dietrich waren bereits begraben. Donata lernte ein richtiges Elternhaus nicht kennen. Ihre Mutter heiratete einen reichen Perser und kam mit diesem um. Die beiden Kinder aus dieser Ehe blieben bei den Eltern des Mannes und erbten das Vermögen. Für Donata blieb nichts. Und das wurde mir mitgeteilt. Da war ein junger Mensch, der genauso um jedes Gefühl betrogen worden war, so wie ich auch, und ich wollte Donata helfen, aber in mir waren doch die Zweifel, ob sie solcher Hilfe würdig sein würde. Ja, so dachte ich damals, im Wohlstand fast erstickend und so unendlich einsam, ohne Freunde. Ein Leben lang einsam und verbittert. Ich habe nie jemandem etwas geschenkt, nie einem anderen Menschen geholfen. Ich habe immer nur gedacht, was mir angetan worden ist. Und erst dieses Unglück mit Donata mußte geschehen, um mir die Augen zu öffnen, um zu sehen, wie selbstlos und selbstverständlich Sie halfen. Nun haben Sie meine Beichte, und ich würde es Ihnen nicht verübeln, wenn Sie jetzt aufstehen und gehen würden, weil Sie mich doch nicht begreifen können.«

»Ich gehe nicht«, sagte Fee leise urid griff nach der schmalen Hand der alten Dame. »Sie haben sich doch selbst genug gestraft, Frau Bucher. Mir kommt jetzt ein Gedicht von Rilke in den Sinn.«

»Sie lieben Rilke?« fragte die alte Dame verhalten. »Er paßt doch gar nicht mehr in diese Zeit.«

»Manches paßt in jede Zeit«, sagte Fee nachdenklich. »Und man kann alles mitnehmen aus der Vergangenheit in die Zukunft, was gut ist.«

»Ich habe manchmal Trost bei Goethe gesucht«, sagte Frau Bucher, »und dann auch in der Kirche, aber nun haben Sie ja erfahren, wie tief verwurzelt Zweifel und Groll in mir sind.« Sie blickte auf. »Welches Gedicht meinen Sie?« fragte sie dann.

»Der Himmel, groß, voll herrlicher Verheißung,

ein Vorrat Raum, ein Übermaß von Welt.

Und wir, zu ferne für die Sinngestaltung,

zu nahe für die Abkehr hingestellt.

Da fällt ein Stern! Und unser Wunsch an ihn,

bestürzten Aufblicks, dringend angeschlossen:

Was ist begonnen, und was ist verflossen?

Was ist verschuldet? Und was ist verziehn?«

Ganz in Gedanken versunken hatte Fee rezitiert, und nach ein paar Sekunden tiefen Schweigens vernahm sie ein haltloses, erschütterndes Weinen, doch es waren wohl die Minuten, in denen Hortense Bucher sich das von der Seele weinte, was sie niedergedrückt hatte.

»Wird, kann Donata verzeihen?« fragte sie dann bebend.

»Warum wollen Sie zweifeln? Sie haben Donatas Schicksal doch nicht verschuldet, Frau Bucher«, sagte Fee. »Aber Sie können nicht alles damit gutmachen, indem Sie Donata ein reiches Erbe hinterlassen. Sie müssen ihr Liebe schenken, viel Liebe, die sie bisher vermissen mußte. Und obgleich sie diese vermissen mußte, wurde sie ein liebenswerter junger Mensch.«

Frau Bucher ergriff Fees Hände, und ihre Tränen fielen darauf. »Ich danke Ihnen, oh, ich danke Ihnen so sehr, liebe Frau Norden«, flüsterte sie.

Du arme Seele, dachte Fee, als sie ging, nun wirst du hoffentlich Frieden finden.

*

Dies war aber auch der Tag, an dem Hiltrud Barkow nun mit Sack und Pack Einzug in Dr. Forsters Haus hielt.

Er hatte es mit unerwarteter ­Energie fertiggebracht, daß Platz für Hiltruds Möbel geschaffen worden war. Romys hübsches Wohnzimmer war davon nicht betroffen. Es war ein rührender Vertrauensbeweis von ihm, daß er Hiltrud sagte, sie möge es so übernehmen und gern haben. Und er hatte auch angeordnet, daß das Gästezimmer für Klaus eingerichtet wurde. Jedes der Kinder solle sein eigenes Reich haben.

Und obgleich sie nun noch zwischen Kisten und Koffern saßen, waren sie glücklich. Die Kinder schmiegten sich in Hiltruds Arme und sagten, wie lieb der Onkel Herbert sei.

»Er hat nämlich gesagt, daß wir Onkel Herbert sagen dürfen, Mami, und den Leuten sagt er, daß wir Verwandte sind. Dann gibt es gar kein Gerede.«

Hiltrud hielt nun doch den Atem an. »Und ihr seid einverstanden?« fragte sie.

»Wo er doch so nett zu uns ist«, meinte Klaus.

»Sie haben hoffentlich nichts dagegen, Frau Barkow«, ertönte da Dr. Forsters Stimme. »Darf ich mir erlauben, die ganze Gesellschaft zu einem kleinen Einstandsessen einzuladen. Da ich nicht kochen kann, habe ich es kommen lassen, und es soll doch nicht kalt werden.«

»Sie sind wirklich zu gütig, Herr Dr. Forster«, stammelte Hiltrud.

»Ich bin nicht mehr allein«, erwiderte er leise. »Kinder können sehr schnell Brücken schlagen. Ich freue mich, daß mich Klaus und Binchen gern haben.«

Und dann saßen sie am wohlgedeckten Tisch. »Reichen wir uns die Hände«, sagte Dr. Forster bewegt. »Herzlich willkommen, meine ­Adoptivfamilie.«

Seine Augen waren feucht, und Hiltruds Augen wurden auch feucht, aber die der Kinder strahlten.

»Es ist wie Weihnachten«, sagte Sabine.

»Nur der Christbaum fehlt«, sagte Klaus.

»Jetzt kommt erst mal der Sommer«, sagte Dr. Forster. »Aber es wird auch wieder ein Christbaum in diesem Haus stehen.«

Und da fehlte eigentlich nur das Amen, denn es klang wie ein Dankgebet.

*

Dann reihten sich die Tage aneinander. Und endlich war auch Jutta Kampen bereit, in die Operation einzuwilligen. Mit Dr. Nordens Hilfe war es gelungen.

Er hatte ihr anhand von Beweisen eindringlich erklärt, wie auch Schwerverletzte wieder in den Vollbesitz ihrer körperlichen Kräfte gebracht worden waren, wenn sie die nötige Geduld und auch den Mut dafür aufbrachten. Und er hatte ihr auch gesagt, wie mutig nun schon Donata in die Zukunft blickte.

Oft wurde Donata von Fee besucht, aber jeden Tag von Hortense Bucher. Und von ihr hatte Donata alles genauso erfahren wie Fee zuvor. Und wiederum war es Fee gewesen, die Donata dann gesagt hatte, daß die Tante Hortense auch Hilfe brauche und viel Verständnis.

»Warum hat sie mir das nicht alles gleich gesagt?« fragte Donata. »Es wäre für uns doch viel einfacher gewesen, den Weg zueinander zu finden. Nun mußte sie sich auch noch meinetwegen Sorgen machen.«

»Das mußte wohl auch sein, um den Panzer zu sprengen, in den sie sich hineingezwängt hatte, Donata«, sagte Fee.

Donatas Gesicht überschattete sich. »Es ist gut, wenn man ein paar Menschen ganz vertrauen kann, bevor einem Zweifel an der Menschheit kommen«, sagte sie leise. »Insofern bin ich wohl besser dran als Tante Hortense.«

»Zweifel an der Menschheit?« wiederholte Fee bestürzt.

»Ich mache mir meine Gedanken, nicht nur über meine Herkunft. Auch dieses Geschehen hat mich verändert, jener Tag hinterläßt Spuren, auch wenn die Wunden heilen sollten.«

»Sie werden heilen, Donata«, sagte Fee eindringlich.

»Sagte ich Ihnen schon, daß ich die Stellung nicht bekommen habe? Oh, ich hätte sie schon bekommen, wenn ich nett zu diesem Mann gewesen wäre. Was bilden sich diese Männer eigentlich ein? Wie er mich abschätzend gemustert hat, es war widerwärtig.« Ein bitteres Lächeln umspielte ihre Lippen. »Wenn mir jetzt ein paar Narben im Gesicht bleiben, werde ich das hoffentlich nicht mehr zu fürchten haben.«

Nun war Fee zutiefst erschrocken. »Wir wollen nicht, daß Narben bleiben, Donata«, sagte sie.

»Es wäre vielleicht besser. Man wird dann mehr nach der Leistung beurteilt und in Ruhe gelassen.«

»Es sind doch nicht alle Männer gleich, Donata.«

»Ich sagte ja schon, daß es gut ist, wenn man ein paar Menschen kennt, denen man voll vertraut, bevor man einen Schock bekommt. Ich bin Tante Hortense wohl ähnlich. Für sie muß es ein schrecklicher Schock gewesen sein, von dem Mann, dem sie ihre Liebe schenkte, enttäuscht und von ihrer eigenen Schwester hintergangen zu sein. Und diese Schwester war meine Großmutter. Ich habe mir nie Gedanken über meine Vorfahren gemacht. Sie verstehen das vielleicht nicht, aber ich habe mich in den Heimen, in denen ich war, wohl gefühlt. Ich war kein Einzelfall, und aus meiner kindlichen Sicht auch kein Einzelkind. Wir wurden alle gleich behandelt, und den anderen erging es ja ebenso wie mir. Ja, ich hatte tatsächlich manchmal nur Angst, daß mich jemand da herausholen würde. Ab und zu besuchte mich meine Mutter und brachte mir Geschenke. Ich sagte immer gleich, wenn sie kam, daß sie mich nicht mitnehmen solle.« Jetzt lächelte Donata flüchtig. »Vielleicht war sie deswegen dann besonders nett zu mir. Und als mir dann gesagt wurde, daß sie mit ihrem Mann umgekommen sei und ihre Kinder bei den Großeltern in dem fremden Land bleiben würden, war ich schon so erwachsen, daß es mir Genugtuung bereitete, nun ganz allein über mein Leben bestimmen zu können. Eigentlich war es gut, daß Tante Hortense sich nicht als meine Großtante zu erkennen gab. Ich muß ihr dafür dankbar sein. Freilich bin ich ihr auch dankbar für das, was sie finanziell für mich getan hat. Mir behagt es nur nicht, daß sie davon spricht, daß ich alles bekommen werde, wenn sie nicht mehr lebt. Ein Haus voller Erinnerungen, aus denen sie sich nicht lösen konnte und auch nicht lösen wollte.«

»Wollen Sie nicht bei ihr bleiben, Donata?« fragte Fee.

»Doch, sie tut mir leid«, erwiderte Donata. »Sie ist so reich und doch so arm.«

Wie recht sie hat, dachte Fee. Und Donata selbst, dieses Mädchen, das nie wahre Mutterliebe kennengelernt, nie ein richtiges Elternhaus gehabt hatte, beklagte sich nicht darüber. Sie war zudem die geduldigste Patientin, die es nach Jenny Behnischs Worten je in dieser Klinik gegeben hatte.

*

Jutta Kampen war nicht geduldig, aber sie überraschte die Ärzte in der Spezialklinik ebenso wie ihren Bruder und auch Dr. Norden mit jäh erwachter Energie.

Nachdem die erste Operation geglückt war und sie diese verblüffend gut überstanden hatte, bestand sie darauf, daß auch die zweite Operation baldmöglichst stattfinden sollte.

»Du solltest dich erst ein paar Wochen erholen, Jutta«, sagte Christoph.

»Zu Hause kann ich mich nicht erholen«, erklärte sie eigensinnig. »Ich will möglichst bald operiert werden, und dann will ich mich auf der Insel der Hoffnung erholen.«

Daniel Norden ahnte noch nicht, was er angerichtet hatte, als er Jutta zur Aufmunterung und auch zum Trost die Chronik der Insel der Hoffnung gegeben hatte, in der auch verzeichnet war, wie heilend dort eine wunderbare Quelle war.

Jutta war fasziniert davon, aber ebenso auch von Dr. Norden selbst.

Wenn er sie besuchte, und das tat er auch Christoph Rühl zuliebe zweimal in der Woche, lebte sie auf. Da leuchteten ihre Augen. Da war sie nahezu euphorisch, und dabei war er anfangs durchaus nicht sanft mit ihr umgesprungen. Aber vielleicht brauchte sie das mehr als das Mitgefühl, das man ihr so lange entgegengebracht hatte.

»Chris kann noch sehr viel von Ihnen lernen, Dr. Norden«, erklärte sie, als er sie zwei Tage vor der zweiten Operation besuchte. Es war ein Montag. Den Mittwoch hatte man für diese Operation ausgesucht, weil es statistisch nachweisbar war, daß es die wenigsten Komplikationen bei den Patienten gab, die an einem Mittwoch operiert wurden. Warum das so war, ließ sich angeblich nicht erklären, doch Dr. Norden hatte dafür eine sehr plausible Erklärung.

Die Wochenendstimmungen waren bei den Ärzten, bei den Schwestern und auch bei den Patienten abgeklungen und bis zum nächsten Wochenende waren noch einige Tage, in denen die Kranken im gleichen Turnus von den gleichen Ärzten und Schwestern betreut wurden. Jedenfalls war das mit kleinen Ausnahmen so, also ein schönes Gleichmaß, auf das man sich einspielte. Und dieses Gleichmaß hatte auch bei der launischen Jutta positive Auswirkungen gezeigt.

»Ich freue mich so auf die Insel der Hoffnung«, sagte Jutta, als sich Dr. Norden an diesem Tag verabschiedete. »Werden Sie auch ab und zu dort sein?«

»Wenn ich es möglich machen kann«, erwiderte er.

»Aber wir kommen dann mit Kind und Kegel.«

»Es könnte bei uns auch so sein«, sagte sie, »wenn mir das nicht passiert wäre, hätten wir auch nicht nur ein Kind. Und Nicki mag gar nichts mehr von mir wissen.«

»Das dürfen Sie nicht denken. Sie können Nicki doch mitnehmen zur Insel.«

»Du lieber Gott, wenn sie Chris nicht sieht, geht sie ein. Können Sie mir erklären, warum sie so an ihm hängt?«

»Er hat sich wahrscheinlich sehr viel um sie gekümmert, als Sie das nicht konnten, Frau Kampen. Da war das Kind in einer Entwicklungsphase, in der es eine Bezugsperson brauchte. Ihr Mann war gleichermaßen mit der Sorge um Sie und seinem Beruf beansprucht, und soviel mir bekannt ist, hatte der Kollege Rühl da noch keine eigene Praxis.«

»Aber jetzt hat er eine und auch weniger Zeit für Nicki, und trotzdem hängt sie an ihm. Er hat ja auch viel Geduld, die ich eben nicht aufbrachte, als es mir so schlecht ging«, gestand sie ein. »Seltsam, daß mir das jetzt erst bewußt wird. Wird es wieder so wie früher werden, Dr. Norden?«

»Das liegt ganz bei Ihnen, Frau Kampen«, erwiderte er ernst.

»Wenn ich die Krücken in die Ecke stellen kann«, sagte sie. »Ich sehne den Tag herbei.«

»Jetzt müssen Sie aber noch einige Wochen Geduld haben.«

»Glaub nur, du hast viel getan, gewöhnest du Geduld dir an«, sagte sie mit einem flüchtigen Lächeln. »So predigt Chris. Sie haben gesagt, daß ich mich zusammenreißen soll, und das hat mir besser gefallen. Also reden Sie jetzt nicht auch von Geduld.«

»Na schön, dann reißen Sie sich mal wieder zusammen, Jutta Kampen«, sagte er lächelnd. »Ich wäre schrecklich enttäuscht, wenn Sie dazu nicht auch etwas Geduld aufbringen würden.«

»Wenn ich wieder tanzen kann, werden Sie dann mit mir tanzen?« fragte sie.

»Sehr gern. Was darf es denn sein? Walzer, Tango oder gar Quickstep?«

»Das wäre nicht übel. Sie tanzen bestimmt sehr gut.«

»Ihr Mann doch auch, wie ich meine.«

»Bernd? Du liebe Güte, der hat dafür gar nichts übrig.«

Sie schenkte Dr. Norden einen schwärmerischen Blick.

»Er müßte ein bißchen mehr wie Sie sein.«

Daniel wurde es nun doch ungemütlich. Ich werde mir den guten Kampen einmal vornehmen, dachte er. Irgend etwas scheint er falsch zu machen oder nicht zu begreifen.

Er rief ihn auch gleich an, als er wieder zu Hause war, und er erreichte ihn noch in seinem Büro. Es war immerhin schon fast sieben Uhr.

Bernd Kampens Stimme klang müde, aber als Dr. Norden sein Anliegen vorbrachte, erklärte er sich sofort bereit, noch kurz bei ihm vorbeizukommen.

Diplomatisch machte ihm Dr. Norden klar, was möglicherweise Spannungen zwischen ihm und Jutta hervorrufen könne.

»Sie ist eifersüchtig«, sagte Bernd. »Sie denkt, ich verjubele das Geld mit anderen Frauen, aber ich habe geschäftliche Sorgen, Dr. Norden. Gewaltige Sorgen im Augenblick. Ich muß Leute entlassen, gute Leute, weil sich die Genehmigung für ein Projekt zu lange hinschleppt. Ich kann die Leute nicht mehr bezahlen. Ich bin augenblicklich nicht solvent. Soll ich das Jutta erzählen? Dann verzichtete sie womöglich auf die Operation, und das will ich nicht. Dafür muß Geld dasein.«

»Dafür muß doch die Versicherung aufkommen«, sagte Dr. Norden.

»Sie müßten die Versicherungen doch auch kennen. Sie prozessieren um jeden Euro, und daß solch ein Prozeß dann möglicherweise mehr kosten könnte als die Entschädigung ausmacht, das macht denen wiederum nichts aus. Seit dem Unfall geht das hin und her. Zuerst wollten sie Jutta Mitschuld anhängen, und als das nicht ging, wollten sie Gutachten haben, ob die Verletzungen wirklich so schwer sind.« Er strich sich nervös durch das dichte Haar. »Und weil Christoph der Bruder von Jutta ist, scheinen sie uns jetzt da auch noch Schwierigkeiten machen zu wollen, daß er den Fall schwerer schildert als er ist.«

»Na, das werden wir gleich mal in die Hand nehmen«, sagte Dr. Norden.

»Darum machen Sie sich jetzt mal keine Sorgen. Und wieviel Geld brauchen Sie, um den Engpaß zu überbrücken?«

»An die Hunderttausend.«

»Welche Bankverbindung?«

Bernd Kampen sagte es verwundert. »Ich kann da jetzt nichts erreichen. Wir haben hohe Hypotheken auf den Häusern. Ich wollte Chris doch eine eigene Praxis ermöglichen, und mittlerweile kann er seine Zinsen ja auch schon zahlen. Aber ich kann ihm doch nicht die Pistole auf die Brust setzen und sagen, daß er jetzt uns helfen soll. Und Jutta möchte ich erst recht nicht mit diesen Dingen belasten. Ich weiß ja, daß ich nicht so bin, wie ich sein sollte. Halb bin ich mit meinen Gedanken doch immer beim Beruf, wenn ich mit ihr rede. Und sie ist überempfindlich.«

»Übermorgen wird Ihre Frau operiert. Sie sollten ihr doch noch heute einen Besuch machen, und zeigen Sie ihr ein zuversichtliches Gesicht, Herr Kampen. Sagen Sie ihr, daß Sie Sorgen hatten, aber daß diese nun behoben sind und es weitergehen wird.«

»So was sagt sich auch nicht leicht, wenn es nicht stimmt, Dr. Norden.«

»Ich werde dafür sorgen, daß Sie den Überbrückungskredit bekommen. Ich kann notfalls für Sie bürgen, aber es könnte sein, daß ich jemanden finde, der Ihnen auch ohne Bankkredit hilft. Auf jeden Fall sollen Sie Ihrer Frau mit hoffnungsvoller Miene begegnen.«

»Sie kommen mir jetzt schon fast wie ein guter Weihnachtsmann vor«, sagte Bernd. »Ein sehr junger, der vor allem Frauen sehr gefällt, wie mir scheint.«

»Sie sind doch auch ein Typ, der Frauen gefällt«, konterte Daniel, »und so sollten Sie auch die Eifersucht Ihrer Frau verstehen. Gehen Sie zu ihr, nehmen Sie sie in die Arme, sagen Sie ihr, daß Sie sie lieben, nur sie und daß Sie sich darauf freuen, mit ihr wieder tanzen zu können.«

Bernd sah ihn verblüfft an. »Aber ich konnte noch nie gut tanzen«, sagte er stockend.

»Dann werden Sie es lernen. Wie wäre es, wenn Sie Ihrer Frau versprechen, mit ihr einen Tanzkurs zu machen, wenn sie genesen ist? Sie werden sehen, daß dieses kleine ­Zugeständnis Wunder bewirken kann.«

»Ihr Wort in Gottes Ohr«, sagte Bernd seufzend. »Aber Sie können auch den Trübsinnigsten aufmöbeln. Wenn Sie mir wirklich aus der Klemme helfen könnten, werden Sie es nicht bereuen. Ich bin nicht so einer, der schnell aufgibt. Ich denke jetzt eben nur an meine Leute. Es sind ja meistens auch Familienväter und fleißige Leute. Ein paar haben schon für meinen Vater gearbeitet, und da ist es besonders bitter, wenn sie dann vom Nachfolger gekündigt werden müsssen.«

»Das wird sich schon verhindern lassen«, sagte Daniel. »Ich habe ganz gute Beziehungen. Warum soll man die nicht auch mal nützen, wenn es nicht um eigene Interessen geht. Für andere kann man sich schon unbelasteter einsetzen.«

»Sie sind ein feiner Kerl«, entfuhr es Bernd. »Jetzt verstehe ich, daß Jut­ta so von Ihnen schwärmt. Da könnte ich nämlich auch eifersüchtig werden.«

»Tut sie das?« fragte Daniel hintergründig.

»Und wie. Nicki schwärmt für Chrissy und Jutta für Dr. Norden. Und ich stehe da und gucke dumm aus der Wäsche.«

»Das tun Sie aber nicht, wenn Sie jetzt Ihre Frau besuchen. Ein Strauß Rosen, ein paar zärtliche Küsse und die drei Worte, über die so viele sich mokieren, sie als abgeschmackt bezeichnen, aber sie wirken Wunder. Ich bin immer sehr glücklich, wenn meine Frau ich liebe dich sagt, und ich sage es ihr auch sehr oft. Man muß es natürlich auch so meinen.«

»Ich liebe meine Frau auch, und ich habe mit ihr gelitten, nur hat sie das nicht verstanden.«

»Vielleicht haben Sie zuviel mitgelitten und ihr zu wenig Mut gemacht«, sagte Dr. Norden nachdenklich. »Bei mir hat es gewirkt, daß ich zu ihr sagte, sie solle sich zusammenreißen. Und wenn Sie das sagen und hinzufügen: Ich brauche dich, Jutta, weil ich dich liebe und ohne dich nicht leben kann, werden Sie erleben, wie sie reagiert.«

»Da bin ich aber wirklich gespannt«, sagte Bernd Kampen leise.

»Sie müssen es mir aber sagen«, lächelte Dr. Norden.

»Worauf Sie sich verlasssen können. Aber wo bekomme ich jetzt noch rote Rosen her?«

»Das kann ich Ihnen verraten. Der Gärtner Wiesner hat die schönsten, und da bekommt man auch abends noch welche.«

»Sie scheinen tatsächlich der ideale Mann zu sein«, sagte Bernd bewundernd.

»Ich bin da auch Hausarzt«, sagte Daniel mit einem leisen Lachen. »Sagen Sie, daß ich Sie schicke.«

Das befolgte Bernd, und er wurde bestens bedient. So herrliche frische Rosen bekam man in keinem Geschäft. Als er dann das Krankenzimmer seiner Frau betrat, sah er, wie sie den Atem anhielt, wie ihre Augen sich weiteten. Und was Dr. Norden ihm auch vorgesagt hatte, er sagte es nun mit seinen Worten.

»Jede einzelne soll dir sagen, wie sehr ich dich liebe, Jutta. Es gibt keine andere Frau es wird nie eine andere geben. Ich habe geschäftliche Sorgen gehabt, aber die sind nun überwunden.«

»Warum hast du mir nie darüber was gesagt, Bernd?« fragte sie leise.

»Ich wollte dich damit nicht auch noch belasten.«

»Wie dumm wir doch oft sind«, flüsterte sie. »Aber es wird alles gut werden. Ich habe Mut und Geduld, aber du mußt mir auch alles sagen, was dich bedrückt. Das mußt du mir versprechen.«

*

An dem Mittwoch, an dem Jutta Kampen zum zweiten Mal operiert wurde, durfte Donata zum ersten Mal das Bett verlassen. Das verletzte Bein konnte sie schon lange wieder richtig bewegen, vom anderen war der Glasfiberverband, der viel leichter war als ein Gipsverband, entfernt worden.

Der Bruch war gut verheilt, wie die Röntgenaufnahme gezeigt hatte. Auch die anderen Wunden, die Donata geschlagen worden waren bei dem furchtbaren Sturz, verblaßten schon. Sie hatte gesundes Blut, wie die Ärzte festgestellt hatten, und sie brachte auch die Energie auf, sich auf die Beine zu stellen und ein paar Schritte zu tun. Aber sie war doch noch sehr geschwächt, und als sie sich auf den Rand des Waschbeckens stützte und im Spiegel betrachtete, war es ihr doch, als blicke sie ein fremdes Gesicht an.

Dr. Jenny Behnisch stand hinter ihr.

Riskieren wollten sie nichts, und ein paar Narben, die noch recht unfreundlich aussahen, veränderten das einst so anmutige Gesicht doch ziemlich entscheidend.

Das allerdings schien Donata nicht zu erschrecken. Sie tippte auf eine Narbe, die sich dicht am linken Auge entlangzog.

»Das hätte wirklich leicht ins Auge gehen können«, sagte sie mit einem gezwungenen Lächeln, »aber ich kann sehen, und vor allem der Geist hat nicht gelitten.«

Jenny Behnisch war voller Bewunderung für dieses junge Mädchen, das sich so ohne jede Eitelkeit so kritisch betrachtete und so gelassen sprach. Nie hatte sie gejammert, nie gefragt, wie sie aussähe, und ob etwas zurückbleiben würde. Jetzt machte sie sogar einen zufriedenen Eindruck.

»Wenn ich mich jetzt um eine Stellung bewerbe, wird man jedenfalls nicht sagen, daß ich eigentlich nicht dafür geschaffen sei, den ganzen Tag hinter der Schreibmaschine zu sitzen«, sagte sie spöttisch.

»Etwas anderes denken Sie nicht, Donata?« fragte Jenny nachdenklich.

»Ich habe viel darüber nachgedacht, wie viel die Menschen doch auf Äußerlichkeiten geben. Meistens wird man doch nur danach beurteilt und eingeschätzt. Und eigentlich habe ich früher auch viel zu viel Wert auf Äußerlichkeiten gelegt. Das hat sich nun grundlegend geändert. Und außerdem brauche ich mir ja nicht unbedingt eine Stellung zu suchen, die ausbaufähig ist, da ich bei Tante Hortense wohnen kann. Ich kann mir eine suchen, die mir wirkliche Freude bereitet, wenn ich auch nicht viel verdiene.«

»Und woran denken Sie?«

»An Kinderbetreuung, gleich wo und welcher Art. Kinder sind unbestechlich. Man kann sie gewinnen oder auch nicht, aber man weiß immer, woran man ist.« Sie wandte sich um und sah Jenny mit ihren wunderschönen Augen, die ihren früheren Glanz wiederbekommen hatten, an. »Oder denken Sie, daß ich mich ausschließlich um Tante Hortense kümmern müßte? Das kann ich nicht, Frau Dr. Behnisch. Ich möchte wenigstens das selbst verdienen, was ich an Kleidung und dem üblichen Drum und Dran brauche. Ich bin zu sehr zur Selbständigkeit erzogen worden. Das ist bei Heimkindern wohl der Vorteil. Meistens spricht man ja nur von den Nachteilen. Aber im Heim lernt man frühzeitig, seine Sachen selbst in Ordnung zu halten, und man kann nicht für dieses und jenes Geld erbitten.«

»Es gibt da auch Unterschiede, Donata, bezüglich der Heime und auch der Kinder, die darin aufwachsen. Aber ich kann mich in Sie hineindenken. Ich habe auch kein richtiges Elternhaus gehabt, und ich habe auch manchen Nackenschlag bekommen, bis ich meinen Mann kennenlernte. Soll ich mich mal umhören, ob jemand eine Betreuerin für Kinder sucht?«

»Das wäre sehr nett«, erwiderte Donata.

»Aber jetzt müssen Sie sich erst erholen. Es wird noch eine Zeit dauern. Wenn es mit dem Laufen schon bessergeht, können Sie doch ab und zu die Nordens besuchen. Fee wird sich bestimmt freuen.«

»Aber das sieht auch aufdringlich aus. Sie hat schon soviel Zeit für mich geopfert. Und ihre Kinder sind doch bestens betreut. Ich würde mich lieber um Kinder kümmern, die viel allein sind.«

Über dieses Gespräch berichtete Jenny schon am selben Abend, als sie sich mal für eine kleine Plauderstunde bei den Nordens einfand. Ab und zu brauchte sie auch solche Entspannung.

Die beiden Damen waren allein. Dieter hatte in der Klinik bleiben müssen, Daniel Norden war schon vom Abendessen zu einem dringenden Hausbesuch weggerufen worden. So war das bei den Ärzten.

»Da kommt mir doch eine Idee«, sagte Fee. »Frau Kampen wurde heute zum zweiten Mal operiert. Sie wird ein paar Wochen liegen müssen und will sich dann auf eigenem Wunsch auch noch ein paar Wochen auf der Insel erholen. Die kleine Nicole wäre dann ständig mit der alten Frieda allein. Fürs erste wäre ein Kind doch wahrhaft genug für eine Rekonvalszentin. Und unter ärztlicher Aufsicht wäre sie dann auch. Auf keinen Fall darf sie sich gleich übernehmen, der Meinung bist du doch auch, Jenny?«

»Gewiß, aber ebenso bin ich der Meinung, daß sie bald eine Betätigung braucht, die sie ausfüllt und ihr Freude macht, damit sie nicht so kontaktarm wird wie ihre Tante Hortense. Sie hat diese Veranlagung, Fee. Es hat mich ein wenig erschreckt, wie gleichgültig sie die Narben in ihrem Gesicht betrachtete, wie sie sagte, daß man sie jetzt wohl nicht nach ihrem Äußeren einschätzen würde. Und wir wissen es ja genau, daß es in ihrem Leben noch keine intime Beziehung zu einem Mann gegeben hat.«

Fee lächelte. »Es gibt eben so altmodische Mädchen, Jenny. Ich habe auch dazugehört, aber damit ist nicht gesagt, daß man auch eine alte Jungfer werden muß.«

»Die natürliche Abwehr gegen aufdringliche Männer könnte sich bei Donata aber zu einem Komplex auswirken. Ich habe mir schon Gedanken darüber gemacht. Zuerst hat sie die Stellung nicht bekommen, weil der Chef gleich anzüglich wurde, und dann wurde sie von diesem Trunkenbold die Treppe hinuntergestoßen. In ihren Gedanken hat das schon einen Zusammenhang bekommen.«

»Meinst du nicht, daß du dir darüber mehr Gedanken machst als sie selbst, Jenny?« fragte Fee.

Jenny schüttelte den Kopf. »Sie ist auf Tauchstation gegangen. In ihr ist eine Aggression gegen Männer.«

»Sie ist ohne Vater aufgewachsen, und ihre Mutter hat einen anderen Mann geheiratet«, sagte Fee sinnend. »Ja, das kann gewisse Komplexe erzeugen. Aber ein Fall für den Psychiater ist sie nicht.«

»Das wollte ich damit auch nicht sagen. Sie beweist ja eine recht vernünftige Einstellung, indem sie nicht von Frau Bucher in allem abhängig sein möchte.«

»Das wäre auch wirklich nicht gut. So ganz umdrehen kann sich Frau Bucher auch nicht mehr, und bei dem in ihr verwurzelten Mißtrauen könnte es dann doch dazu kommen, daß sie in Donata eine Schmarotzerin sieht, die sich nun auf ihre Kosten ein schönes Leben machen will.«

»Du bist aber auch sehr skeptisch, Fee«, sagte Jenny erstaunt.

»Ich habe meine Erfahrungen auch schon gesammelt, Jenny. Frau Bucher hatte ein schlechtes Gewissen, und das ist auch ihrem eigenen Unvermögen, sich viele Jahre nicht zu ihren Fehlern bekannt zu haben, zuzuschreiben. Sie ist eine reiche Frau, und irgend jemandem muß sie ja diesen Reichtum hinterlassen, und dabei ist sie keineswegs geneigt, Wildfremde davon profitieren zu lassen.«

»Meinst du wirklich, daß sie so denkt?« fragte Jenny darauf etwas bestürzt.

»So mag sie gedacht haben. Doch, ich glaube, daß ich da richtig liege. Nätürlich wollte sie erst herausfinden, ob Donata würdig ist, einmal das Erbe anzutreten. Sie hat zwar die besten Auskünfte bekommen, aber sie wollte sich doch selbst überzeugen. Daher auch anfangs dieses Versteckspiel. Ja, ich finde es gut, wenn Donata sich nicht in das gemachte Nest setzt. Sie hat einen sicheren Instinkt. Ich kann mich noch genau an die Bemerkung erinnern, die sie über Frau Bucher machte, als wir uns kennenlernten. Ich fragte sie nämlich, wie sie mit Frau Bucher auskäme. Sie sei schwierig, aber schließlich würde sie, Donata, ja keine Herrenbesuche empfangen.«

»Und du denkst, daß Frau Bucher ihr die Hölle heiß machen würde, wenn sie tatsächlich mal einen Mann kennenlernt, der ihr gefällt.«

»Ich könnte mir schon vorstellen, daß sie Donata eine solche Bekanntschaft vermiesen würde. Sie kann ihr ja vorhalten, daß alle Männer auf Geld aus sind. Sie hat selbst diese Erfahrung gemacht. Und deshalb finde ich es gut, wenn Donata ihre Freiheit und sich damit auch ihre Entscheidungsfreiheit wahrt.«

»Ich würde ihr wünschen, daß sie einen anständigen Partner findet«, sagte Jenny. »Es wäre schade, wenn sie allein bliebe. Sie liebt ja Kinder, wie wir nun wissen.«

»Wann wird sie die Klinik verlassen können?«

»Vielleicht schon in einer Woche. Sie hat erstaunliche Fortschritte gemacht und jetzt wird es noch schneller aufwärts gehen.«

»Und ich werde mich morgen bei Dr. Rühl erkundigen, wie die Operation bei seiner Schwester verlaufen ist und dabei mal ganz nebenbei nachfragen, ob sie jemanden für die kleine Nicole brauchen.«

»Du wirst das schon deichseln, Fee«, meinte Jenny lächelnd.

*

Es war eine lange und schwierige Operation bei Jutta gewesen, und Dr. Rühl hatte dabei assistiert. Er kannte sie ja in- und auswendig, und der Chirurg war dafür dankbar. Es wurde Jutta ein künstliches Hüftgelenk eingesetzt und zu Christophs großer Erleichterung ergaben sich dabei keinerlei Komplikationen. An sich war das ja schon für den geübten Chirurgen eine Routineopera­tion, aber in Juttas Fall mußte man bedenken, daß sie schwerste Beckenverletzungen gehabt hatte und das rechte Bein mehrmals gebrochen gewesen war, wodurch dann auch die Verkürzung eingetreten war.

»Sie ist ja ein Leichtgewicht«, sagte der Chirurg Dr. Walden zufrieden. »Es wäre natürlich gut, wenn das auch so bleiben würde.«

»Wollen Sie damit sagen, daß sie möglichst kein Kind mehr bekommen soll?« fragte Christoph beklommen.

»Ihre Schwester hat doch schon ein Kind«, sagte der ältere Kollege erstaunt. »Genügt ihr das nicht?«

»Sie wollte mehrere Kinder haben, und außerdem hatte sie durch den Unfall auch eine Fehlgeburt.«

»Das ist allerdings tragisch. Nun, mit dem künstlichen Hüftgelenk haben wir zwar der Natur ins Handwerk gepfuscht, aber sonst wollen wir doch keinen Einfluß nehmen auf die natürlichen Funktionen. Was halten Sie von dem Retortenbaby?«

»Das kann man auch von zwei Seiten betrachten. Wenn es ein Wunschkind ist, kann man gratulieren. Der Rummel drumherum würde mir persönlich nicht behagen, und Publicity würde ich persönlich erst recht vermeiden.«

»Aber die bringt einen Haufen Geld. Na ja, wenn ich an meine zwei Lümmel denke, sie sind jetzt sechzehn und vierzehn, kann ich nur tief durchschnaufen und sagen, sie waren auch erwünscht, aber manchmal fallen sie uns gewaltig auf den Wecker. Es hat wirklich alles zwei Seiten, lieber Kollege. Aber bevor ich von Ihnen einen Verweis bekomme, die Burschen würden mir fehlen, wenn ich sie nicht hätte.«

Christoph hatte Bernd gleich angerufen und war dann heimgefahren. Nicole stand schon an der Tür.

»Kann Mami jetzt wieder richtig laufen, ohne Krücken, Chrissy?« fragte sie flüsternd.

»Nicht gleich, bald, Nicki«, sagte er zuversichtlich.

»Ganz bestimmt?«

»Ja, ganz bestimmt.«

»Du hast das ja auch gemacht«, sagte sie andächtig.

»Nein, Nicki, das hat ein Kollege gemacht, der das viel besser kann als ich.«

»Das glaube ich aber nicht«, sagte Nicole.

»Du mußt das aber glauben. Ich kann nicht alles. Du darfst das nicht denken. Ich will ein guter Arzt sein, aber das kann man nicht auf allen Gebieten. Wenn du groß bist, wirst du das mal begreifen.«

Dr. Norden war es gewesen, der es ihm klargemacht hatte, daß er für Nicki unfehlbar war, ein Denkmal, zu dem sie aufblickte, und so hatte er das nicht begriffen.

Jetzt warf sie ihm einen nachdenklichen Blick zu, der auch Skepsis ausdrückte.

»Eigentlich hat Mami ja auch mehr auf Dr. Norden gehört«, sagte sie. »Ich war sehr beleidigt, aber wenn du sagst, daß andere Ärzte auch mehr können als du, wird es schon stimmen. Jedenfalls bist du trotzdem mein bester Freund, Chrissy.«

»Das möchte ich auch gern bleiben, Nicki, aber du hast Mami und Papi, und die kränkt es sehr, wenn du lieber bei mir bist.«

»Papi ist ja jetzt abends auch immer bei mir«, sagte sie. »Kann ich Mami auch mal besuchen?«

»Bald, Kleines.«

»Es wird mir arg langweilig, Chrissy. Frieda hört ja so schwer, und sie ist immer nur am Putzen. Und im Kindergarten sind jetzt Ferien, genauso lange wie in der Schule. Und Kinder sind hier überhaupt keine, mit denen ich spielen kann. Kannst du mich wenigstens mitnehmen, wenn du Krankenbesuche machst?«

»Dann mußt du ja auch immer draußen warten, Nicki.«

»Das macht nichts. Es ist blöd, daß ich keine Geschwister habe.«

Und es würden noch lange Wochen vergehen, bis Jutta wieder daheim war, darüber dachte Christoph auch nach.

Und als Fee Norden ihn anderntags anrief, um sich nach Jutta zu erkundigen und sie dann fragte, ob sie für Nicole nicht eine Betreuerin brauchen würden, schnappte er nach Luft.

»Können Sie sogar durchs Telefon Gedanken lesen, Frau Norden?« fragte er. »Ich zerbreche mir nämlich den Kopf darüber.«

»Dann sollten wir mal darüber reden, Herr Rühl. Kommen Sie doch mal vorbei, wenn Sie ein bißchen Zeit haben. Am Telefon bespricht sich das nicht so schnell.«

*

Mit Tante Hortense hatte Donata über ihre Pläne noch nicht gesprochen. Rührend war die Freude der alten Dame, als Donata ihr am nächsten Nachmittag entgegenkam. Zweimal war Donata den Gang schon auf und ab gegangen. Sie wußte ja, wann Tante Hortense ungefähr kam.

»Jetzt bin ich aber sehr froh, Donata«, sagte Hortense. »Darfst du nun bald heim?«

»Ich hoffe es sehr, Tante Hortense. So langsam wird es mir doch langweilig.«

»Wir könnten eine schöne Reise machen. Nicht gar so weit, das traue ich mir doch nicht mehr zu, aber erholen mußt du dich erst noch.«

Das hatte Donata erwartet. »Ich möchte nicht verreisen, Tante Hortense. Ich möchte etwas Nützliches tun, was mich auf andere Gedanken bringt. Ich bin nun schon wieder zwei Monate und fünfzehn Tage älter geworden.«

Ja, so lange hatte sie nun schon in der Klinik gelegen und sie hatte die Tage gezählt.

»Du brauchst dir doch um die Zukunft keine Sorgen zu machen, Kind«, sagte Hortense.

»Ich mache mir keine Sorgen, Tante Hortense, aber ich möchte meine Zukunft selbst gestalten.«

»Du kannst weiterstudieren, Donata. Vielleicht ein anderes Studium wählen, das mehr Chancen bietet.«

Donata ließ den Blick in die Ferne schweifen. »Wenn ich noch jünger wäre, würde ich Medizin studieren«, sagte sie sinnend. »Aber wenn ich bedenke, wann ich dann fertig bin, nein, das lasse ich lieber.«

»Aber es spielt doch keine Rolle, wie lange du studierst«, wandte Tante Hortense ein.

»Für mich schon. Damit es klar ist zwischen uns, Tante Hortense, ich bin nicht der Typ, der dich ausnützt. Ich bin dankbar, wenn du mir ein Zuhause gibst, aber mehr will ich nicht. Und außerdem würde ich in München gar keinen Studienplatz für Medizin bekommen«, fügte sie geistesgegenwärtig hinzu, als die alte Dame sie so bekümmert anschaute. »Dann müßte ich in eine andere Stadt gehen.«

»Das würde mir nicht gefallen«, sagte Frau Bucher.

»Mir auch nicht, ich bin nämlich gern bei dir, aber nicht den ganzen Tag. Ich muß eine Betätigung haben und auch etwas selbst verdienen. Widersprich bitte nicht.«

»Das wage ich ja gar nicht«, sagte Hortense mit einem scheuen Lächeln. »Zu unserer Zeit war eben alles anders.«

»Aber goldene Zeiten waren das auch nicht, Tante Hortense, wenn das auch oft so hingestellt wird. Da war der erste Weltkrieg, dann die Inflation, der wirtschaftliche Niedergang, die Arbeitslosigkeit, und dann der nächste Krieg, dieses Völkermorden, du hast wahrhaft nicht nur goldene Zeiten erlebt.«

»Aber ich war nie arm«, sagte Hortense.

»Nicht arm an Geld, du hast Glück gehabt, andere hatten es nicht.«

»Und da wird immer geschrieben, die heutige Jugend wisse nichts über die Vergangenheit«, murmelte Hortense.

»Es gibt immer solche und andere«, sagte Donata energisch.

»Ich denke nur, daß du doch so viel entbehren mußtest«, flüsterte Hortense.

»Was habe ich denn entbehrt? Elternliebe? Die habe ich nicht gekannt. Und was man nicht kennenlernte, kann man auch nicht vermissen. Und was dich betrifft, du weißt doch, daß Geld allein nicht glücklich macht. Seien wir doch ehrlich zueinander, Tante Hortense. Es würde nicht gutgehen, wenn ich mich von dir aushalten lassen würde.«

»Von aushalten kann man wirklich nicht reden, Donata. Dagegen verwahre ich mich. Ich möchte etwas gutmachen.«

»Dann habe bitte Verständnis für mich. Wir können nur miteinander auskommen, wenn wir ehrlich zueinander sind.«

»Ich würde dir doch nicht im Wege stehen, wenn du einen Mann kennenlernst, sofern es ein guter Mensch ist.«

»Darum geht es doch nicht. Ich interessiere mich nicht für Männer, ich möchte mit Kindern zu tun haben.«

»Dann werde doch Lehrerin, du findest bestimmt eine Stellung.«

»Auf der Warteliste, nein danke, das habe ich bereits aufgesteckt. Ich bin nämlich eine Realistin, Tante Hortense. Schau dich doch um, wieviel junge Menschen herumgammeln und nur deshalb, weil ihnen keine Chance gegeben wird, und sie nicht geneigt sind, sich eine andere zu suchen. Ich bin nicht so stur. Ich suche mir eine Stellung bei Kindern. Fee Norden sagt auch, daß man da wirkliche Chancen hat.«

»Und was verdient man da schon?«

»Zumindest so viel, daß ich mir selbst kaufen kann, was ich persönlich brauche.«

»Ich richte dir ein eigenes Konto ein, Donata.«

»Das ist gut gemeint, aber ich kann es nicht akzeptieren, Tante Hortense. Ich habe andere Vorstellungen von meiner Zukunft als du. Ich bin keine Gräfin Saalegg.«

War das zu hart gewesen? Donata war selbst erschrocken, daß sie es gesagt hatte, aber Tante Hortense hatte nur den Kopf gesenkt.

»Du gehst sicher einen besseren Weg als ich«, sagte sie stockend. »Und ich habe gar kein Recht, dich daran zu hindern. Ich kann dir nur meine guten Wünsche mitgeben und dich bitten, mein Haus als dein Haus zu betrachten.«

Donata griff nach ihrer Hand. »Ich habe dich jetzt schon richtig lieb, Tante Hortense«, sagte sie leise.

Was hätte sie der alten Dame Schöneres sagen können!

»Ich werde dir nicht dreinreden, wenn du nur bei mir bleibst, Donata«, sagte Hortense leise. »Gönne mir noch das bißchen Glück, das ich ein langes Leben lang vermißt habe. Ich weiß es jetzt, was mir fehlte. Ich will nicht, daß du lebst wie ich, so verbitterst.«

Sie hatte sich besiegt, nach einem langen, schweren Kampf mit sich selbst ließ sie endlich ihr Herz sprechen, und ihre Seele hatte Ruhe gefunden, war nicht mehr gespalten, und zärtlich legte sie ihre Hände um Donatas Gesicht.

»Die Narben werden schwinden, mein Kind«, sagte sie leise. »Jetzt vermögen die Ärzte soviel.«

»Sie sollen ruhig bleiben, Tante Hortense. Sie können mich vor manchem bewahren.«

Und wie schön ist dieses Gesicht dennoch, dachte Hortense Bucher. Wahre Schönheit muß von innen heraus kommen.

»Ich habe nur eine Bitte, Donata«, sagte sie leise. »Laß mich teilnehmen an dem, was du wünscht und willst. Und wenn du einen Kindergarten einrichten willst, können wir auch darüber reden. Mein Garten ist groß.«

»Die Nachbarn würden sich schönstens bedanken, Tante Hortense. So einfach ist das nicht, aber daß du es vorgeschlagen hast, danke ich dir. Du bist sehr lieb.«

»Ich möchte, daß wenigstens du glücklich wirst, Donata. Du hast den Bann gebrochen. Aus dieser Familie kommt doch noch Gutes, und wie sehr habe ich das im Innersten gewünscht, ohne es selbst vollbringen zu können. In mir war der Haß stärker und das ist schlimm. Aber du machst alles gut.«

*

Dr. Christoph Rühl sah Fee staunend an. Er hatte nicht viel Zeit, und er hatte sich nicht gesetzt.

»Donata Sassen? Sie meinen, daß sie sich um Nicki kümmern würde? Kann sie das denn schon? Ich meine, ist sie überhaupt dazu fähig?«

»Davon bin ich überzeugt«, erwiderte Fee. »Ich dachte, daß es ein Anfang für sie sein könnte, sich ins Leben zurückzufinden. Sie wünscht sich, mit Kindern zu arbeiten.«

»Nicki ist aber noch kein Schulkind.«

»Aber sie kommt bald zur Schule, und darum geht es doch gar nicht, Herr Rühl. Donata will keine Nachhilfe geben, sondern einfach nur für Kinder sorgen. Sie will es so, weil Kinder unbestechlich sind und nicht auf Äußerlichkeiten gehen.«

»Ist sie sehr entstellt?« fragte er stockend. »Es tut mir so leid, daß ich mich nicht mehr um sie gekümmert habe, Frau Norden, aber Sie wissen ja, daß bei mir meine Schwester den Vorrang hatte.«

»Ich finde nicht, daß sie sehr entstellt ist, aber einen Mann könnten die Narben schon stören, doch Donata sieht das positiv. Sie ist nicht eitel. Sie will nicht auf Männer wirken, und Ihre Schwester müßte nicht auf sie eifersüchtig sein.« Diese kleine Anzüglichkeit gestattete Fee sich doch.

»Nicki ist ein überaus empfind­sames Kind«, sagte Christoph Rühl. »Es kommt darauf an, ob sie jemanden akzeptiert.«

»Dann probieren wir es doch mal. Besuchen Sie Donata mit Nicki in der Klinik. Ich will Ihnen ja nichts einreden. Nicki kann selbst entscheiden. Ich sage ja nur, daß es für Donata der erste Schritt sein könnte. Sie wohnt bei Frau Bucher. Mir kam der Gedanke, weil es nicht weit von Ihnen entfernt ist.«

»Bitte, mißverstehen Sie mich nicht, Frau Norden, es kam sehr überraschend für mich. Ich dachte nicht, daß Fräulein Sassen so bald

ins Berufsleben zurückzukehren wünscht, da Sie mir doch sagten, daß Frau Bucher ihre Großtante ist, eine reiche alte Dame.«

»Der Donata deutlich gemacht hat, daß sie keinen Wert auf ein ­reiches Erbe legt, aber auf ein reicheres Leben, als Frau Bucher es hatte.«

»Jutta hat gesagt, daß ich noch viel von Ihnen und Ihrem Mann lernen könnte«, sagte Christoph Rühl verlegen. »Die Nachsorge für einen Patienten ist ebenso wichtig wie die Vorsorge, vielleicht sogar noch wichtiger.«

»Nun, Donata war für Sie eine Fremde, eine Zufallspatientin. Ich hatte schon ein kurzes, wenn auch inhaltsreiches Gespräch mit ihr geführt, schon einen ganz persönlichen Eindruck von ihr gewonnen. Ich denke, daß Donata der kleinen Nicole gefällt.«

»Es wäre freilich eine große Hilfe für uns. Mein Schwager wird ab nächster Woche wieder sehr eingespannt sein. Bei ihm läuft das Geschäft wieder.«

Fee lächelte in sich hinein. Er brauchte ja nicht zu wissen, daß da Daniel auch ein bißchen nachgeholfen hatte. Davon sollte kein Aufhebens gemacht werden.

»Wenn morgen schönes Wetter ist, wird Donata so gegen zwei Uhr im Klinikpark sein«, bemerkte Fee beiläufig. »Ich werde das arrangieren.« Sie zwinkerte ihm zu. »Dann könnten Sie Nicoles unbefangene Meinung hören.«

Er sah sie voller Bewunderung an, daß Fee verlegen wurde.

Ja, solche Frau müßte man finden, dachte Christoph Rühl, aber wo, wann und wie?

*

Bernd Kampen war mit Nicole zur Klinik gefahren, um Jutta zu besuchen. Sie war verblüffend schnell wieder ganz gegenwärtig, und sie hatte gewünscht, das Kind zu sehen.

»Wir müssen jetzt ganz besonders lieb zur Mami sein«, sagte Bernd, als er, die Kleine an der Hand haltend, auf das Krankenzimmer zusteuerte.

»Ich will ja lieb sein, wenn ich nicht störe«, erklärte Nicki.

Erwartungsvoll blickte ihnen Jutta schon entgegen. Die herrlichen Rosen standen auf dem Tisch. Man sah es in der Klinik gar nicht so gern, wenn so viel Blumen gebracht wurden, aber diese Pracht wurde auch von den geplagten Schwestern bewundert.

»Ich habe gar keine Blümchen mitgebracht, Mami«, sagte Nicki beklommen.

»Das wäre auch zuviel des Guten, mein Schätzchen«, sagte Jutta so zärtlich wie schon lange nicht mehr, und das Kind empfand dies.

»Hast du große Schmerzen, Mami?« fragte Nicki.

»Überhaupt keine«, lächelte Jutta.

»Kannst du bald wieder heimkommen?«

»Nicht so bald, aber wenn ich heimkomme, brauche ich keine Krücken mehr, ist das nicht schön?«

»Mich haben die Krücken nicht gestört«, erklärte Nicki in kindlicher Unbefangenheit.

»Was hat dich denn gestört?«

»Daß du mit Papi nicht mehr so lieb warst und mit mir auch nicht. Aber Chrissy hat ja gesagt, daß du immer große Schmerzen gehabt hast.«

»Und keine Geduld, Nicki. Man muß Geduld haben, und man darf den Glauben nicht verlieren. Weißt du, ich habe mich selbst nicht mehr gemocht. Und ich habe auch gedacht, daß ihr mich gar nicht mehr liebhabt.«

»Das hast du gedacht?« fragte Nicki beklommen. »Aber du bist doch meine Mami. Außerdem hat Chrissy jetzt genauso wenig Zeit für mich wie Papi. Aber morgen nimmt er mich auf Krankenbesuche mit, damit Frieda ihre Ruhe hat. Sie putzt und putzt, da traut man sich gar nicht mehr zu spielen. Und dann sagt sie auch immer, daß ich essen soll, wenn ich auch gar keinen Hunger habe. Kriegst du hier gutes Essen?«

»Frieda kocht besser«, erklärte Jut­ta diplomatisch.

»Aber ich will nicht groß und stark werden. Ich möchte so schön und dünn sein wie du.«

Jutta und Bernd mußten lachen. »So dünn will ich ja nicht bleiben. Schätzchen«, sagte Jutta.

»Hast du mich lieb, und bin ich lieb genug?« fragte Nicki nachdenklich. »Ich weiß ja nicht, was ich sagen soll, Mami. Ich bin sehr traurig manchmal, weil du so lange krank bist.«

»Jetzt brauchst du nicht mehr traurig zu sein, mein Liebling. Jetzt werde ich gesund und alles wird so wie früher sein.«

»Ich kann mich bloß nicht erinnern, wie es war.«

»Wir spielen wieder viel im Garten und gehen spazieren, und nächstes Jahr machen wir eine ganz schöne Reise.«

»Mit Papi? Kann der denn weg?« fragte Nicki.

»Das wird schon zu machen sein«, warf Bernd ein.

»Jetzt hat Papi wieder schrecklich viel zu tun«, sagte Nicki.

»Klappt es?« fragte Jutta hellhörig. »Du hast noch gar nichts gesagt, Bernd.«

»Ich komme ja nicht zu Wort«, meinte er lächelnd. »Ja, jetzt läuft plötzlich alles wie am Schnürchen, Liebes. Ich war zu pessimistisch.«

»Wie ich, und da haben wir uns gegenseitig angesteckt.«

»Ist das eine ansteckende Krankheit?« fragte Nicki erschrocken. »Ich will nicht krank werden.«

»Pessimismus ist keine richtige Krankheit«, sagte Bernd, »das ist nur ein Zustand, wenn man die Hoffnung verliert.«

»Und davon sind wir jetzt geheilt, Nicki. Jetzt geht es aufwärts«, sagte Jutta.

»Und wir können richtig schön miteinander reden«, sagte die Kleine strahlend.

*

Ganz offen hatte Fee mit Donata gesprochen. Sie hatte von Jutta Kampen erzählt, von dem langen Leiden dieser Frau, von den Sorgen ihres Mannes und von Nicole.

»Dr. Rühl ist der Bruder von Frau Kampen, und Nicki hängt sehr an ihrem Onkel.«

»Dr. Rühl? Das war doch der Notarzt«, sagte Donata.

»Ein guter Arzt und ein netter Mensch«, erklärte Fee beiläufig. »Frau Kampen braucht noch Wochen, bis sie ganz genesen ist, und ich habe gedacht, daß Sie sich der kleinen Nicole annehmen könnten. Natürlich nur, wenn Sie wollen, Donata. So zur Probe, ob es Ihnen überhaupt gefällt, sich in dieser Richtung zu betätigen.«

»Sie trauen es mir wohl nicht zu?« fragte Donata schelmisch.

»Es ist nicht so einfach, sich in Kinderseelen hineinzuversetzen.«

»Das weiß ich aus Erfahrung«, erwiderte Donata. »Wir hatten auch manche Erzieherinnen lieber als andere. Das ist nun mal so, es gibt Sympathie und Antipathie, und dazwischen eben Toleranz oder Gleichgültigkeit.«

»Sie wären bestimmt eine gute Lehrerin geworden, sicher auch eine gute Ärztin«, sagte Fee.

»Tante Hortense hat also mit Ihnen gesprochen«, stellte Donata fest.

»Ich war sehr überrascht von ihrer Toleranz. Sie möchte nur, daß Sie glücklich und zufrieden sind, Donata.«

»Sie geheimnist jetzt viel in mich hinein, aber ich habe auch meine Schwächen, Fee.«

Fee hatte sie gebeten, sie mit dem Vornamen anzusprechen, denn zwischen ihnen bestand ja nun tatsächlich ein Einverständnis, wie es besser nicht sein konnte.

»Ich will nicht, daß Tante Hortense sich als Büßerin begreift und mir deshalb alles nachsehen würde. Vielleicht hätte ich mich unter anderen Umständen tatsächlich entschlossen, das Studium wieder aufzunehmen oder ein anderes zu beginnen, Fee, aber dieser Unfall war ein Einschnitt, der mir bewußt macht, welche Grenzen uns gesetzt werden. Ich weiß nicht, ob ich noch so tolerant sein könnte, wie ich es früher war. Ich habe am eigenen Leibe gespürt, wie einem Menschen Leid zugefügt werden kann, von einem anderen, dem man nichts getan hat, den man gar nicht kannte. Dieser Mann war in einem Zustand, daß man ihn nicht verantwortlich machen kann, und er hat das sicher nicht bewußt gewollt, aber ich habe auch nachgedacht über die Mörder, die Triebtäter, die Gangster, die Kinder entführen und umbringen, unschuldige Kinder, und die auch ganze Familien töten, um sie zu berauben. Ich habe auch über die Menschen nachgedacht, die sich selbst töten und welche unglückseligen Umstände zusammentreffen, daß sie das tun. Meinen Sie, daß einem auch solches vorausbestimmt ist, Fee?«

»In gewisser Weise schon. Es gibt so manche Schicksale, die dafür eigentlich ein Beweis sind. Ein Mörder wird verurteilt, der eine Frau umgebracht hat. Er wird nach langer Haft, in der er sich mustergültig benahm, freigelassen. Und kaum befindet er sich in Freiheit, ermordet er wieder eine Frau. Es ist entsetzlich.«

»Und dann habe ich von dieser Selbstmörderin gelesen, die einmal davor bewahrt wurde, sich von einem Turm zu stürzen«, sagte Donata tonlos. »Sie wurde psychiatrisch untersucht und mit der Überzeugung entlassen, daß sich dies nicht wiederholen würde. Und schon am nächsten Tag sprang sie von der gleichen Stelle in die Tiefe. Ich frage mich, ob da nicht doch magische Kräfte im Spiel sind.«

»Aber wir wollen nicht nur von solchen Schicksalen reden, Donata. Sind Sie einverstanden, morgen die kleine Nicole kennenzulernen?«

»Ja, gewiß, aber wenn sie sich mir gegenüber ablehnend verhält, möchte ich die Betreuung nicht übernehmen. Verstehen Sie das bitte, Fee. Noch bin ich nicht so weit, mich ohne Resonanz zu engagieren.«

»Das ist eine sehr vernünftige Einstellung. Es war auch nur ein Vorschlag«, erklärte Fee.

*

Nicole hatte nicht die leiseste Ahnung, was ihr der nächste Tag bringen würde.

Als Christoph mit ihr losfuhr, erzählte sie nur von ihrer Mami, wie lieb sie gewesen sei, und daß sie nun auch wieder so lieb mit dem Papi wäre.

»Ich würde sie ja jeden Tag besuchen«, sagte Nicki, »aber es hat ja keiner Zeit, mich zu ihr zu brin-

gen.«

»Wir werden schon einen Weg finden, daß du sie jeden Tag besuchen kannst«, sagte Christoph.

»Was für einen Weg? Zu Fuß ist es wirklich zu weit, und das wäre Mami auch gar nicht recht.«

»Mir auch nicht, Nicki, oder denkst du etwa, ich würde dich losschicken?« fragte er neckend.

»Frieda tät sich ja nicht mal zurechtfinden«, meinte das Kind. »Sie würde bestimmt auch in die falsche Bahn einsteigen, und außerdem müßten wir auch noch mit dem Bus fahren.«

»Oder mit einem Taxi«, sagte Christoph. »Das wäre doch eine Lösung.«

»Aber Frieda kann Krankenhäuser nicht leiden. Sie ist überhaupt so komisch und redet davon, daß sie der Schlag treffen könnte. Wer soll sie denn schlagen, Chrissy?«

»Frieda ist nicht mehr die Jüngste«, sagte er.

»Papi sagt, daß sie einen Putzfimmel hat.«

»Jeder Mensch hat seine Eigenheiten«, meinte Christoph.

Aber wie sollte ein fünfjähriges Kind dafür Verständnis aufbringen?

Frieda war eine gute Haut, aber sie lebte in ständiger Angst, daß Nicole etwas passieren könnte, und sie sah ihre größte Aufgabe auch darin, daß alles immer blitzblank war.

Zwei Krankenbesuche hatte Christoph gemacht. Es waren beides ältere Damen, die sich Beinverletzungen zugezogen hatte. Nicole wartete brav im Auto und beschäftigte sich mit den Bilderbüchern, die Christoph ihr gekauft hatte. Sie kannte zwar schon einige Buchstaben, aber lesen konnte sie doch noch nicht, und so machte sie sich ihre eigenen Verschen zu den hübschen Bildern. Sie war ein phantasievolles Kind, und man merkte, daß sie es gewöhnt war, sich viel mit sich allein zu beschäftigen.

Auch ihre kleine Persönlichkeit war schon durch die lange Krankheit der Mutter geprägt worden. Als sie nun zur Behnisch-Klinik kamen, fragte sie, warum die Mami denn nicht hier liegen könne, wo das doch so schön nahe war.

»Da könnte ich auch zu Fuß hingehen, Chrissy«, meinte sie.

»Mami mußte halt in die Spezialklinik, Nicki«, erklärte er.

»Und was machst du hier?« fragte sie.

»Ich besuche Patienten.«

»Sind hier keine Ärzte?« fragte sie erstaunt.

»Natürlich sind hier Ärzte, aber manche Patienten habe ich hier eingewiesen, und die besuche ich.«

Er ließ schon seinen Blick über den Park schweifen. Die Sonne schien, und ihre Strahlen brachen sich in Donatas Haar.

Er wußte sofort, daß sie es war, obgleich er ihr Gesicht nur in dem verletzten Zustand gesehen hatte und dann nur mit dem dicken Kopfverband.

»Schau, da ist auch eine Patientin von mir. Würdest du dich ein bißchen mit ihr unterhalten, wenn ich in der Klinik bin, Nicki?« fragte er.

»Wenn sie aber nicht mag?«

»Sie wird schon mögen. Sie freut sich sicher, wenn sie mal Gesellschaft hat. Sie liegt auch schon lange in der Klinik.«

»Jetzt liegt sie aber nicht mehr«, sagte Nicki. »Was hat ihr denn gefehlt?«

»Sie hatte auch einen schweren Unfall.«

»Mit dem Auto, wie Mami?«

»Nein, jemand hat sie eine Rolltreppe hinuntergestoßen.«

»Was für ein Jemand?« fragte das Kind. »Und warum hat er das getan?«

»Er war betrunken und wollte raufen.«

»Hat man ihn eingesperrt? Das geschieht ihm dann recht«, sagte Nicki. »Der Mann, der Mami so verletzt hat, ist nicht eingesperrt worden. Wie heißt das Mädchen?«

»Es ist eine junge Dame. Sie heißt Donata.«

»Donata, das ist ein sehr schöner Name, finde ich. Habe ich noch nie gehört.«

Er nahm ihre kleine Hand und strebte der Bank zu. Donata blickte auf. Sie hatte die beiden zwar schon gesehen, aber sie hatte auch bemerkt, wie sie miteinander sprachen.

»Erkennen Sie mich wieder, Fräulein Sassen?« fragte Christoph verlegen.

Sie hatte nicht die leiseste Erinnerung an ihn, aber sie wußte ja, dank Fees Vorbereitung, um wen es sich handelte. Und so sagte sie geistesgegenwärtig, während sie ihren Blick auf Nicole ruhen ließ: »Dr. Rühl, das ist aber nett, daß Sie kommen.«

»Es freut mich, daß es Ihnen jetzt schon soviel besser geht«, sagte er beklommen.

»Chrissy muß Patienten besuchen und hat mich mitgenommen«, sagte Nicole. »Er hat gesagt, daß ich hier warten darf. Darf ich?«

»Aber gern, wie heißt du denn?« fragte Donata.

»Nicole Kampen, aber meistens heiße ich Nicki. Und du heißt Donata, das hat mir Chrissy schon gesagt.«

»Dann kennen wir ja schon unsere Namen«, sagte Donata. »Setzt du dich zu mir?«

Nicole nickte. »Du kannst ruhig gehen, Chrissy. Und wenn es auch länger dauert, das macht nichts. Ich werde mich mit Donata schon gut unterhalten.«

Christoph war nun doch verblüfft. Etwas mehr Zurückhaltung hatte er von Nicki doch erwartet, denn im allgemeinen war sie nicht gleich so zutraulich.

»Du kannst ja alle deine Krankenbesuche machen und mich dann abholen«, sagte Nicole. »Ich finde es hier sehr schön, und vielleicht kann Donata mit mir auch ein bißchen herumgehen. Oder brauchst du auch Krücken, wie meine Mami?« fragte sie.

»Nein, ich brauche keine Krükken.« Donata lächelte, aber ein bißchen unsicher war sie nun doch.

»Du kannst froh sein, daß du nur ein paar kleine Narben hast«, fuhr Nicole fort. »Bei meiner Mami ist im Gesicht alles verheilt, aber sonst ist es immer noch nicht gut.«

Christoph sah Donata an. Sie nickte ihm unauffällig zu. »Dann gehe ich jetzt«, sagte er. »Ich hole dich in einer Stunde ab, Nicki.«

»Ja, geh nur. Brauchst dich nicht hetzen«, sagte Nicki. »Wir werden uns gut unterhalten.«

Und als er verschwunden war, schenkte sie Donata ein süßes Lächeln.

»Zu Hause langweile ich mich nämlich, und da hat mich Chrissy mitgenommen. Mami ist gerade wieder mal operiert, und Papi muß arbeiten. Chrissy ist mein Onkel. Ich habe ihn sehr lieb, aber jetzt hat er auch viel zu tun.«

»Kennst du keine Kinder, mit denen du spielen kannst?« fragte Donata.

»Bei uns in der Nachbarschaft gibt es nur ein paar ganz Freche, und Frieda ist schon alt und mag nicht, wenn ich auf den Spielplatz gehe, weil dann was passieren kann.« Nicki seufzte. »Mami kann ich leider auch nicht jeden Tag besuchen, weil die Klinik viel weiter von uns weg ist, als die hier. Gefällt es dir hier, Donata?«

Sie sprach den Namen direkt genußvoll aus. Ein Lächeln überflog Donatas Gesicht.

»Hier waren alle sehr nett zu mir, Nicki«, sagte sie. »Aber es ist schon recht mühsam, wenn man immer liegen muß.«

»Mami hat es auch kribbelig gemacht. Aber nun wird sie auch wieder ohne Krücken laufen können. Das hat sie nämlich gar nicht leiden können. Es wäre sehr schön, wenn sie auch hier gesund werden würde, dann könnte sie sich auch mit dir unterhalten.«

»Ich werde jetzt aber bald entlassen«, sagte Donata.

»Was machst du dann?«

»Dann suche ich mir eine Stellung.«

»Gehst du nicht erst auf die Insel der Hoffnung wie Mami? Hast du keinen Mann?« fragte Nicki.

»Nein, ich habe keinen Mann.«

»Und auch kein Kind?«

»Nein, auch kein Kind.«

»Aber du magst Kinder.«

»Sehr.«

»Wenn du eine Stellung brauchst, kann ich ja mal Papi fragen. Der sucht wen fürs Büro. Er hat jetzt nämlich wieder viel zu tun.«

»Ich möchte aber lieber bei Kindern sein«, erwiderte Donata.

»Bei wie vielen?« fragte Nicki.

»Mal sehen.«

Nicki betrachtete sie aufmerksam. »Eins langt dir wohl nicht?« fragte sie. »Mein Papi hat nämlich gesagt, daß wir jemanden brauchen, der auf mich aufpaßt, weil es Frieda zuviel wird. Mir gefällt der Name Donata sehr gut, und du gefällst mir auch.« Und plötzlich streichelten die kleinen Finger über Donatas Narben. »Die gehen wieder weg«, flüsterte die Kleine.

»Brauchst nicht traurig sein, du bist auch so sehr hübsch.«

Heiß stieg es Donata in die Augen. »Es kommt ja gar nicht darauf an, daß man hübsch ist, Nicki«, sagte sie leise, »es ist wichtiger, wenn jemand so lieb ist.«

»Ich sage doch nur, was ich denke, Donata«, sagte Nicki ganz ernsthaft. »Ich habe Mami auch immer gesagt, daß die Krücken doch nicht schlimm sind, aber sie hat sich dann immer aufgeregt und geweint, daß sie nicht so leben will.«

»Das muß man schon verstehen, Nicki«, sagte Donata. »Wenn man sich nicht mehr richtig bewegen kann, ist das viel schlimmer als ein paar Narben.«

Nicki legte ihr Köpfchen schief. »Na, weißt du, Donata, ich glaube schon, daß meine Mami sich auch über Narben aufgeregt hätte. Sie hat sich doch über alles aufgeregt, aber jetzt hat sie Geduld.«

»Die braucht man, wenn man gesund werden will.«

»Mit dir kann man bald noch besser reden als mit Chrissy«, sagte Nicole.

»Ich habe ja auch viel Zeit, Nicki, und ein Arzt hat sehr viel zu tun.«

»Das wird auch gut sein, sagt Chrissy. Man braucht ja auch Geld. Alles kostet so schrecklich viel. Aber ich habe schon mehr als hundert Euro in meinem Sparkäfer. Wenn ich dir die gebe, kommst du dann vielleicht zu mir? Papi hat nämlich zu Chrissy gesagt, daß es auch eine Geldfrage ist, ob er jemanden für mich einstellen kann.«

»Reden wir jetzt nicht über Geld, Nicki«, sagte Donata, denn sie hatte in diesem Augenblick einen Entschluß gefaßt, den sie bisher weit von sich gewiesen hatte. »Weißt du, ich muß mich ja auch erst noch erholen, und wenn du mir dabei Gesellschaft leistest, würde ich mich sehr freuen.«

»Wann kann ich dir Gesellschaft leisten?«

»Wann du willst. Ich muß ja noch ein paar Tage in der Klinik bleiben.«

»Wieviel Tage?«

»Ich muß noch mit Dr. Behnisch sprechen.«

»Chrissy ist ein sehr guter Arzt. Er kann auf dich aufpassen«, sagte Nicki. »Und Frieda kocht sehr gut. Sie ist sehr sauber. Sie hat einen Putzfimmel. Darf ich Papi sagen, daß er mal mit dir redet?«

»Wir werden das schon hinkriegen, daß wir viel beisammen sein können, Nicki.«

Und als dann Christoph Rühl kam, sagte Nicki mit strahlendster Miene: »Das war deine beste Idee, Chrissy, daß du mich hierher mitgenommen hast. Donata ist schon meine ganz richtige Freundin.«

»Wie können wir uns einigen, Fräulein Sassen?« fragte Christoph.

»Ihr braucht euch nicht zu einigen«, warf Nicole ein, »wir sind uns doch einig.«

Christoph sah Donata verblüfft an. »Ja, wir sind uns eigentlich einig«, sagte sie lächelnd. »Solange ich noch in der Klinik bleiben muß, kann Nicki mich besuchen. Es ist doch für Sie kein langer Weg, wenn Sie die Kleine herbringen, Herr Dr. Rühl?«

»Nein, das nicht, aber wird Ihnen das nicht zuviel? Sie sind doch Rekonvaleszentin.«

»Es muntert mich auf«, erwiderte sie.

»Ich rege Donata nicht auf, Chrissy, du kannst sie fragen.«

Das brauchte er nicht zu fragen. Donatas Gesicht war gelöst und heiter.

»Diese Stunde verging wie im Fluge«, sagte sie gedankenvoll.

»Es war mehr als eine Stunde«, sagte Christoph.

»Dann kann ich mir doch nur viele solcher Stunden wünschen. Aber reden Sie es Nicki bitte aus, daß sie ihr Sparkäferchen dafür opfert.«

Nicki zog einen Schmollmund, als sie sich verabschieden sollte. »Jetzt ist es noch so lange bis zum Abend«, sagte sie.

»Der Papi fährt nachher mit dir noch zu Mami«, sagte Christoph.

»Es wäre so schön und so einfach, wenn sie auch in der Behnisch-Klinik sein würde«, meinte Nicki.

*

Das war nun beim besten Willen nicht möglich, und außerdem konnte Donata schon vier Tage später der Klinik Adieu sagen.

»Aber wir hoffen, daß Sie uns ab und zu besuchen, Donata«, sagte Jenny beim Abschied.

»Ganz bestimmt«, versicherte Donata.

Von Tante Hortense wurde sie empfangen, als handele es sich um einen Staatsempfang.

»Es hätte grad noch gefehlt, daß du einen roten Teppich ausgebreitet hättest«, scherzte Donata sich über die Rührung hinweg. »Und dabei komme ich gleich mit einer Bitte.«

»Ist schon erfüllt«, erwiderte Hortense freudig bewegt.

»Nun warte doch erst mal ab, Tante Hortense. Ich will dir doch noch für ein paar Wochen auf der Tasche liegen, aber ich will es gleich betonen, daß ich das später wieder ausgleiche.«

»Wie oft soll ich dir noch sagen, daß ich das gar nicht hören möchte«, sagte Hortense.

Donata erzählte von Nicki, von ihrer Mutter und auch von Dr. Rühl.

»Ich würde mich gern um die Kleine kümmern, solange ihre Mutter dies noch nicht kann, Tante Hortense, aber in diesem Fall möchte ich dafür kein Geld nehmen.«

»Das würde ich auch nicht wollen. Schließlich sind wir Dr. Rühl auch Dank schuldig, daß er dir gleich geholfen hat.«

Donata ahnte nicht, daß Tante Hortense von Fee Norden schon diplomatisch vorbereitet war, aber auch wenn dies nicht der Fall gewesen wäre, hätte die alte Dame nicht anders reagiert. Selbst Fee hätte nur staunen können, wie sehr sie sich verändert hatte, denn in einem so hohen Alter war dies verblüffend.

Donata konnte es nicht fassen, als sie dann noch sagte, daß sie sich sehr freuen würde, wenn sie dann mit Nicki auch öfter mal zu ihr käme.

»Du machst mir zuviel Zugeständnisse, Tante Hortense«, sagte Donata nachdenklich. »Du bist mir wirklich nichts schuldig, ich dir schon sehr viel.«

»Und mich würde es freuen, wenn davon nicht geredet würde, Donata. Du hast doch so hellwache Augen. Siehst du es mir nicht an, wie wohl es mir tut, daß wir uns verständigen und sogar schon einander verstehen? Für mich ist es ein so wundervoller Tag, daß du nun wieder daheim bist. Willst du dir nun nicht mal dein Zimmer anschauen? Ich habe ein bißchen was verändern lassen.«

Ein bißchen? Donata riß die Augen auf. Die Räume waren frisch tapeziert, mit weichen Teppichböden ausgestattet, auf denen noch wertvolle Läufer lagen. Wunderschöne Gardinen flatterten an den Fenstern, ein breites, modernes Bett wartete, Blumen standen überall, das Bad war neu gekachelt, und von dem Wohnraum ganz zu schweigen, der noch dazu gekommen war.

»Du sollst nicht denken, daß ich dir nicht auch dein Eigenleben lassen will, Donata. Die Etage gehört dir allein. Schau, auch eine kleine Küche habe ich einbauen lassen.«

Und weil sie sich selbst so freute, brachte Donata keinen Widerspruch über die Lippen. Sie war tief gerührt.

»Aber das hat doch auch gewaltigen Schmutz verursacht«, sagte sie ein wenig beklommen.

»Frau Dr. Norden hat mir sehr odentliche Leute geschickt«, erwiderte Tante Hortense.

»Fee Norden, immer wieder Fee Norden. Was ist das für eine Frau und womit habe ich ihre Zuneigung nur verdient«, sagte Donata leise.

»Sie hat ein großes, weites Herz, Donata, nicht so verhärtet wie das meine. Sie hat dich gleich gemocht. Ich vergesse nicht, wie sie an jenem Tag bei mir war, so tiefbewegt, so besorgt um dein Leben. Sie hat nicht gezögert, dir gleich Zuneigung zu schenken, und ich muß mich immer wieder schämen, daß ich so lange brauchte, um all die Zweifel in mir zu besiegen.«

»Du brauchst dich nicht zu schämen, Tante Hortense, wirklich nicht. Du hast ja gewußt, wer meine Eltern und Großeltern sind.« Zärtlich legte Donata ihre Arme um den Hals der alten Dame. »Du hast so sehr gelitten«, flüsterte sie. »Ich weiß es, und du brauchst dazu gar nichts mehr zu sagen, und ich kann dir nur danken, ganz innig danken. Das mußt du dir schon gefallen lassen, Tante Hortense. Laß doch vergessen sein, was dich gequält hat. Du hast alles gutgemacht, was die anderen versäumt haben. Du gibst mir ein richtiges Zuhause.«

»Ich habe dich sehr, sehr lieb, Donata«, flüsterte die alte Dame unter Tränen. »Ich kann sagen, daß ich keinen Menschen so echt, so bewußt geliebt habe wie ich dich liebe.«

Von liebevollen Armen umfangen, küßte Donata die Tränen von den faltigen Wangen.

»Ich möchte dich nie enttäuschen, Tante Hortense«, sagte sie leise.

»Ich dich auch nicht, mein Kind. So alt ich auch geworden bin, für mich bist du mein Kind.«

Donata zog sie später mit sanfter Gewalt vor den Spiegel. »Da, schau hinein«, sagte sie lächelnd. »Sind wir uns nicht mächtig ähnlich, wenn wir die Narben in meinem Gesicht wegdenken?«

»Vor allem die Falten in meinem Gesicht«, sagte Hortense.

»Ich mag auch die Falten«, sagte Donata weich.

»Weißt du, was ich mir jetzt ausdenke? Wir laden Fee Norden mit ihren Kindern ein, wenn du das erste Mal die kleine Nicki mitbringst. Dann weiß sie gleich, daß ich Kinder gern habe und fühlt sich wohl bei uns.«

Das war wohl das größte Wunder, Tante Hortense wollte sogar eine Kindergesellschaft geben. Das machte Fee sprachlos, als sie es von Donata erfuhr.

Ihre Kinder waren allerdings zuerst sehr skeptisch. »Zu Frau Bucher sollen wir gehen?« fragte Danny. »Liebe Güte, da dürfen wir doch nicht schnaufen.«

»Du denkst falsch über sie, Danny«, sagte Fee.

»Ich weiß nur, daß sie sich immer aufgeregt hat, wenn die Kinder von Möllers mal ein bißchen laut waren.«

»Ein bißchen laut sind die nie«, warf Felix ein. »Die dröhnen, daß es nur so scheppert. Papi würde das auch auf die Nerven gehen, wenn sie nahe bei uns wohnen würden.«

»Und sie sind frech und manchmal auch gemein«, sagte die kleine Anneka. »Sie werfen mit Steinen und reißen Blumen aus und, wie Lenni ihnen das mal verboten hat, sind sie sogar frech zu Lenni gewesen und haben alte Ziege zu ihr gesagt. Solche Kinder mag niemand.«

»Und wenn Mami sagt, daß Frau Bucher sehr nett ist, ist sie auch nett«, sagte Felix.

»Ich will ja nichts gesagt haben«, brummte Danny. »Man kann sich ja auch mal irren.«

»Hast schon recht, Danny«, meinte Fee. »Man kann sich irren.« Sie hatte sich schließlich auch geirrt, was Hortense Bucher betraf.

*

Für Nicki war Tante Hortense von Anfang an nur eine liebe Tante, und der erste Nachmittag bei ihr war ein ganz großes Fest. Da gab es Eis und Kuchen, beim Topfschlagen und Pfänderspielen herrliche Geschenke, wie Kinder sie mochten, da konnten sie sich auch im Garten austoben, Verstecken spielen und Bäumchen wechsle dich.

Donata hatte noch nichts vergessen, was einst auch ihr Kinderherz erfreut hatte, wenn es hier auch viel großzügiger zuging. Und Tante Hortense unterhielt sich mit Fee, während Donata selbst fröhlich mit den Kindern spielte.

Und sie sagte zu Fee, daß es doch heute alle Möglichkeiten gäbe, auch die Narben zu beseitigen.

»Lassen wir ihr diese, solange sie sie selbst behalten will«, sagte Fee. »Mit der Zeit werden sie auch von selbst verblassen. Wichtig ist doch nur, daß sie wieder froh sein kann.«

»Sie hängt schon so sehr an Nicki, aber in ein paar Wochen wird Frau Kampen wieder daheim sein. Es sind nicht alle Kinder so wie Nicki und Ihre Kinder, Frau Norden.«

»Manchmal kann es doch ein bißchen anders kommen, als man denkt«, sagte Fee.

»Hat Donata Ihnen erzählt, daß ihr Dr. Forster Blumen schickt? Schon den zweiten Samstag. Was ist das eigentlich für ein Mann?«

»Ein sehr netter Mann, aber für Donata ein bißchen zu alt«, erwiderte Fee lächelnd. »Ich finde es sehr nett, wenn er Blumen schickt. Er leidet auch noch unter Schuldgefühlen, obgleich er mit Donatas Unfall wirklich nichts zu tun hatte. Aber für ihn hat dieser Tag auch eine Wendung in seinem Leben gebracht. Er hat viel verloren und dann doch viel gewonnen. Sie brauchen nicht zu fürchten, daß er Ihnen Donata wegnehmen will. Er hat sozusagen eine Familie adoptiert, eine Frau und ihre beiden Kinder, die des Vaters früh beraubt wurden. Ich habe Ihnen doch davon schon früher erzählt.«

»Aber mich wundert es, daß er Donata Blumen schickt«, sagte Hortense.

»Man muß nicht bei allem, was herzlich gemeint ist, Hintergedanken hegen«, sagte Fee nachsichtig.

»Manchmal bin ich wohl doch rückfällig«, sagte Hortense leise. »Aber ich will doch nur, daß Donata glücklich wird, wenn sie einem Mann ihr Herz schenkt.«

»Bei ihr geht das so schnell nicht«, sagte Fee, »aber ich denke, daß es schon einen Mann gibt, der sich ihr Herz erobern will. Schauen Sie ihn sich nur genau an. Sie werden nichts an ihm auszusetzen finden.«

»Wen meinen Sie?« fragte Frau Bucher.

»Dr. Rühl, wen sonst?«

Hortense faltete die Hände. »Das wäre fast zu schön«, flüsterte sie. »Dann könnte ich in Ruhe sterben.«

Fee ergriff ihre Hände. »Warum sollten Sie sich nicht lieber mit dem Gedanken vertraut machen, Großmama zu spielen?« fragte sie mit einem bezwingenden Lächeln.

»Urgroßmama«, sagte Hortense nach kurzem Nachdenken. »Du lieber Gott, wenn mir das noch beschieden wäre? Aber man soll ja nicht zu weit in die Zukunft denken.«

*

Doch die Zukunft hatte schon begonnen, und da half sogar Jutta fleißig mit, gewisse Hemmungen zu überwinden.

Zuerst hatte sie es recht miß­trau­isch betrachtet, daß Donata in Nickis Leben eine noch größere Rolle spielte als Chrissy, aber schon beim ersten Kennenlernen waren zwischen ihnen alle Zweifel beseitigt, und Jutta wußte auch, daß sie auf Donata nicht eifersüchtig zu sein brauchte. So strahlend hatte Nicki versichert, daß sie gleich gewußt hätte, daß sich ihre Mami und Donata verstehen würden.

Und es war auch Donata gewesen, an deren Arm Jutta dann die ersten Schritte getan hate. Angst hatte sie gehabt, aber Donata hatte ihr gesagt, daß sie wüßte, wie ihr zumute sei.

»Es wird mit jedem Schritt besser, Sie müssen nur wollen«, sagte Donata eindringlich. »Stellen Sie sich doch nur vor, wie sehr Ihr Mann sich freuen wird, wenn Sie ihm entgegengehen.«

Und sie war Bernd bald entgegengegangen. Christoph staunte über die raschen Fortschritte, die seine Schwester machte.

»Bedank dich bei Donata«, sagte sie. »Ein wundervolles Mädchen. Du scheinst blind zu sein, Chris.«

»Wieso? Sie ist doch nur auf Nicki fixiert. Ich bin inzwischen schon bei Nicki abgemeldet.«

»Dann mußt du dich eben wieder zur Geltung bringen. Jetzt werde du bitte nicht eifersüchtig. Nicki ist unser Kind. Schaff dir gefälligst selber welche an. Du wärest schön blöd, wenn du in die Ferne schweifen würdest, wo das absolut Gute so nahe liegt.«

»Und wie soll ich es anfangen, liebe Jutta? Tagsüber ist Donata nur für Nicki da, und abends hockt sie bei ihrer Tante. Blind bin ich nicht und blöd auch nicht, aber wenn du mir sagst, wie ich es anfangen könnte, sie wenigstens mal ein paar Minuten allein zu sprechen, hätte ich ihr schon längst gesagt…« Er geriet ins Stocken.

»Was hättest du ihr gesagt?« fragte Jutta.

»Das geht dich gar nichts an.«

»Dann sag es wenigstens ihr. Und wenn Nicki an ihr hängt, sagst du zu meiner Tochter, daß du mal mit Donata allein reden müßtest. Dann wird sie sich schon verziehen.«

»Deine Tochter läßt sich nicht wegschicken«, sagte er.

»Meine Tochter hat gesagt, daß du Donata heiraten könntest, und dann wären wir alle dicht beisammen. So schlau ist meine Tochter, schlauer als du«, sagte Jutta.

»Das hättest du auch schon längst mal sagen können, meine liebe Schwester«, sagte Christoph.

»Wenn es Nicki doch gerade erst heute gesagt hat«, meinte Jutta anzüglich. »Aber gedacht habe ich es mir schon vorher.«

»Das kann man im Nachhinein immer sagen. Also, heute abend soll sich mal dein Mann um seine Tochter kümmern und sie zu Bett bringen, auch wenn er dann keine Zeit mehr hat, dich zu besuchen, aber dann denk nicht gleich wieder, daß er sich anderweitig amüsiert.«

»Das ist längst vorbei, Chris«, sagte Jutta. »Ich war auch sehr töricht, aber du brauchst es mir nicht gleichzutun.«

»Aber wenn Donata nein sagt, höre ich nie wieder auf dich.«

»Du mußt es nur richtig anfangen«, sagte sie. »Vielleicht mit einem Arm voller roter Rosen.«

»Und woher soll ich die am Abend bekommen?«

»Frag Bernd.« Sie schickte ihm ein Lachen nach.

*

Drei Monate später stattete Tante Hortense ihrer Donata eine wunderschöne Hochzeit aus, und sie war eine bezaubernde Braut, trotz der kleinen Narben, die ihr geblieben waren und auch bleiben sollten, weil sie zu ihrem Leben gehörten. Nach vier Wochen auf der Insel der Hoffnung, von denen Nicki zwei bei ihrer Mami geweilt hatte und sich sehr wohl dort fühlte, merkte man Jutta von ihrem langen Leiden nichts mehr an.

Donata hatte sich in dieser Zeit in die Praxis von Christoph eingearbeitet. Es kam eben doch ein bißchen anders als gedacht, wie Fee Norden es gesagt hatte. Aber Donata bewies, daß sie mit den Patienten genauso gut umgehen konnte wie mit Kindern. Und daß Liebe manchmal auf ganz leisen Sohlen kommen konnte, wußte sie nun auch. Mit einem Arm voller Rosen war Christoph zu ihr gekommen und hatte ganz einfach gesagt, daß sie sich auch mal allein unterhalten müßten.

Und Tante Hortense hatte gesagt: »Tut das nur, ich wollte sowieso zu Bett gehen.«

Sie war verschwunden, Christoph hatte Donata die Rosen in den Arm gelegt und gesagt: »Ich liebe dich. Willst du mich heiraten? Wenn es dir auch plötzlich kommt, ich habe es mir längst überlegt. Aber sag nur nicht, daß du ja sagst wegen Nicki.«

»Wieso wegen Nicki? Sie hat doch ihre Eltern«, hatte Donata erwidert. »Ich bin ein komisches Mädchen, Chris. Erstaunlicherweise liebe ich dich nämlich auch.«

Und nun standen sie vor dem Altar, und als sie niederknieten, preßte Tante Hortense ihre gefalteten Hände an ihre Lippen.

Zu den Gästen zählten neben den Nordens und den Behnischs auch Dr. Forster, Hiltrud Barkow und ihre Kinder Klaus und Sabine.

Nicki hatte Rosenblätter auf den Teppich gestreut und saß mit verklärten Augen nahe beim Altar, und als sich Christoph und Donata ihr Jawort gaben, sagte sie ganz laut »Amen«.

»Amen«, sagte auch Hortense, als sie das junge Paar umarmte. Aber noch ein glücklicherer Tag in ihrem Leben sollte ihr beschieden sein, als an gleicher Stelle Daniel-Christoph Rühl getauft wurde.

Da sagte Nicki leise zu ihr: »Weißt du, Tante Hortense, es ist gut, daß jetzt Donata und Chrissy wenigstens die Kinder kriegen, wenn wir schon keine mehr bekommen können, weil Mami nicht mehr zunehmen soll. Ich bin jetzt ja auch schon groß und verstehe alles. Hauptsache ist doch, wenn wir alle gesund sind. Gell, du bleibst auch noch ganz lange gesund? Wir haben dich nämlich alle lieb.«

Und das war in Hortense Buchers Leben das Schönste. Sie gehörte dazu und sie konnte Kinder in ihren Armen halten. Sie redete nicht mehr vom Sterben und genoß jeden Tag, der ihr geschenkt wurde.

Donata war eine glückliche Frau, nur etwas gab es, dem sie aus dem Wege ging. Sie benutzte nie mehr eine Rolltreppe.

Sie sagte bei solchen Gelegenheiten, daß es viel gesünder sei, Treppen zu steigen, und wenn’s gar so hoch hinausgehe, könne man auch den Lift nehmen.

Jutta fuhr nie mehr selbst Auto, doch gern wanderte sie mit Donata und den Kindern, zwei, die sich verstanden. Sie waren dankbar, leben zu können und glücklich zu sein.

Dr. Norden Bestseller Staffel 19 – Arztroman

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