Читать книгу Dr. Norden Staffel 2 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 9

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»Sollen wir dir ein Taxi schicken oder schaffst du’s noch auf deinen eigenen Beinen?«, klang Dr. Daniel Nordens Stimme fröhlich durch den Park. Wie öfter in letzter Zeit joggte er mit seinem Sohn Danny und der Assistentin Janine Merck in der Mittagspause zum Ausgleich zur Arbeit eine Runde durch die nahe gelegenen Grünanlagen.

»Schonen Sie ihn doch ein bisschen«, nahm Janine den Junior atemlos in Schutz. Sie lief fast gleichauf mit ihrem Chef, als Danny aufholte und es ihm gelang, wenigstens an ihr vorbeizuziehen. »Schließlich haben wir einen ziemlich großen Trainingsvorsprung.«

Auf einer besonders idyllischen Lichtung blieb Daniel schließlich stehen und wartete auf seine Trainingspartner. Ein junger Mann, den er schon öfter im Park getroffen hatte, lief schon zum dritten Mal konzentriert an ihm vorbei und schien ihn gar nicht zu bemerken.

»Es macht mir gar nichts aus, nicht so gut in Form zu sein wie ihr«, keuchte Danny, als er gleich darauf ebenfalls auf der Lichtung Halt machte. »Aber gegen eine Frau zu verlieren, das ist schon eine Schande!« Er stemmte die Hände auf die Oberschenkel und beugte sich vornüber.

Janine schickte ihm einen bitterbösen Blick.

»Soso, gegen eine Frau zu verlieren ist also eine Schande? In welchem Jahrhundert leben wir denn?«, fragte sie herausfordernd, und ihre Augen blitzten. »Wer als Letzter in der Praxis ist, muss Kuchen bei Frau Bärwald holen!«

»Ich bin dabei!« Während sein Vater Feuer und Flamme für diesen Vorschlag war, verdrehte Danny die Augen.

»Muss das sein?«, fragte er unlustig.

Doch Janine kannte keine Gnade.

»Auf die Plätze, fertig, los!«, zählte sie und spurtete los. Als geübte Läuferin hatte sie keine Probleme mit dem Tempo.

Doch Danny war wild entschlossen, sich keine Blöße zu geben. Er mobilisierte sämtliche Reserven und sprintete los und an seinen beiden Trainingspartnern vorbei.

»Ha, jetzt schaut ihr beiden ganz schön alt aus!«, frohlockte er atemlos, aber zufrieden.

Schon sah es so aus, als müsste Janine selbst zum Bäcker fahren, als sich das Blatt jäh wendete. Plötzlich knickte Danny ein und fasste sich mit einem Schrei an den Oberschenkel.

»Ahhhh, mein Bein!«, rief er eine Spur theatralisch. Er fiel zu Boden und umklammerte mit beiden Händen den Oberschenkel.

Sofort war sein Vater bei ihm. Janine kniete sich auf die andere Seite.

»Was ist passiert?«, erkundigte sich Dr. Norden besorgt.

»Ist der Muskel gezerrt?«, mutmaßte Janine.

»Bestimmt ein Muskelfaserriss«, stöhnte Danny. Als Daniel das Bein betastete, stöhnte er noch lauter auf. »Aua, verdammt! Du tust mir weh!«, beschwerte er sich lautstark über die seines Erachtens rüden Untersuchungsmethoden seines Vaters. »Ein Wunder, dass du überhaupt noch Patienten hast … wenn du mit allen so grob umgehst …«

Für diesen Kommentar hatte Daniel nur ein müdes Lächeln übrig.

»Jetzt stell dich mal nicht so an! Das ist ein ganz normaler Krampf«, gab er gleich darauf Entwarnung.

»Kommt in den besten Familien vor.« Auch Janine konnte sich einen spöttischen Kommentar nicht verkneifen, stand auf und lief weiter.

Auch Daniel erhob sich, half seinem Sohn auf und spurtete dann los.

Doch dem jungen Arzt war die Lust an sportlicher Aktivität fürs Erste vergangen.

»Ihr seid doch bloß neidisch, weil ich euch überholt hab«, schimpfte er den beiden schlecht gelaunt nach und machte sich humpelnd auf den Weg zurück in die Praxis, um am Nachmittag seine verlorene Wette einzulösen und ein paar leckere Süßigkeiten in der Bäckerei zu besorgen, in der seine Freundin Tatjana neben ihrem Studium arbeitete.

*

Normalerweise aß Dr. Nordens langjährige Assistentin Annemarie Wendel mit ihrer Freundin und Kollegin Janine selbstgekochte Köstlichkeiten zu Mittag. An den Tagen, an denen Janine zum Joggen ging, nutzte Wendy die Zeit jedoch, um private Dinge zu erledigen. Diesmal war sie beim Friseur gewesen und eben im Begriff, in die Praxis zurückzukehren, als ihr ein Wagen am Straßenrand auffiel. Als sie daran vorbei ging, schlug ihr Herz augenblicklich schneller.

»Wendy, halt!«, rief ihr eine bekannte, männlich-tiefe Stimme zu. »Bitte warte einen Augenblick!«

Sie stutzte einen Moment, dann drehte sie sich um und kehrte zögernd zurück.

»Hanno, das ist ja eine Überraschung!«, begrüßte sie ihren Jugendfreund, den sie vor einigen Wochen zufällig in der Praxis wiedergetroffen hatte.

Sofort waren alle Gedanken und Gefühle wieder da, die sie seit ihrem überstürzten Aufbruch von seinem Heidelberger Gutshof hartnäckig verdrängt hatte.

»Ich hoffe, eine schöne!«, erwiderte er, als er auf sie zukam.

Hannos Frau Helena war vor einigen Jahren gestorben. Seither lebte der Architekt und Immobilienmakler allein mit seiner Schwägerin auf dem Gutshof in Heidelberg. Ein Geschäft hatte ihn neulich nach München geführt, und mit einer harmlosen Beinverletzung war er in der Praxis Dr. Norden aufgetaucht. Wendy und Hanno hatten sich jede Menge zu erzählen gehabt, und die Gefühle von damals flammten wieder auf. Wendy ließ sich überreden, ein Wochenende auf dem Anwesen ihrer Jugendliebe zu verbringen. Allein Philomenas Anwesenheit und ihrer beständigen Nörgelei war es zu verdanken gewesen, dass sie vorzeitig die Flucht ergriffen hatte. Energisch schob sie diese unguten Erinnerungen beiseite und lächelte ihn freundlich an.

»Was machst du denn hier?«

Verlegen stand Hanno vor ihr und musterte sie mit fast zärtlichem Blick.

»Du hast mir gefehlt«, gestand er schließlich rau und streckte die Hand aus, um ihr eine Strähne des frisch frisierten Haares aus dem Gesicht zu streichen. »Du bist sehr schön. Hast du eine neue Frisur?«

Wendy war gerührt von dieser liebevollen Geste. Dabei hatte sie sich doch vorgenommen, hart zu bleiben.

»Ich komme gerade vom Friseur«, sagte sie leise und wusste vor Verlegenheit nicht, wo sie hinsehen sollte. »Was sagt deine Schwägerin dazu, dass du hier bist?«, stellte sie die naheliegende Frage.

»Lass doch mal Philo aus dem Spiel«, bat Hanno ein wenig ungeduldig.

»Das kann ich leider nicht, und das weißt du genau. Sie ist der Grund, warum ich den Kontakt abgebrochen habe. Sie und deine Frau Helena.«

Hanno seufzte.

»Es tut mir leid, wie das alles gelaufen ist.« Er ging zurück zum Wagen und zauberte einen riesigen Blumenstrauß hervor, der auf dem Rücksitz gelegen hatte. »Ich habe lange über deine Worte nachgedacht und mich dazu entschlossen, mein Leben zu ändern. Gemeinsam mit dir will ich die Fenster aufreißen und frischen Wind hereinlassen«, wiederholte er die Worte, die Wendy ihm zum Abschied gesagt hatte. »Willst du mir dabei helfen?«, fragte er heiser.

Ungläubig starrte Wendy auf die Blumen. Nie zuvor in ihrem Leben hatte sie einen herrlicheren Strauß bekommen. Hannos Worte taten ein Übriges, ihr Herz höher schlagen zu lassen.

»Bist du dir denn sicher, dass Philomena das zulässt?«, äußerte sie dennoch ihre Zweifel. Schwager und Schwägerin schienen über die Jahre eine nahezu symbiotische Beziehung aufgebaut zu haben, die keinen Dritten duldete. Zumindest war es das gewesen, was Philomena Wendy mit ihren intriganten Spielchen zu verstehen gegeben hatte.

Doch Hanno schien diese Bedenken nicht zu teilen.

»Philo weiß, dass ich hier bin, um um dich zu kämpfen. Sie hat nichts dagegen gesagt.« Er legte die Hände auf Wendys Schultern und sah sie innig an. »Sie kann auf Dauer nicht anders, als unsere Beziehung gutzuheißen.«

»Ich wünschte wirklich, ich könnte das glauben«, gab Wendy unsicher zurück.

Lächelnd schüttelte Hanno den Kopf. Er fühlte, wie ihr innerer Widerstand bröckelte.

»Und ich kann einfach nicht glauben, dass zwei so einzigartige Frauen nicht Freundinnen werden sollten. Ich verspreche dir, dass ich das klären werde. Aber jetzt haben wir erst einmal ein paar Tage ganz für uns allein. Natürlich nur, wenn du willst.«

Wendy war hin und her gerissen. Sie fühlte sich zu Hanno hingezogen, verstand sich so gut mit ihm wie lange nicht mit einem Mann. Trotzdem zögerte sie, nichts ahnend, wohin diese Sache führen sollte. Das lag nicht allein an Hannos Schwägerin. Sie bangte außerdem um ihre Freiheit, um das unabhängige Leben, das sie sich in all den Jahren so schön eingerichtet hatte. Aber das sagte sie Hanno nicht. Vielleicht musste nicht nur er die Fenster aufreißen und frischen Wind in sein Leben lassen. Vielleicht musste sie dasselbe tun.

»Also gut, einen Versuch ist es wert«, erklärte Wendy sich endlich einverstanden. »Aber zuerst muss ich noch ein paar Stunden arbeiten.« Aus den Augenwinkeln sah sie, wie ihre drei Mitstreiter von ihrer Joggingrunde zurückkehrten.

»Dann sehen wir uns heute Abend?« Hannos Augen leuchteten vor Freude, als sie nickte. »Ich hol dich ab.« Und dann konnte er nicht länger an sich halten und zog sie an sich, um sie in aller Öffentlichkeit auf der Straße zu küssen.

»Aber Hanno«, keuchte Wendy atemlos, als er sie endlich wieder losließ.

Der lachte unbeschwert und stieg in seinen Wagen.

»Du machst mich zum glücklichsten Mann der Welt!«, rief er ihr noch zu, bevor er die Tür zuschlug und davonfuhr.

*

Als begeisterter Sportler ging auch Stephan Hagedorn fast täglich zum Laufen, meist mit seinem 18-jährigen Sohn Raphael. Dieses Programm ergänzten die beiden durch regelmäßige Besuche im Fitnessstudio.

»Hallo, Kai, wie geht’s?«, begrüßte Stephan den Trainer des Studios, den er seit Jahren kannte.

»Alles klar!«

»Ist Raphael schon da? Ich hab ihn am Handy wieder mal nicht erreicht.«

»Der ist vor ’ner guten Stunde vom Laufen direkt hierher gekommen.«

Unwillig schüttelte Stephan den Kopf.

»Sein Trainingsplan sieht eigentlich was anderes vor.« Er schulterte seine Tasche und ging durch das Studio zur Umkleide. Auf dem Weg dorthin entdeckte er seinen Sohn, der vor einem Spiegel Hanteln stemmte.

»Hey, Sportsfreund. Alles klar?«

»Dad! Auch schon aufgestanden?« Während Raphael sich mit den Gewichten abmühte, rang er sich ein Lächeln ab.

»Nicht so frech, mein Lieber«, grinste Stephan. »Im Gegensatz zu dir muss ich zwischendurch auch mal arbeiten. Was hast du denn heute schon getrieben?«

»Och, nicht viel. Ausgeschlafen, gefrühstückt. Dann bin ich vor ’ner guten halben Stunde hergekommen«, erwiderte der junge Mann lapidar und legte die Gewichte zurück. Er lockerte die Muskeln und begutachtete seinen Körper kritisch im Spiegel.

»Da hab ich aber was anderes gehört«, gab Stephan unwillig zurück.

Einerseits schätzte er den Eifer seines Sohnes, der das erreichen wollte, was sein Vater nie geschafft hatte. Er wollte Profilangstreckenläufer werden. Anderseits fürchtete er, dass Raphael mit seinem harten Training über das Ziel hinausschießen könnte. »Übertreib es nicht. Wir haben doch extra einen Plan zusammen ausgearbeitet.«

»Ich pass schon auf.« Raphael griff nach den nächsten Gewichten und wollte sie stemmen, als er plötzlich aufstöhnte und sein rechtes Knie kurz nachgab.

»Was ist los?«, fragte Stephan sofort alarmiert.

»Nichts. Hab mir beim Laufen heute das Knie verdreht. Aber es geht schon wieder.« Tapfer biss Raphael die Zähne zusammen. Auf keinen Fall wollte er vor seinem Vater eine Schwäche zeigen. Schon gar nicht, seit der nach der Trennung von seiner Mutter Lydia eine neue Frau kennengelernt hatte. Seither wurde Raphael von noch größeren Verlustängsten geplagt, und er sah nur einen Weg, sich ins Gedächtnis seines Vaters einzubrennen: Er musste eine einzigartige Läuferkarriere hinlegen. Tapfer lächelte er Stephan an.

»Bist du sicher?«, fragte der skeptisch.

»Klar.« Zum Beweis griff Raphael nach den Hanteln, die noch mehr wogen, und stemmte sie mit einem Ruck hoch in die Luft.

Fasziniert sah der stolze Vater dabei zu.

»Du bist einfach ein Teufelskerl!«, entfuhr es ihm. »Ich war seinerzeit genauso zielstrebig wie du. Leider hat bei mir der Körperbau einfach nicht gepasst. Zu kurze Beine. Deshalb ist aus der Profikarriere nichts geworden«, erinnerte er sich noch immer an den Tag, als ihm der Trainer mit dieser Einschätzung die bitterste Enttäuschung seines Lebens bereitet hatte. »Aber du wirst es schaffen. Mein Sohn! Einfach unglaublich.« Stephans anerkennender Blick ruhte auf Raphael, bis er in die Gegenwart zurückkehrte. »So, und jetzt machst du Schluss für heute. Das reicht.« Er klopfte dem jungen Mann auf die Schulter und lächelte in sein schweißnasses Gesicht. »Ich trainiere noch ein bisschen.« Gut gelaunt ging er in die Umkleide und stand wenige Minuten später auf dem Laufband. Raphael hatte sich seinen Rat zu Herzen genommen und gesellte sich kurz darauf frisch geduscht zu ihm. Er grinste breit, als er sah, dass Stephan in mäßigem Tempo auf dem Band ging.

»Soll ich’s ein bisschen schneller machen, Papa?«, fragte er frech und streckte schon die Hand aus, um eine schnellere Gangart einzustellen.

»Halt, halt, schließlich bin ich ein alter Mann!«, wehrte sich Stephan lachend gegen diese Herausforderung. »Ich muss mich ordentlich warm machen.«

Damit war Raphael einverstanden.

»Alles klar. Bis morgen dann.«

Das erinnerte Stephan an etwas.

»Oh, gut, dass du es sagst. Morgen hab ich leider keine Zeit. Paula hat mir Kinokarten geschenkt«, erklärte er bedauernd. »Es macht dir doch hoffentlich nichts aus?«

»Schon gut.«

Ein heißer Stich durchfuhr Raphaels Herz. Als er sich umdrehte, machte er einen gedankenlosen, großen Schritt. Sein Körper rächte sich sofort dafür. Der Schmerz durchfuhr ihn wie ein Messerstich, und er stöhnte gequält auf.

»Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist?«, erkundigte sich sein Vater besorgt.

»Alles gut! Ist nur das Knie. Ich schätze mal, ich hab’s heut ein bisschen übertrieben«, winkte Raphael scheinbar lässig ab und machte sich auf den Heimweg, zerfressen von der Sorge, dass sein Vater bald keine Zeit mehr für ihn haben, mit seiner Freundin eine neue Familie gründen und seinen erwachsenen Sohn bald vergessen haben würde. Und erneut wuchs in Raphael die Sicherheit, dass er das nur verhindern konnte, indem er Stephan nicht enttäuschte.

*

»Mein armer, schwarzer Kater!«, erklärte Tatjana Bohde in Erinnerung an das alte Kinderspiel und streichelte Danny ein bisschen spöttisch über die Wange.

Als ihr Freund sie an diesem Abend angerufen und ihr sein Leid geklagt hatte, hatte sie sich sofort auf den Weg in seine Wohnung gemacht. Jetzt lag der junge Arzt hingegossen auf dem Sofa, und sie legte einen kalten, nassen Waschlappen auf sein Bein.

»Eigentlich hatte ich ja gedacht, dass du als Arzt wenigstens von der Erfindung des Coldpacks gehört haben solltest«, tadelte sie ihn und betrachtete den nassen Fleck, der sich auf der Decke auf dem Sofa ausbreitete.

»Schimpf mich nicht. Ich bin verletzt!«, jammerte Danny herzerweichend. »Bring mir lieber was zu trinken. Bitte!«, fügte er mit treuherzigem Augenaufschlag hinzu.

Tatjana zögerte und musterte ihren leidenden Freund ungläubig.

»Aber sicher, mein armer kranker Mann. Du hast ein Recht auf einen letzten Wunsch, ehe du dein Leben aushauchst.« Dann ging sie in die Küche und kam mit einem Glas Wasser zurück, in das sie in weiser Voraussicht einen Strohhalm gesteckt hatte. »Hier. Damit du deinen Kopf nicht heben musst.« Mit der einen Hand hielt sie ihm das Glas hin und half ihm mit der anderen behutsam, den Kopf zu heben.

Täuschte sich Danny oder lag ein Hauch Spott auf ihrem ebenmäßigen, schönen Gesicht?

»Ich will auch mal krank sein dürfen!«, beschwerte er sich trotzig.

Scheinbar irritiert hob die Studentin der Orientalistik eine Augenbraue.

»Soll das heißen, dass dein Leid gar nicht unheilbar ist und du eines Tages wieder gesund sein wirst?« Diesmal war die Ironie in ihrer Stimme unüberhörbar.

»Du bist herzlos!«, schnaubte Danny und drehte beleidigt den Kopf weg.

Tatjana, die sich wieder neben ihn auf den Boden gesetzt hatte, wusch den Waschlappen aus und legte ihn wieder auf das schmerzende Bein.

»Männer und Ärzte sind die schlimmsten Patienten«, erklärte sie nebenbei. »Aber das in Kombination …, du liebe Zeit!« Unwillig schüttelte sie den Kopf, und Danny riss sich zusammen.

Auf keinen Fall sollte seine schöne Freundin denken, er wäre ein Waschlappen.

»Es tut schon fast nicht mehr weh«, erklärte er im Brustton der Überzeugung. Wie zum Beweis raffte er sich auf und setzte sich ordentlich hin.

Tatjana lachte ungläubig.

»Oh, ich scheine heilende Hände zu haben«, stellte sie mit einem Blick auf ihre feingliedrigen Finger fest.

Dank einer Operation, die auf Dannys Initiative zurückging, konnte die nach einem Autounfall blinde junge Frau wieder erstaunlich gut sehen. Dieses Schicksal war verantwortlich für Tatjanas Tiefe und heitere Gelassenheit, die Danny so sehr an ihr bewunderte. »Wie ist das eigentlich passiert mit deinem Bein?«, erkundigte sie sich, hob dann aber sofort die Hände. »Nein, halt, sag’s nicht. Ich weiß es eh schon. Du wolltest Janine mal wieder beweisen, dass du dich einer Frau nicht geschlagen gibst, was?«, fragte sie belustigt. »Und schon gar nicht beim Joggen.«

»Ja«, gestand Danny sichtlich zerknirscht.

»Na und? Hat sich dein Einsatz gelohnt? Hast du wenigstens gewonnen?«

»Ich war schneller …, zumindest ein bisschen.«

Grinsend schüttelte Tatjana den Kopf.

»Manchmal benimmst du dich wie ein kleiner Junge.«

Danny schnitt eine kindliche Grimasse.

»Hast du mich trotzdem lieb?«, fragte er mit verstellter Stimme, sodass Tatjana kichern musste.

»Natürlich. Und nicht nur das. Ich liebe dich, mein Held!«, versicherte sie feierlich und beugte sich über ihn, um ihren Worten tatkräftige Beweise folgen zu lassen, die Danny seine Schmerzen endgültig vergessen ließen.

*

»Willst du noch Salat?«, fragte Lydia Hagedorn ihren Sohn Raphael, der an diesem Abend wieder einmal still und in sich gekehrt am Abendbrottisch saß. »Oder ein bisschen Fisch? Den magst du doch so gern.«

»Nein, danke«, kam eine einsilbige Antwort. Das war nicht immer so gewesen. Pubertät und Trennung hatten ihre Spuren in dem jungen Mann hinterlassen, und Lydia machte sich große Sorgen um ihren einzigen Sohn. »Ich hab keinen Hunger mehr. Darf ich aufstehen?« Raphael rang sich ein bittendes Lächeln ab und stellte die Teller zusammen.

»Natürlich.« Lydia sah ihrem Sohn nach, als er das Geschirr in die Küche brachte und dann in seinem Zimmer verschwand. Dabei bemerkte sie sein Humpeln. »Stimmt was nicht mit dir?«, rief sie ihm nach. »Hast du Schmerzen?«

»Ich hab mir heut beim Laufen das Knie verdreht. Aber halb so schlimm. Morgen ist es wieder vorbei«, erwiderte Raphael und ließ sich aufs Bett fallen. Dabei unterdrückte er ein Stöhnen. Die Schmerzen, die ihn seit Längerem plagten, wurden immer schlimmer, und er griff nach der Dose mit den Tabletten, die immer griffbereit auf dem Nachttisch standen.

»Wie viele von den Pillen schluckst du eigentlich am Tag?« Unvermittelt stand Lydia in der Tür, und Raphael zuckte erschrocken zusammen.

»Die sind harmlos. Echt, Mama. Mach dir nicht so viele Sorgen«, versuchte er, sie zu beruhigen. »Das ist doch normal, dass einem beim Training immer mal wieder was wehtut.«

»Das finde ich ganz und gar nicht«, widersprach die besorgte Mutter und setzte sich neben Raphael aufs Bett. »Schmerzen sind ein Alarmsignal des Körpers. Wenn du trotzdem trainieren gehst, fügst du dir selbst nur Schaden zu.«

Doch davon wollte Raphael nichts wissen.

»Du tust gerade so, als wäre ich aus Zucker«, tadelte er seine Mutter und setzte das Lächeln auf, von dem er wusste, dass sie dagegen machtlos war.

»Gar nicht«, seufzte Lydia denn auch ergeben. »Ich habe nur Angst, dass du maßlos übertreibst.«

»Ein bisschen vielleicht«, räumte Raphael gutmütig ein. »Und das auch nur bis zum Marathon. Ich muss einfach gewinnen. Das bin ich Papa schuldig«, erklärte er und ließ sich rückwärts in die Kissen fallen.

Fürsorglich breitete Lydia die Decke über ihm aus und strich sie glatt. Das tat sie auch, um über eine Antwort nachzudenken.

»Warum denkst du eigentlich immer, dass du Papa etwas beweisen musst?«, fragte sie schließlich kritisch.

»Ganz einfach. Ihm hab ich alles zu verdanken, was ich bisher erreicht habe. Außerdem will ich ihm eine Freude machen. Stell dir vor: Erst heute hat er wieder davon gesprochen, nie die Chance gehabt zu haben, die ich habe. Egal, wie hart er trainiert hat.« Das war nur die halbe Wahrheit. Aber mehr wollte Raphael nicht preisgeben.

Lydia seufzte bekümmert. Sie wusste von dieser Enttäuschung ihres von ihr getrennt lebenden Mannes. Obwohl er auf einem anderen Gebiet Karriere gemacht hatte, konnte er diesen geplatzten Traum einfach nicht verwinden. Er war einer dieser Väter, die versuchten, ihren eigenen Traum bei ihrem Kind zu verwirklichen. Mit dem Unterschied, dass Raphael offenbar wirklich fasziniert von diesem Sport und Stephan in all den Jahren ein verantwortungsvoller Trainer war. Ihre Trennung, die von Lydia ausgegangen war, hatte andere Gründe gehabt, und seit die Fronten geklärt waren, pflegten sie sogar ein gutes Verhältnis.

»Trotzdem ist Papa bestimmt nicht damit einverstanden, dass du dich so quälst«, erklärte sie bestimmt. »Vielleicht solltest du einfach mal mit ihm darüber reden. Oder soll ich das für dich tun?«

Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen.

»Auf keinen Fall! Ich regle das selbst.«

Diese Entscheidung musste Lydia wohl oder übel akzeptieren. Seufzend stand sie auf und blickte unglücklich auf ihren Sohn hinab.

Raphael sah die Sorge in ihren Augen und griff nach ihrer Hand.

»Morgen ist es besser. Ganz bestimmt!«, versicherte er und drückte wie zur Bestätigung ihre Hand.

»Wenn nicht, gehst du morgen zum Arzt!«

»Mama!«, seufzte Raphael. An der entschlossenen Miene seiner Mutter erkannte er aber, dass er keine Chance hatte. »Also schön. Aber nur, wenn du Papa nichts davon sagst.«

»Ich mach mir eben Sorgen. Sport ist doch nicht alles im Leben.«

»Mama!«, wiederholte Raphael mit wachsender Ungeduld.

»Also gut«, gab sich Lydia geschlagen. Immerhin hatte sie einen Teilerfolg errungen. »Ich sag ihm nichts.« Sie nickte Raphael noch einmal zu und wünschte ihm eine gute Nacht. In der Zimmertür blieb sie aber noch einmal stehen und drehte sich um. »Sag mal, wie verstehst du dich eigentlich mit Papas neuer Freundin? Wie heißt sie doch gleich?«

»Paula«, erwiderte Raphael unwillig. »Ganz nett!« Mehr sagte er nicht. Er verriet seiner Mutter nicht, dass er Angst hatte, die Liebe seines Vaters zu verlieren. Denn auch Lydia hatte genug um die Ohren und musste mit ihrem neuen Leben klarkommen. Auch sie wollte er nicht mit den Dingen belasten, die ihm das Leben schwer machten. Damit musste er schon allein klarkommen.

*

»Dan, da bist du ja endlich!«, begrüßte Felicitas Norden ihren Mann ungeduldig. »Dési ist schon ganz nervös.«

»Seit wann mache ich unsere Tochter nervös?«, lächelte Daniel und schloss seine Frau zur Begrüßung in die Arme, um sie zärtlich zu küssen.

»Wenn du ihr vollmundig einen Kinobesuch versprichst, kommt das schon mal vor«, erinnerte Fee ihn, und Daniel schlug sich erschrocken mit der Hand gegen die Stirn.

»Stimmt ja! Das hatte ich völlig vergessen.«

Doch statt sich zu ärgern, lächelte Fee verständnisvoll.

»Keine Angst, ich hab Felix vorgeschickt. Er holt die Karten ab und besetzt die Plätze schon mal für uns.«

»Du bist einfach ein Wunder an Übersicht und Planung«, seufzte Daniel und war seiner Frau wieder einmal zutiefst dankbar. »Ohne dich würde mein Leben im Chaos versinken.«

»Wohl kaum, weil du ohne mich keine Kinder hättest«, gab sie schelmisch zu bedenken.

»Zumindest keine so reizenden.«

»Schon möglich. Und jetzt komm«, machte Fee der nicht ernst gemeinten Plauderei ein Ende. »Du hast noch Zeit, eine Kleinigkeit zu essen. Was dich aufgehalten hat, kannst du uns ja auf dem Weg ins Kino erzählen.«

Verwundert sah Daniel Norden seiner Frau nach, die im Begriff war, die Treppe hinauf zu eilen.

»Du bist auch noch nicht fertig?«, fragte er überrascht.

Auf der obersten Stufe angelangt, drehte sich Fee noch einmal lächelnd zu ihm um.

»Ich bin auch gerade erst aus der Klinik gekommen.«

»Und das verrätst du erst jetzt?«

»Ich wollte das schöne Bild, das du von mir hast, nicht zerstören«, lachte sie übermütig. »Von wegen Organisationstalent und so.« Mit diesen Worten huschte sie davon.

Kopfschüttelnd gesellte sich Daniel zu Lenni in die Küche und ließ sich alle wichtigen Begebenheiten des Tages erzählen, während er sich ihr köstliches Omelette mit Tomaten und das frische Bauernbrot mit Frischkäse schmecken ließ.

Eine halbe Stunde später waren Vater, Mutter und Tochter auf dem Weg ins Kino.

»Also, warum warst du heute so spät dran?«, stellte Dési ihren Vater mit strenger Stimme zur Rede. Die jüngste Tochter der Familie Norden hatte schon um den versprochenen Kinobesuch gebangt und beschlossen, ihren Vater nicht so leicht davonkommen zu lassen.

Daniel nahm ihr den forschen Tonfall nicht krumm. Schon oft hatten die Kinder wegen eines Notfalls auf eine geplante Unternehmung verzichten müssen, und sie zeigten immer großes Verständnis für seinen Beruf. Daher spielte ein Schmunzeln um seine Lippen, als er antwortete:

»Stell dir vor, ich hab die Praxis zwar als Letzter, aber rechtzeitig verlassen und wollte gerade die Tür abschließen, als eine ältere Dame auf dem Gehweg vor dem Haus ohnmächtig wurde.«

Désis Augen wurden kugelrund vor Schreck.

»Wirklich?«

»Wenn ich es doch sage!«, versicherte Daniel, der der Dame natürlich sofort zu Hilfe geeilt war.

»Hat sie sich beim Sturz verletzt?« Fees erste Sorge galt der armen Frau.

»Wie durch ein Wunder ist sie mit dem Kopf auf den Grünstreifen gefallen und ist auch recht schnell wieder zu sich gekommen«, konnte Dr. Norden Entwarnung geben. »Ich habe sie untersucht. Da ihr Blutdruck wirklich beängstigend hoch war und ihr Herzschlag unregelmäßig, habe ich vorsichtshalber einen Krankenwagen kommen lassen. Aber sie hat schon vorher, kaum dass sie die Augen wieder aufgemacht hat, klargestellt, dass sie in die Behnisch-Klinik gebracht werden möchte.«

»Wie bitte?« Fee konnte es nicht glauben. »Das klingt ja gerade so, als ob sie es drauf angelegt hätte.«

»Diesen Verdacht hatte ich auch schon«, gestand Daniel. Er saß auf dem Beifahrersitz und streckte, erschöpft von dem langen turbulenten Tag, die Beine aus. »Aber wir wollen sie nicht vorschnell verurteilen und zunächst die Untersuchungsergebnisse abwarten«, mahnte er sich und seine Familie zur Ruhe.

Felicitas schickte ihm einen zärtlichen Blick.

»Du bist einfach ein besonnener Mensch. Das liebe ich so an dir.«

»Nur das?«, fragte Daniel augenzwinkernd zurück und legte die Hand auf ihren Oberschenkel. »Oder gibt es noch andere Gründe?«

»Hmm, darüber werde ich bei Gelegenheit nachdenken«, lächelte Fee. »Aber jetzt gehen wir erst einmal ins Kino. Und zur Belohnung für die Zitterpartie bekommt Dési eine extragroße Portion Popcorn! Die hat sie sich wirklich verdient.«

*

»Ach, Hanno, dass du dich an diese Geschichten noch erinnerst.« Wendy schüttelte den Kopf und wischte sich die Lachtränen aus den Augenwinkeln. »Das hatte ich längst alles vergessen.«

Sie saßen am schön gedeckten Tisch in Wendys stilvoll eingerichteter Wohnung. Der Mix aus modernen Möbeln und wenigen kostbaren Antiquitäten traf den Geschmack ihres Besuchers voll und ganz, und Hanno machte keinen Hehl aus seiner Bewunderung für ihre Stilsicherheit.

Das schöne Ambiente, die kurzweilige Unterhaltung und das köstliche Essen machten den Abend zu einem rundherum gelungenen Erlebnis.

»Du bist ein wahrer Jungbrunnen für mich.« Dieses Kompliment kam direkt aus Wendys Herzen.

»Wenn ich ehrlich bin, möchte ich noch viel mehr für dich sein«, erklärte Hanno heiser und legte seine Hand auf die ihre. Sein tiefer Blick machte sie nervös. »Dieser Abend ist der schönste seit Langem für mich. Genauer gesagt kann ich mich gar nicht mehr daran erinnern, wann ich mich das letzte Mal so wohl mit einem Menschen gefühlt habe wie mit dir. Wenn ich einen Wunsch frei hätte, dann würde ich das hier für immer wollen.«

Wendy schluckte. Ihr Herz flatterte aufgeregt in ihrer Brust wie ein kleiner Vogel.

»Aber Hanno, pass auf, was du sagst«, entfuhr es Wendy. »Das klingt ja nach einem Heiratsantrag.«

Doch der Architekt hatte keine Gelegenheit zu antworten. Er wollte eben etwas entgegnen, als sein Handy klingelte. Während er das Mobiltelefon aus der Tasche nestelte, schüttelte er unwillig den Kopf.

»Bitte entschuldige. Das ist wahrscheinlich der Kunde, auf dessen Rückruf ich so dringend warte«, bat er sie um Nachsicht.

Wendy nutzte die Gelegenheit, um den Tisch abzuräumen und den Nachtisch – heiße Äpfel mit Streusel und selbstgemachtem Walnuss­parfait – zu servieren. Doch als sie mit den beiden Tellern ins Wohnzimmer zurückkehrte, fielen sie ihr vor Schreck fast aus den Händen.

»Natürlich. Ich komme sofort«, versicherte Hanno in diesem Augenblick und beendete das Telefonat. Er sah Wendy bedauernd an. Tiefe Sorgenfalten zerfurchten seine Stirn. »Meine Schwägerin«, verkündete er mit Grabesstimme. »Sie liegt mit einem Kreislaufzusammenbruch in der Klinik. Ich muss sofort zu ihr.«

»Wie bitte?«, entfuhr es Wendy ungläubig. Wenn sie nur an Philomena dachte, spürte sie ein wütendes Grimmen im Magen. »Du willst nach Heidelberg? Wegen so einer Lappalie? Jetzt?«

»Nein, Philo ist in München.« Hanno schob den Stuhl zurück und stand auf. Er kam auf Wendy zu, um ihr die Teller abzunehmen, stellte sie auf den Tisch und legte dann die Hände auf ihre Schultern. »Es tut mir so leid, dass das ausgerechnet jetzt passieren musste.« Er haderte mit sich. »Ich will diesen wunderbaren Abend nicht so enden lassen … Würdest du mich vielleicht in die Klinik begleiten?«

Es dauerte einen Augenblick, bis Wendy ihre Fassung wiedergefunden hatte.

»Moment mal!«, fragte sie, als sie wieder Herrin ihrer Sinne war. »Ich dachte, deine Schwägerin ist in Heidelberg. Wie kommt es dann, dass sie in einer Münchner Klinik liegt?«, stellte sie eine berechtigte Frage. »Noch dazu mit einer zweifelhaften Diagnose wie einem Kreislaufzusammenbruch.«

»Das weiß ich auch nicht. Aber du scheinst Philomena wirklich alles zuzutrauen, nicht wahr?«, fragte Hanno erschüttert.

Er hatte recht, wie Wendy, erschrocken über ihre eigene Kaltherzigkeit diese Person betreffend feststellte.

»Daran ist sie ja wohl nicht ganz unschuldig«, gab sie trotzdem spitz zurück.

»Du willst ihr doch wohl nicht unterstellen, dass sie sich mit Absicht in eine Klinik einliefern lässt, oder?«

So weit wollte Daniel Nordens Assistentin in der Tat nicht gehen. Trotzdem blieb ein Rest Zweifel, als sie mit Hannos Hilfe ihren Mantel anzog.

»In welcher Klinik liegt sie denn? Vielleicht kenne ich einen Kollegen dort«, erkundigte sie sich friedfertig, um Hannos Frage nicht beantworten zu müssen.

»In der Böhnisch-Klinik oder so. Den Namen hab ich nicht so genau verstanden. Aber ich hab die Adresse.«

In diesem Moment sah Wendy ihren Verdacht bestätigt.

»Nicht nötig. Die Adresse der Behnisch-Klinik kenne ich in- und auswendig. Das ist das zweite Zuhause meines Chefs«, klärte sie den verdutzten Hanno auf und ging vor, die Hände in den Manteltaschen zu wütenden Fäusten geballt. Bevor sie gemeinsam die Wohnung verließen, hielt Hanno sie noch einmal fest.

»Ich weiß, dass das alles nicht leicht ist für dich«, versuchte er, ihr Verständnis zu wecken. »Aber du musst doch verstehen …«

»Natürlich verstehe ich«, unterbrach Wendy ihn barsch. »Das Thema mit deiner Frau haben wir ja glücklicherweise geklärt. Aber ­dafür steht eben jetzt deine Schwägerin zwischen uns.« Damit wandte sich Wendy endgültig ab, und Hanno folgte ihr einigermaßen ratlos.

*

»Na, Philo, das ist ja eine Überraschung, dich hier zu sehen«, begrüßte Hanno seine Schwägerin eine halbe Stunde später mit gemischten Gefühlen.

Nach einer schweigsamen Autofahrt hatte Wendy es vorgezogen, nicht mit ins Zimmer zu kommen. Stattdessen besuchte sie eine Freundin, die in der Klinik als Krankenschwester arbeitete.

Philomena lag im Krankenbett und lächelte ihren Schwager sichtlich erfreut an.

»Hanno, mein Lieber, schön, dich zu sehen.«

Er sah sich um und zog einen Stuhl ans Bett.

»Was machst du denn für Sachen?«

»Auf offener Straße vor einer Arztpraxis umgefallen. Ist denn das die Möglichkeit.« Unwillig schüttelte sie den Kopf. »Damit hätte ich auf meine alten Tage auch nicht mehr gerechnet. Ein Glück, dass der Arzt gerade auf dem Nachhauseweg war. Er hat mir gleich geholfen.«

Sie wirkte so munter, dass auch Hanno Zweifel an ihrem Gesundheitszustand kamen.

»Sag mal, warum bist du eigentlich in München?«, stellte er die naheliegende Frage.

Fast sofort verschwand das Lächeln aus Philomenas Gesicht, und ihre Miene verschloss sich.

»Ist diese Stadt Privateigentum?«, fragte sie zurück und verschränkte trotzig die Arme vor dem Körper. »Ich dachte eben, dass es eine gute Idee ist, mir mal wieder Großstadtluft um die Nase wehen zu lassen.«

»Ausgerechnet jetzt, wenn ich auch hier bin?«, hakte Hanno misstrauisch nach und bat Wendy insgeheim um Vergebung. Offenbar lag sie mit ihrer Vermutung gar nicht so falsch.

»Warum denn nicht?« Philo streckte die Hand nach dem Glas Wasser auf dem Nachttisch aus und trank einen Schluck. »Im Übrigen enttäuscht du mich. Statt dich nach meinem Gesundheitszustand zu erkundigen, ergehst du dich in lächerlichen Unterstellungen.«

Hanno seufzte. Wie so oft fühlte er sich seiner Schwägerin zumindest verbal unterlegen. Er war ein einfach gestrickter Mann, der Komplikationen verabscheute. Ganz im Gegensatz dazu verstand es Philomena in letzter Zeit meisterhaft, aus allem ein Problem zu machen und dafür zu sorgen, dass er ein schlechtes Gewissen hatte.

»Tut mir leid. Wie geht es dir?«, fragte er pflichtschuldig.

»Schlecht«, erwiderte sie erwartungsgemäß. »Aber ich seh schon. Es ist dir nicht recht, dass ich hier bin. Wahrscheinlich habe ich dich und deine kleine Arzthelferin bei einem intimen Tête-à-Tête gestört.« Ihr Tonfall war herablassend. »Obwohl ich bezweifle, dass dieses schlichte Gemüt weiß, was dieser Ausdruck überhaupt bedeutet«, fügte sie bissig hinzu und lachte in sich hinein.

Augenblicklich kochte die Wut in Hanno hoch.

»Sprich nicht so über Wendy!«, brauste er wütend auf.

Doch auch darüber konnte Philomena nur lachen.

Seit Helenas Tod brachte sie diesen Mann immer dahin, wo sie ihn haben wollte. Das würde ihr auch diesmal gelingen, selbst wenn es länger dauern sollte als sonst.

»Warum regst du dich denn so auf?«, fragte sie milde.

»Was willst du von mir, Philo?«, gab er scharf zurück. »Was bezweckst du mit diesem Theater?«

Philomena antwortete nicht sofort. Ihre nächsten Worte legte sie sich sorgfältig zurecht.

»Ach, Hannolein, wie oft muss ich es dir denn noch sagen? Diese einfache Frau passt einfach nicht zu dir«, erklärte sie dann unvermutet sanft. »Sie mag ja lieb und nett sein. Aber sie ist meilenweit von Helenas Niveau entfernt. Warum begreifst du nicht endlich, wie lächerlich du dich mit dieser Affäre machst?« Philomena war so beschäftigt damit, Wendy schlecht zu machen, dass sie nicht bemerkte, wie bedrohlich finster Hannos Miene wurde.

»Und warum begreifst du nicht endlich, dass dich das alles nichts angeht?«, fuhr er sie zornig an. »Das ist mein Leben. Ich bin ein erwachsener Mann und ich denke nicht daran, mir von irgendjemanden dreinreden zu lassen.«

Ganz kurz und kaum merklich zuckte Philo zurück. Dennoch blieb sie hartnäckig.

»Was willst du denn mit ihr?«, beharrte sie eigensinnig. »Du hattest die beste Frau von allen. Wieso willst du nicht einsehen, dass es keinen Ersatz für Helena gibt?«

In diesem Moment war es um Hanno Thalbachs Beherrschung geschehen. Er sprang so abrupt auf, dass der Stuhl polternd umfiel. Doch Hanno achtete nicht darauf.

»Hast du immer noch nicht begriffen, dass Helena nicht mehr hier ist? Und ich habe es satt, allein zu leben!« Damit drehte er sich um und stürmte davon. Um ein Haar wäre er in der Tür mit der Schwester zusammengestoßen, die, aufgeschreckt von dem Lärm, ins Zimmer eilte.

Ohne auf die junge Frau zu achten, stürmte Hanno an ihr vorbei. Die Schwester sah ihm irritiert nach, ehe sie sich an die Patientin wandte.

»Alles in Ordnung bei Ihnen?«

Doch Philomena schien sie nicht zu hören. Fein lächelnd saß sie im Bett und sah ihrem Schwager nach.

»Es wird Zeit, dass du endlich verstehst, dass du nicht allein bist. Du hast doch mich«, murmelte sie vor sich hin.

*

»Um neun Uhr hat Herr Prehm einen OP-Termin. Es geht um die Resektion der Zyste am Fingernagelbett.«

»Wenn ich mich recht erinnere, wird mir Janine dabei assistieren, oder?«, fragte Danny Norden. Es war noch früh am Morgen, die Sprechstunde hatte noch nicht begonnen. Der junge Arzt saß auf einem Stuhl am Tresen und machte sich Notizen.

»Richtig. Als ehemalige Krankenschwester ist sie ja geradezu prädestiniert für so was«, bestätigte Wendy diese Vermutung. »Deshalb ist sie auch bei Frau Hallinger dabei.«

»Ach, die Dornwarze am Fußballen«, nickte Danny und machte sich einen entsprechenden Vermerk. »War’s das dann für heute?«

»Zumindest, was die OPs betrifft. Am Nachmittag bist du ja wieder ganz normal für die Sprechstunde eingeteilt«, erinnerte Wendy ihren jungen Chef, als Daniel Norden in die Praxis kam.

»Guten Morgen allerseits«, grüßte er strahlend in die Runde. Obwohl es sich um einen Zeichentrickfilm gehandelt hatte, hatte ihm der Abend im Kino gut gefallen, und er war blendender Laune. »Na, mein Lieber, wieder fit?«, erkundigte er sich bei Danny nach seiner Verletzung, während er die Jacke an die Garderobe hängte.

»Passt schon«, winkte der lässig ab. »Wenn du glaubst, dass ihr mich so schnell kleinkriegt, hast du dich getäuscht.«

»Dann laufen wir mittags wieder?« Daniel freute sich auf die bevorstehende Revanche.

»Ich weiß nicht, ob es klug ist, das Bein jetzt schon wieder zu belasten«, redete sich Danny schnell heraus.

Wendy, die ein paar Dinge in den Computer eingegeben hatte, horchte auf.

»Du hast dich doch nicht etwa verletzt?«, erkundigte sie sich besorgt beim Junior. »Ich sag doch immer, dass dieser neue Sportwahn gefährlich ist«, tadelte sie kopfschüttelnd.

»Keine Sorge, alles halb so wild. In ein paar Tagen bin ich wieder fit und dann zeige ich es den beiden.« Er grinste Janine an, die kurz nach ihrem Chef die Praxis betreten hatte.

Obwohl sie immer noch unter einer unerklärlichen Übelkeit litt, der auch Daniel Norden bisher nicht auf die Spur gekommen war, grinste sie frech zurück.

»Falls du es dir anders überlegst: Wir starten wieder in der Mittagspause. Nicht wahr, Chef?«, wandte sie sich an Dr. Norden.

»Auf jeden Fall!«, stimmte er ihr zu, und Danny sagte grinsend zu Wendy: »Mein alter Herr und die junge Frau da drüben sinnen auf Rache. Sie können ihre Niederlage von gestern einfach nicht verwinden. Wahrscheinlich haben sie die ganze Nacht wach gelegen und darüber gegrübelt, wie sie mich besiegen können.« Diese Bemerkung war nicht ganz ernst gemeint. Das erkannte Daniel am gutmütigen Blitzen in den Augen seines Sohnes und wollte eben etwas erwidern, als Wendy ihm mit einer aufgeregten Frage zuvor kam.

»Jetzt erzähl doch mal. Was ist denn überhaupt passiert?«, erkundigte sie sich aufgeregt bei Danny.

Dem schmeichelte ihr Interesse. Er setzte sich aufrecht hin und begann mit wichtiger Stimme zu erzählen.

»Wir sind doch gestern im Park gelaufen … Also, ich lasse den beiden ein bisschen Vorsprung, damit sie auch mal ein Erfolgserlebnis haben. Irgendwann hab ich dann genug und will gerade an Janine und dann an Dad vorbeispurten, als ich auf einmal diesen furchtbaren Schmerz spüre … Mörderisch, sage ich dir …« Wendy lauschte mit offenem Mund, doch Daniel hatte genug gehört.

Er winkte Janine mit sich, um mit ihr ein paar Dinge einen ­Patienten betreffend zu besprechen.

»Kommen Sie. Wir wollen den Spitzensportler nicht in seinem Bericht stören«, sagte er laut vernehmlich, und Danny lief rot an.

Vorsichtshalber wartete er, bis sich die Tür hinter den beiden geschlossen hatte. Dann erst fuhr er fort.

»Na ja … Jedenfalls musste ich das Bein den ganzen Abend hochlegen und kühlen. Sonst hätte ich heute nicht zur Arbeit kommen können.«

An der Reaktion ihres Chefs hatte Wendy bemerkt, dass Danny es mit seiner Schilderung offenbar nicht ganz genau nahm.

»Ach, wirklich?«, fragte sie deshalb mit deutlicher Ironie in der Stimme, die auch Danny nicht verborgen blieb.

»Warum nimmt mich eigentlich keiner ernst hier?«, fragte er eine Spur beleidigt, und Wendy lachte gutmütig.

»Das tun wir doch. Aber vielleicht solltest du dich selbst nicht ganz so wichtig nehmen«, gab sie ihm einen weisen Rat und begrüßte den Patienten, der eben die Praxis betreten hatte.

*

Lydia Herford saß schon am Frühstückstisch, als Raphael sich am nächsten Morgen zu ihr gesellte. Er versuchte, nicht zu humpeln, aber an seinem schmerzverzerrten Gesicht erkannte sie, wie es um ihn stand.

»Guten Morgen, mein Lieber.« Zunächst ließ sie sich nichts anmerken, um nicht sofort seinen Widerspruchsgeist herauszufordern. Sie lächelte liebevoll und schenkte ihm Tee ein. »Wie geht’s dir heute? Und was macht das Knie?«, konnte sie sich eine neugierige Frage dann aber doch nicht verkneifen.

»Geht schon«, gab Raphael einsilbig zurück.

»Zeig mal her«, verlangte Lydia daraufhin so energisch, dass Raphael gehorchte. Er legte das Bein auf den freien Stuhl und zog die Trainingshose hoch.

Lydia betastete es vorsichtig.

»Geschwollen ist es nicht. Trotzdem solltest du lieber mal eine Pause machen. Nicht, dass noch was passiert.«

»Nicht nötig«, gab Raphael ruppig zurück und zog die Hose wieder herunter. »Ich mach einen Tape-Verband, dann geht es schon.«

Lydia kehrte an ihren Platz zurück und schüttelte unwillig den Kopf.

»Stur wie dein Vater. Der findet deine Einstellung bestimmt bewundernswert.«

Trotzig schürzte Raphael die Lippen.

»Im Gegensatz zu dir ist Papa wenigstens stolz auf mich. Er sagt, dass ich den nötigen Willen hab, um ganz nach vorn zu kommen. Den haben nicht viele«, redete sich der junge Mann in Rage.

Angesichts solcher Worte wuchsen Lydias Sorgen ins Unermessliche.

»Ich bin auch stolz auf dich. Trotzdem wird es ja wohl erlaubt sein, dass ich mir Sorgen mache«, erklärte sie. »Bitte sei vernünftig und geh zum Arzt.«

»Mama!«, gab Raphael gedehnt zurück.

Doch Lydia dachte nicht daran, stumm zuzusehen, wie sich ihr einziges Kind durch seinen falschen Ehrgeiz kaputt machte.

»Dr. Norden schaut sich dein Knie an, gibt dir eine Spritze und dann ist alles wieder in Ordnung«, redete sie mit Engelszungen auf ihn ein.

Raphael haderte mit sich. Er ließ sich Zeit mit einer Antwort und trank einen Schluck Tee.

»Also gut«, willigte er schließlich seufzend ein. »Sonst gibst du ja doch keine Ruhe.« Seine Augen wurden schmal. »Aber kein Wort zu Papa!«

*

Kurz vor der Mittagspause fand Janine Merck endlich Gelegenheit, ihre Freundin und Kollegin auf den Kuss des vergangenen Tages anzusprechen. Wie durch ein Wunder war das Wartezimmer leer, und die beiden Ärzte waren beschäftigt, sodass sich die beiden Frauen ungestört unterhalten konnten.

»Sag mal, war das gestern etwa Hanno Thalbach, mit dem du so geturtelt hast?«, fragte Janine beiläufig und beugte sich tief über die Abrechnung.

»Du hast uns gesehen?« Vor Schreck schlug Wendy die Hand vor den Mund, und Janine platzte laut heraus vor Lachen.

»Keine Sorge. Es war doch nur ein harmloser Kuss«, beruhigte sie Wendy. »Aber gewundert hab ich mich schon. Ich dachte, es ist aus zwischen euch, weil seine verstorbene Frau zwischen euch steht.«

Wendy, die gerade Laborbefunde der Klinik in den Computer eingab, lehnte sich zurück und seufzte. Nachdenklich spielte sie mit einer Büroklammer.

»Das dachte ich bis gestern auch und war dabei, mich mit den Tatsachen abzufinden. Doch dann stand Hanno plötzlich unangekündigt mit einem riesigen Blumenstrauß hier vor der Praxis und hat mir erklärt, dass er sein Leben für mich ändern will.«

»Mein Gott, wie romantisch!« Janine war begeistert und freute sich umso mehr für Wendy, als es in ihrer eigenen Liebe nicht mehr ganz so gut lief. Die Beziehung mit dem Unternehmersohn Lorenz Herweg hatte sich überraschend in eine Fernbeziehung verwandelt. Seit ein paar Monaten lebte und arbeitete Lorenz die meiste Zeit in Amerika. Doch trotz aller Sehnsucht hatte sich Janine bisher nicht durchringen können, in Deutschland alles aufzugeben und ihm in die USA zu folgen. Ihr Schwiegervater in spe nahm ihr dieses Verhalten persönlich übel, was diese Liebe natürlich auch belastete. Umso mehr fieberte Janine mit Wendy mit und hoffte auf ein Happy End. »Aber was ist denn mit seiner Schwägerin? Wegen ihr bist du doch letztlich vom Gutshof geflohen. Ist sie plötzlich einverstanden mit eurer Beziehung?«

Wendy lachte bitter.

»Das ist ja der Haken an der Sache. Bis gestern Abend sah alles so schön aus. Wir verbrachten wunderschöne Stunden zusammen, und Hanno machte mir fast einen Heiratsantrag, als plötzlich das Telefon klingelte.«

»Lass mich raten!«, unterbrach Janine sie voll böser Ahnung. »Seine Schwägerin.«

»Wenn es nur das wäre«, seufzte Wendy geknickt. »Stell dir vor, diese Philomena hat die Dreistigkeit besessen und ist Hanno einfach nachgereist. In München angekommen hat sie sich in die Behnisch-Klinik einliefern lassen. Angeblich mit einem Kreislaufkollaps. Dass ich nicht lache.« Wendy kannte sich selbst nicht wieder. So boshaft war sie normalerweise nicht. Aber diese Frau weckte Seiten in ihr, von denen sie bislang keine Ahnung gehabt hatte.

Dr. Norden Staffel 2 – Arztroman

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