Читать книгу Dr. Norden Staffel 2 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 7
Оглавление»Annemarie? Bist du das?« Ein ungläubiges Staunen im Gesicht, stand Hanno Thalbach am Tresen der Praxis Dr. Norden und betrachtete eine der beiden Assistentinnen. Ein ungläubiges Staunen stand ihm im Gesicht.
Wendy, die den Patienten mit gewohnter Höflichkeit, aber ebenso wie alle anderen, begrüßt hatte, sah zuerst den Mann und dann den Fragebogen an, den er für sie ausgefüllt hatte. Erst als sie seinen Namen noch einmal und diesmal aufmerksamer gelesen hatte, ging ihr ein Licht auf.
»Hanno! Ist das denn die Möglichkeit!« Ein Strahlen glitt über ihr Gesicht, und ihre Augen leuchteten vor Freude auf. »Um ein Haar hätte ich dich nicht wiedererkannt.«
»Kein Wunder.« Der Herr mit dem markanten Gesichtszügen, dem Grübchen im Kinn und den silbergrauen Haaren zeigte sich großzügig. »Immerhin haben wir uns bestimmt dreißig Jahre lang nicht gesehen. Ich verzeihe dir also großmütig.« Er zwinkerte ihr trotz seiner Schmerzen gut gelaunt zu.
Wendys Kollegin Janine, die im kleinen Labor neben dem Tresen Behandlungsbesteck sterilisierte, warf einen verstohlenen Blick durch die Tür, um zu sehen, wer ihrer Freundin und Kollegin dieses ungewöhnliche Lachen in die Stimme zauberte.
»Immer noch so großherzig wie damals«, spielte Wendy das Spiel ihres alten Bekannten amüsiert mit. Tapfer ignorierte sie dabei den strengen Geruch, der von seiner durchaus gepflegten Erscheinung ausging. »Aber sag mal, was führt dich denn nach München und ausgerechnet in unsere Praxis?« Sie blickte noch einmal auf den Fragebogen und sah ihre Annahme bestätigt. »Du wohnst ja immer noch in Heidelberg. Wenn ich nicht irre …«, sie zählte kurz nach, »… seit zweiunddreißig Jahren.«
»Das weißt du noch?« Hanno lächelte geschmeichelt und entblößte eine Reihe blendend weißer Zähne.
Wendy errötete schlagartig und senkte den Blick.
»Wie könnte ich das je vergessen?« Sie suchte nach passenden Worten, doch in dieser Umgebung, an ihrem Arbeitsplatz, mit dem Wartezimmer voller Menschen, wollte sie nicht mehr Privates preisgeben als unbedingt nötig. Deshalb besann sie sich auf das Nächstliegende. »Also, raus mit der Sprache«, forderte sie ihn auf. »Was fehlt dir?«
Hanno antwortete nicht sofort. Sein wohlwollender Blick ruhte auf Wendy, ein feines Lächeln spielte in seinen Mundwinkeln.
»Ich bin Immobilienmakler und habe mich auf alte Bauernhöfe spezialisiert«, setzte er dann zu einer Erklärung an. »Einer meiner Kunden hat mich beauftragt, einen Hof im Einzugsgebiet von München zu suchen.«
Das erklärte zumindest ansatzweise den strengen Geruch, der durch den Empfangsbereich der Praxis zog.
»Und bist du fündig geworden?«, fragte Wendy und drehte sich kurz zu Janine um, die mit einem anzüglichen Grinsen hinter ihr ans Fenster trat und es öffnete.
Hanno bemerkte es nicht. Er hatte nur Augen für seine frühere Freundin.
»Allerdings. Leider war niemand zu Hause. Als ich mich ein wenig auf dem Gelände umsehen wollte, ist es passiert. Ich bin auf einem Kuhfladen ausgerutscht und mit dem Knie auf einem Felsbrocken gelandet.« Hanno schnitt eine Grimasse und zog die Hose ein wenig hoch. »Das nur zur Erklärung, falls du dich über mein aufregendes Parfüm gewundert hast.«
Janines ersticktes Kichern verriet, dass sie mitgehört hatte.
Trotz aller Sorge um Hannos Gesundheit konnte sich auch Wendy ein erleichtertes Lachen nicht verkneifen.
»Du hast mich durchschaut«, gestand sie immer noch lachend und stand auf, um Hanno ohne Umweg übers Wartezimmer in eines der Behandlungszimmer zu bringen. Diese Vorzugsbehandlung hatte er allerdings nicht nur seinem Duft zu verdanken, sondern auch Wendys Jugenderinnerungen, die mit dem unvermuteten Auftauchen von Hanno Thalbach eine unerwartete Erfrischungskur bekommen hatten.
*
Fast gleichzeitig kamen Dr. Norden und sein Sohn Danny, der vor einigen Monaten als Junior in die Praxis eingestiegen war, an den Tresen.
Schnuppernd hob Daniel Norden die Nase und sah seinen Sohn irritiert an.
»Hier riecht es wie auf einem Bauernhof«, stellte er fest.
»Hast du etwa ein neues Deo?«, grinste Danny seinen Vater frech an.
Nur mit Mühe konnten sich die beiden Damen hinter dem Tresen ein amüsiertes Lachen verkneifen.
»Ein gewisser Herr Thalbach ist nach der Begegnung mit einem Kuhfladen gestürzt und hat sich das Knie verletzt«, erklärte Janine glucksend.
»Er wartet in Behandlungsraum drei auf einen Arzt«, fügte Wendy hinzu und warf einen Blick auf den Terminkalender.
»Das kannst du erledigen, Dad.« Danny zeigte sich großzügig und wollte schon nach der nächsten Patientenkarte auf seinem Stapel greifen, als Wendy ihm einen Strich durch die Rechnung machte.
»Tut mir leid, so einfach ist das nicht. Stephan Hagedorn hat extra einen Termin bei deinem Vater ausgemacht. Es geht um die Beratung wegen einer Fernreise, und du bist meines Wissens kein Spezialist in Sachen Tropenmedizin.«
»Ich bin aber auch kein Veterinär«, murrte Danny beleidigt.
»Nur weil einer riecht wie ein ganzer Kuhstall, ist er noch lange kein Rindvieh«, lachte Wendy leise und sah dem Junior nach, wie er sich zähneknirschend auf den Weg in das Behandlungszimmer machte, in dem Hanno Thalbach schon auf ihn wartete.
Daniel hingegen schickte seiner Assistentin einen dankbaren Blick.
»Nicht, dass ich mich nicht gern um den Patienten gekümmert hätte. Aber Strafe muss sein!« Er zwinkerte Wendy verschwörerisch zu und griff nach der Karte von Stephan Hagedorn, den er direkt im Anschluss höchstpersönlich im Wartezimmer abholte. Auf dem Weg ins Sprechzimmer plauderten sie miteinander.
»Die meisten meiner Patienten reisen nach Thailand oder China. Laos steht eher selten auf dem Programm«, erklärte Dr. Norden, als er von dem ungewöhnlichen Reiseziel erfuhr.
»Das liegt wohl daran, dass es in diesem gebirgigen Land keine herausragenden Attraktionen gibt«, erklärte Stephan Hagedorn bereitwillig.
»Was reizt Sie dann, dorthin zu fahren?«
»Das ist leicht zu beantworten. Außerhalb der Ballungszentren gibt es eine schier unglaubliche Ursprünglichkeit und Natürlichkeit. Es gibt keine Autobahnen, keine Industrie, eine einzige Zugverbindung und auch keine Wolkenkratzer. Das möchte ich einfach mit eigenen Augen sehen.« Stephans Begeisterung war ansteckend.
»Klingt wirklich verlockend«, bemerkte Daniel Norden. »Es ist toll, dass Ihre Frau so ein Abenteuer mitmacht. Dafür ist nicht jeder Mensch zu haben.«
Das Strahlen auf Stephans Gesicht verblasste ein wenig.
»Meine Frau kommt nicht mit«, gestand er offen. »Wir haben uns vor einem halben Jahr getrennt. Seither lebe ich allein, mein achtzehnjähriger Sohn ist bei meiner Frau geblieben. Aber wir haben einen guten Kontakt. Raphael ist wie ich begeisterter Marathon-Läufer. Ich trainiere ihn nach wie vor.«
»Oh, das tut mir leid.« Dr. Norden war ehrlich erschrocken. »Es lag nicht in meiner Absicht, an Wunden zu rühren.«
Zu seiner Erleichterung lächelte Stephan Hagedorn beschwichtigend.
»Keine Sorge, das tun Sie nicht«, versicherte er mit Nachdruck. »Die Entscheidung war schon lange gefallen. Aber wie das halt so ist: Die Umsetzung dauert oft viel länger, als es für alle Beteiligten gut ist.«
»Vor allen Dingen, wenn Kinder im Spiel sind.« Während des Gesprächs hatte Daniel die Empfehlungen der Deutschen Impfkommission herausgesucht und das umfangreiche Werk aufgeschlagen.
Stephan sah ihm dabei zu, war aber mit den Gedanken woanders.
»Tja, da haben Sie ein großes Wort gelassen ausgesprochen. Aber Raphael hat das besser weggesteckt, als wir dachten. Da fällt mir das Alleinsein schon schwerer. Es ist wirklich kein Honigschlecken, und ich würde diese Reise lieber mit einer Partnerin machen als allein.« Ein Schatten huschte über sein freundliches Gesicht. »Aber so einfach ist das heutzutage nicht mit der Partnersuche. Schon gar nicht in unserem Alter. Deshalb reise ich dieses Mal wohl allein.«
»Wann geht denn Ihr Flug?« Diese Frage stellte Daniel Norden mitnichten aus Neugier, sondern ganz konkret wegen der anstehenden Impfungen.
»In zwei Monaten.«
»Wer weiß, vielleicht findet sich ja bis dahin eine nette Begleiterin«, tat er seine Hoffnung kund und legte Stephan Hagedorn die Empfehlungen der Kommission vor, um die nötigen Schutzimpfungen zu besprechen.
»Ach, ehrlich gesagt habe ich die Hoffnung schon fast aufgegeben«, seufzte Stephan und beugte sich über den Impfplan. »Dann wollen wir mal sehen. Glauben Sie wirklich, dass das alles nötig ist?«, fragte er, und Dr. Norden begann mit einer ausführlichen Beratung, die keine Fragen offen ließ.
*
»Puls und Blutdruck sind wieder normal«, erklärte Dr. Jenny Behnisch ihrer jungen Patientin Teresa Berger, die Dr. Norden nach einem Kreislaufzusammenbruch in die Klinik eingewiesen hatte. Die Klinikchefin stand neben der Behandlungsliege und blickte beruhigend lächelnd auf die erschreckend magere, blasse Frau hinab. »Wie fühlen Sie sich?«
»Eigentlich ganz gut«, erwiderte Teresa missmutig. Sie machte keinen Hehl daraus, dass sie ganz und gar nicht mit dem Klinikaufenthalt einverstanden war. »Ich hab ja gesagt, dass mein Freund maßlos übertreibt. Wegen so eines kleinen Schwächeanfalls in die Klinik? Pffft …« Unwillig verdrehte sie die Augen gen Himmel, während Jenny das Krankenblatt studierte.
»Offensichtlich ist mein Kollege Norden derselben Meinung wie Ihr Freund«, entnahm sie den Informationen. Sorgfältig, wie Daniel war, hatte er jedes Detail seiner umfangreichen Untersuchung festgehalten. »Darf ich mir mal Ihren eingewachsenen Zehnagel ansehen?« Jenny Behnisch gab dem Pfleger, der ihr bei der Untersuchung assistierte, ein stummes Zeichen, und er trat an die Krankenliege, um Teresa behilflich zu sein.
Murrend schlüpfte sie aus dem unförmigen Clog und zeigte den entzündeten Zeh.
»Nicht erschrecken!«, kam sie einem überraschten Ausruf Jennys zuvor. »Das Schwarze ist nur Zugsalbe. Die hab ich im Medikamentenschrank gefunden und dachte, das kann nicht schaden.«
»Und ich dachte schon, der stirbt ab!«, entfuhr es dem Pfleger Manuel.
Für diese Bemerkung erntete er einen strafenden Blick der Chefin.
»Wenn Sie sich nicht sofort dranmachen und die Wunde säubern, stirbt Ihre Karriere, bevor sie überhaupt begonnen hat.«
»Natürlich, Chefin!« Schnell machte sich der junge Mann an die Arbeit und entfernte die Reste der schwarzen Paste, die Dr. Norden wegen Teresas Schmerzen übrig gelassen hatte. Obwohl Manuel dabei so behutsam wie möglich vorging, stöhnte Teresa mehr als einmal auf vor Schmerz.
Als der Pfleger seine Arbeit beendet hatte, trat Jenny an die Liege und begutachtete den entzündeten Zeh eingehend.
»Das sieht aber gar nicht gut aus«, kam sie dann zu demselben Schluss wie ihr Freund und Kollege Daniel Norden. »Die Wunde muss auf jeden Fall revidiert werden.«
»Was heißt das?«, erkundigte sich Teresa mit einem ängstlichen Blick auf die Klinikchefin.
»Das heißt nichts anderes, als dass die Kollegen die Wunde öffnen, säubern und desinfizieren. Mit etwas Glück klingt die Entzündung bald ab, und Sie können wieder apartes Schuhwerk tragen«, bemerkte Jenny mit einem amüsierten Blick auf die unförmigen Clogs, die auf dem Boden standen.
Doch Teresa wollte sich nicht aufheitern lassen.
»Was schätzen Sie, wie lange ich in der Klinik bleiben muss?«, erkundigte sie sich.
»Das kommt ganz auf die anderen Untersuchungsergebnisse an. Wenn wir nichts finden und der kleine Eingriff gut verläuft, können Sie in zwei, drei Tagen wieder nach Hause gehen«, versuchte Jenny Behnisch, ihre junge Patientin ein wenig aufzumuntern.
»Mal abgesehen davon, dass Sie sich hier wie im Hotel fühlen werden«, versuchte Pfleger Manuel, die Gunst seiner Chefin wieder zu gewinnen.
»Daran hab ich ja keinen Zweifel«, versicherte Teresa und seufzte tief. Wenn sie ganz ehrlich war, wünschte sie sich sogar nichts sehnlicher eine kleine Auszeit, um sich ein wenig von ihrem stressigen Alltag zu erholen. Seit dem Unfalltod ihrer Eltern im vergangenen Jahr kümmerte sie sich neben ihrem Studium der Tiermedizin allein um ihren sechzehnjährigen Bruder Anian und den großen Bauernhof, den die Eltern ihnen hinterlassen hatten. Auch wenn ihr Freund Marco tatkräftig mit anpackte und ihr stets mit Rat und Tat zur Seite stand, war Tess in letzter Zeit immer öfter am Ende ihrer Kräfte. Das lag nicht zuletzt daran, dass Anian sie in letzter Zeit herausforderte, wo er nur konnte, und ihre Autorität auf die Probe stellte.
All das wusste Daniel Norden, der sich ehrliche Sorgen um seine abgemagerte Patientin machte. Um ihre Einwände im Keim zu ersticken, hatte er ihr angeboten, Anian im Falle eines längeren Klinikaufenthalts bei sich aufzunehmen.
So nett Teresa dieses Angebot fand, so wenig konnte sie es annehmen. In diesem Zustand war Anian keiner Menschenseele zuzumuten. Außer ihrem Freund Marco vielleicht, der schon ungeduldig vor dem Behandlungsraum auf sie wartete.
»Und?«, fragte er aufgeregt, als Manuel das Bett mit Teresa herausschob.
»Der Zeh muss operiert werden. Außerdem muss ich ein paar Untersuchungen über mich ergehen lassen wegen des Kreislaufzusammenbruchs«, erklärte Teresa düster das, was Dr. Norden ohnehin schon vermutet und Dr. Behnisch bestätigt hatte.
Marco indes war zufrieden mit dieser Entscheidung.
»Was machst du denn für ein Gesicht?«, fragte er seine Freundin und drückte tröstend ihre Hand. »Falls du dir Sorgen wegen deines tyrannischen Bruders machst, kann ich dich beruhigen«, fuhr er fort. »Ich hab dir ja gesagt, dass ich zu ihm auf den Hof ziehe, bis du wieder da bist.«
»Ich weiß, und ich bin dir auch dankbar für dieses Angebot«, seufzte Teresa, während Marco neben ihrem Bett den Flur hinunterging. »Aber ob das gut geht?«
»Einen Versuch ist es zumindest wert. Vielleicht kommt er ja sogar zur Vernunft, wenn wir beide mal allein sind und uns von Mann zu Mann unterhalten können«, gab er sich einer vagen Hoffnung hin.
Sie hatten das Krankenzimmer erreicht, das Teresa für die Dauer ihres Aufenthalts in der Klinik bewohnen würde, und der Pfleger bugsierte das sperrige Bett durch die Tür an den Platz am Fenster.
»Na, was hab ich gesagt? Wie im Hotel.« Zufrieden deutete Manuel durch das Fenster hinaus in den herrlichen Klinikgarten, den Jenny nach ihren eigenen Plänen hatte gestalten lassen.
»Eher wie im Paradies«, seufzte Teresa, als ihr Blick auf der grünen Oase mitten in der Stadt ruhte. Aufgewachsen auf dem denkmalgeschützten Bauernhof ihrer Eltern liebte sie die Natur und konnte sich nicht vorstellen, jemals in der Stadt zu leben.
Zufrieden zwinkerte Marco dem jungen Pfleger zu. Auch er wusste, dass seine Freundin Ruhe und Erholung dringender brauchte als alles andere. Und er konnte nur hoffen, dass ihr störrischer Bruder Anian ihm keinen Strich durch die Rechnung machte und Teresa endlich Gelegenheit bekam, sich gründlich auszuruhen.
*
Ganz gegen ihre Gewohnheit und zu Daniel Nordens großer Überraschung konnte es Wendy an diesem Abend gar nicht erwarten, die Praxis zu verlassen.
»Wieso haben Sie es denn so eilig?«, erkundigte er sich und wunderte sich über die flammende Röte, die seiner langjährigen Assistentin ins Gesicht schoss.
»Ach, ich muss noch in den Baumarkt, um Blumenerde zu kaufen«, erklärte Wendy eine Spur zu hastig. Um ihren hochroten Kopf zu verbergen, wandte sie sich schnell ab und griff nach ihrer Jacke, die an der Garderobe hing.
»Aber da waren Sie doch erst vorgestern. Danny hat sie dort getroffen.«
»Ähm, ja, richtig. Aber es war zu wenig Erde. Ich brauche noch mehr«, redete sie sich rasch heraus.
»Haben Sie vor, einen Dschungel aus Ihrem Balkon zu machen?«, fragte Daniel unverdrossen weiter, als ihn Janines vielsagender Blick traf.
Zum Glück war er seit vielen Jahren verheiratet und hatte zwei Töchter, sodass er die stumme Sprache der Frauen inzwischen recht gut deuten konnte. In diesem Fall verstand er, dass er nicht so viele Fragen stellen sollte. Im Vertrauen darauf, früher oder später sowieso die Wahrheit zu erfahren, verabschiedete sich Daniel Norden schließlich von seinen beiden Assistentinnen.
Nachdem es noch nicht so spät war wie sonst, beschloss er, noch einen Abstecher in die Klinik zu machen, um nach Teresa Berger zu sehen und sich nach dem Verbleib ihres Bruders zu erkundigen.
Doch als Dr. Norden seinen Wagen auf dem klinikeigenen Parkplatz abgestellt hatte, änderte er seine Pläne spontan. Im Licht der untergehenden Sonne kam ihm eine schlanke Frauengestalt entgegen. Ihre Silhouette war von einer strahlenden Aureole umgeben, und schlagartig wusste Daniel, dass er noch nie Schöneres gesehen hatte. Ohne lange darüber nachzudenken, ging er auf die Frau zu. Gleichzeitig fühlte er sich wie ein Teenager. Sein Herz schlug aufgeregt in seiner Brust und seine Handflächen wurden feucht.
»Schöne Frau, darf ich es wagen, Ihnen meinen Arm und Geleit anzutragen?«, fragte er galant, als er an sie herantrat.
Die Frau blieb stehen und musterte ihn abschätzend von oben bis unten.
»Moment mal, ich kenne Sie doch!«, sagte sie ihm auf den Kopf zu. »Sind Sie nicht Dr. Daniel Norden? Der bekannte Allgemeinmediziner?«
»Ganz recht«, bestätigte Daniel und hielt ihr immer noch den Arm hin. »Ich kenne ein hübsches kleines Lokal ganz in der Nähe, mit einem verschwiegenen Garten. Darf ich Sie dorthin einladen? Bitte sagen Sie nicht nein.«
Doch die Schönheit dachte nicht daran, seine Bitte zu erhören. Ihre Augen wurden schmal. Um ihren schön geschwungenen Mund zuckte es spöttisch.
»Ich habe gehört, dass Sie ein verheirateter Mann und Vater von fünf Kindern sind.«
Damit hatte Dr. Norden nicht gerechnet. Verlegen senkte er den Kopf und scharrte mit der Schuhspitze auf dem Asphalt.
»Das ist richtig.« Er räusperte sich umständlich.
»Und Sie schämen sich nicht, einer fremden Frau einen unschicklichen Antrag zu machen?«
»Als Sie vorhin auf mich zukamen, ist etwas Seltsames passiert.« Seine Stimme war rau, als er sämtliche Verführungskünste anwandte, die er parat hatte. »Es hat einfach Klick gemacht, eine automatische Verbindung … So etwas habe ich nie zuvor erlebt. Es ist, als würde ich Sie schon ewig kennen«, gestand Daniel offen und suchte in ihrem Gesicht nach Zustimmung.
In der Tat schienen seine leidenschaftlichen Worte etwas zu bewirken.
»Tatsächlich?« Die Überzeugung der schönen Frau schien zu schwanken. »Hmm, jetzt, da Sie es sagen … Ich glaube, mir ist es ähnlich ergangen«, gab sie sichtlich verwirrt zu.
»Wirklich? Dann muss diese Begegnung Bestimmung sein«, lächelte Daniel weich und schickte der Schönheit einen schmelzenden Blick, der seine Wirkung nicht verfehlte.
»Ich weiß, dass es ein Fehler ist. Aber ich kann nicht anders«, gestand sie leise, als sie sich schließlich doch bei ihm einhakte. »Aber ich kann Ihnen nicht länger widerstehen.« In ihre Worte hinein klingelte das Mobiltelefon. Sie seufzte und suchte in ihrer Handtasche nach dem Apparat. »Sie müssen entschuldigen.« Ein Lächeln auf den Lippen, nahm sie das Gespräch an. »Dési, mein Schatz, was kann ich für dich tun?«, fragte sie in den Hörer und lauschte auf die aufgeregte Stimme ihrer jüngsten Tochter. »Herrje, das kann ich dir auch nicht erklären. Am besten, du fragst Papi. Er kann Mathe sowieso besser erklären als ich. Warte kurz, er steht mir zufällig gerade gegenüber. Ich frag ihn mal.« Fee ließ das Telefon sinken und sah Daniel mit einer Mischung aus Belustigung und Bedauern an. »Tja, das war’s dann wohl mit unserem heutigen Abenteuer. Ich fürchte, im Augenblick ist eher Albert Einstein denn Don Juan gefragt.«
Unwillig rollte Daniel mit den Augen.
»Hat das nicht Zeit bis später? Gerade heute dachte ich, dass ich mit meiner Verführungsnummer durchkomme«, fragte er in gespielter Verzweiflung und nahm seiner Frau den Hörer aus der Hand.
»Dési, deine Mami und ich …«, begann er. Weiter kam er nicht.
»Mein allerliebster, allerklügster Papi, du bist meine allerletzte Rettung«, säuselte das Mädchen so süß in den Hörer, dass Daniels Widerstand in Sekundenschnelle schmolz.
»Was kann ich für dich tun, mein Engelchen?«, fragte er und nahm Felicitas an der Hand, um mit ihr zum Wagen zu gehen.
Nur mit Mühe konnte sich Fee ein vergnügtes Kichern verkneifen. Natürlich war sie ein wenig enttäuscht darüber, dass aus dem gemeinsamen Abendessen in dem verschwiegenen kleinen Lokal vorerst nichts werden würde. Andererseits war sie der Überzeugung, dass gerade dieser Mangel an Gelegenheiten ihre Ehe so spannend und aufregend hielt. Die gegenseitige Anziehungskraft war ungebrochen, und sie hoffte mehr als alles andere, dass das auch in Zukunft so bleiben würde.
*
Als Marco vor dem Bauernhof seiner Freundin vorfuhr, sah er schon Teresas Bruder Anian, der vor der Tür stand und ihm feindselig dabei zusah, wie er den Wagen parkte.
»Was willst du denn hier?«, fragte der Teenager statt einer Begrüßung frech. »Und wo ist überhaupt Tessa? Was hat der Arzt gesagt?«
Schon wieder brodelte der Ärger in Marco. Da er aber nicht sofort einen Streit vom Zaun brechen wollte, mahnte er sich zur Ruhe. Er griff nach der Reisetasche, die er vorher zu Hause gepackt hatte, schlug die Wagentür zu und kam auf Anian zu.
»Deine Schwester musste in die Klinik«, erklärte er sehr ernst und hoffte, den jungen Mann damit zu beeindrucken.
In der Tat weiteten sich Anians Augen vor Schreck.
»Wieso Klinik? So schlecht ging’s ihr doch gar nicht.«
Marco maß den Bruder seiner Freundin mit einem nachdenklichen Blick.
»Deine Schwester ist eine sehr starke, tapfere Persönlichkeit. Sie macht das meiste mit sich selbst aus und macht nicht viel Wesen um ihre Person. Das solltest du eigentlich am besten wissen.«
»Was weißt du denn schon von mir?«, ließ eine pampige Antwort nicht lange auf sich warten. »Wieso bist du überhaupt hier? Das hättest du mir auch am Telefon sagen können.« Misstrauisch musterte Anian die Reisetasche.
»Weil Tess überhaupt nur in der Klinik geblieben bist, nachdem ich ihr versprochen habe, auf dich aufzupassen.«
Einen Moment lang rang Anian um Fassung. Dann warf er den Kopf in den Nacken und lachte schallend los.
»Auf mich aufpassen?«, fragte er, als er sich wieder beruhigt hatte. »Hör mal, Alter, ich bin sechzehn. Ich brauch keinen Babysitter mehr. Egal, was ihr beiden denkt.«
Marco atmete ein paar Mal tief ein und aus, um sich zu beruhigen. Auf keinen Fall wollte er gleich am Anfang einen gravierenden Fehler machen.
»Wir denken was anderes. Darf ich jetzt reinkommen?«
Breitbeinig stand Anian vor der altehrwürdigen und mit vielen Ornamenten verzierten Tür des Bauernhauses und starrte seinen Kontrahenten feindselig an. Er haderte sichtlich mit sich, sah aber schließlich ein, dass er keine Wahl hatte. Unwillig machte er gerade so viel Platz, dass Marco eintreten konnte.
»Hast du auch nichts vergessen?«, erkundigte er sich spöttisch, als er hinter dem Freund seiner Schwester her durch den breiten Flur ging und ihm über die knarzende Holztreppe nach oben folgte. »Handtuch, Zahnbürste und Kamm eingepackt?«
»Gut, dass du es sagst. Deo hab ich vergessen. Aber du kannst mir sicher welches leihen«, spielte Marco auf den intensiven Duft an, der von Anian ausging.
Seit Neuestem waren Mädchen nicht mehr eklig, sondern faszinierende, geheimnisvolle Wesen, die die jungen Männer nach allen Regeln der Kunst zu beeindrucken versuchten. Wie viele andere auch hatte Anian aber das rechte Maß nicht gefunden. Er übertrieb es mit dem Coolsein und wirkte mit seinen nach hinten gegelten Haaren und den betont lässigen Klamotten in Marcos Augen eher lächerlich denn attraktiv.
Der Blick, der ihn aus braunen Augen traf, war vernichtend.
»Sehr witzig!«, fauchte Anian und stürmte am Freund seiner Schwester vorbei, nicht ohne ihn dabei anzurempeln.
Fast sofort bereute Marco seine unbedachten Worte.
»Es tut mir leid, Anian«, rief er dem erbosten jungen Mann nach. Schließlich war er selbst einmal jung und unsicher gewesen und erinnerte sich noch genau daran, wie sich der junge Mann fühlte. »Komm schon, sei nicht sauer«, bat er. »Schau mal, die Situation ist für uns beide nicht leicht. Ich mache mir auch wahnsinnige Sorgen um Tess. Statt uns zu bekriegen, sollten wir das Beste aus der Sache machen.«
Anian stand an der Tür zu seinem Zimmer und schickte seinem Gegenspieler funkelnde Blicke.
»Das Beste für uns beide wäre, wenn jeder in seinem eigenen Zuhause bliebe«, stellte er unmissverständlich und erbarmungslos klar.
»Deine Schwester macht sich Sorgen um dich. Warum willst du das eigentlich nicht verstehen?«, fragte Marco ungeduldig.
Anian schnaubte abfällig.
»So, wie ich Tessa kenne, hat sie kein Wort gesagt. Wahrscheinlich hast du dich selbst eingeladen, um hier mal den großen Macker zu spielen.« Auf eine Antwort wartete er gar nicht erst. Er verschwand in seinem Zimmer und warf die Tür krachend hinter sich ins Schloss.
Einen Moment lang verharrte Marco reglos am Treppenabsatz und haderte mit sich. Am liebsten hätte er kehrt gemacht und wäre auf direktem Weg nach Hause gefahren. Doch er hatte Teresa versprochen, sich um Anian zu kümmern. Dieses Versprechen würde er nur brechen, wenn es keinen Ausweg mehr gab. Und davon waren sie beide noch weit entfernt. In dieser Hoffnung machte er sich auf den Weg in das hübsche Zimmer mit den kleinen Sprossenfenstern, die einen unbeschreiblichen Blick über Felder, Wiesen und Wälder gewährten. Marco liebte das Bauernhaus genauso wie Teresa. Die knarzenden Böden, den Geruch nach Holz und Wachs, die rustikalen Möbel. Gleichzeitig wusste er, dass das Anwesen zu groß war, als dass Teresa es auf Dauer allein bewirtschaften konnte. Eine Lösung musste her. Aber erst, wenn sie wieder gesund war.
*
»Ich kann es immer noch nicht glauben, dass ich dich wiedergefunden habe.« Als Hanno Thalbach seiner Jugendfreundin Wendy am Tisch eines stilvollen Restaurants gegenübersaß, machte er gar nicht erst den Versuch, seine Begeisterung zu verbergen. »Weißt du eigentlich, dass du immer noch eine sehr aparte Erscheinung bist? Genau wie damals …«
Wendy lachte und drehte verlegen das Weinglas in den Händen. In Gesellschaft dieses attraktiven Mannes fühlte sie sich wie im Märchen. Die luxuriöse Umgebung, in der sie fast ein wenig gehemmt war, ließ das Treffen noch unwirklicher scheinen. Sie selbst hätte niemals so ein edles Restaurant gewählt und war überwältigt von der Eleganz und Diskretion, mit der sie bedient wurden.
»Und du bist immer noch derselbe Charmeur wir früher.« Ein Lächeln auf den Lippen, hob Wendy ihr Glas und stieß mit Hanno an. Dann wurde sie ernst. »Trotzdem hat es damals nicht geklappt mit uns.«
»Das lag aber nicht an mir«, erklärte Hanno ernst. Sein intensiver Blick ließ Wendys Herz schneller schlagen. »Wenn du dich recht erinnerst, wollte ich damals das ganze Paket.«
»O ja«, bestätigte Wendy und nickte energisch. »Daran erinnere ich mich noch gut. Du hast von Heiraten und Kinderkriegen gesprochen. Von einem Einfamilienhaus im Grünen. Das hat mich in Panik versetzt. Ich war doch erst Anfang zwanzig damals.«
Auch Hanno erinnerte sich.
»Heute weiß ich auch, dass ich dich mit meinem Wunsch nach Sicherheit überfahren habe. Aber damals wollte ich so ein Leben um jeden Preis«, gab er zu und beobachtete den Ober dabei, wie er zwei verführerisch angerichtete Dessertteller servierte. »Hmmm, das sieht ja lecker aus.«
»Ich liebe gutes Essen!«, seufzte Wendy verzückt und griff nach Löffel und Gabel, um sich die süße Sünde schmecken zu lassen. Apfelkücherl mit hausgemachtem Walnusseis, Bayerisch Creme an Himbeersauce und ein luftiger Karamellflan sahen einfach zu köstlich aus.
Statt selbst zu essen, betrachtete Hanno seine Begleiterin mit einer Mischung aus Begeisterung und Amüsement.
»Du bist eine der wenigen Frauen, die ohne Reue mit gutem Appetit essen. Es macht richtig Spaß, dir zuzuschauen.«
»Das sieht man meiner Figur auch an«, bemerkte Wendy ungerührt. »Übrigens ein Vorteil des Singlelebens. Ich kann genüsslich in einem Ohrensessel sitzen und dick und kugelrund werden, ohne mir Gedanken darüber machen zu müssen, wie ich aussehe. Geschweige denn darüber, wie ich besser aussehen könnte«, lächelte sie vergnügt. Dabei spießte sie ein Stück Apfelring auf die kleine Gabel und verspeiste es mit sichtlichem Genuss.
»Du bist weder dick noch kugelrund und gefällst mir außerordentlich gut, ob du nun willst oder nicht«, sprach Hanno das aus, was er dachte. »Diese weiblichen Hungerhaken konnte ich sowieso noch nie leiden. Mal abgesehen davon, dass du sehr wohlproportioniert bist und alles am rechten Fleck sitzt.« Sein Blick streifte Wendys schönes, volles Dekolleté, und es kostete ihn alle Mühe, sich nicht mit Blicken daran festzusaugen.
Wendy bemerkte es und wechselte vorsichtshalber das Thema.
»Ich gehe mal davon aus, dass du dir deinen Lebenstraum mit dieser Frau erfüllt hast, mit der du damals nach Heidelberg gegangen bist?«, fragte sie und kratzte den letzten Rest Walnusseis vom Teller.
Hanno, der seine Mahlzeit inzwischen beendet hatte, lehnte sich zurück und ließ die Gedanken schweifen.
»Das ist richtig. Und ich will ehrlich zu dir sein: Ich habe diese Entscheidung nie bereut. Helena und ich haben eine wunderschöne, harmonische Ehe geführt.« Unvermittelt war seine Stimme traurig geworden.
Wendy wurde hellhörig. Sie legte ihr Besteck zur Seite und musterte ihr Gegenüber aufmerksam.
»Das klingt danach, als wäre es vorbei.«
Hanno nickte, sein Lächeln war eine Spur schmerzlich.
»Helena ist vor vier Jahren gestorben.« Er gönnte sich einen letzten melancholischen Augenblick, dann kehrte er ins Hier und Jetzt und zu Wendy zurück. Hanno beugte sich ein Stück vor und griff nach ihren Händen, die auf dem Tisch lagen. »Es hat einige Zeit gedauert, bis ich ihren Tod verwunden hatte. Aber heute ist es vorbei«, versprach er fast feierlich.
»Es ist gut, dass du der Trauer Raum gegeben hast«, erwiderte Wendy sanft und zog ihre Hände nicht zurück.
Hanno nahm es als gutes Zeichen.
»Aber genug von mir«, zog er einen verbalen Schlussstrich unter die Vergangenheit und lächelte warm. »Was ist mit dir? Wie ist es dir in der Zwischenzeit ergangen?«
»Oh, ich habe eine erwachsene Tochter, die längst ihrer eigenen Wege geht, und bin seit vielen Jahren überzeugter Single«, erwiderte Wendy lächelnd.
»Freiwillig?«, hakte Hanno überrascht nach. »Ich hätte nie damit gerechnet, dass eine tolle Frau wie du allein ist.«
Es war ihm anzumerken, dass dieses Kompliment von Herzen kam, und Wendy spürte die Hitze auf ihren Wangen.
»Ach, weißt du, diese ganzen Liebesdinge sind mir viel zu kompliziert.« Mit Schaudern dachte sie an ihre zwei letzten Begegnungen mit den Herren der Schöpfung. Der eine war ein liebenswerter Lügner und Betrüger gewesen und der andere ein humorloser, ungerechter Amtmann. »Nein, das ist nichts für mich. Dazu liebe ich mein unkompliziertes, unspektakuläres Leben viel zu sehr.«
Diese Antwort schien Hanno nicht wirklich zu gefallen.
»Und du glaubst nicht, dass dir ein bisschen Abwechslung und Spannung guttun würden? Ein bisschen Aufregung?«, fragte er mit einem schelmischen Lachen.
Wendy entzog ihm ihre Hände und lehnte sich zurück.
»Machst du mir etwa einen Antrag, Hanno?«, fragte sie ungläubig und zweifelte ein weiteres Mal an ihrer Wahrnehmung. Dieser Abend in dem schicken Restaurant und in Begleitung dieses derart charmanten Mannes war so anders als alles, was sie in letzter Zeit erlebt hatte. Die Versuchung war groß, die alten Überzeugungen über Bord zu werfen. »Was hast du vor?«, erkundigte sie sich misstrauisch.
Das Lachen auf Hannos Gesicht wurde noch breiter.
»Das klingt ja furchtbar schwerwiegend«, amüsierte er sich. »Aber keine Angst: Ich bin aus dem Alter heraus, in dem ich einen Sohn zeugen, ein Haus bauen oder einen Baum pflanzen muss. Heute wünsche ich mir nur deshalb eine Partnerin, weil es zu zweit einfach schöner ist allein. Weil ich gern jemanden an meiner Seite habe, den ich verwöhnen, mit dem ich Spaß haben kann.« Er sah Wendy auf eine eigentümliche Art und Weise an, wie sie schon lange nicht mehr angesehen worden war. »Und falls es dich beruhigt: Ich habe gar nichts vor. Ich freue mich einfach nur daran, mit dir zusammen zu sein. Deine Gesellschaft ist etwas ganz Besonderes. Du bist eine ungewöhnlich interessante Gesprächspartnerin.« Er hielt inne und zögerte.
Feinfühlig, wie Wendy war, ahnte sie, dass das noch nicht alles war. Gleich darauf erfuhr sie, dass sie recht hatte.
»Deshalb würde ich mich freuen, wenn wir den Kontakt nicht mehr verlieren würden.«
»Wie stellst du dir das vor? Immerhin lebst du in Heidelberg«, fragte sie postwendend. Auch sie fühlte sich außergewöhnlich wohl in Hannos Gesellschaft. Der Abend war wie im Flug vergangen. Und doch wusste sie nicht, wohin das alles führen sollte. Was sie eigentlich wollte.
Hanno schien ihre Gedanken lesen zu können.
»Du tust ja gerade so, als wäre Heidelberg auf dem Mond«, amüsierte er sich. »Ich würde dir gern mein Zuhause zeigen. Es ist ein altes Fachwerkhaus, das dir bestimmt gefällt. Warum kommst du nicht einfach am Wochenende mit, wenn ich zurückfahre? Ich zeige dir meine Wahlheimat. Heidelberg hat eine grandiose Altstadt mit einer imposanten Burg.«
»Außerdem befindet sich dort die älteste Hochschule auf dem Gebiet des heutigen Deutschland, die Wissenschaftler und Besucher aus aller Welt anzieht«, trumpfte Wendy mit ihrem Wissen über die deutsche Großstadt am Neckar auf und beeindruckte Hanno damit sichtlich.
»Alle Achtung«, lobte er, und wenn möglich leuchteten seine Augen noch mehr. »Sag bloß, dass du schon mal da warst und mich nicht besucht hast?«
Sein betrübter Gesichtsausdruck brachte sie zum Lachen.
»Nein, ich war noch nie dort. Aber ich kenne Bilder. Es ist bestimmt sehr schön«, räumte sie zögernd ein.
Hanno ahnte, dass er nicht mehr weit von seinem Ziel entfernt war. Er beugte sich vor und sah ihr tief in die Augen.
»Dann tu mir den Gefallen und komm mit«, bat er sie fast flehend. »Nur dieses eine Wochenende. Das wäre wunderschön.«
Wendy haderte mit sich, und so spielte er schließlich den letzten Trumpf aus, den er im Ärmel hatte.
»Du kannst mich alten, kranken Mann doch nicht allein reisen lassen.« Mit schmerzverzerrtem Gesicht griff er nach dem verletzten Knie, das Danny Norden am Vormittag fachgerecht versorgt hatte. »Stell dir vor, mir passiert etwas. Du würdest deines Lebens nicht mehr froh werden.«
Dieser Überzeugungskraft hatte Wendy nicht viel entgegenzusetzen. Selten zuvor hatte jemand versucht, sie mit so viel Charme zu einem Wochenendausflug zu überreden.
»Mal abgesehen davon, dass du von deinem Knie die ganze Zeit nichts gespürt hast, hast du natürlich absolut recht«, ließ sie durchblicken, dass sie seine List durchschaut hatte. »Ich werde darüber nachdenken«, gab sie sich schließlich geschlagen. »Aber nur, wenn du mir versprichst, dass du dir nicht zu viele Hoffnungen machst, was uns betrifft.«
»Alles kann, nichts muss«, machte Hanno einen Vorschlag und winkte dem Ober, um die Rechnung zu ordern.
Dagegen hatte Wendy nichts einzuwenden, und so beschloss sie, seinen Rat anzunehmen. Vielleicht war sie inzwischen wirklich zu engstirnig und vorsichtig. Warum nicht einmal die Dinge entspannt auf sich zukommen lassen und gut gelaunt genießen? Mal abgesehen davon, dass ihr Leben offenbar doch nicht so unspektakulär war, wie sie gedacht hatte. Würde sonst ein aufregender Mann wie Hanno Thalbach derart nachdrücklich um ihre Gesellschaft bitten?
*
Désis Hausaufgaben nahmen mehr Zeit in Anspruch als gedacht, und der Abend war schon weiter vorangeschritten als gedacht, als Daniel Norden endlich aus dem Zimmer seiner Tochter kam. Fee hatte sich in der Zwischenzeit ins Arbeitszimmer zurückgezogen. Seit einigen Monaten absolvierte sie eine Weiterbildung zur Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und musste neben ihrem Praktikum an der Pädiatrie in der Behnisch-Klinik fleißig lernen.
Da auch die anderen Familienmitglieder beschäftigt waren, setzte sich Daniel Norden schließlich allein ins Wohnzimmer und schaltete lustlos den Fernseher ein. Er zappte durch die Programme, fand aber nichts Ansprechendes und schaltete den Apparat wieder ab. Eine Weile saß er im Wohnzimmer und lauschte auf die Geräusche des friedlichen Abends, die durch die offen stehende Terrassentür hereindrangen. Ab und zu fuhr ein Wagen vorbei. Irgendwo saßen junge Leute zusammen und unterhielten sich. Hin und wieder lachten ein paar von ihnen. Sonst war alles still, und unwillkürlich wanderten Daniels Gedanken wieder zu seiner jungen Patientin Teresa Berger, die er eigentlich hatte besuchen wollen. Nach einem Blick auf die Uhr traf er eine Entscheidung und stand auf.
»Ich fahr schnell noch einmal in die Klinik«, teilte er seiner Frau mit, die hochkonzentriert inmitten Bergen von Büchern und einem Wust an Papier saß.
»Hmmm«, antwortete Felicitas, ohne den Kopf zu heben.
Daniel hatte Verständnis für dieses Maß an Versenkung und zog sich lächelnd zurück. Er bewunderte seine fleißige Frau grenzenlos für ihren Ehrgeiz und dachte sogar noch daran, als er die Klinik betrat.
»Nanu, Kollege Norden, sind Sie verliebt oder warum lächeln Sie so selig?«, erkundigte sich die Chirurgin Dr. Paula Clement launig. Sie hatte Nachtschicht und freute sich über den Besuch des Allgemeinarztes. »Und was machen Sie überhaupt um diese Uhrzeit in der Klinik? Hatten Sie Sehnsucht nach mir?«, fragte sie frech und zwinkerte ihm zu.
»Ehrlich gesagt eher nach einer Auskunft von Ihnen«, gab Daniel offen zu, und Paula verdrehte in gespielter Verzweiflung die Augen.
»Das ist mein Schicksal. Hier in der Klinik geht es immer nur um meine fachliche Kompetenz.« Seite an Seite mit ihrem Kollegen wanderte sie den Klinikflur hinunter. Sie hatten dasselbe Ziel.
»Sie wollen mir doch nicht weismachen, dass Sie keine Chancen auf dem Markt der Eitelkeiten haben?« Ungläubig schüttelte Daniel Norden den Kopf und musste unwillkürlich an seinen Patienten Stephan Hagedorn denken, der ähnliche Probleme hatte wie seine Kollegin.
Mit ihren blauen Augen zu den dunklen Haaren und dem ovalen Gesicht war Paula Clement eine äußerst aparte Erscheinung. Zudem war sie alles andere als zickig, dafür intelligent und humorvoll, warmherzig, witzig und loyal. Im Grunde genommen war Paula Clement der fleischgewordene Männertraum. Zumindest in der Theorie. Wie bei so vielen Ärzten scheiterte es aber an der Praxis, der kaum vorhandenen Freizeit. Ständig wechselnde Arbeitszeiten, Bereitschaftsdienste und kaum freie Wochenenden bereiteten jeder hoffnungsvollen Liebelei ein schmerzliches Ende.
»Stellen Sie sich vor: In meiner Verzweiflung hab ich’s sogar mit einer Singlebörse im Internet versucht«, erwiderte Paula düster und steckte ihre Hände noch tiefer in die Taschen ihres Kittels. »Aber wenn das so weitergeht, lösche ich mein Profil wieder. Noch ein einziger attraktiver, erfolgreicher, gebildeter Geschäftsmann, und ich drehe durch.«
Nur mit Mühe konnte Daniel ein Lachen unterdrücken.
»So schlimm?«, fragte er und versteckte sich hinter einem Hustenanfall.
Paula Clement bemerkte es nicht.
»Noch schlimmer. Die meisten Angaben im Internet sind gelogen oder gnadenlos geschönt. Inzwischen glaube ich gar nichts mehr!« Entschieden schüttelte sie den Kopf. »Dann doch lieber harte medizinische Fakten. Da weiß man wenigstens, was man hat.« Sie waren vor der Station angekommen, und Daniel hielt ihr zuvorkommend die Tür auf.
»Bestimmt braucht man eine sehr ausgeprägte Menschenkenntnis, um die Joker aus der Vielzahl der Anzeigen herauszufischen«, gab Daniel Norden unumwunden zu. Dabei war er mehr als froh, seit so vielen Jahren glücklich verheiratet und nicht gezwungen zu sein, solche Wege zu gehen.
»Oh, tun Sie sich keinen Zwang an. Sie können mir gern bei der Auswahl behilflich sein«, schmunzelte Dr. Clement amüsiert. »Vielleicht durchschauen Sie Ihre Geschlechtsgenossen ja besser als ich.«
»Bei Gelegenheit können wir das gern versuchen. Aber zunächst einmal bin ich wegen den harten medizinischen Fakten hier«, schlug Daniel Norden den Bogen zurück zum Grund seines Besuchs. »Jenny hat mir am Telefon gesagt, dass Sie die Resektion von Teresa Bergers Zeh übernommen haben.«
»Richtig.« Sie betraten einen kleinen Aufenthaltsraum am Anfang des Flurs. »Kaffee?«, fragte Paula zuvorkommend.
»Nein, danke!«, lehnte Daniel ab und sah ihr dabei zu, wie sie sich eine große Tasse des rabenschwarzen Gebräus einschenkte. Ohne Milch und Zucker trank sie einen großen Schluck und dachte dabei an die Operation des vergangenen Nachmittags.
»Die Resektion ist ganz gut verlaufen. Jetzt müssen wir abwarten, ob die Entzündung abklingt.«
»So, wie das Nagelbett ausgesehen hat, besteht nach wie vor die Gefahr einer Sepsis«, mutmaßte Daniel ernst und griff nach einem Keks, der in einer Schale auf dem Tisch lag.
»Nicht nur das«, stimmte Paula Clement zu. »Auch eine nekrotisierende Fasziitis ist nicht ausgeschlossen. Frau Bergers Allgemeinzustand ist nicht der beste. Sie ist so abgemagert, dass ihr Körper möglicherweise nicht viel Widerstandskraft hat.«
Daniel Norden seufzte. Diese Problematik war ihm durchaus bewusst.
»Wollen wir hoffen, dass das Glück auf unserer, respektive auf Frau Bergers Seite ist«, tat er seine Hoffnung kund. »Kann ich mal nach ihr sehen?«
Paula Clement nickte lächelnd.
»Wenn Sie mir versprechen, nachher noch mal bei mir vorbeizukommen. Es gibt da einen letzten vielversprechenden Kandidaten, den ich gern kennenlernen würde. Wenn Sie Ihre Menschenkenntnis auf ihn anwenden würden …?« Sie legte den Kopf schief und lächelte ihn so schmelzend an, dass Daniel nicht anders konnte, als lachend sein Versprechen zu geben, bevor er sich auf den Weg zu Teresa machte.
*
Trotz der fortgeschrittenen Stunde hatte Teresa noch überraschend Besuch bekommen. Niemand anderer als ihr Bruder hatte sich die Mühe gemacht und war mit seinem Mofa in die Klinik gefahren. Nachdem er sich nach dem Gesundheitszustand seiner Schwester erkundigt hatte, war er halbwegs beruhigt und wandte sich einem anderen, für ihn brennend wichtigen Thema zu, das auch der eigentliche Grund für seinen Besuch war.
»Ich hab dir doch vor ein paar Tagen von dem Festival morgen Abend erzählt«, begann Anian vorsichtig und zog sich einen Stuhl ans Bett.
Teresa, noch müde von dem überstandenen Eingriff am Fuß, blinzelte angestrengt ins Licht und dachte nach.
»Du meinst das Konzert auf dem alten Flughafengelände in München?«, erinnerte sie sich dunkel an Anians Frage.
»Stimmt genau. Ich muss endlich wissen, ob ich hingehen darf. Sven will die Karten besorgen, bevor es restlos ausverkauft ist«, erklärte der Teenager ungeduldig und rutschte nervös auf dem Stuhl hin und her.
Nur mit Mühe konnte Teresa ein Stöhnen unterdrücken. Eigentlich hatte sie keine Kraft, um so eine nervenaufreibende Diskussion zu führen.
»Ich hab dir doch neulich schon gesagt, dass ich das nicht so toll finde«, erinnerte sie Anian matt an ihre Worte. »Das Konzert geht erst am späten Nachmittag los und dauert bis tief in die Nacht. Da darf ich dich nicht hinlassen, selbst wenn ich wollte. Du bist minderjährig, und ich habe die Aufsichtspflicht. Was, wenn was passiert?«
»Was soll denn schon passieren?«, schnaubte Anian genervt. »Ich bin doch kein Baby mehr.«
»Und was, wenn die Polizei auf dich aufmerksam wird und deinen Ausweis sehen will?«, fragte Tessa hilflos. Selbst gesund fiel es ihr schon schwer, sich gegen ihren sturen Bruder zu behaupten. So krank, wie sie sich jetzt fühlte, war es ein Ding der Unmöglichkeit. »Dann bekommen wir massive Probleme mit dem Jugendamt.«
»Mensch, Tessa, du hast immer so viel Angst. Kein Wunder, dass du keinen Spaß am Leben hast«, schimpfte Anian unwillig. »Ich muss unbedingt auf dieses Festival. Alle aus meiner Klasse gehen hin«, log er in seiner Not. »Wie sieht das denn aus, wenn ich als Einziger nicht darf?« Er schnitt eine Grimasse. »Meine große Schwester hat’s nicht erlaubt!«, zeterte er mit verstellter Stimme und machte ein paar Faxen dazu.
Teresa lachte widerwillig.
»Ach, Anian, mach’s mir doch nicht so schwer«, bat sie leise, als es an der Tür klopfte.
Wie von der Tarantel gebissen sprang der junge Mann auf.
»Wer ist denn das schon wieder? Doch nicht etwa dein Macker?«, fragte er unwillig.
Nur mit Mühe gelang es Teresa, ein Stöhnen zu unterdrücken.
»Mein Macker hat auch einen Namen«, erinnerte sie ihren Bruder ärgerlich. »Marco war den halben Nachmittag bei mir, was ich übrigens sehr nett finde. Und im Übrigen glaube ich nicht, dass er heute noch mal kommt. Irgendwann muss er ja auch mal arbeiten.« Sie wandte den Blick zur Tür. »Herein!«
Die Klinke wurde heruntergedrückt, und Daniel Norden kam ins Zimmer. Freundlich begrüßte er seine Patientin.
»Störe ich?«, fragte er, als er Anian entdeckte.
»Sie doch nicht.« Ein erleichtertes Lächeln huschte über Teresas Gesicht. Sie hoffte, vom Arzt ihres Vertrauens Schützenhilfe zu bekommen. »Ich versuche gerade, meinem Bruder klarzumachen, dass ein Festivalbesuch in seinem Alter ausgeschlossen ist.«
Doch noch ehe Dr. Norden seine Meinung kundtun konnte, stand Anian schon an der Tür.
»Tut mir leid, Schwesterchen, aber ich muss los. Wiedersehen, Doc!« Er winkte den beiden zum Abschied zu und war Sekunden später aus dem Zimmer verschwunden.
Teresa starrte Anian ungläubig nach.
»Irgendwie bin ich ihm immer weniger gewachsen«, seufzte sie und schloss stöhnend die Augen.
Besorgt trat Daniel an ihr Bett. Die hektischen roten Flecken, die auf ihren ansonsten bleichen Wangen blühten, beunruhigten ihn.
»Im Augenblick sollten Sie sich keine Sorgen um Anian machen, sondern sich nur auf sich selbst konzentrieren«, gab er ihr einen wohlmeinenden Rat und legte die Hand prüfend auf ihre Stirn. Augenblicklich sah er seine Befürchtungen bestätigt. »Sie haben Fieber«, bemerkte er und drückte ohne Umschweife auf die Klingel neben dem Bett.
Wenige Augenblicke später quietschten Gummisohlen leise auf dem Flur. Eine Schwester betrat das Zimmer.
»Sie haben geklingelt?«
»Bitte informieren Sie die Kollegin Clement. Sie soll sofort kommen«, gab Dr. Norden unaufgeregt, aber ernst seine Anweisungen.
»Natürlich«, erwiderte die Schwester und war schon auf dem Weg zur Tür, als Daniel sie zurückhielt.
»Ach, und können Sie mir sagen, wo ich hier ein Fieberthermometer finde?«
Lächelnd griff Schwester Anna in die Kitteltasche und kehrte zu ihm zurück.
»Bei mir.« Sie reichte es ihm und machte sich auf den Weg, während sich Daniel Norden wieder zu Teresa wandte.
»39,6 Grad, das ist nicht gerade wenig«, bemerkte er gleich darauf besorgt.
Teresas gerötete Augen wurden groß vor Schreck.
»Was bedeutet das?«
»Das werden wir gleich mit der Kollegin Clement besprechen.« Daniel hatte die Tür gehört und drehte sich zu Paula um, die mit wehendem Kittel hereinkam. »Haben wir schon ein Abstrichergebnis?«, erkundigte er sich, nachdem er sie über Teresas Zustand informiert hatte.
»Nur das Labor.« Dr. Clement schlug die Bettdecke zurück und wickelte den Verband vom Fuß der Patientin. Der Bereich um den großen Zeh war deutlich gerötet und immer noch angeschwollen.
»Die Antibiotika-Gabe zeigt nicht die gewünschte Wirkung«, stellte sie kritisch fest. »Da müssen wir wohl stärkere Geschütze auffahren.«
»Haben Sie einen Resistenztest gemacht?«, erkundigte sich Dr. Norden vorsichtshalber und wurde nicht enttäuscht.
»Natürlich!«, lächelte Paula. »Sie haben es hier mit Profis zu tun«, erinnerte sie ihn an die Tatsachen.
»Nichts anderes habe ich erwartet«, versicherte Daniel. »Was haben Sie jetzt vor?«
»Ich denke, wir werden die Antibiotika-Gabe noch einmal erhöhen. Außerdem sollten wir ein MRT machen.« Dr. Clement warf einen Blick in die Krankenakte. »Die Entzündungsparameter sind erhöht und die ödematöse Schwellung ist nicht zu übersehen.« Sie deutete auf den rot glänzenden, unförmigen Zeh.
»Müssen Sie noch mal operieren?«, unterbrach Teresa das Gespräch der Ärzte ängstlich.
»Zunächst einmal warten wir das Ergebnis des MRTs ab. Dann sehen wir weiter«, beschwichtigte Dr. Clement ihre ängstliche Patientin. Doch auch in ihrem Gesicht stand deutlich die Sorge geschrieben.
*
Es war nach Mitternacht, als Daniel Norden endlich nach Hause kam. So leise wie möglich stieg er die Treppe hinauf und wollte sich ins Schlafzimmer schleichen, als das Licht aufflammte und Fee sich im Bett aufrichtete. Ihr Haar war zerzaust, und auf ihren Wangen hatte sie Falten vom Kopfkissen. Ein Träger ihres Nachthemdes war ihr von der Schulter gerutscht und gewährte einen tiefen Einblick in ihr verführerisches Dekolleté. Sie war so süß und anziehend, dass Daniel sie am liebsten sofort in seine Arme geschlossen hätte.
»Dan, mein Liebster, wo kommst du denn um diese Uhrzeit her?«, fragte Felicitas mit einem verwirrten Blick auf den Wecker.
»Aus der Klinik.« Gähnend zog Daniel die Tür hinter sich zu und setzte sich auf die Bettkante, um sich auszuziehen.
Fee lehnte sich zurück und sah ihm dabei zu.
»Lass mich raten: Du hast heute eine besonders hübsche Patientin in die Klinik bringen lassen, und sie hat darauf bestanden, dass du ihr beim Einschlafen das Händchen hältst«, scherzte sie verschlafen.
»Viel schlimmer.« Hemd und Hose landeten in hohem Bogen im Wäschekorb, und Daniel schlüpfte unter die Bettdecke zu seiner Frau. Er sehnte sich nach ihrer Wärme und Nähe und zog sie an sich.
»Soso«, murmelte Felicitas und kuschelte sich mit dem Rücken an seine Brust und seinen Bauch. »Dann mal raus mit der Sprache. Worüber muss ich mich morgen früh ärgern?«
»Erst morgen früh?«, fragte Daniel amüsiert und atmete tief ihren warmen Duft ein.
»Jetzt bin ich viel zu müde, um mich noch aufzuregen«, murmelte sie. »Mein Kopf schwirrt vor lauter Definitionen.«
»Mein armer, fleißiger Liebling«, raunte Daniel ihr zu und küsste spielerisch ihr Ohr, sodass sie lachen musste. »Wenn das so ist, will ich dich nicht auf die Folter spannen. Du musst dich nicht ärgern. Ich habe lediglich ein wenig Schicksal gespielt und meiner Kollegin Paula Clement einen Beziehungstipp gegeben.«
Trotz ihrer Müdigkeit wurde Fee nun doch hellhörig.
»Wie bitte?«, fragte sie ungläubig.
»Keine Angst. Sie ist in einer Internet-Partnerbörse angemeldet und hat bis jetzt nur Misserfolge geerntet. Jetzt traut sie ihrer Menschenkenntnis nicht mehr und hat mich deshalb um meine Meinung zu einem Mann gebeten.«
»Und?«, fragte Fee und entspannte sich wieder. »Konntest du ihr helfen?«
»Ich habe ihr zumindest empfohlen, sich mit dem Mann zu treffen. Zufällig kenne ich ihn nämlich.« Wenn Daniel an diesen unglaublichen Zufall dachte, musste er wieder lachen. Nachdem die Behandlung von Teresa für diesen Tag abgeschlossen gewesen war, hatte er sein Versprechen eingelöst und das Foto von Paulas Kandidaten im Internet begutachtet. »Er ist ein Patient von mir, der heute in der Praxis war, um sich für seine Laos-Reise beraten zu lassen«, erklärte er seiner Frau kopfschüttelnd.
Endlich war auch Fee hellwach. Sie kämpfte sich aus der Umarmung und drehte sich, ein ungläubiges Staunen im Gesicht, zu ihrem Mann um.
»Das ist nicht wahr?«
»Wenn ich es doch sage!«, versicherte er. »Stephan ist ein sehr netter Mann. Ich bin wirklich gespannt, wie das Treffen mit den beiden läuft.«
»Kannst du dir vorstellen, dass sie sich verstehen?«
»Sehr gut sogar.«
Fees Anspannung ebbte so schnell ab, wie sie gekommen war. Gähnend schmiegte sie sich wieder in Daniels Arme und schloss die Augen.
»Und was hast du sonst noch in der Klinik gemacht?«, fragte sie noch. »Du bist doch nicht nur hingefahren, um Paulas Liebesleben wieder in Schwung zu bringen?«
Schon wollte Daniel von Teresas bedrohlichem Zustand berichten, der eine erneute dringend notwendige Operation im Augenblick unmöglich machte, als er die tiefen Atemzüge seiner Frau hörte. Fast erleichtert darüber, Felicitas zu so später Stunde nicht mehr mit diesen bedenklichen Neuigkeiten belasten zu müssen, löschte Daniel das Licht und rückte noch näher an Fee heran. Das regelmäßige Heben und Senken ihres Brustkorbes war beruhigend, und er spürte, wie auch seine Augenlider schwer und immer schwerer wurden und er dem Locken des Schlafs nicht länger wiederstehen konnte.
*
»Guten Morgen, meine Schöne!« Lächelnd beugte sich Marco über seine Freundin Teresa und küsste sie sanft auf den Mund. »Wie geht es dir?«
»Zumindest besser als gestern Abend«, erwiderte Teresa wahrheitsgemäß. Zu ihrer großen Erleichterung hatten die Medikamente angeschlagen, und das Fieber war etwas zurückgegangen. Damit war zumindest die akute Gefahr gebannt. »Der Zeh fühlt sich auch nicht mehr so dick an und tut nicht mehr ganz so weh.«
»Das sind doch mal gute Nachrichten.« Erleichtert richtete sich Marco auf und sah sich nach einer Blumenvase für den riesigen Strauß bunter Sommerblumen um, die er schon am frühen Morgen eigenhändig für Teresa gepflückt hatte.
»Von unserer Wiese?«, fragte sie mit verliebtem Blick auf die bunte Pracht.
»Selbstverständlich«, versicherte Marco und stellte die Blumen ins Wasser.
»Wie läuft es denn sonst daheim?«, wagte sie es schließlich, die für sie alles entscheidende Frage zu stellen. Anians Besuch am vergangenen Abend lag ihr wie ein Stein im Magen.
»Na ja«, seufzte Marco und setzte sich auf die Bettkante. Er nahm Teresas Hand zwischen die seinen und hielt sie fest. »Anian ist nicht gerade erbaut von meiner Anwesenheit. Und das ist noch freundlich ausgedrückt. Dabei gebe ich mir wirklich Mühe.«
»Das glaube ich dir aufs Wort«, versicherte Teresa rasch. »Ich bin dir so dankbar dafür, dass du in dieser Zeit bei ihm wohnst. Sonst hätte ich keine ruhige Minute.«
»Ich mach das doch gern für dich«, versicherte Marco innig. Sein forschender Blick ruhte auf Teresa. War das der richtige Augenblick, um sein Anliegen vorzubringen? »Trotzdem glaube ich, dass du in Zukunft etwas ändern musst«, entschied er sich schließlich dafür.
»Wie meinst du das?«, fragte Teresa erstaunt.
Marco betrachtete die zarten, schmalen Finger in seinen kräftigen Händen. Zärtlich fuhr er jedes einzelne Glied nach.
»Nun ja, ich denke einfach, dass das alles ein bisschen viel ist für dich. Dein pubertierender Bruder, ihr beide ganz allein mit der Arbeit auf dem riesigen Hof, das Studium …«
Schlagartig kam Leben in Teresas mageren, schlaffen Körper.
»Du willst mir doch wohl nicht durch die Blume sagen, dass ich den Hof verkaufen soll?« Sie richtete sich halb auf im Bett und funkelte ihn argwöhnisch an.
»Davon hab ich kein Wort gesagt! Warum regst du dich gleich so auf?«, fragte Marco irritiert.
Teresa musterte ihn noch einen Augenblick forschend. Dann sank sie zurück in die Kissen und lächelte matt.
»Nicht böse sein«, bat sie zerknirscht. »Aber ich hänge nun mal so an dem Hof. Ihn aufzugeben, wäre furchtbar.«
»Keine Sorge, das wird schon nicht passieren«, versicherte Marco und konnte nur beten, dass der Himmel seine Worte hörte. Selbst einem Laien wie ihm konnte nicht entgehen, wie geschwächt Tessa war. »Aber dazu musst du auf dich aufpassen, hörst du? Wir müssen einen Weg finden, um dir das Leben leichter zu machen.«
Sie lag im Bett, ihre Augen flackerten vor Müdigkeit. Trotzdem wollte sie nicht schlafen. Das war die Gelegenheit, um Marco einen Vorschlag zu machen, über den er sich sicher freute.
»Wenn du nicht glaubst, dass ich es allein schaffe, dann könntest du doch zu uns ziehen«, sagte sie leise. »Ich meine, falls dir Anian nicht zu sehr auf den Wecker geht.«
Marco traute seinen Ohren nicht. So oft hatten er schon übers Zusammenziehen gesprochen, darüber, gemeinsame Sache zu machen. Doch jedes Mal, wenn es ernster geworden war, hatte Teresa einen Rückzieher gemacht. Ganz so, als könnte sie sich nicht recht für ihn entscheiden.
»Ist das dein Ernst, mein Liebling?«, fragte er heiser vor Glück und musste sich zusammennehmen, um ihre Hand nicht zu zerquetschen.
Teresa freute sich über seine Freude.
»Mein voller Ernst«, versicherte sie, als Marco dann doch berechtigte Zweifel kamen.
»Aber hast du überhaupt schon mit Anian darüber gesprochen? Ich möchte nicht, dass wir etwas über seinen Kopf hinweg entscheiden. Am Ende läuft er noch schlimmer Amok als ohnehin schon. Und ich könnte es ihm noch nicht einmal verdenken.«
Dieser Einwand war natürlich berechtigt. Doch wenn Tessa nur an diese Diskussion dachte, übermannte sie die Müdigkeit.
»Keine Angst, das kläre ich bei Gelegenheit mit ihm«, seufzte sie leise. »Jetzt bin ich erst mal froh, dass du bei ihm bist. Du kümmerst dich doch um ihn?«
»So lange er mich nicht rauswirft«, grinste Marco schief. »Nein, im Ernst, du kannst dich natürlich auf mich verlassen«, versprach er schnell, als er den Schrecken in Teresas Gesicht sah.
Normalerweise war sie auch in schweren Zeiten für Scherze aller Art zu haben. Doch diesmal schien es ihr wirklich schlechter zu gehen als je zuvor.
*
Ein fröhliches Liedchen auf den Lippen, betrat Wendy an diesem Morgen die Praxis Dr. Norden. In dieser Nacht hatte sie besonders gut geschlafen und von der neuen Leichtigkeit ihres Lebens geträumt.
»Vielleicht hat Hanno ja recht und ich nehme die Dinge wirklich viel zu ernst«, murmelte sie vor sich hin, während sie die Fenster der Praxis weit öffnete und die noch frische Luft des jungen Morgens hereinließ. »Ein bisschen Spaß muss sein.«
»Nanu, was ist denn hier los?« Janine Merck hatte die Praxis kurz nach ihrer Freundin und Kollegin betreten und wunderte sich über die Brise, die die Vorhänge bauschte.
»Ich dachte, ein bisschen frischer Wind kann nicht schaden«, trällerte Wendy unbeeindruckt und eilte auf ihre Freundin zu, um sie zu umarmen. »Guten Morgen, meine Süße. Wie geht es dir?«
»Auf jeden Fall nicht so gut wie dir«, bemerkte Janine sichtlich überrumpelt und schob Wendy ein Stück von sich. Nicht das winzigste Detail entging ihrem aufmerksamen Blick. Sie bemerkte das dezente Make-up ebenso wie das neue Kleid mit den Pailletten, die in der Morgensonne glitzerten und blitzten. Es schmiegte sich so selbstverständlich um Wendys verführerische Rundungen, als wäre es eine zweite Haut.
»Wendy, sag die Wahrheit! Du bist doch nicht etwa verliebt?«, kam Janine schließlich zu dem einzig möglichen Schluss dieser auffälligen Veränderungen. Mit Genugtuung bemerkte sie die Röte, die ihrer Kollegin in die Wangen schoss. Offenbar hatte sie ins Schwarze getroffen.
»Ach, woher denn«, winkte Wendy lässig ab und drehte sich um, um Janines Röntgenblick zu entgehen. Zu spät. »Ich freu mich nur über diesen herrlichen Tag.«
»Und natürlich hast du dich nur für die Sonne so hübsch geschminkt und angezogen«, lachte Janine und brachte das Mittagessen, das sie am Vorabend vorbereitet hatte, in die kleine Küche. »Was hast du uns denn Köstliches gezaubert?« Ihre Stimme war dumpf, als sie mit dem Kopf im Kühlschrank verschwand.
Erschrocken schlug Wendy die Hand vor den Mund. Statt wie sonst am Abend kleine Leckereien zuzubereiten, hatte sie nach der Verabredung mit Hanno wie paralysiert bei einem Glas Rotwein auf dem Balkon gesessen und in alten Tagebüchern geblättert auf der Suche nach Erinnerungen an ihre Zeit mit Hanno Thalbach.
»Ach herrje, das hab ich ganz vergessen!«, entfuhr es ihr. »Das tut mir ja so leid.«
Janine tauchte wieder in der Küchentür auf.
»Halb so wild. Verhungern werden wir so oder so nicht«, beruhigte sie ihre Freundin anzüglich lächelnd. »Aber wenn du nicht sofort zugibst, dass deine Verwirrung mit Hanno Thalbach zusammenhängt, bekommst du keine von meinen gefüllten Olivenschnecken.«
Allein der Gedanke ließ Wendy das Wasser im Mund zusammenlaufen.
»Du meinst doch nicht etwa die mit der saftigen Füllung aus rotem Pesto, Frischkäse und fein gehackten Basilikumblättern?«
»Nicht zu vergessen die gehackten, leicht gerösteten Pinienkerne, die dem Ganzen das besondere Aroma schenken«, säuselte Janine, als die beide bemerkten, dass sie einen interessierten Zuhörer hatten.
»Das klingt ja ganz ausgezeichnet«, lobte Hanno Thalbach, der bei Danny den ersten Termin des Tages vereinbart hatte, um das verletzte Knie noch einmal untersuchen zu lassen. Wendy und Janine waren so vertieft in ihr Gespräch gewesen, dass sie nicht bemerkt hatten, dass er die Praxis viel zu früh betreten hatte. Von einem Ohr zum anderen grinsend stand er nun am Tresen und konnte den Blick nicht von Wendys zauberhaftem Anblick wenden. »Im Normalfall würde ich zu dieser Kreation einen gut gekühlten Chardonnay empfehlen.«
»Bedauerlicherweise ist der Genuss von Alkohol in Arztpraxen während der Arbeitszeit strengstens untersagt«, erklärte Janine und legte seine Patientenkarte für Danny auf dem Tresen bereit.
»Aber vielleicht packen Sie uns ein wenig von dieser Spezialität ein, sodass Wendy und ich sie heute Abend auf meiner Terrasse in meinem Heidelberger Haus genießen können«, verriet Hanno augenzwinkernd, was er mit seiner Jugendfreundin vorhatte. Während Janine der Mund offen stand vor Staunen, wandte er sich mit einem strahlenden Lächeln an seine Angebetete. »Oder was meinst du, schöne Frau?«
»Ich …, ähm …, ich …, nun ja …«, stammelte Wendy, als sie glücklicherweise von Danny aus ihrer Verlegenheit erlöst wurde.
Gut gelaunt stürmte der junge Arzt in die Praxis. Als er Hanno Thalbach um diese frühe Uhrzeit schon am Tresen stehen sah, blieb er abrupt stehen, ein bubenhaftes Lachen auf den Lippen.
»Guten Morgen, Herr Thalbach. Haben Sie heute ein anderes Parfum aufgetragen? Andernfalls bestehe ich auf einem Sicherheitsabstand«, fragte er gut gelaunt und entlockte dem Älteren ein amüsiertes Lachen.
»Keine Angst. Diesmal komme ich zuerst zu Ihnen und fahre erst im Anschluss zur Besichtigung auf den Hof.«
»Das klingt gut.« Zufrieden reckte Danny den Daumen der rechten Hand in die Höhe, nahm dankend die frisch gefüllte Kaffeetasse, die Janine ihm reichte, und bedeutete Hanno Thalbach mit einem Kopfnicken, ihm ins Sprechzimmer zu folgen.
Erst als die Tür hinter den beiden ins Schloss gefallen war, erwachte Janine aus ihrer Erstarrung.
»So, und jetzt erzählst du mir sofort, was hier vor sich geht!«, verlangte sie energisch und stemmte die Hände in die Hüften.
Glücklicherweise bemerkte Wendy in diesem Moment die nächste Patientin, die gleichzeitig mit Daniel Norden munter plaudernd die Praxis betrat. Das war ihre Rettung.
»Nichts geht vor sich«, erwiderte sie freundlich lächelnd. »Ich habe nur beschlossen, das Leben in Zukunft etwas leichter zu nehmen. Alles kann, nichts muss.« Damit wandte sie sich an Simone Becker, die an den Tresen getreten war, und begrüßte sie mit einem strahlenden Lächeln.
Zähneknirschend musste sich Janine fürs Erste mit dieser Antwort zufriedengeben. Doch schon jetzt konnte sie sicher sein, dass sie spätestens in der Mittagspause alles erfahren würde, was sie wissen wollte. So gut kannte sie Wendy inzwischen, dass sie ihr Geheimnis letztlich doch mit ihr teilen würde, und sie freute sich schon jetzt auf die vielversprechenden Details.
*
Als selbstständiger Softwareentwickler konnte Marco auch auf dem Hof seiner Freundin arbeiten und verbrachte den Vormittag im Arbeitszimmer, das er schon öfter genutzt hatte. Vom Schreibtisch aus blickte er hinaus auf Felder und Wiesen, die von einem sattgrünen Mischwald eingefasst wurden. Dieser Anblick war inspirierend und beruhigend zugleich, und der Gedanke daran, vielleicht schon bald immer dort arbeiten zu können, beflügelte Marco. Gegen Mittag rollte er vom Schreibtisch zurück, streckte sich und stand auf, um eine Pause zu machen. Wenn alles normal lief, kam Anian in einer Stunde nach Hause, und Marco hatte sich vorgenommen, ihn mit einem Mittagessen zu begrüßen.
»Vielleicht merkt er dann, dass das Zusammenleben auch angenehme Seiten hat«, murmelte er hoffnungsvoll, als er Zwiebeln schnitt und Tomaten für eine frische Nudelsauce würfelte.
Der rustikale Holztisch auf der Terrasse war gedeckt, und das Nudelwasser brodelte auf dem Herd, als Marco das Knattern des Mofas hörte. Er wischte sich die Hände am Geschirrtuch ab und trat vor die Tür, um Teresas Bruder zu begrüßen.
»Hallo, Anian, wie geht’s?«, fragte er freundlich, als der junge Mann überraschend aufgekratzt auf ihn zukam.
»Hey, alles gut.« Anians Blick fiel auf den gedeckten Tisch. »Hast du gekocht?«
»Wir Männer brauchen doch eine Stärkung«, schlug Marco einen kameradschaftlichen Ton an. »Hilfst du mir beim Tragen? Der Salat steht in der Küche, und die Nudeln sind inzwischen bestimmt auch fertig.«
»Klar!«, erklärte sich Anian zu Marcos Überraschung ohne Zögern bereit.
Seite an Seite gingen die beiden in die Küche.
»Wie war’s in der Schule?«
»Ganz cool. Hab ’ne zwei in Mathe rausbekommen.«
»Das sind ja gute Nachrichten. Gratulation«, freute sich Marco ehrlich. Anians Sinneswandel kam zwar überraschend, aber er nahm es als Zeichen, dass sich der junge Mann Gedanken gemacht und seine Meinung geändert hatte.
»Danke!« Zufrieden griff Anian nach dem Topf mit der Sauce und wartete auf Marco, der Salatschüssel und Nudeltopf auf ein Tablett stellte. »Dafür hab ich mir eine Belohnung verdient«, stellte er selbstsicher fest.
»Soso, eine Belohnung willst du?«
»Als Mama und Papa noch hier waren, gab’s immer was für gute Noten«, erinnerte Anian den Freund seiner Schwester an sein tragisches Schicksal. Das tat er nicht ohne Grund, verfolgte er doch einen Plan.
»Okay«, erklärte sich Marco ahnungslos bereit, dieses Ritual auch in Zukunft fortzusetzen. »An was hast du denn gedacht? Fünf Euro? Einen vollen Moped-Tank?« Er stellte das Tablett draußen auf den Tisch und wollte schon seinen Geldbeutel aus der Hosentasche ziehen, als Anian den Kopf schüttelte.
»Ich brauch keine Kohle«, erklärte er schlicht.
»Was stellst du dir dann vor?« Verwundert schob Marco das Portemonnaie zurück in die Tasche.
Anian antwortete nicht sofort. Er setzte sich auf die Bank an der Hauswand und wartete darauf, dass Marco ihm gegenüber Platz nahm.
»Heute Abend ist doch dieses Festival«, ließ er die Katze endlich aus dem Sack und blinzelte ins helle Sonnenlicht. »Da würd ich gern hingehen.«
Marco hatte nicht damit gerechnet, in diese Diskussion hineingezogen zu werden, und fühlte sich im ersten Augenblick überrumpelt.
»Aber das hast du doch schon mit deiner Schwester besprochen«, meinte er, sich zu erinnern.
Anian verdrehte die Augen.
»Tessa hat ständig Angst, dass was passieren könnte. Aber du bist doch bestimmt nicht so zimperlich«, erklärte Anian berechnend. »Musst dir auch keine Sorgen machen. Ich pass schon auf. Meine Kumpels sind ja auch alle da. Florian wird sogar von seinen Eltern abgeholt. Da kann ich mitfahren.«
Inzwischen hatte sich Marco von seiner Überraschung erholt.
»Das hast du dir ja fein ausgedacht«, erwiderte er streng. »Alles schon unter Dach und Fach, was?«
Noch hatte Anian Hoffnung, seinen Aufpasser überzeugen zu können. Deshalb blieb er freundlich.
»Klar. Gute Planung ist das halbe Leben«, grinste er.
»Im Normalfall magst du damit recht haben. Aber diesmal war sie leider umsonst«, gab Marco entschieden zurück und hob einen der Topfdeckel, um Anian Nudeln zu geben. Doch dem war schlagartig der Appetit vergangen.
»Was meinst du damit?«, fragte er zornig und zog seinen Teller zurück.
»Das heißt, dass du heute Abend nicht auf das Festival gehen wirst. Du bist sechzehn Jahre a…«
»Ich weiß selbst, wie alt ich bin. Das müsst ihr mir nicht ständig unter die Nase reiben«, schimpfte Anian wütend und sprang von der Bank auf. »Weißt du was? Du bist echt selbst schuld, dass wir uns nicht verstehen. Jetzt hast du’s endgültig vermasselt.« Am ganzen Körper zitternd stand der junge Mann vor Marco, die Hände zu Fäusten geballt. »Das wirst du noch bereuen!« Enttäuschung und Wut brachen sich Bahn und verzerrten sein hübsches Jungengesicht.
»Glaub bloß nicht, dass ich Angst vor dir hab. Da müssen schon andere kommen«, entfuhr es Marco höhnisch. Fast sofort bereute er diese Gedankenlosigkeit. Das Ergebnis war deutlich an Anians Gesichtsausdruck abzulesen.
»Glaub ja nicht, dass du mir was zu sagen hast«, fauchte der wütende Teenager und stapfte davon. Kurz bevor er die Haustür erreichte, rief Marco ihm nach: »Solange ich hier bin und die Verantwortung für dich habe, ist das aber so. Ob dir das nun in den Kram passt oder nicht.« Eine Antwort bekam er nicht. Stattdessen hallte ihm das Krachen der Tür in den Ohren nach.
Seufzend blieb Marco allein am Tisch zurück. Er legte den Deckel zurück auf den Nudeltopf und stützte das Kinn auf die Hand. Obwohl er sicher war, richtig entschieden zu haben, fühlte er sich schlecht.
Eine ganze Weile saß er in Gedanken versunken am Tisch, bis ihn ein Motorengeräusch aufhorchen ließ. Er drehte sich um und sah zu, wie ein schicker Geländewagen die kleine Straße Richtung Bauernhof hinauffuhr. Nur wenige Minuten später parkte der Wagen hinter dem von Marco, und ein gut aussehender älterer Mann stieg aus. Leicht humpelnd kam er auf Marco zu.
»Bitte entschuldigen Sie die Störung«, bat Hanno Thalbach, nachdem er Marco begrüßt und sich vorgestellt hatte. »Oh, Sie sind gerade beim Mittagessen«, bemerkte er mit einem Blick auf den gedeckten Tisch. »Dann komme ich später wieder.«
Marco musterte den sympathischen Fremden und traf eine spontane Entscheidung.
»Meinem Mitbewohner ist überraschend der Appetit vergangen. Wenn Sie Hunger haben …« Er machte eine einladende Handbewegung. »Bitte sehr.«
Hanno Thalbach zögerte kurz, entschied sich dann aber, die Einladung anzunehmen.
»Das ist sehr nett von Ihnen, vielen Dank«, erwiderte er und nahm an dem schön gedeckten Tisch Platz.
Marco servierte Nudeln mit Tomatensauce, häufte Salat in die kleine Schüssel neben dem Teller und schenkte Wasser ein.
»Guten Appetit«, wünschte er seinem Gast, und beide ließen es sich schmecken.
»Köstlich«, murmelte Hanno nach den ersten Bissen anerkennend. »Haben Sie das selbst gekocht? Ich sollte bei Ihnen in die Schule gehen.«
»Das ist eine einfache Übung«, lächelte Marco bescheiden, freute sich aber trotzdem über das Kompliment. Er trank einen Schluck Wasser und sah sein Gegenüber dann fragend an. »Was kann ich für Sie sonst noch tun?«, erkundigte er sich nach dem Grund des Besuchs.
Hanno Thalbach legte die Gabel beiseite und wischte sich den Mund mit der Serviette ab.
»Ich habe ein etwas ungewöhnliches Anliegen«, erklärte er dann bereitwillig. »Als Architekt und Immobilienmakler habe ich mich auf denkmalgeschützte Bauernhäuser spezialisiert. Einer meiner Kunden hat mich beauftragt, einen Hof im Einzugsgebiet von München zu suchen. Er ist bereit, eine entsprechende Summe für das Anwesen seiner Wahl zu bezahlen.« Hanno machte eine kunstvolle Pause und wickelte geschickt ein paar Nudeln auf seine Gabel.
»Wenn ich der Eigentümer dieses Hofes wäre, würde mich Ihr Angebot vermutlich durchaus interessieren«, klärte Marco seinen Besucher lächelnd auf. »Das Anwesen gehört aber meiner Lebensgefährtin. Sie ist hier aufgewachsen. Und obwohl ich denke, dass das alles hier viel zu viel Arbeit für Teresa ist, würde sie den Hof für kein Geld der Welt verkaufen.«
Damit hatte Hanno Thalbach gerechnet. Er war ein erfahrener Geschäftsmann, kannte die ersten ablehnenden Reaktionen, wusste aber auch, wie er seine Kunden von ihrem Glück überzeugte.
»Das wundert mich nicht.« Er griff in die Innentasche seines Sackos, zog eine Visitenkarte und einen Kugelschreiber heraus und notierte eine Zahl auf die Rückseite des Kärtchens. Vorbei an leer gegessenen Tellern und Gläsern schob er es über den Tisch. »Sprechen Sie mit Ihrer Lebensgefährtin darüber und zeigen Sie ihr mein Angebot, über das wir uns übrigens auch noch unterhalten können. Das ist nur eine erste Offerte.«
Kritisch beäugte Marco das Kärtchen, das vor seinen Fingerspitzen lag. Er überlegte einen Moment, doch schließlich siegte die Neugier. Als er die Summe sah, stieß er einen leisen Pfiff durch die Zähne.
»Alle Achtung. Das ist wirklich ein großzügiges Angebot«, bemerkte er sichtlich verwirrt. »Trotzdem fürchte ich, dass es Teresa nicht umstimmen wird. Wie gesagt, sie liebt dieses Haus.«
Hanno Thalbach leerte sein Glas, stellte es zurück auf den Tisch und stand auf. Langsam wurde es Zeit, sich zu verabschieden. Er hatte noch ein paar Dinge in München zu erledigen, bevor er Wendy nach Heidelberg entführen konnte.
»Falls sich Ihre Lebensgefährtin doch anders entscheidet, kann Sie sich jederzeit bei mir melden.« Er nickte Marco freundlich lächelnd zu. »Und vielen Dank für das köstliche Essen. Das war besser als in manchem Sterne-Restaurant!«
»Freut mich, wenn es Ihnen geschmeckt hat.« Marco begleitete Hanno noch zum Wagen und sah ihm nach, wie er wendete und über die kleine Straße davonfuhr. Dann kehrte er zum Tisch zurück und machte sich daran, die Reste des Mittagessens abzuräumen, um gleich im Anschluss zu Teresa in die Klinik zu fahren. Er hatte nicht bemerkt, dass Anian die ganze Zeit am offenen Fenster seines Zimmers im ersten Stock gestanden und gelauscht hatte.
*
Als die Schwester das Geschirr vom Mittagessen aus Teresas Zimmer holen wollte, erschrak sie. Mit vor Fieber glühenden Wangen und glasigen Augen lag die junge Frau im Bett. Die Mahlzeit hatte sie nicht angerührt. Sofort eilte Schwester Iris, um Hilfe zu holen. Glücklicherweise lief ihr die Klinikchefin über den Weg. In Begleitung eines Mannes kam sie den Flur hinunter.
»Frau Dr. Behnisch, Sie müssen sofort kommen! Frau Berger hat schon wieder hohes Fieber.«
Jenny, die in ein Gespräch mit dem Pharmareferenten vertieft gewesen war, brach die Unterhaltung sofort alarmiert ab.
»Tut mir leid. Ich muss los. Bitte rufen Sie mich an. Sie haben ja meine Nummer«, erklärte sie dem Mann und machte sich sofort auf den Weg zu Teresa. Iris versuchte, mit ihr Schritt zu halten. »Sagen Sie der Kollegin Clement Bescheid«, wies Jenny die Schwester an. »Und sorgen Sie dafür, dass Dr. Norden informiert wird.«
»Natürlich«, versicherte Iris.
Doch da stand Jenny schon vor der Tür des Krankenzimmers, klopfte kurz an und trat ein.
Als Paula Clement ins Krankenzimmer kam, hatte die Chefin bereits Blutdruck und Puls gemessen und Blut abgenommen.«
»Die Infektion ist wieder aufgeflammt«, informierte sie Paula über die erschütternden Neuigkeiten. »Ich habe bereits ein neues Labor veranlasst.«
Paula Clement trat an Teresas Bett. Trotz aller Sorge um ihre schwache Patientin versuchte sie, Ruhe und Sicherheit auszustrahlen.
»Wie fühlen Sie sich?«, fragte sie weich.
»Als hätte mich ein Traktor überfahren«, erwiderte Teresa matt. Dabei gelang ihr noch nicht einmal ein Lächeln.
»Kein Wunder.«
»Bitte sagen Sie mir die Wahrheit. Was ist los mit mir?«, fragte die junge Frau hilflos.
Paula seufzte. Am liebsten hätte sie Teresa Berger im Unklaren gelassen. Schnell sah sie hinüber zu Jenny Behnisch. Ihr stummes Nicken war Antwort genug.
»Ihr Körper ist zu geschwächt, um sich erfolgreich gegen die Krankheitserreger zu wehren. Um die Entzündung dauerhaft in den Griff zu bekommen, wäre ein weiterer Eingriff nötig.«
»Aber?« Teresa bemerkte das Zögern der erfahrenen Chirurgin.
Dr. Clement unterdrückte ein tiefes Seufzen.
»Wir wissen nicht, ob und wie Sie eine weitere Narkose verkraften. Wie gesagt, Sie sind sehr schwach …«
Die Angst schnürte Teresa die Kehle zu. Ihr verzweifelter Blick wanderte von Jenny Behnisch zu der Chirurgin und zurück.
»Wollen Sie damit sagen, dass ich nicht wieder aufwachen könnte?«, hauchte sie tonlos.
»Keine Angst«, tat die Klinikchefin nach gründlichem Nachdenken ihre Meinung kund. »Unsere Anästhesisten haben viel Erfahrung und wissen, wie weit sie gehen können. Dr. Clement will damit lediglich sagen, dass wir die Operation möglicherweise vorzeitig abbrechen müssen.«
Teresa ließ sich diese Worte durch den Kopf gehen.
»Aber dann wäre ja nichts gewonnen«, sprach sie das laut aus, was Paula und Jenny dachten.
»Diese Gefahr besteht in der Tat«, räumt Dr. Behnisch offen ein. Sie hielt nichts davon, Patienten zu vertrösten und mit Halbwahrheiten abzuspeisen, so bitter die Wahrheit auch manchmal war. »Wir können nur hoffen, dass die Entzündung nicht zu weit fortgeschritten ist. Und wir müssen so zügig wie möglich operieren. Aber letztlich liegt die Entscheidung bei Ihnen.«
Teresa haderte mit sich, kam aber zu keinem Schluss. Es gab nur einen einzigen Menschen auf der ganzen Welt, in dessen Hände sie ihr Schicksal legen wollte. Sie würde das tun, was er ihr riet.
»Ich möchte bitte mit Dr. Norden sprechen und seine Meinung hören«, bat sie leise.
Paula Clement und Jenny Behnisch tauschten ernste Blicke. Dann nickte die Chefin.
»Die letzte Entscheidung kann Ihnen der Kollege auch nicht abnehmen. Die werden Sie selbst treffen müssen. Aber er wird Ihnen vielleicht einen Rat geben«, mutmaßte sie verständnisvoll. Sie griff nach dem Telefon auf dem Nachttisch und wählte die Nummer der Praxis Dr. Norden, die sie schon so lange auswendig kannte.
*
Als Marco am Telefon von Teresa über die schlimme Nachricht informiert wurde, raste er in halsbrecherischem Tempo in die Klinik. Es grenzte an ein Wunder, dass er weder von der Polizei aufgehalten noch in einen Unfall verwickelt wurde. Als er den Wagen vor der Klinik abstellte, leistete er insgeheim Abbitte und schwor, niemals wieder andere und sich selbst in eine solche Gefahr zu bringen.
»Mein Liebling, was machst du denn für Sachen?«, fragte er, als er atemlos an Teresas Krankenbett im Vorraum zum OP stand. Er beugte sich über sie und streichelte zärtlich über ihre fieberheiße Wange.
»Eigentlich wollte ich nicht, dass du mich so siehst«, stellte Teresa kläglich fest und deutete auf die grüne Haube, die ihre Haare bedeckte.
»Einen schönen Menschen entstellt nichts«, erwiderte Marco so liebevoll, dass Teresa die Tränen in die Augen traten. »Außerdem weißt du doch, dass du ein Hutgesicht hast. Du würdest noch mit einem Eimer auf dem Kopf gut aussehen.«
Teresa lachte unter Tränen.
»Ich wusste gar nicht, dass du so ein Lügner bist. Aber ein charmanter.«
»Ich würde alles dafür tun, wenn es dir nur besser geht«, versicherte Marco weich. »Wie kann ich dir nur helfen?«
Die Antwort kam sofort.
»Das habe ich dir doch schon gesagt. Zieh zu Anian und mir.« Teresa konnte sich selbst nicht erklären, warum dieser Wunsch plötzlich so dringend geworden war. Vielleicht lag es daran, dass ihr ihre eigene Verletzlichkeit und Schwäche in dieser schweren Zeit unerbittlich vor Augen geführt wurde.
Marco unterdrückte ein Seufzen. Die Auseinandersetzung mit Anian kam ihm wieder in den Sinn. Nicht gerade die beste Voraussetzung für ein gelungenes Zusammenleben, wie er insgeheim befand.
»Darüber sprechen wir nach der Operation noch einmal«, vertröstete er seine Freundin zärtlich. »Wie gesagt, ich finde, wir sollten Anian einbinden und das nicht über seinen Kopf hinweg entscheiden.«
Teresa war zu schwach, um sich noch weiter zu wehren, und fügte sich Marcos Wunsch.
»Also gut. Aber eine Bitte habe ich noch.« Ihr Blick wanderte hinüber zu den Schwestern, die alles für die kurz bevorstehende Operation vorbereiteten. Durch eine Glasscheibe konnte sie die Ärzte sehen, die die Ergebnisse des Laborberichts und die weitere Vorgehensweise besprachen. Auch Dr. Norden war gekommen und würde bei dem Eingriff zugegen sein, wofür Teresa ihm mehr als dankbar war. »Sag Anian nichts davon, wie schwierig diese Operation wird.« Selbst wenn ihr Bruder ihr das Leben in letzter Zeit mitunter zur Hölle machte, wollte sie ihn unter allen Umständen schonen. Er hatte in seinem jungen Leben schon mehr mitgemacht, als gut für ihn war.
Marco war anderer Meinung.
»Ich finde ja, er ist alt genug, um die Wahrheit zu verkraften«, bemerkte er, »aber natürlich ist mir dein Wunsch Befehl.« Um sein Versprechen zu bekräftigen, hob er die Hand zum Schwur. Dann beugte er sich über seine Freundin und küsste sie innig zum Abschied. »Wir sehen uns später. Und Kopf hoch. Alles wird gut!«, versprach er fast feierlich.
*
»Wo ist meine Schwester?« Vor Panik war Anians Stimme schrill. Er stand im leeren Krankenzimmer und starrte ungläubig auf den Platz, wo tags zuvor noch Teresas Bett gestanden hatte.
»Frau Berger wurde in den OP gebracht«, informierte Schwester Iris den aufgeregten jungen Mann. Sie wusste, wie schlimm es um Teresa stand, und empfand tiefes Mitgefühl mit Anian. »Wenn du dich beeilst, kannst du vielleicht noch kurz mit ihr sprechen«, machte sie deshalb ein ungewöhnliches Angebot.
Das ließ sich Anian nicht zwei Mal sagen.
»Wo muss ich hin?«, fragte er hektisch.
»Warte, ich telefoniere schnell, damit die Ärzte noch ein paar Minuten warten. Dann bringe ich dich hin.«
Anian hatte Glück, und Schwester Iris löste ihr Versprechen umgehend ein.
Überrascht vom unerwarteten Auftauchen ihres Bruders lächelte Teresa, und Anian fiel ein wahres Gebirge vom Herzen. Wenn sie noch lachen konnte, war ja alles nur halb so schlimm.
»Hey, Tessa, ist es so schön im OP oder warum willst du schon wieder da rein?«, fragte er über die Maßen erleichtert.
»Ich glaube eher, den Ärzten gefällt es so gut, an mir herumzuschnippeln«, spielte sie das Spiel ihm zuliebe mit.
Zu ihrer Verwunderung wurde Anians Miene düster.
»Die sollen zusehen, dass sie dich wieder in Ordnung kriegen. Ich brauch dich daheim. Mit Marco halte ich das nicht mehr lange aus.«
Nur mit Mühe konnte Teresa die lächelnde Fassade aufrechterhalten.
»So schlimm?«
»Noch viel schlimmer.«
Tessa schluckte und sah ihn aus brennenden Augen an.
»Hast du schon mal drüber nachgedacht, dass du an dieser Situation nicht ganz schuldlos bist?«, fragte sie kritisch. »Ich weiß, dass Marco nicht alles richtig macht. Aber du solltest halt auch mal über deinen Schatten springen und versuchen, Freundschaft mit ihm zu schließen.« Aus den Augenwinkeln bemerkte Teresa die wartenden Ärzte und Schwestern. Nur Anian zuliebe war der Beginn der Operation verschoben worden. Doch die Zeit drängte. Deshalb wurde sie nervös. »Was hältst du übrigens davon, wenn Marco ganz zu uns zieht? Dann hättet ihr mehr Gelegenheit, euch aneinander zu gewöhnen.«
Leider hatte dieser hektische Vorstoß nicht den gewünschten Erfolg. Anian riss die Augen auf und starrte seine Schwester panisch an.
»Was? Das ist nicht dein Ernst! Dieser Lügner und Betrüger?« Er dachte an das Gespräch mit dem Immobilienmakler und beschloss, die Wahrheit ein bisschen zu seinen Gunsten zu verdrehen. »Der liebt dich doch gar nicht! Der will dich nur dazu überreden, den Hof zu verkaufen, und von der Kohle profitieren«, log Anian seiner Schwester in seiner Not frech ins Gesicht.
Teresa sah ihren Bruder erstaunt an. Was war nur in Anian gefahren, dass er sich so aufführte?
»Was redest du denn da für einen Unsinn?«, fragte sie matt. »Wir wollen den Hof nicht verkaufen.« Ihre Kräfte schwanden zusehends, und die mühsam aufrechterhaltene Fassade drohte einzustürzen.
»Das ist kein Unsinn«, fauchte der junge Mann und zerrte die Visitenkarte des Immobilienmaklers aus der Hosentasche. Marco hatte sie auf dem Tisch liegen gelassen. In seinem blinden Hass hatte Anian diese Gelegenheit genutzt, wohl wissend, was er damit anrichten konnte. »Sie haben sogar schon einen Preis ausgemacht.« Er hielt Teresa die Visitenkarte hin.
Mit zitternden Fingern griff sie danach und starrte auf die siebenstellige Summe, die Hanno Thalbach notiert hatte. Teresa war so paralysiert, dass sie nicht bemerkte, wie eine Schwester an ihre Liege trat.
»Frau Berger, wir müssen jetzt wirklich anfangen«, erinnerte sie die Patientin an den bevorstehenden Eingriff.
Teresa nickte mechanisch und ließ sich widerspruchslos das Kärtchen aus der Hand nehmen.
»Ich verwahre das sicher für Sie«, versprach die Schwester. Diesmal nickte Tessa nicht. Wie ein Kartenhaus waren ihre Pläne und Ziele, ihre schönen Zukunftsträume lautlos in sich zusammengestürzt. Plötzlich tat sich ein tiefschwarzes Loch vor ihr auf, und auf einmal konnte sie es kaum erwarten, die erlösenden Medikamente zu bekommen, um darin unterzutauchen und nichts mehr hören, sehen und fühlen zu müssen.
*
Bei unbeschwerter Plauderei verging die Fahrt nach Heidelberg wie im Flug, und insgeheim stellte Wendy fest, dass sie sich selten mit einem Mann so gut unterhalten hatte wie mit Hanno Thalbach. Sie lachten viel, redeten aber auch über ernste Themen, und als Hanno den Geländewagen im Innenhof eines Dreiseithofs parkte, war Wendy überrascht.
»Wir sind ja schon da!«, stellte sie fest, und Hanno lachte belustigt auf.
»Schön, dass es dir ebenso geht wie mir. Selten war die Fahrt so kurzweilig.« Er stieg aus und öffnete ihr galant die Beifahrertür.
»Ein Gentleman alter Schule!« Wendy war beeindruckt. »Das gefällt mir.«
»Hoffentlich gefällt dir auch mein Haus.« Hanno machte eine weit ausholende Geste, die das Anwesen um ihn herum umfasste.
»Haus ist gut.« Ungläubig schüttelte sie den Kopf und drehte sich um die eigene Achse. »Ich hatte mir ein schnuckeliges kleines Fachwerkhaus vorgestellt, aber keinen riesigen Hof. Es ist unglaublich.« Aus den Augenwinkeln bemerkte sie einen Schatten.
Eine Frau, deutlich älter als sie selbst, kam säuerlich lächelnd auf sie zu. Auch Hanno hatte sie gesehen und begrüßte sie mit einem Kuss auf die Wange.
»Philomena, ich hab dir doch am Telefon von Wendy erzählt.«
Er wandte sich an seine Begleiterin. »Wendy, das ist meine Schwägerin Philomena. Sie hat eine Wohnung in einem der Nebengebäude und führt seit Helenas Tod meinen Haushalt.« Davon hatte Hanno bis jetzt kein Sterbenswörtchen gesagt, und Wendy fragte sich, warum.
Verschnupft streckte sie die Hand aus und begrüßte Philomena.
»Annemarie Wendel. Angenehm«, stellte sie sich vor.
Hannos Schwägerin nahm die dargebotene Hand mit spitzen Fingern. Das Lächeln auf ihrem Gesicht war künstlich und wenig sympathisch.
»Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise.«
»Ja, danke. Es war sehr unterhaltsam.« Wendy hatte beschlossen, sich von der Anwesenheit dieser Frau nicht irritieren zu lassen. Wenn Hanno sie nicht erwähnt hatte, spielte sie wohl keine besondere Rolle in seinem Leben. Sie schickte ihm einen warmen Blick, als Philomenas strenge Stimme an ihr Ohr klang.
»Ach, Hannolein, es ist übrigens gut, dass du endlich da bist. Herr Adam hat angerufen. Er hat ein paar Fragen zu deinem Angebot.«
»Um diese Zeit?« Hanno warf einen unwilligen Blick auf die Uhr. »An einem Freitag?«
»Ich hab ihm gesagt, dass du ihn auf jeden Fall noch zurückrufst«, erwiderte Philomena unbarmherzig. »Aber geh nur. Ich zeige Frau Wendel inzwischen ihr Zimmer.«
Hanno zögerte einen Augenblick, dann fügte er sich seufzend in sein Schicksal. Er beugte sich zu Wendy hinunter und küsste sie auf die Wange, was Philomena mit sauertöpfischer Miene beobachtete.
»Ich bin gleich wieder bei dir.«
Wendy fühlte sich gar nicht wohl in ihrer Haut. Um Hanno aber nicht in Verlegenheit zu bringen, machte sie gute Miene zum bösen Spiel.
»Keine Sorge, ich bin schon ein großes Mädchen«, schlug sie einen scherzhaften Ton an, den er mit einem amüsierten Lächeln quittierte. Gleichzeitig fühlte sie einen harten Griff am Ellbogen.
»Kommen Sie. Ich zeige Ihnen Ihr Zimmer.«
Seite an Seite gingen die beiden Frauen, die unterschiedlicher nicht hätten sein können, über den gepflasterten Hof hinüber ins Haus. »Hier entlang!«, befahl Philomena und winkte Wendy durch den mit Terrakottafliesen ausgelegten Flur hinüber zur dunklen Holztreppe. Das gesamte Haus machte einen düsteren Eindruck, und tapfer wehrte sich Wendy gegen das Gefühl der Beklemmung, das sie augenblicklich überfiel. Ihre eigene Wohnung war hell und lichtdurchflutet, mit modernen Möbeln und einzelnen ausgesuchten Antiquitäten geschmackvoll eingerichtet. Einen ähnlichen Geschmack hatte sie auch Hanno zugetraut und wunderte sich über das altmodische Flair und die erdrückend massiven Antiquitäten, die wie eine Bedrohung auf sie wirkten. »Hanno hat erzählt, dass Sie in der Medizinbranche tätig sind«, sagte Philomena in Wendys Gedanken hinein und öffnete die Tür zu einem Zimmer.
»Ich bin medizinisch-technische Assistentin bei einem Allgemeinarzt«, gab Wendy freundlich Auskunft und sah sich in dem Zimmer um.
»Jedem das Seine. Ich halte ja nicht viel von Ärzten und dem medizinischen Fachpersonal«, bemerkte Philomena herablassend. »In ihren letzten Jahren war Helena sehr krank. Jedes Mal, wenn sie vom Arzt kam, ging es ihr schlechter als besser.«
»Das können Sie mir ja wohl kaum zum Vorwurf machen«, entfuhr es Wendy. Sie war ein geduldiger Mensch. Langsam fühlte sie aber, dass sie aggressiv wurde. Was wollte diese Frau von ihr?
»Das war auch gar nicht meine Absicht«, lächelte Philomena unschuldig. »Tut mir leid, wenn das so rübergekommen ist.« Sie tat ein paar Schritte ins Zimmer hinein und drehte sich dann zu Wendy um.
»Das hier ist Helenas Zimmer. Wir haben alles so gelassen, wie es war.« Sie ging hinüber zum Frisiertisch, auf dem neben Tuben und Tiegeln, Haarbürsten und Kämmen ein in Silber gerahmtes Foto stand. Es zeigte den jungen Hanno, der eine wunderschöne, dunkelhaarige Frau in den Armen hielt. Die beiden lächelten strahlend in die Kamera. »Wo immer sie als Paar aufgetreten sind, stand Helena sofort im Mittelpunkt«, erklärte Philomena, und plötzlich war ihre Stimme weich, fast wie verliebt. »Sie war die schönste Frau weit und breit. Intelligent, stilvoll, charmant. Alle anderen Männer haben Hanno um sie beneidet.«
Wendy fühlte sich alles andere als wohl in ihrer Haut und wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Glücklicherweise näherten sich in diesem Augenblick Schritte, und gleich darauf kam Hanno ins Zimmer.
»Was soll das, Philo? Warum seid ihr hier?«, polterte er ohne Umschweife los. »Ich hatte dich doch gebeten, das Gästezimmer für Wendy zurechtzumachen.«
Philomena machte ein unschuldiges Gesicht.
»Aber das hier ist das schönste Zimmer im ganzen Haus. Frau Wendel gefällt es auch sehr gut, nicht wahr?«
Wendy hätte schwören können, dass Philomenas Lächeln verschlagen war. Da sie nicht aber undankbar sein wollte, widersprach sie nicht und sagte stattdessen: »Mach dir keine Umstände. Für zwei Nächte ist das schon in Ordnung.«
Es war Hanno anzusehen, dass er anderer Meinung war. Doch seine Schwägerin gab ihm keine Gelegenheit, etwas zu sagen. Sie ging auf ihn zu und tätschelte ihm demonstrativ vor Wendys Augen die Wange.
»Frau Wendel möchte sich nach der anstrengenden Autofahrt sicher frisch machen. Komm, mein Lieber. Wir lassen sie allein.«
Hanno schickte Wendy einen sichtlich hilflosen Blick, gab sich dann aber zu ihrer Enttäuschung widerspruchslos geschlagen.
»Gut. Wir sehen uns in einer halben Stunde unten. Ist das in Ordnung für dich?«
Einen kurzen, heißen Augenblick lang war sie versucht, den Kopf zu schütteln. Doch dann siegte ihre Vernunft.
»Natürlich. Bis gleich«, erwiderte sie und sah den beiden nach, wie sie das Zimmer verließen.
Erst als Wendy allein war, ließ sie ihrer Enttäuschung über Hannos Verhalten freien Lauf.
»Schnepfe«, stieß sie durch die Zähne hervor. Gleichzeitig verurteilte sie Hanno wegen der offensichtlichen Schwäche seiner Schwägerin gegenüber. »Warum bin ich jetzt enttäuscht?«, fragte sie sich selbst. »Ich wusste doch, dass es den perfekten Mann nicht gibt.« Trotzdem tat es weh, diese Seite von Hanno kennenzulernen. Und Wendy war sich nicht sicher, ob sie das Abenteuer an dieser Stelle nicht lieber abbrechen sollte.
*
Bebend vor Wut stand Marco vor dem Vorbereitungsraum zum Operationssaal. Er hatte die letzten Worte von Anians Lüge mitbekommen. Noch bevor er Gelegenheit hatte, die Angelegenheit richtigzustellen, war Teresa aber in den Operationssaal geschoben worden. Und jetzt war es zu spät.
Anian erschrak, als er auf den Flur hinaustrat und Marco dort stehen sah. Mit ihm hatte er nicht gerechnet, und seine Miene versteinerte augenblicklich.
»Ach, du bist auch hier?«, fragte er scheinheilig. »Ich hab dich vorhin gar nicht gesehen.«
»Ich war vor dir bei Teresa und war kurz auf der Toilette«, erwiderte Marco eisig. Sein Blick war durchdringend, und Anian fühlte sich gar nicht wohl in seiner Haut. Unter keinen Umständen wollte er klein beigeben; er starrte herausfordernd zurück.
»Was ist? Passt dir meine Nase nicht, oder warum schaust du mich so an?«
Um nicht wieder eine falsche Antwort zu geben, atmete Marco ein paar Mal tief ein und aus.
»Dich interessiert wohl überhaupt nicht, dass du mit deiner Lügengeschichte das Leben deiner Schwester ruinierst?«, fragte er schließlich besonnen.
Anian lachte hämisch auf.
»Ich sehe das anders. Im Gegensatz zu dir liebe ich Tessa nämlich. Ich will sie davor beschützen, dass sie in ihr Unglück rennt.« Er warf den Kopf in den Nacken und sah Marco trotzig an.
Trotz aller Beherrschung verlor Marco allmählich die Geduld.
»Dich interessiert deine Schwester und das, was sie sich wünscht, doch gar nicht. Sonst würdest du ihr nicht in ihrer schrecklichen Situation solche Geschichten erzählen und ihr das Leben damit zusätzlich schwer machen.«
Der Ernst in Marcos Stimme irritierte Anian nun doch.
»Wieso schreckliche Situation?«, fragte er verunsichert. »Es ist doch bloß ein kleiner Eingriff.«
Marco haderte mit sich. Er dachte an das Versprechen, das er Teresa gegeben hatte. Und wusste gleichzeitig, dass er es diesmal brechen musste, wenn es überhaupt noch einen Weg für ihn und Anian geben sollte.
»Tess geht es viel schlechter, als du denkst. Eigentlich ist sie zu schwach für eine Narkose. Aber die Entzündung im Fuß bedroht ihr Leben. Diese Operation ist ein Wettlauf mit der Zeit«, erklärte er sehr ernst, sich der Dramatik der Lage wohl bewusst. »Wenn es den Ärzten nicht innerhalb kürzester Zeit gelingt, den Infektionsherd zu entfernen, dann schwebt deine Schwester in Lebensgefahr.«
Anian schluckte. Damit hatte er nun wirklich nicht gerechnet.
»Aber sie war doch ganz munter vorhin. Gut, ein bisschen blass. Aber sonst …«, stammelte er verzweifelt.
»Teresa geht bis an ihre Grenzen und darüber hinaus, um die schöne Fassade für dich aufrechtzuerhalten. Du sollst nicht noch mehr leiden, als unbedingt nötig. Das ist ihr größter Wunsch. Dafür würde sie alles tun.«
Anian biss sich auf die Lippe. Doch noch war er nicht so weit, seinen Fehler einzugestehen. Er starrte auf die Spitzen seiner ausgetretenen Turnschuhe und presste beleidigt die Lippen aufeinander.
»Hast du schon mal drüber nachgedacht, dass Tessa auch einen Verlust erlitten hat, als eure Eltern gestorben sind? Dass auch ihr Leben seither nicht mehr dasselbe ist?«, fuhr Marco fort.
Doch davon wollte Anian nichts wissen; er presste die Hände auf die Ohren.
»Hör schon auf mit deinem salbungsvollen Geschwafel«, schimpfte er wütend. »In Wahrheit interessiert sich doch auch keiner für mich. Oder hast du schon mal eine einzige Sekunde drüber nachgedacht, warum ich solche Geschichten erzähle?«
Marco seufzte.
»Ehrlich gesagt habe ich im Augenblick andere Probleme.«
Langsam nahm Anian die Arme wieder herunter.
»Es ist wegen des Festivals«, fuhr er leise fort, und plötzlich meinte Marco, Tränen in den Augen des Teenagers glitzern zu sehen. »Das Mädchen, mit dem ich hingehen wollte, geht jetzt mit meinem besten Freund.« Verstohlen wischte er sich mit dem Ärmel über die Augen und ärgerte sich gleichzeitig darüber, vor Marco Schwäche zu zeigen.
Dem ging langsam ein Licht auf.
»Und so jemanden nennst du deinen besten Freund?«, fragte er ungläubig.
Anian zuckte mit den Schultern.
»Sie hätte ja nicht Ja sagen müssen, als er sie gefragt hat.«
»Er hätte sie gar nicht erst fragen dürfen«, widersprach Marco energisch. »Aber abgesehen davon war das Mädchen dann einfach nicht die Richtige für dich.«
»Das sagst du so einfach«, entfuhr es Anian, und er wirkte auf einmal wie ein hilfloser kleiner Junge, dem man sein Lieblingsspielzeug weggenommen hatte. »Ich hab nicht so viele Chancen bei den Mädchen. Christina war die erste seit Wochen, die sich mit mir treffen wollte.«
Im ersten Augenblick wollte Marco laut herauslachen. Doch dann erinnerte er sich an seine eigene Jugend, an all die Sorgen und Nöte und Unsicherheiten, mit denen er sich als Teenager herumgeschlagen hatte. Sie waren nicht weniger bedeutungslos gewesen als die von Anian. Und doch hatten sie sich wie echte Probleme angefühlt, waren schwerwiegend und dramatisch gewesen.
»Ich kann mich gut dran erinnern, wie sich das anfühlt«, gestand er mit vollem Ernst und brachte Anian damit zum Staunen.
»Dir ist so was auch schon passiert?«
»Na klar!« Jetzt lachte Marco doch. »Und nicht nur einmal. Es hat Jahre gedauert, bis ich eine Frau wie deine Schwester treffen durfte. Ich war dem Schicksal unendlich dankbar, dass es mir Teresa geschickt hat.« Er hielt inne und biss sich auf die Lippe. Marco konnte nur ahnen, was Anians Lüge in Teresa bewirkt haben mochte. Und er wusste auch, wie sie sich im Zweifel entscheiden würde, entscheiden musste, selbst wenn ihr Herz eine andere Sprache sprach. »Dass es jetzt wahrscheinlich vorbei ist, ist das Schlimmste, was mir passieren konnte. Teresa zu verlieren …« Er konnte nicht weitersprechen.
Erst jetzt begriff Anian das volle Ausmaß der Katastrophe, die er mit seiner rachsüchtigen Lüge angerichtet hatte.
»Das wollte ich nicht. Ehrlich«, versicherte er ebenso leise wie betroffen.
Marco lächelte schmerzlich.
»Ich weiß. Aber passiert ist passiert.« Er seufzte tief. »Ich will noch abwarten, wie die Operation verlaufen ist. Danach bringe ich dich nach Hause und packe meine Sachen. Dann bist du mich endlich los.«
Anian biss sich auf die Lippe und sah Marco dabei zu, wie er sich auf eine der Bänke vor dem Operationssaal setzte und das Gesicht in den Händen vergrub.
»Es tut mir leid«, murmelte er kaum hörbar.
Marco hatte ihn trotzdem verstanden. Er hob den Kopf und lächelte den jungen Mann schmerzlich an.
»Viel wichtiger ist mir, dass du Teresa erklärst, was passiert ist und warum. Mir glaubt sie wahrscheinlich eh nicht mehr.« Die Hoffnungslosigkeit stand ihm ins Gesicht geschrieben. Trotzdem suchte er nach einem versöhnlichen Ende. »Wenn du willst, kann ich dir ein paar Styling-Tipps geben, auf die die Mädels wirklich abfahren«, bot er Anian großzügig an und beschämte den jungen Mann damit nur noch mehr.
»Das wär echt cool!«, stimmte er leise zu. Es tat ihm unglaublich leid, was er getan hatte, und er konnte nur hoffen, dass das Schicksal ihm Gelegenheit gab, diesen dummen Fehler wiedergutzumachen.
*
Nach einer erfrischenden Dusche saß Wendy am Frisiertisch in Helenas Zimmer. Es fühlte sich an, als hätte das weiche Wasser jede Verstimmung fortgewaschen, und sie lächelte sich im Spiegel aufmunternd an.
»Wahrscheinlich sehe ich das alles viel zu eng«, sagte sie zu sich selbst. »Ist ja klar, dass es für Philomena nicht leicht ist, wenn eine neue Frau ins Leben ihres Schwagers tritt. Immerhin war Helena ihre Schwester, und so ein Verlust ist mit Sicherheit nicht leicht zu ertragen. Egal, wie viel Zeit inzwischen vergangen ist«, sprach sie sich selbst Mut zu und drehte die Wimperntusche auf. Sie legte ein leichtes Make-up auf und zog ihre Lippen in einem dezenten Bronzeton nach, als sie erschrocken zusammenzuckte.
»So saß Helena auch immer vor dem Spiegel. Genau so, wie Sie jetzt!«, sagte eine Stimme direkt neben ihr.
Wendy fuhr herum und starrte Philomena an, die lautlos im Zimmer aufgetaucht war.
Schlagartig vergaß sie jedes Verständnis und jeden guten Vorsatz.
»Können Sie nicht anklopfen?«, machte sie ihrem Ärger unverhohlen Luft.
Doch davon ließ sich Philo nicht beeindrucken. Das Lächeln schien auf ihren Lippen festgeklebt zu sein.
»Obwohl Sie meiner Schwester natürlich überhaupt nicht ähnlich sind. Weder im Wesen noch im Aussehen.« Sie bedachte Wendy mit einem abfälligen Blick. »Helena war immer so elegant.« Sie griff nach einer Schmuckschatulle im Regal und klappte den Deckel auf. Ihre Augen begannen zu funkeln. »Diese Diamanten hat Hanno ihr zum zehnten Hochzeitstag geschenkt. Wie herrlich sie glitzern.«
Pflichtschuldig bedachte Wendy die Edelsteine mit einem flüchtigen Blick.
»Mag sein. Allerdings mache ich mir nichts aus teurem Schmuck.«
»Das wundert mich nicht«, gab Philomena unbarmherzig zurück und klappte den Deckel wieder zu. »Das ist überhaupt nicht Ihr Stil.«
Es klopfte an der Tür, und Wendy atmete erleichtert auf, als Hannos Charakterkopf auftauchte.
»Hier steckt ihr beiden also. Unterhaltet ihr euch gut?«, lächelte er in Unkenntnis der Sachlage erfreut.
Philomena schickte ihrer Besucherin einen hämischen Blick.
»Ich bereite das Abendessen vor«, sagte sie zu Hanno und verließ das Zimmer. Als die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war, atmete Wendy erleichtert auf.
Hanno betrachtete sie besorgt.
»Stimmt was nicht?«
Wendy haderte kurz mit sich und fasste sich schließlich ein Herz. Sie drehte sich auf dem Stuhl um und nahm Hannos große Hände in die ihren. Dabei sah sie ihn flehend an.
»Ich hatte mich wirklich sehr auf die Stunden mit dir gefreut. Aber Philomena gibt mir mit jedem Wort zu verstehen, dass ich nicht erwünscht bin. Ich fühle mich regelrecht als Eindringling.«
»Ich weiß, was du meinst.« Hanno zeigte zu ihrer Erleichterung volles Verständnis und zog sie vom Stuhl hoch. Er bettete ihre Hände an seine Brust und betrachtete sie so innig, dass ihr fast schwindlig wurde. »Und es tut mir leid, dass du dich nicht wohlfühlst. Ich habe die Situation wohl unterschätzt. Für Philo war es damals nicht leicht, den Verlust ihrer Schwester zu verschmerzen.«
»Deshalb muss sie mich aber nicht verfolgen und erschrecken«, sagte sie leise. »Ich tue ihr doch nichts und nehme ihr nichts weg.«
»Das weiß ich doch.« Hanno war in der Zwickmühle. Noch immer hielt er Wendys Hände fest in den seinen und dachte nach.
»Weißt du was? Heute Abend gehen wir beide ganz allein schick essen – ohne Philo, versteht sich – und vergessen meine Vergangenheit einfach. Was hältst du davon?«, fragte er warm.
»Das klingt wirklich vielversprechend«, nahm Wendy sein Angebot friedfertig an, und ehe sie es sich versah, fühlte sie Hannos Mund auf ihrem.
»Du bist ein Schatz«, sagte er heiser, als er sich von ihr gelöst hatte und sie noch den Kuss auf ihren Lippen brennen fühlte. »Ich spreche gleich mit Philomena und reserviere uns dann einen Tisch in der Ratsherrenstube«, versprach er fast feierlich. Er sah Wendy noch einmal schmelzend an und ging dann zur Tür. Dort angekommen, drehte er sich noch einmal um.
»Hab ich dir eigentlich schon gesagt, dass du heute wieder fantastisch aussiehst?« Auf eine Antwort wartete er nicht, und einen Augenblick später hörte Wendy seine Schritte auf der knarrenden Treppe.
*
Erschöpft, aber zufrieden kam Dr. Daniel Norden an diesem Abend nicht allzu spät aus der Klinik nach Hause.
»Da bist du ja!«, begrüßte Felicitas ihn mit einem liebevollen Kuss. Sie trug ein atemberaubendes Abendkleid in Anthrazit. Dekolleté und tiefer Rückenausschnitt waren mit Ornamenten aus silbernen Perlen bestickt, wie Daniel bemerkte, als er seiner Frau auf die Terrasse folgte. Ihr Kleid erinnerte ihn an das klassische Konzert, das sie an diesem Abend besuchen wollten. »Ich dachte schon, du vergisst, dass wir Konzertkarten haben.«
»Wie könnte ich das vergessen?«, fragte er verschmitzt und beglückwünschte sich innerlich, noch halbwegs pünktlich zu sein. Er setzte sich an den Terrassentisch, wo bereits eine kalte Mahlzeit auf ihn wartete. »Esse ich heute allein? Wo sind denn die Kinder?«, fragte er, um vom Thema abzulenken.
»Dési ist beim Tanzunterricht, Janni ist mit seinem Longboard unterwegs und Felix spielt mit Freunden Beach-Volleyball«, beantwortete Fee seine Frage und setzte sich zu ihm an den Tisch.
»Und Anneka?«, erkundigte sich Daniel nach seiner älteren Tochter und fischte eine schwarze Olive aus der Salatschüssel.
»Die ist im Freibad. Aber lenk nicht vom Thema ab. Ich habe dich durchschaut, Elender!«, erklärte Fee so streng, dass Daniel erschrak.
Sofort durchforstete er sein Gedächtnis nach der Verfehlung, die er begangen hatte, wurde aber nicht fündig.
»Was ist passiert, mein Schatz?«, fragte er so vorsichtig, dass Fee nicht länger ernst bleiben konnte.
»Du bist und bleibst ein schlechter Lügner. Natürlich hast du das Konzert vergessen. Dafür musst du zur Strafe heute Abend fahren, und ich gönne mir zwei statt nur ein Glas von diesem köstlichen Champagner, den sie in der Philharmonie verkaufen.«
»Muss das sein?«, stöhnte Daniel in gespielter Verzweiflung auf. »Ich habe eine gute Entschuldigung.«
Ein vergnügtes Lächeln auf den Lippen, verschränkte Felicitas die Arme vor dem schlanken Oberkörper und sah ihn forschend an.
»Ich höre«, verlangte sie zu erfahren, warum ihr Mann das Konzert vergessen hatte.
Bevor Daniel antwortete, legte er eine Scheibe Räucherlachs auf einen Toast und bestrich sie mit Meerrettich. Schon der erste Bissen trieb ihm Tränen in die Augen.
»Du meine Güte, das ist ja höllisch scharf!«, keuchte er und griff nach dem Glas Wasser, das neben seinem Teller stand.
Fee lachte schallend.
»Der ist auch von Lenni handgerieben und mit Sahne verfeinert.«
»Das sollte Strafe genug sein für meine Vergesslichkeit.« Mit der Serviette tupfte sich Daniel die Tränen aus den Augen.
Nachdenklich wiegte Fee den Kopf.
»Also schön. Ich werde Gnade vor Recht ergehen lassen, wenn du mir sagst, was deine Aufmerksamkeit heute derart beansprucht hat«, machte sie einen fröhlichen Vorschlag, der natürlich Daniels Zustimmung fand.
»Zum einen hatten Danny und ich in der Praxis alle Hände voll zu tun. Und dann, als es endlich ruhiger geworden ist und ich die Hoffnung auf eine entspannte Tasse Kaffee hatte, kam ein Anruf aus der Klinik.«
»Was ist passiert?«, erkundigte sich Fee ernst und griff nach Daniels Gabel. Der Salat sah so köstlich aus, dass sie nicht länger widerstehen konnte. Und das, obwohl sie eigentlich satt war.
»Teresas Infektion ist wieder aufgeflammt. Ihr Körper ist einfach zu schwach, um sich erfolgreich gegen die Erreger zu wehren. Jenny Behnisch stand vor einer schwierigen Entscheidung: Eine erneute Revision der Wunde zu wagen und Teresa durch eine Narkose in echte Gefahr zu bringen, oder abzuwarten, was mindestens genauso gefährlich war. Teresa wollte meine Meinung dazu hören. Deshalb bin ich in die Klinik gefahren.«
Fee hatte aufmerksam zugehört.
»Ihr habt euch für die Operation entschieden?«, ahnte sie, und Daniel nickte.
»Jenny und ihr Team haben eine echte Meisterleistung vollbracht.«
»An der du ja wohl nicht ganz unbeteiligt warst«, sagte Felicitas ihrem Mann auf den Kopf zu. »Ich gehe jede Wette ein, dass du mit im OP warst.«
Daniel hatte seine Mahlzeit inzwischen beendet und tupfte den letzten Rest Salatsauce mit einem Stück Toast vom Teller.
»Wieso kennst du mich eigentlich so gut?«
»Weil ich schon ein halbes Leben lang mit dir verheiratet bin«, erinnerte Fee ihn lächelnd an die unabänderlichen Tatsachen. »Deshalb glaube ich auch, dass du dich nach dem Eingriff bei der Kollegin Clement nach ihrem Date mit deinem Patienten erkundigt hast«, sagte sie ihm auf den Kopf zu.
Seufzend lehnte sich Daniel zurück.
»Eigentlich muss ich dir abends gar nichts mehr erzählen. Du weißt ja schon alles.«
»Nein. Ich weiß zum Beispiel nicht, wie die Verabredung ausgegangen ist. Aber das kannst du mir auch im Auto erzählen«, fuhr Felicitas mit einem Blick auf die Uhr fort. »Du musst dich nämlich jetzt umziehen. Das Konzert fängt in einer Stunde an.« Sie stand auf und reichte Dan beide Hände, um ihn mit Schwung aus dem Stuhl zu ziehen. Dabei landete er direkt in ihren Armen und drückte die Lippen auf ihren Hals.
»Und was, wenn ich dir jetzt gleich erzähle, dass die Verabredung ein voller Erfolg war? Dann könnten wir doch das Konzert ausfallen lassen und die Gunst der Stunde für ein Schäferstündchen nutzen«, raunte er ihr ins Ohr und knabberte verspielt an ihrem Ohrläppchen. »Ich wüsste zu gern, was sich unter diesem Kleid befindet.«
»Wenn das so ist, werde ich deine Neugier erst recht auf die Folter spannen«, kicherte Fee. Sie küsste ihren Mann innig, ehe sie sich sehr resolut aus der Umarmung löste und ihn ins Schlafzimmer schickte, wo schon sein frisch gereinigter Smoking auf ihn wartete.
*
Die Aussicht auf ein entspanntes Abendessen zu zweit hatte Wendys gute Laune im Handumdrehen wiederhergestellt, und sie lächelte strahlend und voller Vorfreude, als sie zur verabredeten Zeit die Treppe hinunterstieg.
Von Hanno war weit und breit noch keine Spur zu sehen, und so schlüpfte sie in ihre leichte Jacke, um draußen auf ihn zu warten.
»Sie werden Ihren Willen bekommen und heute Abend mit meinem Schwager allein sein!« Wieder erklang Philomenas Stimme unerwartet aus einer dunklen Ecke, von denen es in diesem Haus mehr als genug gab. Und wieder zuckte Wendy erschrocken zusammen.
»Müssen Sie eigentlich immer so herumschleichen?«, fragte sie geschockt und presste die Hände auf ihr wild schlagendes Herz.
»So schlechte Nerven?« Philo lachte rau. »Das ist bestimmt ihr schlechtes Gewissen Helena gegenüber.«
»Warum sollte ich ein schlechtes Gewissen haben?«, fragte Wendy verständnislos.
Philomena gab vor, diese Frage nicht gehört zu haben. Sie musterte ihre Besucherin eindringlich.
»Aber freuen Sie sich nicht zu früh auf die schöne Zweisamkeit. In dieser Gegend werden Sie niemals mit Hanno allein sein. Helena ist allgegenwärtig, nicht nur in diesem Haus. Wussten Sie, dass die Ratsherrenstube ihr Lieblingslokal war? Dort hängt sogar ein lebensgroßes Foto von ihr.« Ohne den Kopf zu drehen, ließ sie ihre blassen Augen von einer Ecke des Flurs zur anderen wandern. »Manchmal denke ich wirklich, dass sie jeden Augenblick zur Tür hereinkommt.«
»Das denke ich auch«, gab Wendy kühl zurück. »Und dann stehen jedes Mal Sie vor mir.« Unwillig schüttelte sie den Kopf. »Helena ist Geschichte. Warum wollen Sie das nicht endlich wahrhaben?«
Philomena lachte hämisch.
»Wenn Sie das glauben, dann irren Sie sich gewaltig. Helenas Geist hat diesen Ort nie verlassen«, stellte sie unmissverständlich klar. »Ich wünsche einen schönen Abend!«
Fassungslos starrte Wendy ihr nach, als sie sich umdrehte und durch eine Tür verschwand. Mit einem Schlag war ihr die Lust auf diesen Abend vergangen, und als Hanno wenig später die Treppe hinunterkam und ihr gut gelaunt den Arm reichte, war sie still und in sich gekehrt.
»Was ist, meine Liebe? Du bist ja ganz blass«, fragte er besorgt. »Bist du einem Gespenst begegnet?«
»So könnte man es auch sagen.«
Hanno konnte sich denken, worauf sie anspielte.
»Dann vergiss diese unliebsame Begegnung und freu dich auf unseren Abend mit herrlichem Essen und gutem Wein. Du als Feinschmeckerin wirst bestimmt begeistert sein«, versprach er feierlich. »Hast du was dagegen, ein paar Schritte zu Fuß zu laufen? Die Ratsherrenstube ist nicht weit von hier, und ich könnte dir bei dieser Gelegenheit meinen Besitz zeigen.«
Am liebsten wäre Wendy sofort abgereist. Doch Hanno war so aufgekratzt und fröhlich, dass sie es nicht übers Herz brachte, ihn zu enttäuschen. Sie zwang sich ein Lächeln auf die Lippen und hakte sich bei ihm unter.
»Da bin ich ja mal gespannt.«
»Das kannst du auch sein.« Während sie zuerst über den Hof schlenderten und dann auf eine schmale Allee abbogen, erzählte Hanno unterhaltsam von den Zeiten, die das altehrwürdige Anwesen schon erlebt hatte. »Manchmal wünschte ich mir, dass die Steine sprechen könnten. Stell dir doch nur mal vor, was sie schon alles gesehen haben. Die Menschen, die dort ein und aus gegangen sind … Es würde mich brennend interessieren, von ihrem Leben und den Zeiten damals zu erfahren.« Dieser Gedanke faszinierte auch Wendy, und gemeinsam schmückten sie diese Idee aus, bis sie die Ratsherrenstube erreichten. Hanno hielt Wendy die Tür auf, und fast sofort wurde ihr Herz schwer. Sie erinnerte sich wieder an Philomenas Unkenrufe und entdeckte gleich darauf tatsächlich ein Portrait der schönen Helena, das über dem Kamin in der Stube hing.
»Wieso hängt dieses Bild hier?«, erkundigte sie sich, während sie an einem schön eindeckten Tisch Platz nahm.
Hanno sah kurz hinüber und setzte sich dann Wendy gegenüber.
»Helena hatte ein großes Herz und war sehr engagiert. Als dieser Gutshof hier vor ein paar Jahren von einem Feuer halb zerstört wurde, hat sie kurzerhand eine Stiftung gegründet und die Bürger mobilisiert. Mit gemeinsamen Kräften wurde das Gebäude saniert. Als Anerkennung für ihr Engagement bekam Helena zur Wiedereröffnung dieses Bild geschenkt«, erklärte er unbedarft und dankte dem Ober, der die Speisekarten brachte. »Hmmm, was nehmen wir denn Leckeres?« Er vertiefte sich in die Lektüre der umfangreichen Karte.
Obwohl Wendy hungrig wie ein Wolf war, konnte sie sich nicht konzentrieren. Helena schien sie geradewegs anzustarren, ein süffisantes Lächeln spielte um ihre schönen, vollen Lippen.
Hanno bemerkte von alldem nichts. Er klappte die Karte zu und fragte Wendy nach ihren Wünschen.
»Ich fürchte, ich kann mich nicht entscheiden«, redete sie sich heraus, und so wählte und bestellte er für sie.
Als sie wieder allein waren, griff er nach ihren Händen und lächelte sie strahlend an.
»Ich bin so froh, dass du hier bist.« Seine Stimme war heiser, und er zog ihre Finger an seine Lippen. Zu seiner großen Überraschung entzog Wendy ihm ihre Hände plötzlich.
»Es tut mir leid, aber ich kann das nicht«, gestand sie und sah hinüber zu dem Portrait über dem Kamin. »Wo ich gehe und stehe, fühle ich mich von Helena verfolgt.« Sie griff nach ihrer Handtasche, die neben ihr auf der Bank lag, und stand auf.
»Aber, Wendy, wo willst du denn hin?«, fragte Hanno sichtlich überrumpelt.
»Ich weiß nicht. Irgendwohin, wo mich nichts an Helena erinnert«, erklärte sie schroff. »Bestimmt gibt es hier irgendwo eine Frittenbude. Elegant, wie Helena war, wird sie die wohl kaum betreten haben.« Bevor Hanno etwas erwidern konnte, stürmte sie an dem verdutzten Kellner vorbei aus dem Lokal.
Die frische Luft schlug ihr ins Gesicht und kühlte die erhitzten Wangen. Im Laufschritt eilte Wendy die Straße entlang, bis sie tatsächlich einen Imbiss entdeckte. Dort stillte sie den größten Hunger und schmiedete einen Plan. An diesem Abend war es zu spät. Doch gleich am nächsten Morgen würde sie sich ein Taxi bestellen und abreisen, um Hanno Thalbach und seine Schwägerin Philomena nie wiederzusehen.
*
Als Teresa Berger am nächsten Morgen erwachte, fühlte sie sofort, dass sich mehrere Dinge verändert hatten. Wie durch ein Wunder waren die Schmerzen im Fuß wie weggeblasen. Das Fieber war deutlich zurückgegangen, und ihr Kopf frisch und klar. Allein der tonnenschwere Stein auf ihrem Herzen störte sie, und es dauerte einen Moment, bis sie sich daran erinnerte, warum er sich dort breitgemacht hatte. Doch viel Gelegenheit, darüber nachzudenken, hatte sie nicht. Kaum hatte sie die Augen geöffnet und blinzelte ins helle Tageslicht, wurde sie auch schon von einer bekannten Stimme angesprochen.
»Hey, Tessa, wie geht’s denn so?« Niemand anderer als Anian stand neben ihrem Bett. Trotzdem hätte Teresa ihren Bruder kaum erkannt.
»Nanu? Was ist denn mit dir passiert?«, erkundigte sie sich und betrachtete ihn verwirrt. »Du siehst so verändert aus.« Mühsam setzte sie sich im Bett auf und musterte ihn eingehend.
Anian war nicht nur beim Friseur gewesen und hatte die lange Mähne abschneiden lassen. Auch seine Kleidung hatte sich verändert. Statt des obligatorischen riesigen Shirts trug er ausnahmsweise einmal ein passendes, und auch die Jeans schlabberte ihm nicht um die muskulösen Beine. »Du hast ja eine richtig männliche Figur«, staunte Teresa über die breiten Schultern, die ihr Bruder bisher erfolgreich unter den angeblich coolen Klamotten versteckt hatte.
Vor Stolz schoss ihm schlagartig das Blut in die Wangen.
»Findest du?«
»Ja, wirklich. Und jetzt sieht man endlich mal deine hübschen Augen und die schmalen Wangen. Alle Achtung, du bist ja ein richtig gut aussehender Kerl. Da muss ich glatt in Zukunft noch mehr auf dich aufpassen«, schmunzelte Teresa.
»O Mann, dir scheint’s ja wirklich besser zu gehen«, entnahm Anian diesen Worten und setzte sich erleichtert auf die Bettkante.
»Die Ärzte waren noch nicht hier. Aber ja, ich glaub, diesmal war die Operation erfolgreich.«
»Werd aber bloß nicht gleich wieder übermütig. Du musst dich schonen!«, mahnte Anian streng.
Trotz ihres Herzschmerzes zog Teresa belustigt eine Augenbraue hoch.
»Nanu, das sind ja ganz neue Töne!« Sie wunderte sich immer mehr über die offensichtliche Verwandlung, die ihr Bruder innerhalb kürzester Zeit durchgemacht hatte. »Mal abgesehen davon, dass ich der Erholung nicht entkommen werde. Dr. Norden hat mir schon angekündigt, dass mich nach der Klinik auf jeden Fall ein mehrwöchiger Kuraufenthalt auf der Insel der Hoffnung erwartet«, erinnerte sie sich nach und nach an das Gespräch, das sie mit ihrem Arzt geführt hatte, nachdem sie am vergangenen Tag aus der Narkose erwacht war. Über diesen Erinnerungen verschwand das Lächeln von ihrem Gesicht und machte einer neuen großen Sorge Platz. »Dabei hab ich ihm schon gesagt, dass das unmöglich ist. Ich werde dich auf keinen Fall wochenlang allein auf dem Hof lassen.« Eine kritische Falte stand zwischen ihren Augen. »Und jetzt komm mir ja nicht wieder damit, dass du kein Baby mehr bist«, fügte sie streng hinzu.
Verlegen nagte Anian an der Unterlippe. Das war der Moment, in dem er versuchen konnte, seinen Fehler wiedergutzumachen. Wenn Teresa es denn noch wollte.
»Natürlich musst du auf Kur gehen!«, erklärte er mit Nachdruck. »Ich will, dass du endlich wieder ganz gesund wirst. Schließlich hat dich die Sache mit Mama und Papa auch ganz schön mitgenommen. Ist ja nicht so, dass nur ich gelitten hab. Auch wenn ich das öfter mal gedacht hab«, räumte er bereitwillig ein und schaffte es kaum, seiner Schwester dabei ins Gesicht zu sehen. Noch immer schämte er sich fürchterlich.
Diese Einsicht rührte an Teresas Herz.
»Aber, Anian, was ist nur los mit dir?«, fragte sie mit Tränen in den Augen. »So kenne ich dich gar nicht.«
Doch Anians Gedanken waren schon weitergeeilt. Er wollte endlich hinter sich bringen, was er sich vorgenommen hatte, und knetete verlegen seine Hände.
»Wenn du auf Kur bist und ich dann allein zu Hause bin …, eigentlich wär’s doch cool, wenn Marco doch zu uns ziehen könnte …«
Schlagartig veränderte sich Teresas Gesichtsausdruck, und ihr Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen.
»Ich glaube, das ist keine so gute Idee«, sagte sie leise und kämpfte mit den Tränen. »Nicht nach dem, was du mir erzählt hast.«
Jetzt wünschte sich Anian doch, dass sich ein großes Loch vor ihm auftun und ihn verschlingen würde. Er hatte nicht gedacht, dass es so schwer sein würde, die Wahrheit zu sagen, und nahm sich vor, nie mehr wieder zu lügen.
»Na ja, weißt du … Die Sache mit dem Makler war vielleicht doch ein bisschen anders, als ich erzählt hab.«
Teresa wischte sich mit dem Ärmel ihres Nachthemds eine Träne aus dem Augenwinkel.
»Wie bitte?«, fragte sie dabei ungläubig. »Wie meinst du das?«
Anian antwortete nicht sofort. Erst das Schlagen der nahen Kirchturmuhr erinnerte ihn daran, dass er demnächst gehen sollte, wenn er nicht zu spät zur zweiten Stunde kommen wollte.
»Bitte sei mir nicht böse, aber ich hab gelogen«, sprang er schließlich doch über seinen Schatten und gestand die Wahrheit.
»Du hast WAS?«
»Ich meine, dieser Makler war wirklich da. Aber Marco hat klipp und klar gesagt, dass ein Verkauf für dich nicht infrage kommt. Nicht für alles Geld der Welt.«
Dieses Geständnis regte Teresa so sehr auf, dass sie nicht länger ruhig im Bett liegen bleiben konnte. Nervös rutschte sie hin und her auf der Suche nach einer bequemen Position. Ihren Bruder ließ sie dabei nicht aus den Augen.
»Warum hast du das getan?«, fragte sie so scharf, wie sie noch nie mit Anian gesprochen hatte. »Wie konntest du mir das antun, nach allem, was ich für dich auf mich genommen habe?«
Schuldbewusst zog der junge Mann die Schultern hoch.
»O Mann, was soll ich denn noch sagen, außer dass es mir leidtut?«, fragte er hilflos. »Mensch, Tessa, jetzt sei nicht so sauer. Du hast bestimmt auch mal Fehler gemacht, als du so alt warst wie ich«, setzte er sich zur Wehr.
Schon lag Teresa eine deftige Antwort auf den Lippen, als ihr ein Erinnerungsfetzen in den Kopf schoss. Sie sah sich in Anians Alter, als sie heimlich geraucht und um ein Haar die Scheune in Brand gesetzt hatte. Damals hatte sie nicht den Mut gehabt, ihrem Vater zu erklären, woher der Brandfleck kam, und hatte die Ahnungslose gespielt.
»Stimmt«, gestand sie schließlich leise und lehnte sich seufzend in die Kissen zurück. »Und einer davon hätte genauso verheerend ausgehen können wie deiner.« Erschöpft schloss sie die Augen. Die erste Frische des Morgens war verflogen, und wieder spürte sie ihre Schwäche. Selbst wenn die akute Gefahr gebannt war, würde es noch lange dauern, bis sie wieder ganz gesund und stark genug sein würde, um ihr Leben zu meistern.
»Aber es ist doch noch nicht zu spät«, versuchte Anian verzweifelt, seiner Schwester Mut zu machen. »Red doch mal mit Marco. Der findet die Idee bestimmt voll cool.«
Doch Teresa zögerte.
»Ich weiß nicht. Vielleicht sollten wir es doch besser so lassen, wie es ist«, seufzte sie. »Ich glaube sowieso, dass irgendwas nicht stimmt. Marco hat sich heute noch gar nicht bei mir gemeldet.« Sie lag mit geschlossenen Augen im Bett und dachte nach. Plötzlich kam ihr ein furchtbarer Gedanke. »Sag mal, hältst du es für möglich, dass er von deiner Lüge erfahren hat?«, fragte sie Anian entgeistert.
Einen ganz kurzen heißen Moment lang war Anian versucht, noch einmal zu lügen. Doch der Augenblick verging, und er blieb stark.
»Er hat mitbekommen, wie ich mit dir geredet hab«, gestand er kleinlaut. »Deshalb ist er auch zu sich zurück nach Hause gezogen. Er denkt, dass du jetzt nichts mehr mit ihm zu tun haben willst.«
Ungläubig starrte Teresa ihren Bruder an. Er hatte eben das Todesurteil ihrer großen Liebe verkündet. Da nützte es auch nichts, dass Anian versicherte, sich mit Marco ausgesprochen und Frieden geschlossen zu haben.
*
Nach einer unruhigen Nacht war Wendy am nächsten Morgen schon früh auf den Beinen. So leise wie möglich, um nur ja Philomena nicht mehr auf den Plan zu rufen, stand sie auf und begann, ihre Sachen zu packen. Sie war fast fertig, als es leise klopfte.
»Wendy? Bist du schon wach?«, fragte Hanno Thalbach leise. Obwohl sie wusste, dass sie nicht ohne Abschied fahren konnte, erstarrte sie kurz. Dann gab sie sich einen Ruck und ging, um ihm zu öffnen.
»Guten Morgen, Hanno«, begrüßte sie ihren Gastgeber zurückhaltend. »Kannst du mir bitte ein Taxi rufen?«
»Das erledige ich schon«, ertönte eine Stimme aus dem Hintergrund. Wieder einmal war Philomena aus dem Nichts aufgetaucht.
Ärgerlich fuhr Hanno herum.
»Es reicht jetzt, Philo! Findest du nicht, dass du schon genug angerichtet hast?«
Sie zog ein beleidigtes Gesicht und verschwand im Treppenhaus. Seufzend wandte sich Hanno wieder seiner Besucherin zu.
»Darf ich reinkommen?«, fragte er, und Wendy ließ ihn ein.
»Du reist ab?« Ungläubig starrte er auf die Reisetasche auf dem Bett.
Sein trauriges Gesicht zerriss ihr fast das Herz. Trotzdem stand ihr Entschluss fest.
»Hier ist kein Platz für mich, Hanno. Schau dich doch um.« Wendy hob die Arme und machte eine weit ausholende Geste.
»Das hier ist Helenas Heimat. Nicht nur die Möbel, die Bilder, das ganze Haus. Auch die ganze Umgebung. Philomena hat recht, wenn sie sagt, dass ich hier niemals mit dir allein sein werde«, sagte sie leidenschaftlich.
Hanno schien die Welt nicht mehr zu verstehen.
»Was sollte ich denn deiner Meinung nach tun? Ich habe Helena geliebt, das weißt du. Daraus habe ich nie ein Geheimnis gemacht. Ich kann doch nicht einfach ihre Sachen wegwerfen, das Haus verkaufen und von hier weggehen?« Ratlos ließ er sich aufs Bett fallen.
Wendy stand mitten im Zimmer, das vollgestopft war mit Helenas Besitz. Hanno tat ihr unendlich leid. Und doch war er selbst seines Glückes Schmied. Genau wie jeder andere Mensch auch war er selbst verantwortlich für das Leben, das er führte. Seufzend setzte sie sich neben ihn und legte ihm die Hand auf den Oberschenkel.
»Natürlich könntest du, wenn du sie endlich loslassen, sie als vergangenen Teil deines Lebens akzeptieren und ihren Tod annehmen würdest. Du kannst doch nicht den Rest deines Lebens in einem Mausoleum verbringen«, sprach sie eindringlich auf ihn ein. »So wirst du nie glücklich werden. Keine Frau der Welt wird das mitmachen. Außer Philomena vielleicht«, fügte sie vielsagend hinzu.
»Das ist geschmacklos«, beschwerte sich Hanno bitter. »Philomena ist meine Schwägerin.« Er sah Wendy erschüttert an. »Willst du damit sagen, dass wir keine Chance haben?«
Wendy haderte mit sich. Wieder rief sie sich die vergnüglichen, kurzweiligen Stunden ins Gedächtnis, die sie mit Hanno verbracht hatte. Er war wirklich ein interessanter, humorvoller und intelligenter Mann, in den sie sich nur zu gern verliebt hätte. So etwas geschah nicht mehr alle Tage. Schon gar nicht mehr in ihrem Alter.
Das Hupen des Taxis riss Wendy aus ihren Gedanken. Sie drückte Hanno einen Kuss auf die Wange, stand auf und griff nach ihrer Reisetasche.
»Manchmal ist Loslassen der einzige Weg zum Sieg. Du musst dein Leben verändern. Oder es verändert dich. Wenn du herausgefunden hast, ob du bereit bist, die Fenster zu öffnen und frischen Wind in dein Leben zu lassen, ruf mich an. Bis dahin wünsche ich dir alles Gute.« Sie lächelte ihm schmerzlich zu und verließ dann das Zimmer, ohne sich noch einmal umzudrehen.
*
Im gleichen Takt tönten die Schritte der beiden Läufer auf dem Asphalt. Und auch der Atem, der in der Kühle des Morgens in weißen Wölkchen vor ihren Mündern stand, ging gleichmäßig.
»Na los, schneller!«, forderte Raphael Hagedorn seinen Vater übermütig auf und zog das Tempo an. »Wenn ich den Marathon gewinnen will, muss ich mich ein bisschen mehr anstrengen.«
»Du musst doch nicht unbedingt gewinnen. Ich bin schon stolz auf dich, wenn du überhaupt ins Ziel kommst«, rief Stephan atemlos und spurtete hinter seinem Sohn her. Obwohl seine Schritte weit ausgriffen, hatte er Mühe, ihm zu folgen.
»Das glaub ich dir nicht«, sagte Raphael seinem Vater auf den Kopf zu.
Seit der Trennung seiner Eltern vor einem halben Jahr war sein bis dahin sorgloses Leben aus den Fugen geraten. Wie so viele Kinder und Jugendliche suchte auch Raphael die Schuld bei sich, litt unter Verlustängsten und wollte sich mit allen erdenklichen Mitteln unentbehrlich machen. Aus diesem Grund trainierte er auch heimlich härter, als sein Vater im Trainingsplan festgelegt hatte. Er wollte den Marathon unbedingt als jüngster Läufer gewinnen und Stephans unbändigen Stolz fühlen. »Du bist doch sonst so ehrgeizig.« Im Laufen drehte er sich um.
Stephan lag schon einige Meter hinter ihm, und Raphael lachte.
»Nicht so schnell. Ein alter Mann ist kein Schnellzug«, verlangte Stephan keuchend. »Außerdem will ich mich noch mit dir unterhalten. Ich muss dir unbedingt was erzählen.« Trotz der Atemlosigkeit klang seine Stimme gewichtig, und Raphael horchte auf.
Er drosselte das Tempo, bis sein Vater auf dem gekiesten Weg, der gesäumt war von Bäumen und lichten Sträuchern, neben ihm her trabte.
»Was gibt’s?«, fragte er mit belegter Stimme.
Stephan wusste, dass das, was er zu sagen hatte, nicht leicht sein würde für seinen Sohn. Trotzdem musste es sein.
»Ich habe eine neue Frau kennengelernt.«
Unbeirrt lief Raphael weiter. Doch Stephan kannte seinen Sohn gut genug, um zu wissen, dass ihn diese Neuigkeit zutiefst erschütterte. Bis zuletzt hatte Raphael gehofft, dass die Trennung nur vorübergehend sei, seine Eltern irgendwann wieder zusammenfinden würden.
»Na und? Was geht mich das an?«, fragte der junge Mann denn auch unfreundlich. »Ist doch deine Sache.«
»Das finde ich ganz und gar nicht«, gab Stephan zurück. »Auch wenn wir nicht mehr zusammenleben, möchte ich, dass du an meinem Leben teilhast. Genauso, wie ich auch weiterhin an deinem teilhaben möchte.«
Unwillkürlich hatte Raphael das Tempo wieder gesteigert, und Stephan hatte Mühe, ihm zu folgen.
»Dein Liebesleben interessiert mich aber nicht.«
»Aber ich möchte, dass du Paula kennenlernst«, erklärte Stephan atemlos und wich einem Radfahrer aus, der ihnen auf dem Weg durch den Englischen Garten entgegenkam. »Nicht sofort vielleicht. Aber demnächst einmal. Sie ist eine sehr nette Frau, Ärztin an einer Privatklinik und die Erste seit Langem, mit der ich mich wirklich gut verstehe. Stell dir vor, sie kann sich sogar vorstellen, mit mir nach Laos zu reisen.«
In Raphael zog sich alles zusammen.
»Schön für dich!«, presste er durch die Zähne.
»Ich glaube, dass ihr euch gut verstehen würdet«, fuhr Stephan unbeirrt fort. »Paula geht auch Laufen und treibt generell gern Sport. Vielleicht könnte sie ja mal mit uns trainieren gehen.«
»Ach, jetzt versteh ich, warum du mir das alles erzählst«, schnaubte Raphael verärgert. »Du willst sie lieber beim Training dabeihaben als mich. Hör mal, du kannst gern mit ihr laufen, wenn dir das lieber ist. Dann mach ich das allein.«
»Aber nein, so war das doch nicht gemeint«, widersprach Stephan erschrocken, musste sich aber insgeheim eingestehen, dass sein Sohn nicht ganz unrecht hatte. Stephans Zeit war begrenzt, und das tägliche gemeinsame Training raubte viel von seiner Freizeit. Das war auch der Grund, warum er diesen Vorschlag schon jetzt machte, obwohl er Paula Clement gerade erst kennengelernt hatte. »Es wäre einfach nett, wenn sie ab und zu mit uns laufen könnte. Was meinst du?«
»Meinetwegen«, knurrte Raphael verstimmt. Die ganze gute Morgenlaune war ihm schlagartig abhandengekommen. Zum ersten Mal seit langer, langer Zeit konnte er es kaum erwarten, dass das Training mit seinem geliebten Vater zu Ende war. Den Rest des Laufs hüllte er sich in eisiges Schweigen, ganz egal, was Stephan auch sagte, um seinen einzigen Sohn aufzumuntern.
*
Im Gegensatz dazu herrschte bei der Familie Norden an diesem Samstagmorgen eitel Sonnenschein. Nach dem klassischen Konzert am vergangenen Abend hatte Daniel schließlich doch noch herausgefunden, welche Dessous seine Frau unter dem aufregenden Abendkleid getragen hatte. Wenn Fee nur daran dachte, wie quälend langsam und raffiniert er sie von den Kleidungsstücken befreit hatte, wurde sie rot wie ein Teenager.
Das Ehepaar strahlte förmlich vor Glück, sodass selbst ihren Kindern die besondere Stimmung nicht verborgen blieb.
»Warum kicherst du eigentlich die ganze Zeit, wenn Dad dich anschaut?«, erkundigte sich Anneka verwundert bei ihrer Mutter und streckte sich nach der Butterdose, die an der anderen Ecke des Tisches stand. Ihr großer Bruder Felix bemerkte es. Wie so oft saß ihm der Schalk im Nacken, und er ließ sich die Gelegenheit natürlich nicht entgehen, um seine ältere Schwester zu ärgern.
»Wow, ich wusste gar nicht, dass du so lange Arme hast«, erklärte er, kurz bevor sie die Dose erreichte. »Absolut faszinierend. Kommst du da auch noch hin?«, fragte er frech und schob die Dose ein Stückchen weiter weg, sodass Anneka um ein Haar auf der Käseplatte gelandet wäre.
»Manchmal frage ich mich, wie bei zwei so intelligenten Menschen wie Mam und Dad so ein Idiot herauskommen konnte«, fauchte Anneka wütend und sprang vom Stuhl auf. Kurz entschlossen lief sie um den Tisch herum, versetzte Felix einen Knuff in die Seite und schnappte sich die Butterdose.
»Wieso Idiot?«, fragte er scheinheilig. »Ich habe nur dafür gesorgt, dass du dich ein bisschen bewegst. Das ist alles andere als idiotisch, sondern ganz im Gegenteil sehr gesund. Du solltest mir dankbar sein.«
Schmunzelnd hatten Daniel und Fee dem geschwisterlichen Zwist gelauscht, bis Felicitas beschloss, ihrer Tochter Schützenhilfe zu leisten.
»Gut, dass du das erwähnst«, wandte sie sich scheinheilig an ihren Sohn. »Nachdem du heute offenbar so viel Energie hast und Bewegung obendrein gesund ist, kannst du nach dem Frühstück die leeren Kästen aus dem Keller holen und in den Getränkemarkt fahren.« Engelsgleich lächelnd bestrich sie ihr Brötchen mit der selbstgemachten Erdbeer-Vanille-Marmelade.
Lenni, die eben mit frischem Rührei ins Esszimmer kam, wurde hellhörig.
»Oh, bei der Gelegenheit könntest du gleich noch im Baumarkt vorbeischauen und das Regal abholen, das meine Freundin gestern gekauft hat. Leider war es zu groß für ihren Wagen.«
»Solange ich es nicht auch noch aufstellen muss …«, erwiderte Felix unwillig, als Lenni ihn unterbrach.
»Wenn du das auch noch machen würdest, kannst du dir Marias ewiger Dankbarkeit sicher sein.« Sie freute sich sichtlich. »Sie ist nicht mehr so geschickt mit den Händen und hat schon überlegt, wen sie um diesen Gefallen bitten könnte.«
Nach und nach war dem zweitältesten Sohn der Familie Norden das Lachen vergangen. Ganz im Gegensatz zu Anneka, die vor Schadenfreude kaum an sich halten konnte.
»Man könnte dich glatt beneiden um so viel gesunde Bewegung«, kicherte sie und wich geschickt der zerknüllten Serviette aus, die Felix über den Tisch nach ihr warf.
»Apropos gesund«, griff Felicitas dieses Wort auf und wandte sich an Daniel, der eben überlegte, ob er eine Breze oder doch lieber ein Sesambrötchen zu Lennis Rührei mit frischen Gartenkräutern essen sollte. »Du hast doch bestimmt schon mit der Klinik telefoniert. Wie geht es Teresa?«
Daniel rollte mit den Augen.
»Ich sag doch, dass du mich zu gut kennst«, bemerkte er augenzwinkernd, wozu Fee nur lachen konnte.
»Auf keinen Fall. Es gelingt dir schließlich immer noch, mich zu überraschen«, spielte sie kokett auf die vergangene Nacht voller Liebe und Leidenschaft an.
»Da bin ich ja erleichtert«, grinste Daniel anzüglich zurück, ehe er ernst wurde. »Aber um deine Frage zu beantworten: Die Operation war glücklicherweise ein durchschlagender Erfolg, und Teresa geht es deutlich besser. Natürlich muss man jetzt abwarten, ob wir die Infektion nachhaltig in den Griff bekommen haben. Aber wenn alles glattläuft, kann sie die Klinik Ende nächster Woche verlassen und die Reha auf der Insel der Hoffnung beginnen.«
»Das sind doch mal gute Nachrichten«, freute sich Felicitas und versprach, gleich nach dem Frühstück mit ihrem Vater Dr. Johannes Cornelius zu sprechen, der das Sanatorium auf der Insel der Hoffnung mit seiner Frau Anne leitete. »Aber was wird dann aus ihrem Bruder Anian?«, dachte sie zuvor noch einen Schritt weiter.
»Du hast aber auch immer sämtliche Baustellen im Blick«, lobte Daniel ihren manchmal geradezu unheimlichen Überblick.
»Meistens zumindest. Wenn ich allerdings auch noch auf einen pubertierenden Dickkopf aufpassen muss, könnte es schwierig werden.« Sie erinnerte sich an Daniels Angebot an Teresa, Anian vorübergehend bei sich aufzunehmen.
Doch auch in dieser Hinsicht konnte Daniel seine Frau beruhigen.
»Erstens scheint sich der Dickkopf beruhigt zu haben. Und zweitens habe ich Anian gestern in schönster Eintracht mit Teresas Freund Marco gesehen. Die beiden scheinen sich ausgesprochen zu haben«, wusste er zu berichten.
Damit waren zumindest für diesen Morgen sämtliche Fragen beantwortet, und kurz darauf beendete die Familie Norden in schönster Eintracht das gemeinsame Frühstück. Sogar Felix hatte seine gute Laune wiedergefunden und zog zur Verwunderung aller gemeinsam mit seiner Schwester Anneka davon, um die Arbeitsaufträge zu erledigen. Diese Gelegenheit nutzte Daniel, um auf einen Sprung in der Klinik vorbeizuschauen und sich persönlich nach Teresa Bergers Befinden zu erkundigen.
*
Alle schienen an diesem Morgen glücklich zu sein. Schwester Iris versorgte Teresa lächelnd, und die Chirurgin Paula Clement hatte sogar ein Liedchen auf den Lippen, als sie das Zimmer ihrer Patientin verließ. Nur Teresa selbst fühlte sich unglücklich und von aller Welt verlassen. Sie hatte mehrfach versucht, Marco zu erreichen. Doch er war weder zu Hause noch ging er an sein Mobiltelefon. Das war noch nie zuvor passiert, und Teresa nahm es als schlechtes Omen.
»Nach diesem ganzen Theater will er bestimmt endgültig nichts mehr von mir wissen«, murmelte sie und starrte missmutig hinaus in den herrlichen, sonnendurchfluteten Klinikgarten. »Kann man ihm ja auch nicht verdenken.« Fast ärgerte sie sich über die fröhliche Stimmung draußen. Regen hätte viel besser zu ihrer Laune gepasst.
Sie wusste nicht, dass Marco in eben diesem Augenblick Seite an Seite mit Dr. Norden die Klinik betrat. Auch wenn Marco nicht wusste, wie es mit ihm und Teresa weitergehen sollte, erleichterte ihn die Nachricht des Arztes ungemein.
»Ich bin so froh, das noch mal alles gut gegangen ist«, seufzte er und hielt dem Arzt die Tür auf. Daniel dankte ihm mit einem Lächeln.
»Dann steht dem jungen Glück ja hoffentlich nichts mehr im Weg«, versuchte er unauffällig, Marco ein paar Informationen zu entlocken. Doch seine Hoffnungen auf ein Happy End erfüllten sich nicht.
»So ganz sicher bin ich mir da nicht«, gestand Marco seufzend, und erst jetzt fielen Daniel die Spuren in seinem Gesicht auf, die auf eine durchwachte Nacht schließen ließen.
»Oh, und ich dachte, es wäre alles in Ordnung. Ich hab Sie gestern Abend mit dem jungen Berger gesehen.«
»Anian und ich haben uns ausgesprochen. Zwischen uns ist jetzt alles klar«, bestätigte Marco. »Vorher hat er allerdings versucht, Teresa und mich auseinanderzubringen.«
»Wie das?«, hakte Daniel Norden alarmiert nach.
Für Teresas angeschlagenen Gesundheitszustand konnte eine Trennung eine Katastrophe bedeuten.
In knappen Worten berichtete Marco von dem, was passiert war.
»Ich bin mir nicht sicher, was sie jetzt von mir denkt.«
»Es ehrt Sie, dass Sie trotzdem kommen, um sie zu besuchen«, bemerkte Daniel.
Marco lachte traurig.
»Wissen Sie, was Liebe ist?«, fragte er mit rauer Stimme. »Dann wissen Sie auch, dass ich keine andere Wahl hatte.« Sie waren vor Teresas Zimmer angekommen. »Ich muss einfach Gewissheit haben. Drücken Sie mir die Daumen.« Marco wartete gar nicht erst auf eine Antwort. Er nickte Daniel Norden zu und drückte die Klinke herunter.
Teresa, die die Männerstimmen schon durch die Tür gehört hatte, saß aufrecht in ihrem Bett und starrte Marco fassungslos an.
»Da bist du ja!«, hauchte sie, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Ich versuch schon die ganze Zeit, dich zu erreichen.« Eine Träne rann ihr über die schmale Wange. Dann noch eine und noch eine.
Marco fiel ein Stein vom Herzen. Der Ausdruck in ihrem feinen Gesicht wirkte nicht wie das Ende einer großen Liebe. Ganz im Gegenteil. Er eilte an ihre Seite.
»Nicht weinen, meine Liebste. Alles ist gut.« Er nahm ihr Gesicht in seine Hände und küsste jede Träne einzeln von ihren Wangen. Das war so schön, dass Teresa noch mehr weinen musste.
»Es tut mir so leid, dass ich dir misstraut und Anian geglaubt habe«, schluchzte sie schuldbewusst.
Falls möglich, liebte Marco sie für dieses Geständnis noch ein bisschen mehr.
»Wir haben alle Fehler gemacht. Aber keine Angst. Anian und ich haben uns ausgesprochen. Wenn du noch möchtest, kann ich schon bald bei euch einziehen. Dann sind wir eine richtige kleine Familie, wie ich sie mir schon so lange wünsche.«
»Ich will, ich will, ich will«, lachte Teresa voller Glück und weinte vor lauter Freude noch viel mehr, sodass Marco seine liebe Not hatte, alle Tränen wegzuküssen, bis nur noch ein glückliches Lachen übrig war, das er von nun an hegen und pflegen wollte.
*
Als wäre nichts passiert, betrat Wendy am Montagmorgen viel früher als ihre Kollegen die Praxis Dr. Norden. Wie immer ging sie zuerst in die Küche, um das liebevoll zubereitete Mittagessen im Kühlschrank zu verstauen. Dann füllte sie die Kaffeemaschine mit Wasser, löffelte Pulver in den Filter und schaltete das Gerät ein. Mit einer Gießkanne ging sie durch sämtliche Räume der Praxis, zog die Vorhänge zurück, kippte die Fenster und goss die Blumen, ehe sie ganz zum Schluss ins Wartezimmer ging. Dort stapelte sie die Zeitschriften ordentlich und stellte frische Wasserflaschen für die Patienten bereit. Den Wasserspender hatten sie schon vor einiger Zeit aus hygienischen Gründen aus dem Wartezimmer verbannt.
»Hast du hier übernachtet oder warum bist du schon mit allen Vorbereitungen fertig?«, weckte sie die verwunderte Stimme ihrer Freundin und Kollegin Janine schließlich aus ihrer Konzentration.
Lächelnd drehte sich Wendy um.
»Ich bin einfach keine solche Langschläferin wie du«, gab sie in gespielter Heiterkeit zurück.
Doch Janine konnte sie nichts vormachen.
»Das klingt danach, als wäre der Ausflug nach Heidelberg ein Reinfall gewesen.«
»Nein, nein. Hanno ist wirklich ein netter Mann. Ein sehr netter …« Wendy verstummte und presste die Lippen aufeinander, als Janine ihr mitfühlend den Arm um die Schultern legte und sie in die kleine Küche führte. Der Kaffee war inzwischen durchgelaufen, und sie drückte Wendy auf einen der beiden Stühle am kleinen Tisch in der Ecke. Sie nahm zwei extra große Tassen aus dem Schrank, schenkte Kaffee ein und setzte sich zu Wendy.
»Raus mit der Sprache. Was ist passiert?«
Wendy dachte kurz nach. Es fiel ihr nicht leicht, ihren Misserfolg einzugestehen. Doch nach den ersten stockenden Worten fiel es ihr plötzlich leicht, alles zu erzählen. Sie redete sich allen Schmerz, jede Enttäuschung von der Seele, und als sie schließlich geendet hatte, war die Trauer der vergangenen Stunden einer vagen Erleichterung gewichen.
»Jetzt geht es mir besser«, seufzte sie und schickte Janine einen dankbaren Blick. »Freundinnen sind doch besser als jeder Liebhaber.«
»Außerdem ist ja noch nichts verloren«, gab Janine keck zurück. »Dein Abgang war grandios. Daran hat Hanno mit Sicherheit noch eine Weile zu knabbern. Und wer weiß, vielleicht meldet er sich ja eines nicht allzu fernen Tages …«, stellte sie ihrer Freundin in Aussicht.
»Vielleicht.« Nachdenklich leerte Wendy ihre Tasse und stand auf. »Aber vielleicht hab ich dann keine Lust mehr«, sagte sie verschmitzt lächelnd. Sie hatte ein Geräusch gehört, das verdächtig nach Praxistür geklungen hatte. Zeit, in die geliebte Normalität zurückzukehren und an die Arbeit zu gehen. Hier fühlte sie sich sicher und geborgen, hier war ihr Platz im Leben.
»Guten Morgen allerseits«, bestätigte Danny Nordens fröhliche Stimme diese Vermutung. »Lust auf die leckersten Rosinenschnecken der Stadt? Mit den besten Grüßen von meiner geliebten Tatjana und von der allerbesten Frau Bärwald.«
»Solche Fragen kannst auch nur du stellen«, lächelte Wendy den Junior vergnügt an und nahm ihm die prall gefüllte Tüte aus der Hand, die er extra für seine Mitarbeiter mitgebracht hatte. Einen besseren Start in den Tag konnte sie sich kaum wünschen.