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IV

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Es ruckelte. Julius wachte auf. Er rieb sich die Augen und schmatzte. Ihm gegenüber saß auf einmal ein anderer Mann. Viel kleiner und ohne Brille. Dafür mit Schnauzbart, Jeans und Pullover. Er grinste. Wie lange hatte er denn geschlafen? War der Mann geschrumpft und hatte sich umgezogen? War ihm ein Bart gewachsen? Wie schnell wächst eigentlich ein Bart? Er hatte keine Uhr.

„Na, da war aber jemand müde“, sprach die ältere Dame und freute sich mütterlich. „Du hast über zwei Stunden geschlafen“, fuhr sie fort.

Julius war verwundert. So einen langen Vormittagsschlaf hatte er noch nie gebraucht. Das musste das gleichmäßige Ruckeln beim Fahren über die Schienen sein, dachte er sich. Dann wurde er putzmunter. Wenn ihn seine mathematischen Kenntnisse nicht täuschten, dann müsste er ja bald da sein.

„Wie spät ist es genau?“, fragte er laut.

„Du bist in 30 Minuten bei deinem Großvater“, antwortete der fremde Mann ihm gegenüber.

‚Moment. Was bitte? Wie jetzt?‘ dachte Julius verwundert.

„Ich habe es ihm erzählt, damit er auch aufpasst“, sagte die ältere Dame auflösend.

Sie nahm ihre Aufgabe wirklich verdammt ernst, dachte Julius.

Aber was viel wichtiger war, er war fast da. Gleich würde er seinen Großvater wiedertreffen. Julius freute sich, setzte seinen Rucksack auf und ließ sich von dem neuen unbekannten Herrn den Koffer aus der Ablage geben.

Er öffnete die Abteiltür und ging zum Ausgang. Dort stellte er sich hin und wartete. Er wartete noch eine ganze Weile, denn er war etwas zu früh aufgestanden. Das hatte er wohl von seiner Mutter.

Dann Quietschen, Bremsgeräusche, Ruckeln, Stillstand, Zischen. Julius öffnete die Tür und blickte aufgeregt nach draußen.

„Soll ich dir mit dem Koffer helfen?“, fragte eine jüngere Frau mit Sonnenbrille und stellte sogleich den Koffer draußen vor dem Zug ab.

Julius stieg aus und blickte sich um. Würde er seinen Großvater überhaupt erkennen? Solle er nach links oder rechts schauen? War es der richtige Ort? Wie spät war es? Viele Fragen drehten ihre Runden in seinem Kopfkarussell.

„Julius Tarius“, sprach eine tiefe und ihm bekannte Stimme. Er schaute nach oben und musste die Augen zusammenkneifen, weil die Sonne ihn blendete.

„Mein lieber Julius“, sprach die Stimme wieder und aus der Sonne heraus griffen zwei Arme nach ihm und hoben ihn hoch in die Luft. Jetzt erkannte er seinen Großvater, sein Abenteurervorbild. Er umarmte ihn, so fest er konnte, und vergoss dabei ein paar kleine Tränen.

Hoch in der Luft in den Armen seines Großvaters war er glückselig.

„Opa“, schluchzte Julius und legte seinen Kopf auf seine Schulter.

Nach ein paar glücksgenießenden Atemzügen wurde er wieder auf den Boden gestellt und betrachtete seinen Großvater. Er hieß nicht nur so, er war auch groß. Und kräftig. Seine grauen Haare waren etwas länger als noch vor zwei Jahren und sein Vollbart schimmerte genauso grau wie seine Haare. Er trug eine schwarze Weste über einem weißen Hemd und eine schwarze Cargohose mit unendlich vielen Taschen.

„Wer ist denn das kleine Mädchen da am Fenster, das uns zuwinkt?“, fragte er.

Julius war überrascht. Er drehte sich um und sah auf den abfahrenden Zug. Tatsächlich saß dort das kleine bezopfte Mädchen mit ihrem Stofftier in der Hand. Sie schaute heraus und winkte freudig. Er schaute sie an und dann auf seinen Großvater. Dieser winkte zurück und lachte.

Julius hob seine linke Hand und winkte auch. Das freute das Mädchen ungemein und sie grinste über beide Ohren. Er wurde rot. Der Zug schleppte sich das Bahngleis entlang in die Ferne.

„Dann wollen wir mal“, sprach Opa Tiberius und griff sich den Koffer. Julius lief neben ihm und schaute abwechselnd auf den Weg vor sich und nach oben zu seinem Großvater. Dieser schaute nach unten und schmunzelte.

„Ich habe dann eine Überraschung für dich. Aber erst gehen wir nach Hause.“

Sie liefen den Bahnsteig entlang und gingen vorbei am Bahnhofshäuschen auf einen kleinen Feldweg. Die Wildblumen wucherten wild in die Höhe und verrieten durch allerhand Geräusche ihre zahlreichen Mitbewohner. Julius und Großvater unterhielten sich. Über die Schule, über seine Mutter und wie sie gewesen war, als Kind.

Sie sprachen über Julius’ Vater und den Lehrerberuf, der eigentlich ein guter wäre, meinte zumindest Opa Tiberius. Sie redeten und lachten. Sie schwiegen und lauschten. Nach einer Weile waren sie am Ziel. Der Weg machte eine Biege nach links und eine nach rechts.

„Na, mein kleiner Abenteurer“, fragte sein Großvater, „in welche Richtung müssen wir gehen?“

Julius versuchte, sich zu erinnern, aber bei seinem letzten Besuch waren sie mit dem Taxi bis zu dem Haus gefahren.

„Ich gebe dir einen Tipp“, sprach es großväterlich weiter, „wir müssen nach Norden.“

Na toll, dachte Julius. Wo war nochmal Norden? Er dachte nach. Die Sonne ging im Osten auf, das war schon mal klar. Im Süden nahm sie ihren Lauf, grübelte er weiter. Im Westen würde sie untergehen und im Norden war sie nie zu sehen. Julius war verwirrt. Er drehte sich auf der Stelle und wiederholte den Merksatz über die Himmelsrichtungen laut.

„Gut so.“

„Ich bin verwirrt, Opa.“

„Macht nichts“, antwortete dieser lächelnd.

Julius schaute mit fragendem Blick auf seinen Großvater. Dieser griff in seine Westentasche, zu der eine silberne Kette führte, und holte eine silberne Taschenuhr hervor. Er klappte sie auf und kniete sich neben seinen Enkelsohn.

„Siehst du die Zeiger?“, holte er aus. „Das sind der Stundenzeiger und der Minutenzeiger. Jetzt konzentrieren wir uns nur auf den Stundenzeiger. Ich richte die Uhr nun so aus, dass der Stundenzeiger direkt auf die Sonne zeigt. Jetzt schau auf die Uhr und auf die 12. Ich teile jetzt die Skala, also den Randbereich zwischen dem Stundenzeiger und der 12 genau in der Hälfte. Durch diesen Punkt hindurch denken wir uns eine Linie genau von der Mitte der Uhr aus kommend. Und diese zeigt nach Süden.“

Julius stand mit offenem Mund vor Opa Tiberius und streckte seinen Arm entlang der gedachten Linie nach Süden. Dann streckte er seinen anderen Arm genau in die gegenüberliegende Richtung und stand nun da wie ein rot warnendes Ampelmännchen.

„Dort entlang“, sagte er stolz.

Sein Großvater richtete sich auf, strich seinem Enkel liebevoll über den Kopf und schritt voran.

Sie verließen den Feldweg und marschierten querfeldein durch die hohen Wiesen, durch eine kleine Waldlichtung, über einen breiten Schotterweg, bergab an einem Bach entlang, dann wieder bergauf und schlussendlich schlüpften sie durch eine hohe Hecke und dann standen sie vor einem kleinen Holzzaun mit einem rostigen Gartentor.

„Wir sind da“, freute sich Julius.

„Und war das nicht ein viel spannenderer Weg, als über asphaltierte Straßen und Fußwege zu laufen?“

„Ja, Opa.“

Julius konnte sich nicht erklären, warum er auf einmal losrannte, aber er tat es. Er flitzte durch das geöffnete kleine Tor, hüpfte über den steinigen Weg, spurtete vorbei an kleinen Apfel- und Birnbäumen, stoppte und betrachtete die große Holztür, die genau in der Mitte des kleinen Häuschens thronte und durch herunterhängende Weinranken eingerahmt war, flutschte weiter am Haus vorbei, sprang auf die kleine Holzveranda, atmete kurz durch und beschleunigte mit Vollgas über die große Grünfläche bis zum Holzzaun am Ende des Gartens.

„Lass uns ins Haus gehen. Hast du Hunger?“, rief sein Großvater.

„O ja“, antwortete Julius freudig und rannte zum Haus zurück.

„Du hast ja zwei neue Schaukelstühle“, stellte er fest und setzte sich kurz hinein.

Dann folgte er seinem Großvater über eine Verandatür nach innen in die Küche.

„Schau dich ruhig um“, sagte Opa Tiberius und wärmte einen vorbereiteten Eintopf auf dem Gasherd auf.

Julius schaute sich um. Er betrachtete sich in einem Spiegel im Flur und zog eine Grimasse und dann schaute er sich das Arbeitszimmer mit den dunklen großen Regalen an. Unzählige kleine und große, schwarze und graue, gelblich und blau schimmernde Gesteinsproben bevölkerten die Regalabteile, Bücher und Akten ragten aus den Fächern heraus.

Julius setzte sich kurz an den dunkelbraunen Holzschreibtisch am Fenster, drehte an der nebenstehenden Werkbank einen Schraubstock erst auf und dann wieder zu, stand auf und ging bis zu einem riesengroßen weinroten Ohrensessel aus Leder, setzte sich und knipste eine grün leuchtende Lampe an und wieder aus, rannte ins Wohnzimmer und schmiss sich auf die Couch.

„Opa, ich mag dein Haus“, rief er.

„Das freut mich, Julius“, rief dieser zurück. „Du kannst ja hier einziehen, wenn ich es einmal nicht mehr brauche.“

Julius hüpfte von der Couch, ging in die Küche und setzte sich an den weißen Tisch in der Mitte des Raumes.

Sein Großvater stellte ihm einen Teller mit köstlich riechendem Eintopf vor die Nase.

„Meinst du das ernst?“, fragte Julius mit dem Löffel im Mund.

„Was? Das mit dem Haus? Natürlich. Irgendwann gehört es mal dir. Von einem Tarius zum nächsten Tarius.“

„Von einem Tarius zum nächsten Tarius“, wiederholte Julius diese Worte leise. Dabei kam er ins Grübeln.

„Wieso hat Mama eigentlich nicht den Namen von Papa angenommen bei der Hochzeit?“, fragte er neugierig und Eintopf essend.

Sein Großvater schmunzelte.

„Dein Papa wollte es so. Er ist ja in einem Waisenhaus groß geworden, das weißt du ja. Also kannte er seine Eltern auch nicht. Da entschloss er sich, mit der Vergangenheit abzuschließen, einen Schlussstrich zu ziehen und unseren Namen anzunehmen. Das war ein großer Liebesbeweis für deine Mama und eine Ehre für mich, ihn als meinen Sohn in der Familie willkommen zu heißen.“

Kurze Zeit herrschte Stille. Beide löffelten ihren Eintopf.

„Hattest du nicht was von einer Überraschung erwähnt?“, schreckte Julius freudig auf.

„Da ist aber jemand neugierig. Nun gut. Mir nach. Auf zur Überraschung.“

Sie verließen das kleine Häuschen über die Verandatür, liefen über die Wiese bis zum Zaun, den Julius’ Großvater an dem kleinen Tor öffnete und gingen einen kleinen mit Tannen bewachsenen Hügel hinauf bis zu einer weitläufigen eingezäunten Wiese.

„Pass gut auf“, sagte er zu seinem Enkel und pfiff, indem er Daumen und Zeigefinger zusammen gerollt zwischen die Lippen steckte.

Julius staunte über die Pfeifkunst und dann hörte er etwas. Dumpfe schnell aufeinanderfolgende Geräusche waren auf dem Wiesenboden erst leise, dann immer lauter und schneller werdend, in der Ferne zu hören.

Er blickte nach vorn und kniff die Augen zusammen. Die dumpfen Geräusche näherten sich und dann sah er es. Ein Pferd.

„Opa, da ist ein Pferd“, sprach Julius leise und zeigte darauf.

„Ich weiß, Junge“, antwortete sein Großvater glücklich.

Es rannte schnell wie der Wind auf die beiden zu, wieherte und machte vor dem Zaun halt. Es atmete laut und schritt, den Kopf etwas gesenkt, auf seinen Besitzer zu und schnupperte an ihm.

Julius sah das Pferd an. Ein wunderschönes schwarzes Pferd mit langer schwarzer Mähne und den größten und treusten Augen, die er je gesehen hatte. Das Pferd schaute nun auch genau auf das noch unbekannte Menschlein.

„Das ist ein Vollblutaraber. Und da es so schwarz ist, sagt man auch Rappe.“, erzählte Opa Tiberius und streichelte es am Kopf.

„Du erinnerst dich doch bestimmt an meine Geschichte?“

„Das ist das Pferd aus der Geschichte?“, fragte Julius überrascht.

„Genau. Johann und ich hatten alle Mühe, es zu beruhigen, aber schließlich schafften wir es und konnten es mit viel Mühe und Geduld einfangen. Es fürchtete sich und hatte blutige Striemen, soweit wir mit unseren Lampen sehen konnten. Kurze Zeit später kam ein Mann mit Taschenlampe durch den Wald gerannt. Als wir die Peitsche sahen, wussten wir, woher die Verletzungen kamen. Er griff nach dem Pferd und beschimpfte es. Es war wohl nicht das erste Mal ausgebüxt. Dann holte er mit der Peitsche aus.“

„Oh nein, Opa“, schluchzte Julius erschrocken.

„Ich griff seinen Arm“, erzählte Opa Tiberius weiter, „und packte ihn fest.“

Das Pferd wieherte erschrocken, als ob es sich genau daran erinnern konnte.

„Ich sagte zu dem Mann, er solle sofort aufhören. Er schaute mich erschrocken an und Johann stellte sich neben mich. Er ließ ab und nahm das ängstliche Pferd mit. Wir konnten nichts tun. Doch wir mussten etwas tun. ‚HALT!‘, rief ich in den Wald hinein.“

Julius platzte fast vor Spannung.

„Der Mann blieb stehen. Ich besprach es kurz mit Johann und dann ging ich auf den Mann zu. ‚Wie viel wollen Sie für das Pferd?‘, fragte ich ihn. Er sagte, er verkaufe es nicht, aber ich blieb standhaft. Ich bot ihm etwas an, das er nicht ablehnen konnte. Er willigte ein, lachte schrecklich und das Pferd knabberte an meinem Ohr.“

„Was hast du ihm gegeben, Opa?“, wollte Julius wissen. „Und wie ist das Pferd hierhergekommen?“

„Johann hat einen Transport gleich am nächsten Tag organisiert. In der Nacht schliefen wir im Wald. Das Pferd wich uns nicht von der Seite. Ich glaube, es war glücklich. Komm ein Stück näher. Er wird dich mögen.“

„Er?“, fragte Julius. „Es ist ein Männchen?“

„Bei Pferden sagt man Hengst, musst du wissen.“

Julius traute sich vorsichtig auf das Pferd zu. Es war richtig groß. Er hatte ein wenig Angst.

„Er heißt Mercutio.“

Julius traute sich vorsichtig noch näher heran und wurde von seinem Großvater hochgenommen. Er berührte Mercutio sanft am Hals und streichelte vorsichtig über seinen Rücken. Das Pferd pendelte mit seinem schwarzen Schweif entspannt hin und her.

„Aber wie? Wo schläft es?“, wollte Julius wissen.

„Die Koppel gehört Johann. Er hat auch einen Stall. Mercutio lebt jetzt dort und wir kümmern uns beide um ihn. Morgen zeige ich dir, wie man reitet. Aber jetzt fahren wir beide in den Nachbarort. Dort ist heute ein seltener Flohmarkt.“

Julius war außer sich vor Freude. Ein Pferd und jetzt Flohmarkt. Das waren ja jetzt schon die besten Ferien, die er je erlebt hatte.

„Fahren wir mit deinem geliebten Oldtimer zum Flohmarkt?“, fragte er Opa Tiberius.

„Wir müssen wohl mit dem Bus fahren“, antwortete dieser.

Julius verstand.

Auf der Busfahrt lehnte er den Kopf gegen seinen Großvater und schlief ein.

Er träumte von Mercutio.

Tarius

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