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Heute, Nacht von Freitag auf Samstag,
Rheinallee, Bad Godesberg

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Die Bushaltestelle war beleuchtet, eine Insel aus Licht in der Dunkelheit.

Mit unsicheren Beinen kletterten und taumelten sie aus dem Bus. Zum Glück hatte der Busfahrer sie mitgenommen, obwohl sie ziemlich getankt hatten. Anisha wartete, bis alle sicheren Boden unter den Füßen hatten, und stieg als Letzte aus. Sie hatte nur ein paar Wodkas getrunken und war, verglichen mit den anderen, einigermaßen nüchtern.

Quietschend schlossen sich die Türen hinter ihr, der Fahrer gab Gas. Die Gruppe hatte sich in der Rheinaue getroffen und den lauen Abend mit Trinken verbracht. Wie das alle bei schönem Wetter machten, die nicht alt genug waren, um in Bars abzuhängen. Eigentlich hätte Anisha längst zu Hause sein müssen, sie hatte nur Ausgang bis halb elf. Doch sie war so froh gewesen, dass die Gruppe sie mitgenommen hatte, dass sie ausgeharrt hatte.

Schwarze Mädchen hatten es nicht leicht, Freunde zu finden.

Pia-Jill hatte sie gefragt, ob sie mitkommen wollte. Ein paar Drinks kippen, bisschen Spaß haben, chillen mit ihr, ihrem Freund Göran und den Kumpels. Sie hatte begeistert zugesagt, obwohl sie Pia-Jill nicht sonderlich mochte. Sie hatte sie für verschlagen und ordinär gehalten. Und nach diesem Abend hatte sie die Gewissheit, dass der Eindruck stimmte. Aber Anisha war ihr trotzdem dankbar, dass sie dabei sein durfte.

Pia Jill schwankte gefährlich auf den hohen Schuhen. Es war sowieso ein Abenteuer, dass sie so etwas trug. Sie war so rund und schwer, dass man fürchtete, die Absätze könnten jeden Augenblick wie Streichhölzer unter ihr zusammenknacken. Ihr schmächtiger Freund Göran zog eine Dose Bier, die er in den Bus geschmuggelt hatte, unter der Jacke hervor, öffnete sie zischend, nahm einen tiefen Schluck und stopfte sie zwischen Pia-Jills üppige Brüste in den Ausschnitt. Anisha schaute betreten weg.

Das hatte er schon den ganzen Abend so gemacht.

Pia-Jill als Bierhalter missbraucht.

Sie trug einen Schlauch aus T-Shirt-Stoff, der von der kugeligen Figur so gespannt wurde, dass er oben gerade noch die Spitzen der Brüste bedeckte und unten kaum bis unter den voluminösen Hintern reichte. Jedes Mal, wenn er ihr eine Dose ins Dekolleté stopfte, rutschte das Kleid unter den Busen und musste mit viel Mühe wieder hochgezogen werden. Sah Pia-Jill nicht, wie er den Kumpels zuzwinkerte und die dreckig grinsten? Aber sie lachte nur und sagte ups. Bei Anisha hatten die Jungs es auch versucht, aber sie war so dünn, dass es ein aussichtsloses Unterfangen gewesen war. Oben herum war sie flach wie ein Brett, worüber sie zum ersten Mal im Leben froh war.

Warum hatte Pia-Jill Göran als Freund? Es war klar, dass er sie nur für Sex gebrauchte. Fickmaschine nannte er sie und Pia-Jill schaute geschmeichelt, wenn er das sagte. Anisha verstand das nicht. Warum ließ sie sich so von ihm behandeln? War sie so happy, einen Freund zu haben, der sich in der Öffentlichkeit mit ihr zeigte, dass sie alles dafür akzeptierte? So hässlich, wie sie war, wollte sie ansonsten vermutlich keiner anrühren. Warum wusch sie die mausgrauen Haare nicht mal, anstatt sie in fettigen Strähnen um das teigige Gesicht ringeln zu lassen? Da halfen auch die langen, pinken Kunstfingernägel nicht und das zentimeterdick aufgespachtelte Make-up.

Pia-Jill hatte ihr anvertraut, dass Göran Frauen liebte, bei denen es etwas zum Anfassen gab. Nicht solche dürren Bohnenstangen wie Anisha. Deshalb sollte sie es gar nicht erst bei ihm versuchen. Und schwarze Mädchen könne er sowieso nicht ab. Die seien hässlich und dumm. Als wenn sie jemals so verzweifelt wäre, sich Göran an den Hals zu werfen. Er machte zwar etwas aus sich, in die kurz geschorenen Haare hatte er Blitze rasiert, er trug Markenklamotten und hatte Geld, um Alkohol zu kaufen, aber er war arschig und schmächtig. Sie überragte ihn um mindestens fünfzehn Zentimeter.

Trotzdem. Alles war besser, als zu Hause zu hocken. Einmal nicht mehr abends in der engen Wohnung mit der Familie zu sitzen. Einmal den Abend in der Rheinaue unter freiem Himmel mit Freunden zu genießen. Na ja, mit Kumpels.

Schillok, Görans bester Freund und seit der Grundschule benannt nach seinem Lieblingspokémon, stolperte hinter das Wartehäuschen. Durch die Glasscheibe sah sie ihn breitbeinig vor einem Zeitungskasten stehen. Leise plätscherte es durch die Nacht.

Dann hörten sie den Schrei.

Ein Stöhnen, Keuchen, Schläge, das Knirschen von Kies. Die Geräusche kamen vom Parkplatz neben der Bahnlinie, der komplett im Dunkeln lag.

„Was ist da los?“ Anisha packte die Angst.

Die anderen waren wie elektrisiert. Schillok schloss eilig seine Hose, Pia-Jill, Göran und die anderen zückten die Handys.

„Los, kommt!“ Göran schlich gebückt vorwärts, die anderen taten es ihm nach.

Pia-Jill zog die Bierdose aus dem Dekolleté und senkte den Kopf, der große Bauch und die hohen Schuhe erlaubten nicht mehr Akrobatik. Anisha ging auf Zehenspitzen hinterher, gleichermaßen getrieben von Neugier und der Panik, allein zurückzubleiben. Sie bezogen Stellung hinter einem Auto, die Jungs linsten über den Kofferraum. Pia-Jill hantierte an ihrem Handy. Das Keuchen und Stöhnen und das dumpfe Geräusch von Hieben war jetzt direkt vor ihnen.

Anisha erhob sich aus der Hocke.

Nur wenige Meter vor sich sah sie eine Gestalt, dunkel gekleidet, Kapuze auf dem Kopf, in den Händen eine dicke Stange. Davor lag ein großes Bündel, zusammengerollt. Ein Mensch. Beine eng an den Bauch gezogen, Arme schützend um den Kopf geschlungen. Die Waffe sauste nach unten. Immer wieder drosch der Täter auf das Opfer ein. Traf den Körper, die Arme, den Kopf. Im fahlen Licht des Mondes glaubte Anisha, bei jedem Schlag das Blut spritzen zu sehen.

„Wir müssen Hilfe holen!“ Ihre Worte waren ein einziges Zittern. Sie wollte 'Aufhören' schreien. Doch die Stimme versagte den Dienst. Ihr fehlte der Mut. Die fahrigen, eiskalten Finger kriegten das Handy nicht zu fassen, konnten es nicht aus der Tasche des Hoodies ziehen. Ein verzweifelter Blick auf die Kumpels zeigte, dass die überhaupt nicht daran dachten, die Polizei zu rufen. Göran filmte, die Freunde gafften erregt, Schillok hatte die rechte Hand in der Hosentasche und schien sich zu reiben. Pia-Jill tippte mit langen Fingernägeln hektisch auf dem Telefon herum.

Anisha wollte sich abwenden. Sie konnte nicht ertragen, was sie sah. Dort wurde ein Mensch erschlagen. Doch sie stand wie gelähmt und starrte.

Plötzlich erhellte ein Lichtblitz die Nacht, tauchte die brutale Szene für Sekundenbruchteile in gleißende Helligkeit, ließ die Zeit stillstehen.

Der Täter hielt in der Bewegung inne, wandte sich zu ihnen um. Diabolische Augen sahen Anisha direkt an, fraßen sich in sie hinein, schienen sich bis in ihre Seele zu graben. Dann senkte er die Arme und lief über den Parkplatz davon.

„Fick dich, Pia-Jill, du bist zu blöd zum Scheißen. Jetzt hast du ihn vertrieben.“ Göran gab seiner Freundin einen kräftigen Stoß.

Die geriet ins Taumeln und fiel hart auf das Hinterteil.

„So ein Fuck“, schrie er in die Nacht.

Er trat auf Pia-Jill ein, die wie ein Mistkäfer auf dem Rücken strampelte und vergeblich versuchte, aufzustehen.

Anisha erwachte aus der Erstarrung. Vorsichtig schlich sie um das Auto herum, näherte sich dem Opfer, von dem eine unheilige Ruhe ausging. Sie ging in die Hocke. Pia-Jill und Göran waren gefolgt und stellten sich neben ihr auf. Schillok leuchtete mit der Taschenlampe des Handys über das zerstörte, blutige Gesicht des Toten, die anderen hielten Abstand.

Anisha sah Knochensplitter, die aus Wunden ragten, blutverklebte Haarbüschel, Finger, die unnatürlich abgeknickt in alle Richtungen abstanden und einen goldenen Ring, der für einen Augenblick im Lichtkegel aufblitzte. Göran hatte ihn auch entdeckt. Er zerrte das blutbefleckte Schmuckstück von dem lädierten Finger und steckte es, ohne es abzuwischen, in die Tasche seiner Jeans.

„Da hat sich der Abend doch noch gelohnt.“ Er grinste seine Kumpels an, dann wandte er sich zu Pia-Jill. „Jetzt bist du dran, Fickmaschine. Du hättest fast alles ruiniert mit deinem Scheiß-Blitzlicht. Jetzt zeige ich dir, was passiert, wenn man sich so dämlich anstellt.“

Er zerrte sie zum nächsten Auto und drückte sie über die Motorhaube. Mit der anderen Hand öffnete er seine Hose und die Jungs stellten sich mit gezückten Handys im Kreis um die beiden auf.

Anisha entfernte sich mit unsicheren Schritten. Sie presste die Hände auf die Ohren, um das Keuchen des kopulierenden Pärchens und das Johlen der Spanner nicht hören zu müssen. Neben einem Busch beugte sie sich vor und übergab sich. Wieder und wieder. Als wollte sie nicht nur allen Wodka, sondern auch das gesamte Böse des heutigen Abends loswerden. Dann sank sie erschöpft auf die Knie. Sie wollte nur noch nach Hause. Weg von diesem Grauen. Und weg von dem Gedanken, der ständig durch ihren Kopf kreiste.

Sie kannte den Ring.

Zweiundsiebzig

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