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Drei Jahre zuvor,
Syrien

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Es passierte mitten am Tag.

Nicht nachts, wie sie es erwartet hatten, im Schutz der Dunkelheit, in der man den Überfall erst bemerkte, wenn er bereits im Gange war, sondern als die Sonne am höchsten Punkt stand und sie noch damit beschäftigt waren, die Flucht vorzubereiten.

Warum waren sie nicht früher aufgebrochen?

Jedes Mal, wenn sie daran zurückdachte, stellte sie sich diese Frage. Sie kreiste in ihrem Kopf wie ein summendes, bösartiges Insekt, das immer wieder zustach, sie quälte und das sie nicht verscheuchen konnte.

Ihr Vater hatte bereits Tage vorher gewusst, dass sie kommen würden. Die verheerenden Nachrichten aus den nur wenige Kilometer entfernten Dörfern hatten sich in rasender Geschwindigkeit herumgesprochen. Es war klar, dass Flucht die einzige Rettung war. Für Ungläubige und Teufelsanbeter, wie sie von ihnen beschimpft wurden, gab es keine Gnade. Trotzdem hatte Vater sich mit den anderen Männern tagelang beraten und überlegt, was zu tun sei. Natürlich war es nicht leicht, sich zu entschließen, alles Hab und Gut zurückzulassen und irgendwo neu anzufangen, wo man nicht erwünscht war.

Aber war es besser, zu sterben?

Erst als die Nachricht kam, dass sie den Nachbarort dem Erdboden gleichgemacht hatten und auf dem Weg ins Dorf waren, hatte er eingewilligt.

Fieberhaft hatten sie das bisschen Schmuck und Geld in den Kleidern, die sie am Leib trugen, versteckt. Die Sachen von bescheidenem Wert hatten sie ganz hinten in die Schränke geschoben, in der armseligen Hoffnung, hinter den Schüsseln würde niemand suchen. Und den Ziegen im Stall hatte sie die Eimer randvoll mit Wasser gefüllt. Mitnehmen konnten sie die Tiere nicht.

Die Unruhe auf der Straße hatten alle gleichzeitig gespürt. Dann hörten sie die dröhnenden Motoren der Militärautos. Kommandos wurden gebrüllt, ein Schuss, angstvolle Schreie gellten in den Himmel. Aus dem Hof gab es keinen Fluchtweg. Sie stürzten zurück ins Haus.

Zu spät.

Durchs Fenster sahen sie, dass ein Geländewagen vorfuhr. Fünf Männer mit Bärten, grün-grauen Kampfanzügen und Gewehren im Anschlag sprangen vom Wagen und schwärmten in verschiedene Richtungen aus. Einer lief auf die offene Haustür zu, dann stand er vor ihnen. Im gleißenden Gegenlicht der Sonne zeichneten sich nur seine Silhouette und das Gewehr ab. Erst als er zwei Schritte in den Raum hinein machte, waren harte Gesichtszüge und eine Sonnenbrille zu erkennen. Mit der entsicherten Waffe und scharfen Worten, die sie nicht verstand, scheuchte er sie aus dem Haus.

Mutter hatte die Arme schützend um sie und die zwei Schwestern gelegt, Vater hatte den Jüngsten hochgenommen. Der ältere Bruder ging gesenkten Hauptes zwischen ihnen und versuchte, sich seine Angst nicht anmerken zu lassen.

Hinter dem Jeep hatte ein Transporter mit offener Ladefläche gehalten. Einer der Bewaffneten zerrte ein Mädchen am Arm zu dem Fahrzeug und stieß es grob in den Rücken. Es stürzte vorwärts, konnte sich am Laster abfangen und kletterte ungeschickt hinauf. Drei weinende Mädchen knieten bereits dort und bettelten um Gnade oder schrien nach ihren Müttern. Die Familienangehörigen wurden weggezerrt.

Der Lärm war unbeschreiblich.

Der Mann griff ihr grob unter das Kinn, riss ihren Kopf hoch, dann zerrte er sie am Arm mit sich. Tief in ihrer Haut spürte sie die Fingernägel ihrer Mutter, die sie nicht loslassen wollte, doch es gab kein Entkommen. Er schleuderte sie gegen den Laster, dann krachte der Gewehrkolben in ihren Rücken. Sie schrie auf vor Schmerz und zog sich mit letzter Kraft auf die Ladefläche.

Angstvoll sah sie zu ihrer Familie. Der Vater hielt mit dem einen Arm den kleinen Sohn umklammert, mit dem anderen gestikulierte er bittend zu den Männern. Ihre Mutter weinte, flehte, schrie. Sie konnte sie in dem Lärm nicht heraushören, aber sie konnte es sehen. Der Mann ging zurück und wollte die Schwestern begutachten, aber die Mutter lies es nicht zu. Sie drehte sich mit den Mädchen im Arm zu Seite, wollte sie fortzerren.

Ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, hob der Mann sein Gewehr und schoss ihr in den Kopf.

Die Mutter sackte zusammen, begrub die beiden Töchter unter sich. Ihr Blut mischte sich mit dem Staub der Straße zu einem dicken, rot-klebrigen Brei. Hilflos und schreiend versuchten die Mädchen, sich zu befreien, unter ihr hervorzukriechen. Der Vater rührte sich nicht. Er hielt den kleinen Bruder so fest im Griff, dass dieser kaum atmen konnte. Ohne nachzudenken, warf sie sich gegen die Seitenstreben des Transporters. In ihrem Kopf gab es nur maßloses Entsetzen und den unbezwingbaren Drang, die Mutter zu retten, die Schwestern.

Wie aus dem Nichts traf ein Schlag ihren Kopf. Sterne zerplatzten wie Feuerwerk vor ihren Augen.

Dann wurde es schwarz.

Das Erste, was sie wahrnahm, war ein Rütteln, das durch den ganzen Körper ging. Und ihren Kopf, der bei jedem Stoß schmerzte. Vorsichtig öffnete sie die Augen. Es war stockdunkel.

Wo war sie?

Nur langsam wurde ihr bewusst, dass sie über Land fuhr, dass es der Sternenhimmel war, den sie über sich sah, und dass es menschliche Leiber waren, gegen die sie immer wieder geschleudert wurde. Schemenhaft sah sie Gestalten um sich herum sitzen. Frauen, Mädchen. Bestimmt zwanzig. Sie waren zusammengepfercht wie Hühner in einem Käfig. Die Köpfe hielten sie gesenkt, bei manchen zuckten die Schultern vom Weinen. Oder war es die unbefestigte Straße, die ihre Körper erschütterte? Vorsichtig tastete sie ihren Hinterkopf ab, fühlte eine dicke, pochende Beule, Haarsträhnen klebten in der verkrusteten Wunde. Der Fahrtwind der kalten Nacht und der Gedanke an das Schicksal ihrer Familie trieben ihr die Tränen in die Augen. Sie meinte, den Geruch von Fäkalien wahrzunehmen. Von wem er kam, konnte sie nicht ausmachen.

Vielleicht von ihr selbst.

Niemand sprach ein Wort. Sie hätte gerne Fragen gestellt. Irgendwelche. Um sich zu orientieren. Um zu hören, dass alles gut war. Aber ihr Gehirn schmerzte, war nicht in der Lage, sinnvolle Sätze zu bilden, und ihr Mund blieb stumm.

Sie fuhren durch die Nacht über die holperige Piste. Wie lange waren sie unterwegs? Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Stunden oder Minuten mischten sich mit Schmerzen und Orientierungslosigkeit. Erst als am Horizont das rot-warme Glühen des Sonnenaufgangs sichtbar wurde, kam ein Funken Lebensenergie zurück in ihren Körper. Sie wollte nur noch ankommen. Irgendwo. Nichts konnte schlimmer sein, als diese Ruckelei in der bedrängenden Enge mit den anderen Mädchen.

Doch sie irrte sich.

Zweiundsiebzig

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