Читать книгу Egon Schiele. Zeit und Leben des Wiener Künstlers Egon Schiele - Patrick Karez - Страница 7
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(Kindheit)
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Dí-a. War Egon Schieles erstes Wort. Dí-a. Soll heißen. Díra. Ein tschechisches Wort. Das tschechische Wort. Für Loch. Schlicht. Und einfach. Loch.
Wie es dazu kam. Ist schnell erzählt. Der kleine Egon hatte immer schon eine Vorliebe gehabt. Für Verstecke. Wie jedes Kind. Krabbelte er. Und kletterte. In die entlegenste Ecke. Und in die Winkel. Der Wohnung. Um sich dort zu verstecken. Am allerliebsten. Hinter dem Vorhang. Unter der Küchenanrichte. Den die Mutter in mühevoller Arbeit maßgeschneidert hatte. Einen grünen Vorhang. Grasgrün. Aus grobem Wolltuch. Von hier aus. Hinter dem Vorhang. Hatte er alles fest im Blick. Vor allem die Zukunft. Und die Tür. Gleich gegenüber. Saß er oft. Und lange. Hielt er sich dabei den Mund zu. Mit beiden Händen. Ganz fest. Damit man sein Kichern nicht hören konnte. Und sein Glucksen. Sein Schnaufen. Und sein Atmen. Wenn die Mutter ihn suchte. „Gončíku!“ „Gončíku!“ Rief sie. Immer wieder. Und doch. Antwortete er nicht. Genau das. War ja der Clou daran. Sich zu verstecken. In den Ecken. Und Winkeln. Der Wohnung. Allmählich. Wurden die Rufe der Mutter immer lauter. Und verzweifelter. Panik. Machte sich breit. Und er genoss es. Hier. In seinem Versteck. Von wo aus er den Überblick behielt. Unter dem Fenster. Unter der Anrichte. Mit dem Autofokus. Fest auf die Tür gerichtet. Durch die grobe Wolle. Des Vorhangsstoffes. War es ihm möglich. Alles im Blick zu behalten. Vermochte er doch durch sie hindurchzuschauen. Ohne den Vorhang beiseiteschieben zu müssen. Denn dieses Rascheln. Und Wedeln. Des Vorhangs. Das hätte ihn verraten.
Welch Hochgenuss. Dieses leise Gefühl. Der Panik. Welches in ihm aufstieg. Welches sich in ihm breitzumachen begann. Jedes Mal. Sobald die Mutter die Küche betrat. Schemenhaft. Sah er ihre Umrisse. Durch den groben Wollstoff hindurch. Und hielt sich prompt den Mund zu. Und die Nase auch. Mit beiden Händen. Hätte er gern gequietscht. Vor Vergnügen. Aber auch vor lauter Panik. Immer. Wenn die Mutter allzu nahe kam. An sein Versteck. Stand sie dann ganz nah davor. So sah er nichts mehr. Nicht die Bohne. Das war ein Problem. Wie er fand. Doch eines Tages. Fand er. Eine Lösung dafür. Eine zündende Idee. Um noch besser sehen zu können. Noch besser. Beobachten zu können. Und dabei selbst völlig unbemerkt zu bleiben. Ein Loch musste her. Díra. Das famose Loch also. Zu diesem Zwecke. Kroch er aus seinem Verstecke. Und schlich in die Ecke. Wo er die große Schere der Mutter hervorholte. Die Schneiderschere. Oder Haushaltsschere. Die anzufassen streng verboten war. Aber das war das Sich-Verstecken ja auch. Und trotzdem tat er es. Beziehungsweise. Genau deshalb. Schnitt er also. Ein Loch. In den Stoff. Zunächst eines. Dann zwei. Aber nicht drei. Und zwar gleich nebeneinander. Für jedes Auge eines. Denn bald schon hatte er erkannt. Dass nur eines davon die Sicht einschränkt. Nämlich das dreidimensionale Sehen. Ist nur mit zwei Augen gewährleistet. Also musste ein zweites Loch her. Logisch. Und gleich. Neben das erste. Schnipp. Und Schnapp. Und der Stoff. War ab. Beziehungsweise. Durch. Diese beiden Löcher. Sah er perfekt. Wie ein Spion. Hinter seiner perforierten Zeitung. Gar nicht auffällig. Behielt er nun alles. Fest im Blick. Und fest im Griff. Hatte ihn die Mutter schon bald darauf. Nämlich am Schlafittchen. Packte sie ihn. Und schalt ihn. Ob der beiden Löcher. Im schönen neuen Stoff. „Pro Krista Pána!“ „Ti si do toho vystřihnul tu díru?“ Um Gottes Willen. Hast Du dieses Loch in den Stoff geschnitten? Da stand er also. Entdeckt. Und aufgedeckt. Und abgedeckt. Bloßgestellt. Sozusagen. Dieser schnippelnde Satansbraten. Vor dem verschandelten Vorhang. Durch seine Hand. Und mit seinem Finger. Zeigte er darauf. Während sich das allererste Menschenwort auf seinen Lippen formte. Dí-a. Also. Díra. Also. Loch.
Es wäre müßig. Dies tiefenpsychologisch und psychoanalytisch zu deuten. Ein Loch. Ist ein Loch. Ist ein Loch. Und damit basta. Wichtig zu erwähnen ist jedoch die Tatsache. Dass seine Mutter das Loch nicht etwa nur flickte. Also stopfte. Mit einem Wollgarn. Derselben Farbe. Nein. Denn das wäre allzu phantasielos gewesen. Wie er fand. Und zu seinem großen Gefallen. Besorgte die Mutter umgehend farbigen Filz. Nämlich in Weiß. Und Gelb. Um daraus großdimensionierte Margaritenblüten auszuschneiden. Die sie schließlich über die Löcher nähte. Genauer gesagt. Nur eine. Blüte. Für die beiden. Löcher. Und viele andere. Drumherum. Verteilt. Damit es nicht blöd aussah. So eine einzige Blüte. Verloren. Auf dem Felde. Und auf weiter Flur. Ward sie also nun umringt. Von ihren Schwestern. Ein wahrer Blumenreigen also. Ein Blumenteppich. Statt eines unifarbenen grünen Vorhangs. Standen sie beide da. Mutter. Und Sohn. Umringt. Von einem Blumenmeer. Schauten sie. Auf eine blühende Blumenwiese. Statt auf einen langweiligen Vorhang. Einfarbig. Und grün. War es allein den Nähkünsten der Mutter zu verdanken. Und ihrem Willen. Die Dinge zu retten. Und nicht etwa wegzuschmeißen. Für den kleinen Egon. Ward somit ein Tor aufgestoßen. Und dies nicht nur. In das Reich der Phantasie. Denn er lernte bereits. Als ganz kleines Kind. Dass ein Schaden kein Schaden ist. Beziehungsweise. Nicht unbedingt einer sein muss. Kann man ihn doch nützen. Ganz geschickt. Um die ganze Sache sogar noch zu verbessern. Und zwar erheblich. Denn ohne sein Loch. Beziehungsweise. Seine díra. Wären niemals derart viele schöne Blumen auf der grünen Wiese aufgesprossen. Auf dem grünen Stoff. Des Vorhangs. Hatte er sie also quasi ausgesät. Diese Blumen. Sie gegossen. Jene Wiese. Und sie somit letztendlich nur aufgewertet. Sie geadelt. Sie zum Leben erweckt. Und nicht etwa zerstört. Durch sein Loch. Seine díra. Einen zerstörerischen Akt. An sich. Den man wiederum zum Anlass nehmen kann. Als Initialfunken also. Um das Beste daraus zu machen. Beziehungsweise. Um etwas Neues zu erschaffen. Anstatt das Ganze einfach abzureißen. Und kurzerhand wegzuschmeißen. Was ja der erste Impuls wäre. Normal. Und logisch. Waren diese Blumen also nicht. Sie waren viel mehr. Pure Magie. Etwas völlig Unerwartetes. Und Irrationales. Aber so war sie nun mal. Seine Mutter. Voller überschäumender Kreativität. Und so war sie auch. Die Kunst. Beziehungsweise. Die Natur. Da wird ja schließlich auch nichts verschwendet. Geschweige denn einfach weggeworfen. Alles wird wiederverwertet. Und ganz einfach umgestaltet. Zu etwas Neuem. So. Wie die herabfallenden Blätter. Im Herbst. Neues Erdreich bilden. Oder die Blumen. Auf der Vorhangswiese. Ihn verzauberten. Förmlich. Und regelrecht. Etwas zu beschädigen. Bedeutet also nicht. Zwangsläufig. Es zu zerstören. Es zu vernichten. Vielmehr. Bietet jede Beschädigung auch eine Chance. Zu einem Neunanfang. Und zur Verbesserung sogar. Das hatte er heute gelernt. Von seiner Mutter. Das war die erste Lektion gewesen. Sozusagen. Was seine Lebensschule anbelangt. Und der Initialfunken. Zu seiner Kreativität. Ein Künstler. Muss auch aus einem Unfall heraus noch Schönes schaffen. Und Wahres. Und Gutes. Quasi. Aus dem Chaos. Aus dem Nichts. Ganz genauso. Wie die Natur. Und die Mutter. Das hatte er heute gelernt. Und er hatte es begriffen. Es somit verinnerlicht. Von heute an. Würde er ein Anderer sein. Er würde denken. Und fühlen. Und handeln. Wie ein Künstler. Denn die Mutter hatte es ihm ja vorgemacht. Und die Welt. War wieder. In Ordnung. Alles. War wieder. Im Lot. Die Mutter. Hielt den Sohn. Ganz fest. Im Arm. Und der Sohn. Schmiegte sich. Ganz fest. An seine Mutter. An seine erste große Liebe. Láska. Sein zweites Wort übrigens. Und ‘lato. Eigentlich. Zlato. Gold. Also Goldschatz. Wie die Mutter ihn stets zu bezeichnen pflegte. Das plapperte er einfach nach. Wie ein Papagei. Und verinnerlichte es. Dabei. Ist sich wohl keine Mutter auf der Welt ihrer Macht bewusst. Denn ein jedes Wort. Das sie spricht. Und eine jede Blume. Die sie annäht. Verändert die Welt. Im wahrsten Sinne. Des Wortes. Die innere. Ihres Kindes. Und somit auch die äußere. Durch die Hand. Ihres Kindes. Kein einziges Kosewort. Ist ein Kosewort zu viel. Kein einziges Lob. Ist ein Lob zu viel. Keine einzige Blume. Ist eine Blume zu viel. Die gute Mutter weiß es. Vielmehr ahnt sie es. Ganz instinktiv. Weshalb sie damit nicht geizt. Mit ihrer Liebe. Und mit ihrem
Lob. Und mit ihren Blumen. Und somit. Trägt sie dazu bei. Sie ein ganz klein wenig schöner zu machen. Und erträglicher. Und liebevoller. Diese schreckliche Welt.
Beide standen sie also da. Innig umschlungen. Und betrachteten das gemeinsame Werk. Ja. Gemeinsam. Da es ja schließlich aus ihrer beider Kreativität resultierte. Auch aus der seinigen. Die ein ahnungsloser Außenstehender wohl leicht als Vandalismus abgetan hätte. Als pure Destruktivität also. Und demnach mit einer Watschen belohnt hätte. Und doch. Hatte er seine Lektion gelernt. Manchmal. Muss man erst etwas zerschneiden. Um dafür belohnt zu werden. Mit Blumen. Manchmal. Muss man erst etwas zerstören. Um zu einem noch besseren Ergebnis zu kommen. Ein Schnitt. Eine Beschädigung. Eine Sekkatur. Macht die Dinge oft interessanter. Als das Glatte. Perfekte. Vollkommene. Denn greift man nicht ein. In bestehende Strukturen. So ändern sich die Dinge nie.
Viel lieber noch. Hätte er bunte Blumen gehabt. Rote. Und Blaue. Aber so. In Weiß. Und Gelb. Auf Grün. War es auch gut. Und er begriff. Dass er nun nicht mehr daran herumschnippeln durfte. Nie wieder. Das brauchte ihm die Mutter auch nicht extra zu sagen. Das brauchte sie ihm nicht eigens einzutrichtern. Er würde es nun ganz von selbst nicht mehr tun. Denn schließlich war sie ja nun wieder in Ordnung. Die Welt. War wieder heil. Beziehungsweise. War sie nun perfekt. Die grüne Wiese. Die sich in ein wahres Blumenmeer verwandelt hatte. Nun gab es nichts mehr daran zu verbessern. Auszubessern. Und auszusetzen. Schon gar nicht.
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Doch heil war die Welt. Schon lange nicht mehr. Seitdem sein Vater sich mit Syphilis infiziert hatte. Vor seiner Hochzeit. Im Jahre 1879. Beziehungsweise. Kurz darauf. War es noch ein Todesurteil. In jenen Tagen. War auch Egon Schieles Kindheit von Krankheit überschattet. Von der des Vaters. Sowie der eigenen. Denn ein syphilitischer Vater zeugt. In der Regel. Keine kerngesunden Kinder. Das hatte der kleine Egon schon sehr früh erfahren müssen. Am eigenen Leibe. Und an jenem. Seiner Geschwister. Denn der Vater hatte sich geweigert. Sich behandeln zu lassen. Schlichtweg. Und rigoros. War diese Krankheit damals ohnehin tödlich. Und unbehandelbar. Trug sie den Makel. Der Hurerei. Der Lasterhaftigkeit. Der Unkeuschheit. Der Untreue. Und der Unmoral. Weshalb die meisten Infizierten danach trachteten. Sie einfach unter den Teppich zu kehren. Eine fatale Entscheidung. Die auch der Ehefrau den Tod brachte. In der Regel. Wird sich wohl auch Marie Schiele angesteckt haben. Bei ihrem Gatten. Adolf. Eugen. Schiele. Denn die Krankheit griff in beider Leben ein. Beziehungsweise. Ins Leben. Ihrer Kinder. Von sechs gemeinsamen Kindern. Überlebte gerade einmal die Hälfte.
Die unbehandelte Syphilis des Vaters. War es wohl schuld. Dass die Mutter zwei Totgeburten erlitt. Gleich nach der Hochzeit. Im Jahre 1880. Und im darauffolgenden. 1881. Zwei Versuche also. Bevor es endlich klappte. Mit dem dritten Kind. Einer Tochter. Elvira. Im Jahre 1883. Doch auch dieses Kind starb. Bereits im Kindesalter. Mit nur zehn Jahren. Anno 1893. Waren jedoch zwei weitere hinzugekommen. Melanie. Im Jahre 1886. Und Egon. Leo. Adolf. Ludwig. Schiele. Im Jahre 1890. Genauer gesagt. Am 12. Juni. Folgte dann noch ein weiteres Kind. Gertrude. Auch Gerti genannt. Im Jahre 1894. Und das war’s dann auch schon. Mit der Familienplanung. Egon Schiele. War also das fünfte Kind. Von Adolf und Marie Schiele. Und das zweite. Das die Kindertage überlebte. Und das erste. Männliche. Der erste Sohn. Und der einzige. Der die Geburt überlebt hatte. Der Thronfolger. Und Stammhalter. Der zusammen mit zwei Schwestern aufwuchs. Mit einer älteren. Und einer jüngeren. Beziehungsweise. Mit drei Schwestern. Zunächst. Wobei die älteste bald schon starb. Nach Egons Geburt. Nur drei Jahre später.
Als Dreijähriger. Erlebte er ihren Tod. Mehr unbewusst. Und doch. Veränderte es ihn. Genauso. Wie die ganze Familie. Denn selbst wenn man nicht wirklich begreifen kann. Was der Tod bedeutet. So empfindet man ihn. Auch als Dreijähriger. Spürt man ihn. Seinen kalten Pesthauch. Genauso wie die trübe Stimmung. Die danach im Hause hängt. Und niemals wieder ganz verschwindet. Wie sie über das Haus herrscht. Und über die ganze Familie. Allem voran. Über die Mutter. In Form einer schweren Depression. Und der unablässigen Sorge. Und Angst. Um den Knaben. Und die restlichen beiden Schwestern. Eine Art Panik. Die sich verstärkte. Von Tag. Zu Tag. Dass es ihren verbliebenen drei Kindern einst genauso ergehen würde. Mit zehn Jahren. Oder später. Oder sogar früher. Diese Ungewissheit. Fraß die Mutter förmlich auf. Weshalb sie ihre drei verbliebenen Kinder beobachtete. Mit Argusaugen. Allen voran. Ihren einzigen Sohn. Der bis dato überlebt hatte. Sie stürzte sich förmlich auf ihn. Beschützte und bewachte ihn. Wie ihren Augapfel. Ihren Goldschatz. Wie sie ihn nannte. Stets in Sorge. Der Tod könne auch ihn holen. Und ihn ihr entreißen. So. Wie all die anderen.
Es war also nicht der Tod. An sich. Den der Junge spürte. Oder begriff. Als Dreijähriger. Spürte er aber sehr wohl. Die Sorge der Mutter. Ihre Angst. Und Panik. Vor Krankheit. Und Tod. Begriff er. Da sie in erster Linie ihm galt. Ein Sorgenkind. Übernimmt ganz automatisch. Die Sorgen. Und Ängste. Der Mutter. Und so. Wurde kein Holzfäller aus ihm. Und auch kein Metallgießer. Sondern ein Künstler. Dessen Handwerk die Feinfühligkeit ist. Der sich versetzen kann. In die Gefühle anderer. Und in die eigenen. Die er zu Papier bringt. Oder auf Stoff. War es wie mit den Blumen. Auf dem Vorhang. Auch hier. Musste zunächst etwas zerschnippelt werden. Und zerstört. In der Familie. Und in der Seele des Jungen. Damit etwas Neues daraus erwachsen konnte. Etwas Schönes. Etwas Wundervolles. Etwas Einzigartiges. Denn wo Licht ist. Ist auch Schatten. Wie Carl Gustav Jung es später nennen sollte. In seiner Abhandlung. Über die Individuation. Und wo Zerstörung herrscht. Da herrscht eben auch Schöpfung. Neues Leben. Resultiert aus dem Tod. Auf einer grünen Wiese. Zum Beispiel. Mit großen Margaritenblüten darauf.
Doch der Weg dorthin. War ein steiniger. Sobald der Junge hustete. Oder sich nur unwohl fühlte. Stürzte die Mutter sich regerecht auf ihn. Mit panischem Blicke. Denn die robusteste Konstitution besaß er nicht gerade. Dieser Hänfling. Diese halbe Portion. Der nunmal kein Holzfäller war. Und auch kein Metallgießer. Sondern ein Sensibelchen. Ein Versonnener. Und völlig Ungeeigneter. Für die praktischen Dinge. Des Lebens. Und dessen Härte. Sollte durch die Fürsorglichkeit der Mutter abgemildert werden. Eine Überfürsorglichkeit. Eine Überkompensation. Nach zwei Totgeburten. Einem toten zehnjährigen Kind. Und einem syphilitischen Ehemann. Der ebenfalls kränkelte. In diesem Umfeld. Aus Krankheit. Und Tod. Wuchs der junge Egon Schiele auf. Und es prägte ihn. Für den Rest seines Lebens. Das weiß Gott nicht lang war. Sondern nur knapp 28 Jahre währen sollte. Im Gegensatz zu jenem der beiden Schwestern. Denn Melanie starb erst 1974. Mit 88 Jahren. Und Gertrude erst 1981. Mit 87 Jahren. Erstaunlicherweise. Wurden beide praktisch gleich alt. Und starben hoch betagt. Während es die anderen früh dahinraffte. Ein Lotteriespiel. Dieser Sensemann. Der sich nicht schert. Um die Lebenden.
Natürlich. Litt auch die Ehe der Eltern darunter. Unter den beiden Totgeburten. Der jung verstorbenen Tochter. Und dem ganzen kränklichen Rest. Litt auch die Liebe. Unter der Krankheit. Des Vaters. Von dem alles auszuströmen schien. Alles Ungemach. Und alles Unglück. Für das der Vater verantwortlich war. Aufgrund seiner Triebhaftigkeit. Und seines verdammt guten Aussehens. Hatte er den Tod ins Haus geholt. Hatte ihm Tür und Tor geöffnet. Wofür die Ehefrau ihn verfluchte. Diesen elenden Gigolo. Der seine Finger nicht lassen konnte. Von anderen Frauen. Vor ihrer Hochzeit allerdings. Oder kurz darauf. Denn nun durfte er es ja nicht mehr. Und auch sie. Die Ehefrau. Wollte dieses Risiko lieber nicht mehr eingehen. Dem sie sich mit jedem Koitus aussetzte. Wo die Liebe hinfällt. Um neues Leben zu erschaffen. Führt sie geradewegs in den Tod. Ein verwirrendes Amalgam. Aus Krankheit. Und Tod. Auf der einen Seite. Aus Liebe. Sexualität. Und neuem Leben. Auf der anderen. Und doch. Sind beides nur die Kehrseiten. Einer einzigen Medaille. Ein weiteres Trauma. Das den jungen Egon Schiele von Kindesbeinen an verfolgte. Diese unsägliche Mischung. Aus Todbringendem. Und Lebensspendendem. In einer Person. Nämlich in jener seines eigenen Vaters. Der Leben schuf. Und den Tod brachte. Ein bildschöner Mann. Der zusehends verfiel. Jetzt noch nicht allzu sehr. Aber bald schon.
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Ach. Herrje. Und. Oh weh. Der Vater. Und der Sohn. Eine ewige Geschichte. Verzwickt. Und vertrackt. Seit ewigen Zeiten. Seit Unzeiten. Und Urzeiten. Und für immerdar. Ewiglich. Eine Leidensgeschichte. Und eine Odyssee. Aus Kampf. Und Akzeptanz. Aus Konkurrenzdruck. Und Komplizität. Aus Hass. Und Liebe. Aus Ablehnung. Und Bewunderung. Ein Wechselbad. Der Gefühle. Aus Diktatur. Und Demokratie. Aus Ignoranz. Und Idolâtrie. Aus Projektion. Und Epigonie. Fällt der Apfel. Nicht weit. Vom Stamm. Sagt man. Und doch. Tut er es öfter. Als man denkt. Mitunter. Rollt er. Und kullert. Durch abschüssiges Gelände. So weit. Dass sie sich nicht mehr sehen können. Der Stammesvater. Und sein Sohn. Dieses saure Früchtchen. Das sich besser an die Mutter hält. In diesem Falle. Läuft es besser. Mit ihr. Einfacher. Und runder. Unkompliziert. In der Regel. Wie geschmiert. Ist der weitere Konflikt. Mit dem Vater. Dadurch vorprogrammiert.
Adolf Eugen Schiele. War ein schöner Mann. Schöner. Als sein Sohn. Was selten ist. Und schwierig. Für den Sohn. Der sich somit niemals messen kann. Mit dem Vater. Was auch immer er tut. Überragt der Vater ihn. Um Längen. Der Übervater. Mit seiner schlanken Statur. Mit dem welligen Haar. Welches er gescheitelt trägt. Nach Links. In einem kühnen Wirbel. Eine wahre Sturmfrisur. Kess. Und keck. Sein Blick. Geradezu lasziv. Wie jener. Einer Frau. Einer Femme Fatale. Gerade. Die Nase. Und hoch. Die Stirn. Fast schon klassisch. Schön. Dieses schmale Gesicht. Feingeschnitten. Und blass. Aristokratisch. Und asketisch. Vornehm. Und vergeistigt. Der Vollbart. Aus dunklem Haar. Ganz kurz. An den Wangen. Und üppig. Um den Mund herum. Den man gerne küsst. Und dem die Frauen verfielen. Eine. Nach der anderen. Und welcher wiederum verfiel. Der Syphilis.
Die Mutter hingegen. War keine klassische Schönheit. Und doch. Hatte sie etwas. Gutmütiges. Slawisches. Ihr rundes Gesicht. Die Apfelbäckchen. Die Stupsnase. Den fleischigen Mund. Die abstehenden Ohren. Und die tiefliegenden Augen. Hatte der Sohn von ihr. Und war somit ganz die Mutter. Zumindest als Kind. Bevor sein dunkelblondes Haar sich zunehmend verdunkelte. Und seine Züge sich verhärteten. Und verhärmten. Im Laufe seines Lebens. Genauso wie jene der Mutter. Denn etwas bleibt immer hängen. Semper aliquid haeret. Von Krankheit. Trauer. Und Tod.
Diese drei Furien. Sollten bald Einzug halten. Im Hause Schiele. Beziehungsweise. Taten sie es jetzt schon. Zum Teil. Zumindest aber. Erstere. Die Krankheit. Des Vaters. Wurde allmählich sichtbar. Jetzt. Noch nicht. Allzusehr. Aber bald schon. Verfiel sein schönes Gesicht. Und sein jugendlich wirkender Körper. Seine stattliche Erscheinung. Verwandelte sich. Zunehmend. In ein Häufchen. Elend. Was vor allem für den Erkrankten selbst zur Qual wurde. Ein stolzer Mann. Ein schöner Mann. Der es gewöhnt war. Von den Frauen bewundert zu werden. Angehimmelt. Und angebetet. Sogar. Zur Zeit der Geburt seines Sohnes. War er Bahnhofsvorsteher. Beziehungsweise. Ober-Official. Wie es damals hieß. Der K.u.K. Staatsbahn. In Tulln. An der Donau. Gerade einmal 30 Kilometer Luftlinie entfernt lag es. Und rund 40 Kilometer per Landstraße. Oder Bahn. Westlich. Von der K.u.K. Reichhauptstadt. Wien.
Adolf Eugen Schiele3. Dessen Familie väterlicherseits aus Norddeutschland stammte. Hatte die Südböhmin Marie Soukupová4 geehelicht. Als er noch Bahnhofs-Vorstand in Launsdorf war. In Kärnten. Im Jahre 1887. Wurde er Stations-Vorstand. In Tulln. Wo die Familie eine Dienstwohnung erhielt. Welche direkt an das Bahnhofsgebäude anschloss. Beziehungsweise. Im ersten Stock desselben lag. Also praktisch. Neben den Gleisen. Und praktisch. Für den Vater. Der es somit nicht weit zur Arbeit hatte. Nämlich gar nicht. Auch Marie Soukup. War von Kindesbeinen an mit der Eisenbahn vertraut gewesen. Denn sie war die älteste Tochter. Eines Baumeisters. Der wohlhabend geworden war. Durch Eisenbahnbauten. Und sie stammte aus Krumau. Český Krumlov. Einer Stadt. In Südböhmen. Was damals noch Österreich war. Der Vater hingegen stammte aus Wien. In Prag. Hatte er jedoch während seiner Kindheit eine lange Zeit verbracht. Weshalb es den Kindern förmlich in die Wiege gelegt worden war. Das Böhmische.
Direkt. Am Bahnhof gelegen. Beziehungsweise. Im Bahnhof. Sollte die Dienstwohnung der Schieles bald schon ihre Wirkung zeigen. Denn der junge Egon entwickelte schon im frühesten Alter eine Faszination. Für die Eisenbahn. Die prinzipiell jedem Jungen zu eigen ist. Aber mehr noch. Wenn man gleich am Bahnhof wohnt. Praktisch. Im Bahnhof. Also mittendrin. Im Geschehen. Wo man die imposanten Dampflokomotiven aus nächster Nähe beobachten kann. Praktisch. Aus dem Fenster. Tagtäglich. Zeichnete er. Sobald er einen Stift in der Hand zu halten vermochte. Und zwar zeichnete er. Immerzu. Dampflokomotiven. Und Züge. Was sonst.
Den Eltern fiel es gleich auf. Wie unglaublich detailliert diese Zeichnungen waren. Und präzise. Und das. In derart jungen Jahren. Zogen die Eltern daraus den Schluss. Der Sohn würde die Familientradition einst fortsetzen. Um Karriere zu machen. Als Eisenbahner. Genauso. Wie sein Vater. Und wie sein Großvater. Väterlicherseits. Der Ingenieur war. Oder wie sein anderer Großvater. Mütterlicherseits. Der ja Baumeister war. Und ebenfalls für die Eisenbahn baute. Für diesen neuen Gott. Des Neunzehnten Jahrhunderts. Für den man wahre Kathedralen errichtete. Aus Stahl. Und Glas. Und Ortschaften miteinander verband. In den entlegensten Winkeln. Des Reiches. Um alle Menschen teilhaben zu lassen. An dieser neuen Religion.
Noch bevor Egon Schiele überhaupt die Volksschule besuchte. Mit sechs Jahren. Zeichnete er. Und er war gut darin. Er war regelrecht besessen. Vom Zeichnen. Und vom Tullner Bahnhof. Mitsamt den dort stehenden Eisenbahnzügen. „Maschinchen Bahnhof!“. Waren seine ersten zusammenhängenden Worte. Mehr. Oder weniger. Bevor er überhaupt wirklich in der Lage war. Zusammenhängende Sätze aussprechen zu können.
„Maschinchen Bahnhof!“, rief er. Und seine Augen funkelten vor Aufregung. Sein Mund lachte. Während er sich dem Perron näherte. Auf wackeligen Beinchen. Und mit ausgestrecktem Zeigefinger.
„Geh nicht zu nah an die Züge heran!“, ermahnte die Mutter ihn. Doch das kannte er schon. Das hörte er jeden Tag. Anschauen war erlaubt. Anfassen war verboten. Das Berühren. Der Figüren. Mit den Pfoten. Ist verboten. Das hatte er längst verinnerlicht. Obwohl er es nicht ganz verstehen konnte.
„Du kannst Dir sehr weh thun!“, mahnte die Mutter weiter. Und immer weiter. „Die Locomotive wird Dich verbrennen, mit ihrem heißen Dampf! Siehst Du? Dort vorn, an der Seite, schießt er heraus! Da darf man nicht in die Nähe kommen!“
„Maschinchen Bahnhof!“, gluckste er. Und war außer sich. Vor Freude. Stand er. Auf der Stelle. Und wippte. Auf. Und ab. Wie als ob er springen wolle. Aber nicht könne. Und das konnte er auch nicht. In diesem Alter. Streckte er dabei seinen Arm aus. Und deutete mit dem winzigen Finger. In Richtung der Lokomotive. Riesig. Und schwarz. Schnaubend. Und Funken sprühend. Wie der Teufel. Und doch. Machte sie ihm keine Angst. Er war es ja längst gewöhnt. Seit seiner Geburt nun schon.
„Siehst Du?“, sagte die Mutter. „Jetzt fährt sie los!“
Augenblicklich presste sich der Kleine die Fäuste auf die Ohren. Die riesigen Kolben stießen hinaus. Und wieder hinein. Und bewegten dadurch die riesigen Stahlräder. Im Kreis. Ein Faszinosum. Diese horizontale Bewegung. Die sich in eine Kreisbewegung übertrug. Und in eine Vorwärtsbewegung schließlich. Wie durch Geisterhand.
„Maschinchen Bahnhof!“, rief er gegen das stampfende Gebrüll an.
Und als die Lokomotive plötzlich einen schrillen Pfeifton ausstieß. Der durch Mark und Bein drang. Wirbelte das Kind herum. Und vergrub sein Antlitz. In den Rockschößen seiner Mutter.
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Und so. Wuchs Egon Schiele in einem kleinbürgerlichen Umfeld auf. Klein zwar. Aber bürgerlich. Immerhin. Ein Privileg. In jenen Jahren. Gemeinsam mit seinen beiden Schwestern. Elvira. Und Melanie. Waren es immer nur zwei Schwestern. Mit denen er gleichzeitig aufwuchs. Obwohl seine Eltern insgesamt drei Töchter hatten. Starb die erste Tochter. Elvira. Als er drei Jahre alt war. Wofür dann bald darauf eine dritte geboren wurde. Gertrude. Auch Gerti genannt. Als er vier Jahre alt war. Ersetzte die drittgeborene Schwester. Sozusagen. Die verstorbene erstgeborene. Und sollte für Egon sehr wichtig werden. Im Laufe der Jahre. Sollte er eine sehr innige Beziehung zu seiner jüngsten Schwester entwickeln. So innig. Dass sie später sogar sein bevorzugtes Modell werden sollte. Sogar nackt. Ganz einfach. Weil er kein Geld hatte. Für andere Modelle. Denn geschenkt. Ist nur der Tod. Und professionelle Modelle. Waren auch nicht geschenkt. Sondern sehr teuer. In jenen Jahren. Und später. Sollte Gerti sogar einen großen Künstler heiraten. Und einen Freund. Ihres Bruders. Nämlich Anton Peschka.
Doch noch interessierte er sich nicht für den menschlichen Körper. Zumal für den weiblichen. Noch nicht. Jetzt war es ausschließlich die Eisenbahn. Die ihn faszinierte. Immer wieder. Zeichnete er. Die Züge. Die vor dem Hause haltmachten. Erstaunlich präzise. Vergaß er kein Detail. Und auf die Proportionen. Achtete er genau. Sie waren erstaunlich korrekt. Ganz. Und gar nicht. Verzerrt. Wie in üblichen Kinderzeichnungen. Seiner Altersgenossen.
„Guth machst Du das, Gončíčku! Schön machst Du das!“, die Mutter tätschelte seinen Kopf. Sie fand alles gut. Was er machte. Schließlich war er ja ihr Sohn.
„Maschinchen Bahnhof!“, sagte er. Wie in Trance. Während der Bleistift weiter über das Papier kratzte.
„Ich weiß“, sagte die Mutter, „ich weiß!“
Ein wenig unheimlich war er ihr schon. Dieser kleine Wurm. Wie verbissen er war. Und so zielstrebig. Wusste er ganz genau. Was er wollte. Und er erreichte es auch. Wenn er Probleme hatte. Mit der Proportion. Oder der korrekten Darstellung. Fragte er seinen Vater. Beziehungsweise. Fragte er nicht. Sondern zeigte ihm die Zeichnung. Woraufhin der Vater stumm einen Stift nahm. Und sie korrigierte. Er bügelte. Die Mängel aus. Er beseitigte. Die Unzulänglichkeiten. Ein Künstler war er nicht. Der Vater. Und doch zeichnete er gut. Das hatte er wiederum von seinem eigenen Vater gelernt. Der sich aufs Zeichnen verstand. Naturgemäß. Als Ingenieur.
Anfangs störte es den jungen Schiele. Wenn sein Vater so grob dazwischenging. Und ihm in sein Handwerk pfuschte. Nicht sehr sensibel. Korrigierte der Vater. Die perspektivischen Unzulänglichkeiten. Mit einigen wenigen Strichen. Grob. Und mit fester Hand gezogen. Einerseits. Bewunderte der Sohn es. Diese feste Hand. Seines Vaters. Andererseits. Ärgerte es ihn. Dass der Vater so eigenmächtig in sein Werk eingriff. Und es somit beschädigte. Und doch. War es nichts anderes. Als jene beiden Löcher. Im Vorhangsstoff. Da hatte er selbst ebenfalls etwas beschädigt. Beziehungsweise. Korrigiert. Ein kreatives Erzeugnis nämlich. Seiner Mutter. Woraufhin dieses sich plötzlich verbesserte. Genauso sah er die brutalen Eingriffe seines Vaters in seine Zeichnungen. Er begriff. Dass der Vater ihm nur helfen wollte. Ihn ausbessern wollte. Und somit verbessern.
Das war eine wichtige Lektion für ihn. Was seine Lebensschule anbelangte. Doch vor allem. Seinen Werdegang. Als Künstler. Sein Leben lang. Würde er seine eigenen Zeichnungen beschädigen. Sie verstümmeln. Immer wieder. Allem voran. Seine Akte. Verdreht. Und verbogen. Wie in Agonie. Wie im Todeskampf. Und doch. Waren sie dabei immer von einer inneren Schönheit durchdrungen. Beschädigung. Und Verbesserung. Zerstörung. Und Neuanfang. Tod. Und Leben. Waren bloß die Kehrseiten einer einzigen Medaille. Das begriff er schon sehr früh. Und es sollte sein gesamtes Schaffen durchdringen. Es prägen. Und unverkennbar machen. Einzigartig. Und großartig. Was ihm zu Weltruhm verhelfen sollte. Denn über diesen ganz individuellen Blick. Auf die Tücken. Und Macken. Auf die Unzulänglichkeiten. Und Widrigkeiten. Des Lebens. Sowie des menschlichen Körpers. Verfügte nur er. In dieser Form. Hatte sie kein anderer Künstler verinnerlicht.
Doch bei Einem griff diese universale Formel nicht. Beschädigung. Führte nicht. Zur Verbesserung. Zerstörung. Führte nicht. Zu einem Neuanfang. Und Tod. Führte nicht. Zu einem neuen Leben. Diese Ausnahme. Von der Regel. War sein Vater. Denn bei dessen Krankheit verhielt es sich ganz anders. Der junge Schiele konnte förmlich mitansehen. Wie schnell der Köper seines Vaters verfiel. Das Haupt. Geneigt. Der Rücken. Gebeugt. Das Antlitz. Zerfurcht. Die Augen. Ohne Leben. Die Krankheit. Beschädigte ihn. Und doch. Entstand daraus. Nichts Neues. Nichts Schönes. Nichts Besseres. Diese Abweichung von der Regel. War schwer traumatisierend. Für den Sohn. Hier wurde etwas zerstört. Vor seinen Augen. Das einfach nicht besser wurde. Nie wieder. Und es war sein Vater.
Mehr unbewusst. Als bewusst. Begann sich nun auch der Sohn zu beobachten. Viele Stunden. Verbrachte er vor dem Spiegel. Und suchte nach Anzeichen. Bei sich selbst. Für Krankheit. Und Verfall. Auch beim Vater. War es schließlich schleichend gekommen. Praktisch. Über Nacht. Da konnte es ihn selbst ja genauso treffen. Abgesehen davon. Dass auch die Mutter geradezu paranoid wurde. Und all ihre Kinder beobachtete. Sie bewachte. Sie geradezu observierte. Nichts entging ihrem aufmerksamen Blicke. Und jede Verkühlung. Jeder Husten. Stürzte sie in eine Unruhe. Und schließlich sogar in Panik. Die auch auf den Sohn abfärbte. Sich auf ihn übertrug. Sodass er Stunden vor dem Spiegel zubrachte. Und nach Anzeichen suchte. Bei sich selbst. Für Krankheit. Verfall. Und Tod. Und dabei. Hatte sein Leben gerade erst begonnen.
Bald schon. Hatte dies Konsequenzen. Denn der Junge nützte diese permanente Selbstbeobachtung. Diese andauernde Selbstbespiegelung. Indem er sie mittels eines Stiftes und Papiers festhielt. Sie sozusagen konservierte. Für die Nachwelt. Sein Leben lang. Sollte er sich unablässig beobachten. Und zeichnen. Seinen Zustand dokumentieren. Eine Befindlichkeitsstudie betreiben. Und somit selbst sein liebstes Modell werden. Eine Innenschau. Eine Introspektive. Typisch für die österreichische Kunst. Jener Jahre. Und ganz klar im Zusammenhang zu sehen. Mit Arthur Schnitzler. Der den ersten inneren Monolog in der deutschsprachigen Literatur erschuf. Sowie mit Sigmund Freud. Der die Psychoanalyse begründete. Und somit die gesamte moderne Psychologie.
Diese permanente Innenschau. Sollte das alte Österreich letztendlich in den Abgrund führen. Weil man das Andere aus den Augen verlor. Das Äußere. Das Drumherum. Nur 24 Jahre. Nach Egon Schieles Geburt. Sollte die gesamte Donaumonarchie in eine Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes hineinschlittern. Welche die ganze Welt mitreißen sollte. Und nur 28 Jahre. Nach Egon Schieles Geburt. Just in seinem eigenen Todesjahr. 1918. Sollte diese alte Welt unwiederbringlich verschwunden sein. Gleichzeitig. Mit Egon Schiele. Gustav Klimt. Koloman Moser. Otto Wagner. Und all den anderen.
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Als Egon Schiele Laufen und Sprechen lernte. Durchlitt Gustav Klimt die schlimmsten Jahre seines Lebens. Im Jahre 1892. War zunächst sein Vater gestorben. Ernst. Senior. Und dann sein geliebter Bruder. Ernst. Junior. Als Egon Schiele Laufen und Sprechen lernte. War Gustav Klimt bereits dreißig Jahre alt. Und ein angesehener Künstler. Abgesehen davon. Ist es ein großer Unterschied. Ob man nun 1862 geboren wurde. Wie Klimt. Oder 1890. Wie Schiele. Denn es waren zwei unterschiedliche Welten. Und das. Obwohl gerade einmal achtundzwanzig Jahre dazwischen lagen. Doch achtundzwanzig Jahre. Das war zu jener Zeit viel. Das war wie achthundertzwanzig Jahre. Zuvor.
Als Gustav Klimt geboren wurde. Stellten zwei englische Wissenschaftler die kühne These auf. Der Mensch stamme vom Affen ab. Als Gustav Klimt geboren wurde. Zerfleischte sich der Norden. Mit dem Süden. In den Vereinigten Staaten von Amerika. Die nicht mehr vereinigt sein wollten. Als Gustav Klimt geboren wurde. War die Fotografie erst zwanzig Jahre alt. Und steckte noch in den Kinderschuhen. Als Gustav Klimt geboren wurde. War es erst vierzehn Jahre her. Dass sich Europa zerfleischt hatte. In einer schrecklichen Revolution. Wo Bürger auf Bürger schossen. Und wo Barrikadenkämpfe stattfanden. Mitten in Europa. Mitten in Wien. In Berlin. In London. In Paris. Und anderswo. Als Gustav Klimt geboren wurde. Gab es noch keine Elektrizität. Keine Automobile. Kein Telefon. Als Gustav Klimt geboren wurde. War die Welt noch wie im Mittelalter. Die Technologie zumindest. Und die Medizin. Und die abendländische Gesellschaft. Insgesamt.
Als Egon Schiele geboren wurde. Waren die Städte der westlichen Welt weitgehend elektrifiziert. Als Egon Schiele geboren wurde. Ratterten bereits die ersten Automobile über die Straßen. Als Egon Schiele geboren wurde. Dauerte es nurmehr wenige Jahre. Und es gab elektrische Rolltreppen. Staubsauger. Wolkenkratzer. Flugzeuge. Unterseeboote. Telegraphen. Radiogeräte. Cinematographen. Und so weiter. Und so fort. Als Egon Schiele geboren wurde. Gingen die ersten Frauen auf die Barrikaden. Um mehr Rechte zu erhalten. Nein. Um überhaupt Rechte zu erhalten. Denn die hatten sie vorher nicht. Allgemeines Wahlrecht. Studienrecht. Und so weiter. Und so fort.
Während Egon Schiele die Schulbank drückte. Gründete Gustav Klimt die Secession. Und wurde Vater. Dieser Gründungsvater. Der Moderne. Hätte vom Alter her auch Schieles Vater sein können. Denn er war im selben Jahr geboren worden. Wie Egon Schieles Mutter. Die aus Böhmen stammte. Wie Gustav Klimts Vater auch. Diese beiden herausragenden Künstler hatten also einiges gemein. Außer einem jeweils böhmischen Elternteil. Stammten beide aus der unmittelbaren Gegend um Wien. Und beide starben sie in der Reichshauptstadt. Mittendrin. Am selben Ort. Im selben Jahr. Als auch das Kaiserreich unterging. Im Jahre 1918. Dem schrecklichsten Jahr. Für Österreich. In seiner gesamten Geschichte. Schrecklich. Und zerstörerisch. Auch für Deutschland. Und für Russland. Für ganz Europa. Und für die ganze Welt. Zumal hier bereits die Saat gepflanzt wurde. Für einen weiteren Weltkrieg. Mit noch schrecklicheren Folgen.
Doch der Erste Weltkrieg war nicht vom Himmel gefallen. Von nichts. Kommt nichts. Bereits zuvor. Hatte es rumort. In der Gesellschaft. Im Grunde. Seit der Französischen Revolution. Das ganze 19. Jahrhundert lang. Das erfindungsreichste Jahrhundert. Der gesamten Menschheitsgeschichte. Und das revolutionärste. Nicht nur was die Technologie anbelangt. Und die Medizin. Die Naturwissenschaften. Und die gesellschaftlichen Umwälzungen. Auch die Kunst hat es revolutioniert. Das Zeitalter der Maschinen. Denn die Kunst spiegelt immer ihre jeweilige Epoche wider. Schon 1897. War es in Wien zum Bruch gekommen. Zur Trennung. Zur Secession. Der neuen Kunst. Der modernen. Von der alten. Der akademischen. Beziehungsweise. Vom Künstlerhaus. Der einzigen Vertretung zeitgenössischer bildender Künstler in der Reichshauptstadt. In Wien. Gab es gar keine andere Möglichkeit. Für einen bildenden Künstler. Seine Arbeiten öffentlich auszustellen. Und somit überhaupt bekannt zu werden. Als das Künstlerhaus. Denn es besaß diesbezüglich eine absolute Monopolstellung. Dies schmeckte vor allem einem nicht. Gustav Klimt. Der dort mit seinem neuen Stil auf großen Widerstand stieß. Der Vater der österreichischen Moderne. Rief kurzerhand seine eigene Künstlervereinigung ins Leben. Denn selbst ist der Mann.
Das späte 19. Jahrhundert ist das Jahrhundert der Selbstverwirklichung. Der Selfmade-Men. Der Selfmade-Millionäre. Des Selfmade-Bürgertums. Und sogar auch des Selfmade-Adels. Denn das strenge Kastensystem Europas begann langsam aufzuweichen. Vermögen. Macht. Und Adelstitel. Gingen in der Regel. Hand. In Hand. In jener Zeit. Wurde so mancher kleine Mann plötzlich ganz groß. Sowohl in der Wirtschaft. Als auch in der Industrie. Als auch in der Kunst. Denn selbst Gustav Klimt wäre um ein Haar geadelt worden. Und sein Kollege Franz Matsch wurde es. Doch die Selbstverwirklichung ging weiter. Der Individualismus wurde plötzlich ebenfalls groß geschrieben. Ein eigener Stil. Der sogenannte Personalstil. Setzte sich allmählich durch. Und revolutionierte die Kunst. Der Künstler begnügte sich nun nicht mehr mit einem objektiven Abbild der Natur. Mit dem Realismus. Sondern verarbeitete sein persönliches Empfinden. Und Befinden. Seine Individualität. Welche unmittelbar auf die Leinwand gebracht wurde. Im Impressionismus. Im Jugendstil. Im Expressionismus. Egal ob bei Vincent van Gogh. Pablo Picasso. Oder Gustav Klimt. Wurde ein persönlicher und unverkennbarer Stil geboren. Ein ganz persönlicher Ausdruck. Der Seele. Eine Art Befindlichkeitsstudie. Des Künstlers. Eine Art Psychogramm. Eine Innenschau. Die Introspektive. Die Impression. Wandelte sich allmählich. In Expression. Der individuelle Ausdruck. Stand über allem. Und ein lachender Sigmund Freud. Rieb sich die Hände.
Der individualistische Künstler war geboren. Zumindest wiedergeboren. Eine Renaissance. Der Renaissance. Eine Art Streik. Ein Aufstand. Gegen die Maschine. Die das 19. Jahrhundert völlig beherrschte. Und deren Produkte alle gleich waren. In Massenfertigung hergestellt. Genauso wie die unzähligen Historienbilder. Der Akademie. Mit ihrem Akademismus. Mit ihrem Realismus. Der nicht wirklich realistisch war. Sondern künstlich. Denn es war ja schließlich Kunst. Und so lehnten sich die Künstler plötzlich auf. Gegen das Diktat. Der Gleichschaltung. Gegen allgemeingültige Regeln. Und Zwänge. Womit die Moderne Einzug hielt. In den europäischen Kunstmetropolen. Wo beinahe täglich neue Künstlervereinigungen aus dem Boden schossen. Um sich trotzig gegen das allumfassende Diktat des Akademismus’ aufzulehnen. Bereits 1884. Gründete sich die Société des Indépendants. In Paris. Und zwar auf Betreiben der Impressionisten. Im Jahre 1892. Bildete sich die Münchner Secession. Welche ein entscheidendes Vorbild für die Wiener war. Und ein wenig später. Auch für die Berliner. Secession. War das Schlagwort. In diesen Tagen. Abspaltung. Der Sezessionskrieg. Hatte die USA einer harten Feuerprobe unterzogen. Aber auch in Europa. Machten sich allerorts separatistische Bestrebungen breit. Und dies nicht nur in der Kunst. Sondern ebenfalls unter den Völkern. Allem voran. In der Donaumonarchie.
Gustav Klimt war nur ein Jahr nach Ausbruch des Sezessionskrieges zur Welt gekommen. In einer Zeit also. Als man sich abspaltete. Als es Mode wurde. Für sich selbst einzustehen. Und sein eigenes Süppchen zu kochen. Secessio. Trennung. Abspaltung. Einsam. Statt gemeinsam. Und man weiß. Hinlänglich. Wohin dies alles führte. Auch für Gustav Klimt. War die Abspaltung vom Künstlerhaus nicht nur ein künstlerischer Befreiungsschlag. Sondern auch ein sehr persönlicher. Nämlich von der schwierigen Zeit. Den schrecklichen Jahren. Nach dem Tode seines Bruders. Und seines Vaters. Nach der Auflösung. Seiner Künstler-Compagnie. Und der damit verbundenen Trennung. Von seinem Kollegen Franz Matsch. War es auch eine Loslösung vom Historismus. Und der Ringstraßenmalerei. Es war ein Neuanfang. Für ihn. Persönlich. Und für die Kunst. Im Allgemeinen. Ver Sacrum. Und so deckt es sich oftmals. Das Kleine. Mit dem Großen. Das Private. Mit dem Öffentlichen. Denn alles ist mit allem verbunden. Irgendwie. Und auf wundersame Weise.
Gustav Klimt hatte sie also im Jahre 1897 verlassen. Die ‚Gesellschaft bildender Künstler Österreich‘. Um die Secession zu gründen. Beziehungsweise. Die ‚Vereinigung bildender Künstler Österreich‘. Wie sie offiziell hieß. Und praktisch gleich klang. Wie der offizielle Titel des Künstlerhauses. Bis auf ein einziges Substativ. Das man geringfügig modifizierte. Und doch. Ist es oft nur ein einziges Wort. Das einer Sache einen völlig neuen Sinn geben kann. Unter Umständen. Kann es sogar den Lauf der Welt verändern. Der Kunstwelt zumindest. Und es sollte nicht nur bei einigen hübschen Bildern bleiben. Alles wurde fortan diesem neuen Stil unterworfen. Die Architektur. Die Skulptur. Die Innenraumgestaltung. Die Möbel. Über die Buchkunst. Bishin zum Porzellan. Und zum Besteck. Die neue ‚Secessions-Kunst‘ sollte als ‚Stilkunst‘ tatsächlich bald schon alle Bereiche des alltäglichen Lebens durchdrungen haben. Und dies nicht nur in Wien. Sondern weltweit. Mit dem sogenannten ‚Modern Style‘. In England. Und in Schottland. Mit dem ‚Art Nouveau‘. In Frankreich. Und in Belgien. Mit dem ‚Stile Liberty‘. In Italien. Mit dem ‚Modernismo‘. In Spanien. Sowie mit dem ‚Jugendstil‘. Im Deutschen Reich. Ein internationaler Aufbruch also. In die Moderne. Allerdings mit nationalem Charakter5.
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In diesem Umfeld der Revolte und der nationalistischen Bestrebungen. Wuchs der junge Schiele auf. Das Secessionsgebäude in Wien wurde just vollendet. Als Egon Schiele acht Jahre alt war. Beinahe gleichzeitig. Wurde die österreichische Kaiserin Elisabeth in Genf ermordet. Am 10. September 1898. Standen plötzlich die Uhren still. Die Übermutter der Nation war tot. Die Unberührbare. Mehr Gottheit. Als Mensch. War von einem italienischen Separatisten erstochen worden. Mit einer Feile. Mitten ins Herz. Traf es auch die Monarchie. Die plötzlich verwundbar erschien. Menschlich. Und nicht mehr gottgleich. Entrückt. In einer Zeit der separatistischen und nationalistischen Irrungen. Und Wirrungen. Denen zahlreiche Herrscher zum Opfer fielen. Die blutige Französische Revolution hatte es allen vorgemacht. Denn nun ging es auch den anderen Monarchen an den Kragen. Einem. Nach dem anderen. Vor allem. Den Habsburgern. Und den Wittelsbachern. Dem König. Ludwig II. Von Bayern. Dem Kaiser. Maximilian. Von Mexiko. Der Kaiserin Elisabeth. Von Österreich. Dem Kronprinzen Rudolph. Von Österreich. Dem Thronfolger. Franz-Ferdinand. Von Österreich. Der gesamten Donaumonarchie. Waren von nun an nicht mehr viele Jahre beschieden. Gerade einmal zwanzig. Dann fielen auch andernorts die gekrönten Häupter. 1910. In Portugal. 1917. In Russland. 1918. In Österreich. Samt Kronländern. (Ungarn. Böhmen. Mähren. Slowakei. Slowenien. Kroatien. Bosnien-Herzegowina. Österreichisch-Schlesien. Dem österreichischen Teil Polens. Rumäniens. Italiens. Und der Ukraine.) 1918. In Deutschland. Beziehungsweise. Im Deutschen Reich. Samt Kronländern. 1918. In Serbien. (Und 1941. Im Königreich Jugoslawien.) 1931. In Spanien. (Das 1975 wieder eine Monarchie wurde. Entgegen aller Trends. Als Einzelfall. In der Geschichte des 20. Jahrhunderts.) 1946. (De facto bereits 1922.) In Italien. 1946. In Bulgarien. 1947. In Rumänien. 1973. In Griechenland. Aber auch am Rande Europas. Ging es zu. Wie bei Hempels. Unterm Sofa. 1922. Zerbrach das Osmanische Reich. 1969. Endete die Monarchie in Libyen. Und so weiter. Und so fort. Wobei sich beinahe durchweg schreckliche Diktaturen ausbreiteten. Genau dort. Wo die Monarchien so jäh gestürzt worden waren. Wo plötzlich der Bodensatz der Gesellschaft nach oben gelangte. Und nur dort. Nicht aber anderswo. Wo die Monarchien sich halten konnten. Trotz aller Irrungen. Und Wirrungen. Des 20. Jahrhunderts. Blieben zehn europäische Länder verschont. Von blutiger Revolution. Systematischem Mord. Ethnischen Säuberungen. Und brutalster Willkürherrschaft.
Mit der Ermordung der Kaiserin. Ging eine Ära zu Ende. Das spürte jeder. In Wien. Und andernorts. Spürte es auch der erst achtjährige Egon Schiele. Obwohl er es noch nicht bis in die letzte Konsequenz verstehen konnte. War alles um ihn herum in Auflösung begriffen. Die sicheren Strukturen. Die über Jahrhunderte gewachsen waren. Brachen plötzlich weg. Auch sein Vater. Die Stütze der Familie. Wurde immer kränklicher. Siechte nurmehr dahin. Es war nur eine Frage der Zeit. Bis auch diese Stütze wegbrechen sollte. Versuchte die Mutter den Ernst der Lage zu überspielen. Vor den Kindern. Wurde nicht geweint. Und lamentiert. Man wollte sie damit nicht belasten. Nicht verstören. Und doch. Bekamen sie es voll mit. Die Kinder. Spüren Dinge. Selbst wenn sie diese nicht verstehen. Denn bei Kindern ist die Intuition am Werk. Eine verstärkte Sensibilität. Die den meisten Erwachsenen im Laufe ihres Lebens abhanden kommt. Zu Gunsten der Ratio. Die einen auch nicht schützt. Vor den Widrigkeiten des Lebens. Und vor den eigenen Gefühlen. Und Ängsten. So sehr man diese auch zu unterdrücken vermag.
Die drei Kinder saßen in der Küche. Und hörten die Eltern reden. Leise. Im Schlafzimmer. Wo der Vater im Bett lag. Der Vater. Der Starke. Der Schöne. War nurmehr ein Schatten seiner selbst. Längst schon. War seine jugendliche Kraft aus ihm gewichen. Seine Muskulatur und sein Fettgewebe hatten sich förmlich aufgelöst. Und gaben den Blick frei. Auf sein Skelett. Welches unter der dünnen Haut hervortrat. An die Oberfläche drängte. Nun der Tod. Mit ganzer Gewalt. Bäumte sich der Vater dagegen auf. Er konnte seine Frau schließlich nicht allein zurücklassen. Mit drei kleinen Kindern. Dieser Gedanke. Und andere. Brachten ihn fast um den Verstand. Doch der Tod war gnädig. Und raubte ihm diesen. Noch bevor er seinen Körper gänzlich verschlang.
„Die Kaiserin ist ermordet worden!“, sagte Melanie. Mit zwölf Jahren. Wusste sie genau. Was dies bedeutete. Egon hingegen erahnte es. Mit seinen acht Jahren. Und mit nur vier Jahren. Blieb Gerti weitestgehend verschont. Von der gänzlichen Bedeutung dieser Worte. Deren Klang ihr jedoch genau vermittelte. Dass es nichts Gutes war. Genauso wie die ratlosen Mienen ihrer Geschwister. Und der Eltern. Im Nebenzimmer.
„Der Kaiser ist sicher sehr traurig“, murmelte Egon. Und dachte an seine Mutter. Die nebenan den kranken Vater pflegte.
„Nicht nur der Kaiser ist darob sehr traurig“, entgegnete Melanie. „Wir alle sind es.“
„Ob er wohl neu heiraten wird?“, dachte Egon laut nach.
„Ich denke nicht.“ Melanie schüttelte den Kopf. „Man kann einen lieben Menschen nicht einfach so ersetzen.“
„Ob Papá wieder gesund wird?“, rutschte es Egon nun heraus.
Augenblicklich verpasste Melanie ihm einen Tritt. Unter dem Tisch. So dass es die Kleine nicht sehen konnte.
„Aber natürlich wird er das!“, sagte sie schließlich. Und doch. Glaubte sie selbst nicht daran.
„Und wenn nicht?“
„Daran darfst du gar nicht denken!“ Melanie faltete plötzlich die Hände zusammen. „Lasset uns beten. Für Papá, daß er recht bald wieder gesund wird. Und für die Kaiserin. Daß der liebe Gott sie zu sich nimmt. Und für den Kaiser. Daß er nicht so schlimm weinen muß.“
„Und für die Kinder!“, fügte Egon hinzu.
„Ja, natürlich!“ Melanie nickte. „Auch für die beiden Kronprinzessinnen, die ihre Mutter verloren haben!“
„Die müssen sehr traurig sein.“
„Die müssen wirklich sehr traurig sein.“
Und dann falteten alle drei ihre Hände. Und beteten. Für die Kaiserin. Für den Kaiser. Und für deren Kinder. Sowohl für die beiden noch lebenden. Als auch für die beiden bereits verstorbenen. Aber auch für ihren eigenen Vater. Der sich nebenan hustend aufbäumte. Und unverständliche Worte murmelte. Mit heiserer Stimme. Mit Grabesstimme.