Читать книгу Tarius - Patrick Fiedel - Страница 5

I

Оглавление

Julius saß, wie jeden Samstag um 19.59 Uhr, bettfertig, frisch gebadet und gekämmt auf dem großen braunen Sessel im Wohnzimmer. Beide Beine hingen über der linken Armlehne und wippten aufgeregt hin und her. Seine Eltern, ihm gegenüber auf dem Sofa sitzend, schauten auf das flackernde Licht der Mattscheibe vor ihnen und warteten auf den nahenden Gong der Tagesschau.

Julius wartete auch auf etwas, jedoch nicht auf einen Gong, sondern auf ein Klingeln. Das Klingeln des Telefons. Gespannt starrte er auf den tastenübersäten Apparat und zappelte vor Vorfreude hin und her, wie ein kleiner Hundewelpe, der gleich ein Leckerli bekommt. Seine rechte Hand schwebte ungeduldig über dem aufgelegten Telefonhörer und Julius sprach seine Beschwörungsworte.

„Klingle. Klingle. Klingle.“

‚Gong.‘

Julius nahm den Hörer ab und hielt ihn an sein Ohr.

„Opa?“, sagte er aufgeregt. Doch am anderen Ende ertönte nur ein unendliches Fiepen.

„Junge“, rief seine Mutter lachend, „das war der Fernseher, nicht das Telefon.“

Julius lächelte etwas verlegen und legte den Hörer sofort wieder auf den Apparat.

„Er wird schon gleich anrufen“, ergänzte sie und zwinkerte ihrem Sohn zu.

Seit nun mehr 10 Jahren ließ es sich Opa Tiberius nicht nehmen, jeden Samstag anzurufen. Anfänglich machte Julius noch die üblichen Babygeräusche, aber mit der Zeit folgten Meilensteine der Weltgeschichte, wie „Töpfchen gemacht“ oder „Roller gefahren“. Sein Großvater erzählte kleine Geschichten und Julius hörte gespannt zu. Seit er nun etwas älter war, durfte er auch etwas länger aufbleiben und abends mit seinem Großvater telefonieren.

‚Rrrriiinggggg.‘ Die Hand schnellte zum Hörer.

„Opa, bist du es?“, hechelte er in den fest ans Ohr gedrückten Hörer.

„Hallo Julius. Schön, dich zu hören. Bist du bereit für eine neue Abenteuergeschichte?“, sprach es mit tiefer Stimme aus der oberen Seite des schweren Hörers.

„O ja“, quiekte Julius etwas zu laut zurück.

„Schau dir mal unseren Sohnemann an“, flüsterte Julius’ Vater leise zu seiner Frau und tippte sie dabei liebevoll an die Schulter.

„Was er ihm wohl heute erzählt?“, rätselte sie und beobachtete ihr Sesselkind lächelnd.

Julius saß mit weit aufgerissenen Augen am Telefon. Den Hörer fest in der Hand. Der Mund öffnete sich vor Erstaunen, dann schloss er sich wieder, um kurz darauf zu einem überbreiten Lächeln zu werden. Die aufgerissenen Kinderaugen leuchteten, die Augenbrauen zog es nach oben und Julius hielt den Atem an, dann blies er die Luft wieder aus und lachte.

„Was ist dann passiert, Opa?“, flüsterte er aufgeregt in den Telefonhörer.

„Ich verrate es dir. Aber nur, wenn du dann wirklich schlafen gehst“, erwiderte sein Großvater.

„Versprochen.“

„Wir waren also schon seit Stunden auf einem neuen Wanderweg durch einen dicht bewachsenen Wald unterwegs. Die Sonne schlief schon längst und der Mond tat seine Arbeit. Wir knipsten die Taschenlampen an. Johann lief direkt neben mir, als direkt vor uns etwas zu hören war. Wir blieben sofort stehen und lauschten in den Wald hinein.“

„Was war es? Ein Wolf? Ein Wildschwein?“, quiekte Julius aufgeregt.

„Junge, nicht so laut!“, ertönte die väterliche Stimme gegenüber.

„Entschuldige, Papa.“

„Wir schauten dem Lichtstrahl folgend“, erzählte die tiefe beruhigende Stimme weiter, „auf die mächtigen Bäume und da, plötzlich wackelten die Blätter und die hohen Sträucher am Boden direkt vor uns. Johann und ich gingen ganz vorsichtig näher heran, das Rascheln wurde immer lauter und dann sprang es heraus, direkt über unsere Köpfe.“

Julius hüpfte auf den Sessel und presste den Hörer noch fester an sein Ohr.

„Ein riesengroßes Pferd, schwarz wie die schwärzeste Nacht, machte einen gewaltigen Sprung direkt über uns hinweg. Wir schauten erschrocken nach oben und die Hufe des Tieres rauschten an unseren Gesichtern vorbei“, erzählte Opa Tiberius voller Leidenschaft.

„Ein Pferd? Mitten im Wald?“, rief Julius euphorisch in den Hörer.

„Julius!“, rief seine Mutter etwas bestimmter. Sie stand direkt neben ihm, was er gar nicht bemerkt hatte.

„Gib mir mal den Hörer“, forderte sie ihn auf.

Julius reichte ihn widerwillig weiter und setzte sich, schwer atmend, erschöpft auf den Sessel.

„Aber, Mama, Opa erzählte gerade von einem Pferd mitten im Wald“, reagierte er empört.

„Sag ‚Gute Nacht‘ zu Opa, Julius“, beendete sie die aufkommende Diskussion.

Julius schaute seine Mutter traurig und auch ein klein wenig sauer an, was es aber nicht besser machte und ein etwas strengeres „Julius!“ nach sich zog.

„Opa?“, flüsterte er in das Telefon, während es seine Mutter fest in der Hand hielt. „Ich muss jetzt ins Bett. Erzählst du mir irgendwann, was dann passiert ist?“

„Eher als du denkst. Fest versprochen. Und jetzt schlaf gut“, beendete Opa Tiberius das Großvater-Enkel-Gespräch und Julius ging betrübt in das Badezimmer, um sich die Zähne zu putzen.

„Du sollst den Kleinen doch nicht immer so aufregen, Papa!“

„Margarete“, erwiderte es am anderen Ende, „so klein ist Julius nun auch nicht mehr. Er ist immerhin schon 10 Jahre alt und ich rege ihn doch nicht auf. Und wieso muss er überhaupt schon ins Bett?“

„Ich bitte dich nur, es nicht zu übertreiben. Er schläft sonst schlecht und träumt von deinen abenteuerlichen Geschichten. Und ins Bett muss er, weil er, wie sein Opa, im Wald unterwegs war und zwei Stunden zu spät nach Hause kam. Von oben bis unten verschmutzt. Gute Nacht, Papa. Ich bring ihn jetzt ins Bett.“

„Gute Nacht“, versuchte Julius’ Großvater noch zu antworten, aber seine Tochter hatte den Hörer schon auf den Telefonapparat gelegt und war auf dem Weg ins Kinderzimmer.

Julius lag komplett bis über den Kopf zugedeckt in seinem Bett und drehte sich demonstrativ weg, als sich seine Mutter zu ihm auf den Bettrand setzte.

„Bist du böse auf mich?“, fragte sie.

Julius drehte sich zu ihr, streckte seinen Kopf aus der Bettdecke und blickte in die liebevollen mütterlichen Augen.

„Ich will nur, dass du keine Albträume bekommst von Opas Geschichten. Die sind ja manchmal etwas gruselig. Und ich kenne einige davon. Er ist halt ein Abenteurer, dein Großvater.“

„Ich will auch mal wie Opa werden. Ganz viele Abenteuer erleben“, flüsterte Julius in seinem Bett und wurde dennoch langsam müde.

„Oder du wirst Lehrer, wie dein Papa. Das ist ein sicherer Beruf.“

„Igitt. Nein, Mama. Das klingt voll langweilig. Da macht man doch jeden Tag dasselbe und abends muss man Arbeiten kontrollieren. Papa sitzt doch immer bis spät in die Nacht. Das ist das Gegenteil von Abenteuer“, reagierte Julius entschlossen.

„Lass uns ein anderes Mal darüber reden. Du hast ja noch viel Zeit. Und dennoch: Auch Abenteurer müssen schlafen.“

„Na gut“, flüsterte Julius leise und schloss langsam seine Augen.

„Gute Nacht, Mama.“

„Gute Nacht, du Abenteurer.“

In dieser Nacht träumte Julius von einem schwarzen Wildpferd.

Tarius

Подняться наверх