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II. Siebengebirge, Sonntag, 3. August 2014

Für Henriette Erlenbach war das Siebengebirge ein magischer Ort, der perfekte Schauplatz für Mythen und Legenden. Wenn sie die Wälder durchstreifte, suchte sie nach der Stelle, wo Siegfried den Lindwurm getötet und in seinem Blut gebadet haben könnte, und in den mittelalterlichen Ruinen stellte sie sich die Burgfrauen vor, die in zugigen Kemenaten sehnsüchtig auf die Rückkehr der Ritter gewartet hatten. Das Gedicht von Lord Byron über den Drachenfels gefiel ihr zwar nicht besonders gut, aber es hatte im neunzehnten Jahrhundert die ersten Touristen angelockt: Reiche und vornehme Leute, elegant gekleidet, die noch die wilde Romantik des Siebengebirges zu schätzen gewusst hatten. Heutzutage heizten nur noch rücksichtslose Mountainbiker in aufreizend engen Trikot-Hosen über die Waldwege und Heerscharen von Tagesausflüglern verstreuten überall ihren Müll und belagerten die idyllischen Lokale.

Henriette Erlenbach verabscheute diese Banausen und startete ihre Touren immer so früh wie möglich, um dem Ansturm zuvorzukommen.

Es war ein strahlender Morgen, die Vögel zwitscherten und ihre Hündin Leica sprang glücklich um sie herum. Ein leichter Kopfschmerz machte sich bemerkbar, tief atmete sie die frische Luft ein, um ihn zu lindern. Am Abend vorher war es spät geworden. Sie hatte sich mit ihren drei Freundinnen getroffen, Wein getrunken und herumgeplänkelt. Zurückgeblieben war ein schales Gefühl. Warum hatten ihre Freundinnen so viel Glück im Leben und sie nicht? Sie hätte auch gerne eine Familie, aber sie hatte nie den Richtigen kennengelernt. Und jetzt, mit Anfang fünfzig, war es zu spät dafür. Frustriert trat sie einen Tannenzapfen ins Gebüsch. Leica sprang begeistert hinterher und legte ihn ihr vor die Füße. Henriette tätschelte sie abwesend und wanderte zügig weiter.

War sie zu anspruchsvoll?

Die Männer ihrer Freundinnen hätte sie jedenfalls nicht geschenkt haben wollen. Aber wenn sie ehrlich war, hatte es auch seit vielen Jahren keinen ernsthaften Interessenten mehr gegeben. Vielleicht musste sie wieder mehr ausgehen und dem Glück eine Chance geben.

Sie pfiff nach der Hündin und bog in den Weg zu den verlassenen Steinbrüchen ein. Früher war hier Basalt abgebaut und in die Umgebung verkauft worden. Die ambitionierten Bauvorhaben des Erzbistums Köln hatten über Jahrhunderte hinweg eine rege Nachfrage gesichert. Ohne Rücksicht auf die Natur waren breite Schneisen in die Felsen gefräst worden, nur die Profitgier hatte gezählt. Die Berge wären wohl irgendwann wie hohle Zähne in sich zusammengebrochen, wenn die Steinbruchkrater nicht plötzlich mit Quellwasser zugelaufen wären. So aber war eine malerische Seenlandschaft mitten im Wald entstanden.

Henriette erreichte das Ufer des Blauen Sees, der von steilen Felswänden eingefasst war. Sie schob ihre Sonnenbrille auf den Kopf und genoss die Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht. Bewusst verdrängte sie den Ärger auf ihre Freundinnen und spürte, wie Ruhe und Entspannung sich in ihrem Körper ausbreiteten. Dann setzte sie ihren Weg fort und begab sich auf einen Kletterpfad, der den Weg zu ihrem nächsten Ziel, dem Dornheckensee, abkürzte. Anfangs kam sie gut voran, doch sie hatte die Steigung unterschätzt. Immer öfter rutschten ihre Füße weg, sie musste Halt an Baumästen oder Wurzeln suchen. Leica war ihr gefolgt, vorsichtig eine Pfote vor die andere setzend. Henriette konnte ihr Unbehagen deutlich spüren. Plötzlich blieb die Hündin stehen und schaute unverwandt auf den gegenüberliegenden Berghang. Ein dumpfes Grollen kam aus ihrer Kehle.

„Was hast du denn?“

Sie folgte dem starren Blick des Retrievers und entdeckte wenige Meter seitlich ein mannshohes Loch in der Felswand. Vor dem Eingang verlief ein Vorsprung, in den drei breite Stufen geschlagen worden waren. Etwas Weißes lag dort, es sah aus wie eine Jacke. Henriette klammerte sich an eine Wurzel und versuchte, in die Höhle zu spähen. Die Sonne stand ungünstig, die Schwärze im Inneren war undurchdringlich. Plötzlich beschlich sie das Gefühl, dass sie aus der Dunkelheit heraus beobachtet wurde. Ein kalter Schauer lief ihr den Rücken hinunter. Ihr linker Fuß rutschte weg, in letzter Sekunde konnte sie sich abfangen.

„Verdammt.“

Sie musste aufpassen, sonst würde sie noch den Abhang hinunterstürzen.

„Das ist doch alles bloß Einbildung.“

Aber Leica blickte immer noch unverwandt auf die Höhlenöffnung, leise knurrend, das Fell gesträubt.

„Komm, Leica, drehen wir um. Der Weg ist zu steil. In meinem Alter sollte man solche Experimente lassen. Gehen wir zurück.“

Vorsichtig bewegte sie sich abwärts und war erleichtert, als sie wieder wohlbehalten am Seeufer stand. Was hatte sie sich für einen Unsinn eingebildet? Es gab in der Höhle nichts, was sie beunruhigen musste. Niemand hatte sie von dort aus beobachtet, die Höhenangst hatte ihr nur einen Streich gespielt. Henriette ging den Weg ein Stück zurück und umrundete die Anhöhe auf einem sanft geschwungenen, schattigen Weg. Bald ging es spürbar bergab und nach kurzer Zeit hatte sie den Dornheckensee erreicht.

Noch vor einigen Jahren war der See dicht bevölkert gewesen. Vor allem FKK-Freunde und Homosexuelle hatten sich hier getummelt und ihre Vorlieben frei ausgelebt. Doch bald waren die Behörden eingeschritten, hatten das Baden verboten und dem Treiben ein Ende gesetzt. Angeblich drohte Lebensgefahr durch abbröckelnde Gesteinsbrocken, Wasserstrudel und eiskalte Strömungen und tatsächlich hatte es im Laufe der Jahre immer wieder tödliche Unfälle gegeben. Jetzt war es hier tagsüber still geworden, doch nachts fand der Ort immer noch keinen Frieden. Gerüchten zufolge hatte die Vertreibung der illustren Freunde der Freikörperkultur und der gleichgeschlechtlichen Liebe Platz geschaffen für weitaus finsterere Gestalten. Es hieß, kriminelle Banden nutzten den See, um ihre Widersacher für immer verschwinden zu lassen. Henriette glaubte diese Geschichten nicht, trotzdem hätten sie in der Dunkelheit keine zehn Pferde hierher gebracht.

Friedlich lag der Dornheckensee vor ihr, seine Wasseroberfläche glitzerte, als wäre das Rheingold in ihm versenkt worden. Henriette hörte Leica geschäftig am Seeufer durch die Büsche rascheln, ansonsten war alles ruhig. Merkwürdig ruhig. Kein Vogelgezwitscher. Kein Summen von Insekten. Als hätte der Ort den Atem angehalten. Sie sah sich um. Nichts regte sich.

Dann schlug Leica an.

Henriette zuckte zusammen und seufzte. Bestimmt hatte die Hündin einen toten Vogel entdeckt, den sie ihr jetzt zeigen wollte. Sie würde nicht aufhören, zu bellen, bis sie ihren Fund präsentiert hatte.

Vorsichtig kletterte sie über alte, rostige Schienen, die vom Grund des Sees herauf ans Ufer führten und dort gekappt worden waren. Früher, vor dem Wassereinbruch, hatten unzählige Menschen im Steinbruch gearbeitet und die kleine Eisenbahn als Transporthilfe genutzt. Jetzt wirkten die verlassenen Gleise wie eine Geisterbahn.

Sie fluchte leise, als sie mit dem Fuß im Schlamm wegrutschte, und das Wasser in den Schaft ihres Wanderschuhs hineinlief. Leica bellte immer noch wie rasend. Sie kämpfte sich durch die dichten Uferpflanzen und seufzte erleichtert, als sie das Tier endlich erreicht hatte.

„Ruhig, was hast du denn?“

Sie sah sich um, konnte aber nichts Ungewöhnliches entdecken. Kopfschüttelnd streichelte sie die aufgeregte Hündin und versuchte, sie mit sich zu ziehen. Doch Leica stand wie festgewachsen, bellte und starrte auf das Wasser. Henriette schaute sich noch einmal gründlich um. An dieser Stelle wuchsen lange, dicke Schilfhalme aus dem Wasser, dazwischen hatte sich eine Seerose mit weißen Blüten ausgebreitet. Wasserläufer glitten elegant über den See und ein kleiner Mückenschwarm tanzte selbstvergessen in der Sonne.

Da entdeckte Henriette, was den Hund so beunruhigt hatte: Eine zarte, weiße Hand ragte aus den Wasserpflanzen, der schmale Zeigefinger war abgespreizt und schien auf sie zu zeigen. Erschrocken sog sie die Luft ein, ihr Herz begann wild zu hämmern. Sie warf den Rucksack auf den Boden und watete in voller Montur in den See. Unter der Wasseroberfläche, teilweise von großen Blättern verdeckt, sah sie den Körper einer jungen Frau. Lange Haarsträhnen schwebten um das aufgequollene Gesicht, ein blassblaues Kleid umspielte ihre Figur im seichten Takt der Wellen. An einem Knöchel befand sich ein grobes Seil, dessen ausgefranstes Ende sich sanft mit der Strömung bewegte. Henriette war von dem Anblick wie gefangen. Das Mädchen wirkte so friedlich, als würde es nur schlafen.

Das aufgeregte Gebell der Hündin riss sie brutal in die Wirklichkeit zurück.

Sie hatte eine Leiche gefunden.

Das Mädchen war gefesselt, sie war ermordet worden.

Hastig watete sie zum Ufer, zog mit zitternden Fingern das Handy aus dem Rucksack und wählte den Notruf.

Das Lager

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