Читать книгу Egon Schiele. Zeit und Leben des Wiener Künstlers Egon Schiele - Patrick Karez - Страница 8

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1900-1905

(Lebensschule)

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Die Jahrhundertwende. Brachte auch für den jungen Schiele eine große Veränderung. Denn er verließ erstmals das elterliche Nest. Als Elfjähriger. Ging es mit Sack und Pack in die gut 30 Kilometer von Tulln entfernt liegende Stadt Krems. Beziehungsweise. 40 Kilometer. Per Landstraße. Oder Bahn. Da es damals in Tulln noch keine höhere Schule gab. Schickte man ihn auf das Realgymnasium in Krems. Denn alle Hoffnungen lagen nun auf dem einzigen männlichen Spross der Familie. Man wollte ihm dadurch den Weg zu einem Universitätsstudium ebnen. Doch die anfängliche Euphorie währte nicht lange. Denn dieser Start ins neue Leben erwies sich als Reinfall. In jeglicher Hinsicht. Schien Egon Schiele für eine höhere Schullaufbahn ungeeignet. Und somit auch fürs Ingenieursstudium. Welches der Vater für ihn auserkoren hatte. „Ingenieur soll er werden!“, hatte der Vater immer wieder gesagt. Es ihm förmlich eingetrichtert. „Denn der Junge soll es eines Tages besser haben als ich selbst. Intelligent ist er ja, nur faul. Und undiszipliniert. Ablenken läßt er sich, immerzu, allem voran durchs Zeichnen.“ Nun. Undiszipliniert war Egon Schiele tatsächlich. Aber nur. Was seine schulischen Fächer anbelangte. Was das Zeichnen anging. War er jedoch höchst diszipliniert. Schon als kleines Kind. Zeichnete er immerzu. Es war keine Seltenheit. Dass er ein ganzes Notizbuch mit Zeichnungen befüllte. An einem einzigen Tag. Drohte der Vater ihm. Damit der Junge sich endlich einmal auf anderes konzentriere. Auf seine schulische Laufbahn. Vor allem. „Wenn Du nicht spurst, werde ich all Deine Zeichnungen in den Ofen da werfen, hörst Du?“ Das hörte er öfter. „Wenn Du doch nur genauso viel Energie in die Mathematik stecken würdest wie in diese sinnlose Zeichnerei! Was soll nur aus Dir werden?“ Aber es war dem Jungen egal. Längst schon. Hatte er seine Bestimmung gefunden. Seine große Liebe. War nun mal das Zeichnen. Und sonst nichts anderes.

Auch die Lehrer beschwerten sich. Zunehmend. Zunächst bei ihm. Dann bei seinen Eltern. Er störe den Unterricht. Durch sein unablässiges Zeichnen. Denn Egon war hier im Paradies. Hier. Gab es Papier. Und Stifte. Und eine Tafel. Mit Kreiden. Die er während der Pause gänzlich befüllte. Mit Portraits. Seiner Mitschüler. Und mit Karikaturen. Seiner Lehrer. Das kam nicht gut an. Bei den Lehrern. Bei den Schülern. Jedoch sehr wohl. Sie mochten ihn. Diesen seltsamen Kauz. Schweigsam. Und doch humorvoll. Dem nichts entging. Was um ihn herum geschah. Vermutlich. Flüchtete er sich genau deswegen in seine eigene Welt. Die gezeichnete. Denn dort bestimmte er. Was geschah. Dort war er. Der Intendant. Nein. Gott sogar. Denn er konnte es regnen lassen. Auf dem Papier. Oder sogar schneien. Mitten im Sommer. Wenn er wollte. Konnte er Eisenbahnzüge aus dem Nichts auftauchen lassen. Und wieder verschwinden. Er konnte Menschen wiedergeben. Und sie verändern. Mit wenigen Handstrichen. Konnte er sich an einen anderen Ort versetzen. In fremde Länder sogar. Ans Meer zum Beispiel. Obwohl er es noch nie gesehen hatte. Mit eigenen Augen. War es jedoch unerheblich. Unwesentlich. Denn der Künstler erschafft. Gottgleich. Die Dinge. Auch jene. Die er nie zuvor gesehen.

In der Kunst ging es nicht nur um die reine Wiedergabe. Der Natur. Und der realen Gegebenheiten. Das begriff er schon sehr früh. Es ging um etwas anderes. Etwas Höheres. Dessen Wahrheit viel wahrer war. Viel realer. Als jene. Der Realität. Die nicht ganz so interessant war. Nicht ganz so glamourös. Zumindest. Und in der Regel. Nutzte er das Papier. Und den Stift. Um zu entfliehen. Aus dieser schnöden Welt. Wo der Vater allmählich dahinsiechte. Und immer unnahbarer wurde. Immer in sich gekehrter. Immer unfreundlicher. Doch vor allem. Immer unberechenbarer. Mit seinen Jähzornanfällen. Die sich vermutlich gegen ihn selbst richteten. In erster Linie. Weil er sich mit Syphilis infiziert hatte. Und danach seine Ehefrau angesteckt hatte. Weil deshalb drei seiner Kinder verstorben waren. Weil die anderen drei zumindest kränkelten. Und nicht gerade die robusteste Konstitution besaßen. Und dann dieser Junge! Eine wahre Pest. Mit seiner ständigen Zeichnerei. Liebte er ihn ja. Von ganzem Herzen sogar. Aber er wusste auch. Dass ihm nicht mehr allzu viel Zeit beschieden war. Auf Erden. Sollte es der Sohn einst besser haben. Als der Vater. Genau deshalb. Nahm er ihn auch so hart ran. Und schickte ihn als Elfjährigen aus dem Hause. Um zu studieren. Um zu lernen. Um ein besseres Leben zu führen. Als der Vater. Den der Sohn ebenfalls liebte. Und doch. War die Kommunikation zwischen ihnen beiden zunehmend gestört. In letzter Zeit. Schimpfte der Vater nur noch mit ihm. Wenn er ihn sah. Warf er ihm vor. Sein Leben zu vergeuden. Indem er die Ratschläge des Vaters nicht befolgte. Doch einem Künstler kann man nichts vorschreiben. Ein Künstler. Ist ein Künstler. Ist ein Künstler. Und sonst gar nichts. Da kann man machen. Was man will. Und es nützt doch nichts. Selbst wenn der Sohn die Ratschläge des Vaters befolgt. Und Bankangestellter wird. Oder Ingenieur. Und somit seiner Bestimmung nicht nachgeht. Wird er im Leben nicht glücklich. Denn er weiß. Dass es nicht sein Leben ist. Das er da lebt. Sondern jenes des Vaters. Beziehungsweise. Jenes. Welches der Vater für ihn auserkoren hat. So ist es nun mal. Immer. Zwischen Vater. Und Sohn. Ersterer will dem Jungen eine bessere Zukunft ermöglichen. Zweiterer will sich selbst verwirklichen. Und nicht die bereits ausgetretenen Pfade begehen. Die andere längst gegangen sind. Er will ein Pionier sein. Auch auf die Gefahr hin. Kläglich zu scheitern. Denn einem jungen Menschen kann man nicht vorschreiben. Oder gar erklären. Was gut ist. Oder was schlecht. Denn er muss diese Erfahrung selber machen. Und so. Verhält es sich übrigens mit der gesamten Menschheit. Dies ist der Grund. Warum es immer noch Kriege gibt. Im 21. Jahrhundert. Immer noch Hunger. Elend. Und Ungerechtigkeit. Weil der Mensch nun mal absolut nichts dazulernt. Die junge Generation. Möchte nicht auf den Erfahrungen der älteren aufbauen. Das ist nun mal der Lauf der Dinge. Sie will alles selbst entdecken. Neu entdecken. Auch wenn es nichts Neues gibt. Weder im Westen. Noch im Rest der Welt. Denn die Dinge bleiben im Grunde genommen gleich. Sie verändern sich nicht. Die Technologie verändert sich. Aber der Mensch bleibt immer derselbe. Seit vielen tausend Jahren schon.

Viel hätte er also lernen können. Unter Umständen. Auch von der alten Witwe. Bei der man ihn in Krems untergebracht hatte. Eine völlig fremde Frau. Für ihn. Bedeutete es also noch mehr Tod. Noch mehr körperlichen Verfall. Und noch mehr Siechtum. In seinem jungen Leben. Das gerade erst aufknospte. Und so kurz vor der Blüte stand. Hielt er dieses ständige Umfeld aus Tod und Siechtum einfach nicht mehr aus. Daheim der Vater. Hier die Witwe. Die sich in ihren schwarzen Kleidern durch die Wohnung schleppte. Immerzu an ihm herummäkelnd. „Die Hände nicht gewaschen, das Haar zerzaust, wie sieht er denn nur schon wieder aus?“ Das waren ganz andere Töne. Hier in Krems. Als daheim. In Tulln. Bei der lieben Mutter. Der fürsorglichen. Und auch ein wenig gleichgültigen. Zumindest. Was ihn anbelangte. Denn der jüngsten Tochter galt nun das ganze Augenmerk. Natürlich. War es der Mutter nicht egal. Ob sein Haar zerzaust war. Oder die Hände nicht gewaschen. Doch sie drangsalierte ihn nicht damit. Die Witwe hingegen schon. Sie tat es sehr wohl. Und das. Obwohl ihre Augen schlecht waren. Viel zu schlecht. Um damit wirklich sehen zu können. Ob sein Haar nun wirklich zerzaust war. Oder seine Hände schmutzig. Sie ging einfach davon aus. Weil ja das Haar aller junger Männer zerzaust ist. Und deren Hände immer schmutzig. Denn die Jugend taugte nichts. Früher. War alles besser gewesen. Aber die Jungend von heute. Die undisziplinierte. Die unhöfliche. Die vorlaute. Die konnte man eh vergessen. Die Witwe kassierte ihr Geld. Und nörgelte dennoch herum. Auch ihr ging die ständige Zeichnerei des Jungen auf die Nerven. Lernen solle er. Das war der Grundtenor. Bei allen Erwachsenen. Das Zeichnen wurde als Tätigkeit nicht ernst genommen. Es wurde abgetan. Als Spielerei. Als eine sinnlose Beschäftigung. Und Ablenkung. Für kleine Kinder. Aber nicht für einen jungen Mann. Der ja nun das Gymnasium besuchte. Der sollte gefälligst Latein pauken. Und sich besser in Algebra üben. Als in Schattenwürfen. Und in perspektivischer Darstellung. Das war nämlich brotlos. Das hatte keine Zukunft. Damals. Wie heute. Benötigt die Gesellschaft keine Künstler. Sie stehen ganz unten. In der Hierarchie. Diese ewigen Versager. Diese ewigen Arbeitsverweigerer. Suspekt waren sie. Schon immer. Und doch. Ist eine Gesellschaft nichts wert. Ohne Künstler. Die nachdenken. Und kritisieren. Was die anderen nicht wagen. Die ihrer täglichen Beschäftigung nachgehen. Wie Schafe. Die vom System zeitgerecht eingefangen wurden. Und die es niemals riskieren würden. Dieses System zu kritisieren. Künstler waren immer schon Kritiker vorherrschender Systeme. Revolutionäre. Aufrührer. Aufwiegler. Sie waren unbequem. Schon immer. Aber umso mehr. Um die Jahrhundertwende. Wo die Künstler plötzlich eine Eigenständigkeit entwickelten. Eine Eigendynamik. Die den herrschenden Klassen suspekt war. Also dem Staat. Dem Bürgertum. Den Eltern. Und den alten Witwen. Die ebenjene beherbergen mussten.

Egon Schiele hatte schon sehr früh seinen eigenen Kopf. Er war nicht unbedingt frech. Eher zurückhaltend. Und schweigsam. Doch er machte durchaus seinen Mund auf. Wenn ihm etwas nicht passte. Beziehungsweise. Widersetzte er sich. Er entzog sich. Er nahm sich heraus. Und nahm sich seine Freiheiten. Indem er Dinge einfach nicht tat. Die man ihm vorschrieb. Und deren Nutzen er anzweifelte. Da er ihn nicht erkennen konnte. Wozu eigentlich das Haar kämmen? Bin ich ein schlechterer Mensch? Wenn ich es nicht tue? Warum eigentlich Schuhe tragen? Auf einer Wiese? Wo mich ohnehin niemand sieht? Warum eigentlich Latein pauken? Und Algebra? Wenn ich doch ohnehin Zeichner werden möchte? Und es niemals wieder in meinem Leben brauchen werde? Warum die Hände über die Bettdecke legen? Wenn es doch so viel Spaß macht. Wenn sie darunter liegen. Und nicht nur das. War immer schon gefährlich. Für eine Gesellschaft. Und je starrer diese ist. Je strenger. Desto gefährlicher. Der Künstler. Beziehungsweise. Der Intellektuelle. Der sich dagegen auflehnt. Auch wenn er es nur mit seinen Fragen tut. Die unbequem sind. Provokant. Und gefährlich. Weil andere es ihm ja nachtun könnten.

Die Strafe. Folgte. Auf dem Fuße. Die alte Witwe verlautbarte. Dass sie es nicht mehr aushalten könne. Mit diesem Gfrast. Mit diesem Satansbraten. Der nicht parierte. Sondern ohnehin nur das tat. Was er wollte. Trotz aller Ermahnungen. Und Androhungen. Wie oft. Hatte sie ihn ohne Abendessen ins Bett geschickt. Aber genützt. Hatte es gar nichts. In diesen Grundtenor. In diesen Klagechor. Stimmte nun auch der Lehrkörper ein. Der Junge sei ein schlechter Schüler. Er habe keine Disziplin. Er sei ein Störenfried. Unverbesserlich. Uneinsichtig. Unnachgiebig. Weshalb man davon absehe. Ihn weiter zu unterrichten. Da er die gesamte Klasse aufwiegele. Und den Eltern anrate. Ihn von dieser Schule zu nehmen. Wo kein Platz sei. Für Ungehorsame. Für Revolutionäre. Für Aufrührer. Und Aufwiegler.

Kein halbes Jahr also. Nachdem man ihn nach Krems geschickt hatte. In der Mitte des Schuljahres. Musste man ihn wieder zurücknehmen. Postwendend. Sozusagen. Regte sich der Vater auf. Und die Mutter jammerte. „Du verbaust Dir Deine ganze Zukunft! So wird das nichts mit Dir. Und überhaupt: Wie Du wieder aussiehst!“ Da saß er also wieder. In Tulln. Wo er nun das Jahr mit Hilfe eines Privatlehrers abschloss. Daheim. Im elterlichen Nest. Wie als ob nichts gewesen wäre. Außer Spesen. Nichts gewesen. Und doch. Hatte sich etwas verändert. In ihm. Wusste er nun noch genauer. Was er nicht wollte. Keine Bevormundung. Durch Alte. Kein Terror. Durch Spießer. Keine Gehirnwäsche. Durch Angepasste. Wäre Egon Schiele in den späten 1950’er Jahren geboren worden. In Amerika. So hätte er sich in seiner Jugend vermutlich nach Woodstock abgesetzt. Um Bäume zu umarmen. Und um mit den Wölfen zu tanzen. Doch Woodstock war immer schon. Und überall. Jede Jugendgeneration. Lehnt sich gegen die der Eltern auf. Immer schon. Wie im Anfang. So auch jetzt. Und alle Zeit. Und in Ewigkeit. Amen.

8

„Egon!“ Die Mutter betrat das Zimmer mit ernster Miene. „Geh bitte sofort herüber in die Küche. Dein Vater wartet, er möchte mit Dir reden!“

Egon stöhnte. Der Vater. Reden. Das verhieß nichts Gutes. Widerwillig klappte er den Skizzenblock zu. Und schlurfte in die Küche.

„Mein Junge.“ Adolf Schiele saß mit versteinertem Gesicht am Küchentisch. „Dank meiner Position und meiner zahlreichen professionellen Contacte ist es mir heute gelungen, eine neue Schule für Dich zu finden.“

Egon schwieg. Und erschauderte innerlich. Das Thema war also offensichtlich immer noch nicht vom Tisch.

„Du hast Glück im Unglück – das Kaiserliche und Königliche Nieder-Österreichische Landes-Real- und Ober-Gymnasium in Klosterneuburg, welches heuer erst gegründet wurde, hat sich bereit erklärt, Dir eine weitere Chance zu geben. Und dies ob der catastrophalen Ergebnisse, die Du drüben in Krems erzielt hast.“

Der Junge blickte betreten zu Boden.

„Und dabei waren es ja nicht einmal Ergebnisse, sondern ein Versagen auf ganzer Linie!“

„Aber Vater!“, wagte der Junge nun den Aufstand. „Wozu ein Gymnasium? Es geht doch schließlich auch so, hier im Hause, mit dem Privatlehrer! Wozu soll ich überhaupt auf ein Gymnasium gehen, wenn ich sowieso nicht …?“

„Halte Deinen Mund!“, fuhr der Vater ihn barsch an. „Du hast ja keine Ahnung, was Du da sagst! Wie sollst Du jemals an der Technischen Hochschule studieren können, wenn Du nicht einmal Deine Matura hast!?“

„Aber ich will doch gar nicht an …“

„Du wirst Ingenieur. Und damit basta! Hast Du das verstanden?“

Der Sohn erwiderte nichts. Er hatte es sehr wohl verstanden. Und doch konnte er einfach nicht verstehen. Warum er gegen seinen Willen zunächst ein Gymnasium besuchen musste. Dann ein anderes. Und schließlich sogar eine Technische Hochschule. Um Ingenieur zu werden. Was er gar nicht wollte. Was ihn gar nicht interessierte. Es war nicht sein Wunsch. Es war der Wunsch seines Vaters. Aber so war das damals nun mal. Für eigene Wünsche gab es keinen Platz. Zumal. Wenn man gerade einmal zwölf Jahre alt geworden war. Und bereits ein Jahr verloren hatte. Von jenem Leben. Das der Vater für einen auserkoren hatte.

„Du wirst mir eines Tages noch dafür danken!“, sagte der Vater. „Es sind schwere Zeiten. Wir leben nicht mehr im Neunzehnten Jahrhundert! Wir schreiben bereits das Jahr 1902. Verstehst Du? Es sind andere Zeiten heutzutage! Allerorten verlangt man ein Diplom, ein Studium, die Matura – man will Fachkräfte ausbilden! Die Eisenbahn ist die Zukunft der Menschheit! Es gibt gar keinen sichereren Arbeitsplatz als bei der Kaiserlichen und Königlichen Staats-Bahn! Und Deine Zeichnerei kannst Du Dir dann ja ebenfalls zu Nutzen machen, als Ingenieur! Da kannst Du dann Locomotiven zeichnen – und Viaducte! Das zeichnest Du doch ohnehin so oft! Nein, was sage ich da: Immerzu!“

„Nicht mehr so oft.“

„Wie bitte?“

„Nun, in Krems habe ich begonnen, meine Mitschüler zu zeichnen. Und die Lehrer. Und die schönen Kremser Häuser ebenfalls. Das Stadttor zum Beispiel, das unweit meines …

„Grundgütiger!“ Der Vater schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Schöne Kremser Häuser!“, äffte er seinen Sohn nach. „Aber das ist doch bitte kein Beruf!? Oder willst Du etwa davon leben, eine ganze Familie ernähren, indem Du schöne Kremser Häuser zeichnest? Wach doch auf! Das Leben ist kein Märchen! Sieh mich an!“

Der Junge zog es vor. Auf den Küchenboden zu schauen. Der Vater war nurmehr ein Schatten seiner selbst. Und es machte ihm Angst.

„Du mußt mir eines versprechen, mein Sohn!“, sagte der Vater, als ob er die Gedanken seines Sohnes erraten hätte. „Du mußt das Gymnasium abschließen. Du mußt Deine Matura machen. Egal, was komme! Ich könnte den Gedanken nicht ertragen, Dich irgendwo auf der Strecke geblieben wissend, in Armut und in Elend lebend, am Hungertuche nagend, bitte mach Deinem alten Vater keine Schande. Versprich es mir!“

„Ja, ja!“, sagte der Sohn. Und es klang trotzig. Tatsächlich. Hatte er es nur gesagt. Um seine Ruhe zu haben. Um sich dieser Diskussion nicht weiter aussetzen zu müssen. Und um gleich wieder herübergehen zu können. Um zu zeichnen.

Doch es half alles nichts. Nur wenige Wochen später. Ging es mit Sack und Pack nach Klosterneuburg. Beziehungsweise. Nach Kloburg. Wie Egon Schiele es verächtlich nannte. Letztes Jahr hatte man ihn noch nach Krems schicken müssen. Weil dieses Gymnasium in Klosterneuburg noch gar nicht existierte. Es wurde erst heuer eröffnet. Weshalb Egon Schiele also zum allerersten Jahrgang gehörte. Im Herbst 1902. Begann also ein weiterer neuer Lebensabschnitt. Für den erst Zwölfjährigen. Und es wurde nicht besser. Das nagelneue Landes-Real- und Obergymnasium in Klosterneuburg lag zwar nur halb so weit von seinem Elternhause in Tulln gelegen. Als jenes in Krems. Nämlich nur knapp 20 Kilometer. Und doch stieß er auch hier wieder auf exakt die gleichen Probleme. Wie in Krems. Zum einen. Beschwerten sich auch dort die Lehrer. Dass der Junge ein schlechter Schüler sei. Und den Unterricht permanent störe. Allem voran. Durch sein unablässiges Zeichnen. Ein großes Problem. Für Egon Schiele. Und ein Problem. In Bezug auf das ganze Schulsystem6. Im Allgemeinen. Werden dort alle Kinder in einen Topf geworfen. Auch heute noch. Müssen sie alle dasselbe lernen. Und dieselben guten Resultate erbringen. Ganz egal. Ob sie es später auch wirklich brauchen werden. Oder nicht. Für ihre zukünftige Karriere. Ist man nicht offen. Noch nie. Wurden gezielt Spezialisten ausgebildet. Und allzu oft. Gingen dadurch herausragende Talente verloren. Wurden gleich im Keime erstickt. In einer Art Bildungskommunismus. Der exakt dieselbe Grundlage schaffen möchte. Für alle. Ganz egal. Ob sie nun eher naturwissenschaftlich orientiert sind. Oder sprachlich begabt. Oder gar musisch-literarisch. Denn wozu soll ein Geigenvirtuose Algebra pauken? Wozu soll ein angehender Chemiker deutschen Minnesang rezitieren können? Weshalb soll ein angehender Mathematiker sich mit Latein herumplagen? Warum soll ein angehender Spitzensportler Gedichte interpretieren können? Wozu soll ein angehender Graphiker die Vorkommen an Bodenschätzen in afrikanischen oder asiatischen Ländern auswendig lernen? Nicht nur. Dass er dadurch wichtige Zeit verliert. Auch verliert er oft dabei. Die Lust. An seiner eigentlichen Bestimmung. Denn die schlechten Noten. Die er nun mal in all den für seine spätere Laufbahn unwesentlichen Fächern kassiert. Drücken ihm. Aufs Gemüt. Und schlagen sich nieder. Im Selbstwertgefühl. Was oftmals dazu führt. Dass gar nichts aus ihm wird. Weder ein Geigenvirtuose. Noch ein Experte in Algebra. Weder ein Chemiker. Noch ein Experte in deutschem Minnesang. Weder ein Mathematiker. Noch ein Altphilologe. Weder ein Spitzensportler. Noch ein Germanist. Weder ein Graphiker. Noch ein Geologe. Man weiß dies. Hinlänglich. Auch an oberster Stelle. Und doch. Rückt man nicht ab. Seit Jahrhunderten schon. Von diesem blinden Einheitsbrei. Mit dem alle Schüler gleichermaßen gefüttert werden. Immerhin. Nahm man zu Egon Schieles Zeit durchaus noch Genies aus den Klassen heraus. Um sie zu Fachkräften auszubilden. Zu Geigenvirtuosen. Zu Pianisten. Zu Graphikern. Zu Malern. Denn die Gesellschaft hatte damals noch Platz. Für die schönen Künste. Sie genossen einen hohen Stellenwert. Allem voran. Im späten Neunzehnten Jahrhundert. Und um die Jahrhundertwende. Doch heute. Da funktioniert dies paradoxerweise nurmehr in kommunistischen Regimen. Dort holt man junge Talente durchaus heraus. Aus der Schule. Um sie zu Spitzensportlern auszubilden. Oder zu Geigenvirtuosen. Doch in der sogenannten westlichen Welt. Der zivilisierten. Und demokratischen. Gerade dort. Herrscht eine regelrechte kommunistische Diktatur in den Schulen. Denn man unterdrückt dort die einseitig ausgeprägten Talente. Man zwingt sie. Den gleichen Stoff zu lernen. Wie all die anderen. Wie der Durchschnitt eben. Durchschnittswissen. Durchschnittsbildung. Für ein Durchschnittsleben. In diesem Punkt. Unterscheidet sich die Demokratie kaum vom Kommunismus. So verrückt dies auch klingen mag. Fördert ein kommunistisches Regime sogar noch eher seine herausragenden Talente. Als die Demokratie. Ein Paradoxon. Wie so oft. Wenn der Staat alle Bürger in einen Topf wirft. Alle Bürger gleichschaltet. Oder ihnen die gleiche Grundlage schaffen möchte. Das Ergebnis ist immer dasselbe: Mittelmaß. Denn kein Mensch ist gleich.

Gleiche Voraussetzungen für alle! Gleiche Bildungschancen für alle! Ein Paradoxon. Ein Oxymoron. Im Grunde. Denn kein Mensch ist gleich. Schon im Augenblicke seiner Geburt nicht. Beziehungsweise. Bereits zuvor nicht. Ob man es nun Chancengleichheit nennt. Für die Massen. Oder Gleichschaltung. Der Massen. Beides. Ist eine gleichermaßen dumme Parole. Die leider nicht nur auf den Kommunismus anwendbar ist. Sondern auch auf die Demokratie. Denn auch ein gut gemeinter Zwang. Ist ein Zwang. Und ermöglicht keine Freiheit des Individuums. Und somit auch keine wahre Freiheit. Der Gesellschaft. Ein Problem. Sowohl des Kommunismus‘. Als auch der Demokratie. Denn beide politischen Ideologien beruhen auf Gleichschaltung. Des Individuums. In einer Monarchie jedoch. Gibt es durchaus Unterschiede. Standesunterschiede zumindest. Was auf den ersten Blick als verwerflich erscheint. Und rigoros abgetan wird. Birgt doch auch eine Chance. Nämlich für eine Förderung. Und Entwicklung. Der Ungleichheit. Ergo einer Elite. Die keinem System schaden kann. Ganz im Gegenteil sogar.

Und so kam es. In Österreich. Als es noch eine Monarchie war. Dass zum Beispiel Gustav Klimt von der Schule genommen wurde. Als Vierzehnjähriger. Um Kunst studieren zu können. Und zwar nur Kunst. Und sonst gar nichts. Denn es war seine Bestimmung. Und so kam es auch. In Österreich. Als es noch eine Monarchie war. Dass zum Beispiel Egon Schiele von der Schule genommen wurde. Als Sechzehnjähriger. Um Kunst studieren zu können. Und zwar nur Kunst. Und sonst gar nichts. Denn es war seine Bestimmung. Heutzutage wundert man sich. Dass es im Neunzehnten Jahrhundert und um die Jahrhundertwende nur so wimmelte. Vor Genies. Bei uns. Ganz egal. Ob Maler. Graphiker. Bildhauer. Musiker. Komponisten. Literaten. Dichter. Schriftsteller. Philosophen. Denn die Menschen waren damals mit Sicherheit nicht intelligenter oder begabter als wir. Heute. Aber das damalige politische System beinhaltete durchaus den Glauben. An die Ungleichheit. An eine Elite. Sei es standesgemäß. Oder durch Bildung. Durch Intelligenz. Oder Talent. Ein großer Vorteil. Gegenüber allen anderen politischen Formen. Die der Mensch nach Abschaffung der Monarchie ausprobiert hat. Denn kein Mensch ist gleich. Und er wird es auch niemals sein.

Doch der Junge fühlte sich nicht nur bezüglich des Schulsystems ungeeignet. Ungewollt. Und ungeliebt. Fühlte er sich auch. Von seiner eigenen Familie. Von seinen eigenen Verwandten. Die ihn auch hier nicht haben wollten. Nachdem man ihm bereits in Krems die Tür vor der Nase zugeschlagen hatte. Tat man hier das gleiche. In Klosterneuburg. Wo ein Verwandter der Schieles ein Haus besaß. Leopold Czihaczek7. Der Ehemann. Der Schwester. Des Vaters. Von Egon Schiele. Also der Schwager. Desselben. Und somit Egon Schieles angeheirateter Onkel. Und Taufpate. Redete sich heraus. Er könne sich nicht um den Jungen kümmern. Da er beruflich zumeist in Wien sei. Und ein Junge ohne permanente Aufsicht. Das sei wie eine tickende Zeitbombe. Eine Gefahr. Für sich selbst. Und für die gesamte Umwelt. Also musste der Junge erneut bei Fremden unterkommen. Was ihm aufs Gemüt schlug. Denn er besaß eine starke Bindung. Zu seiner Mutter. Ein Muttersöhnchen. War er nicht gerade. Aber sehr sensibel. Und auf die Mutter fixiert. Die er ständig beschützen zu müssen meinte. Vor der Unbill. Des Lebens. Vor dem Siechtum. Ihres Gatten. Und seines Vaters. Der ihn zunächst bei einem Bekannten unterbringen konnte. Bei einem gewissen Leopold Berger. Einem Bürgerschuldirektor. Streng. Und pedantisch. Zudem ein wenig frustriert. Per naturam. Trocken. Und fad. Geradezu vertrocknet. Und verdorrt. Sowohl äußerlich. Als auch innerlich. Ausgebrannt. Und ausgehöhlt. Die Nerven. Im Eimer. Alle Hoffnungen. Begraben. Der Glaube. Verloren. An die Jugend. Längst schon. Wie alle Lehrer. Berufsbedingt. Sozusagen. Eine Berufskrankheit.

Da das Ganze nicht lange gut ging. Quartierte man den Jungen dort bald wieder aus. Und schickte ihn zu einem Schmiedemeister. Namens Johann Gierlinger. Einem Klotz. Von Mann. Grob. Unsensibel. Verschwitzt. Verschmutzt. Verrußt. Verdrossen. Und heillos überfordert. Mit dem Jungen. Mit diesem Hänfling. Mit dieser halben Portion. Für die er keinerlei Verwendung hatte. Geschweige denn Verständnis. Und deren künstlerische Ambitionen ihm fremd waren. Unpraktisch. Erschienen sie ihm. Genauso. Wie sein neuer Untermieter. Sein Schützling. Wider Willen. Dieses Kuckucksei. Im eigenen Nest. Ein faules. Noch dazu. Das man ihm einfach untergeschoben hatte. Untergejubelt. Eine wahre Mogelpackung. Denn wo braver Junge draufstand. War einfach kein braver Junge drin. Wie er fand. Musste ein Mann guttun. Und fleißig sein. Im Schweiße. Seines Angesichts. Und im Angesichte. Gottes. War nur harte Arbeit. Ehrliche Arbeit. Alles andere. War ihm suspekt. Mit allem anderen. Konnte er nichts anfangen. Genauso wie mit diesem Jungen. Blass. Dünn. Nein. Mager. Ausgezehrt. So viel man auch in ihn hineinstopfte. Mit zwei linken Händen. Wie er fand. Viel zu dünn. Viel zu fein. Viel zu verweichlicht. Für harte Arbeit. Die einzige Arbeit. Die er für rechtschaffen befand. So konnte er mit diesem Jungen einfach nichts anfangen. Denn natürlich. Hätte er sich gewünscht. Dass der Junge ebenfalls mit anpackt. Im Betrieb. Und sich somit erkenntlich zeigt. Für die Gastfreundschaft. Und sich nützlich macht. Denn mit hübschen Zeichnungen konnte der Schmiedemeister nichts anfangen. Die nützten ihm rein gar nichts.

Für den jungen Schiele entpuppte sich dies alles. Bald schon. Zu einem wahren Horrortrip. Abgesehen davon. Fand er Klosterneuburg fad. Viel zu klein. Und provinziell. Krems war wenigstens noch eine richtige Stadt gewesen. Und eine wunderschöne. Obendrein. War er ja für Schönheit durchaus empfänglich. Und zwar von Kindesbeinen an. Kannte er Böhmisch Krumau. Den Geburtsort. Seiner Mutter. Eine der schönsten Städte. Überhaupt. Die er in Krems wiedergefunden hatte. In groben Zügen. Am westlichen Stadttor. Aus dem Mittelalter. In den gotischen Hallenkirchen. Und den gebeugten Häusern. Aus der Renaissance. Mit ihren schwarzweißen Sgrafitti. Dekorative Kratzarbeiten. Im zweifarbigen Verputz. Die man in Südböhmen allerorts sah. Sowie in der Wachau. Also auch in Krems. Und in Dürnstein. Sowie in Stein. An der Donau. Das westlich an Krems anschloss. Einem der zauberhaftesten Orte. Überhaupt. Doch hier. In Kloburg. Da gab es nur dieses monströse Kloster. Das nicht einmal vollendet worden war. In der Barockzeit. Und sonst gar nichts.

Er fühlte sich gefangen. Wie ein Tier. Im Käfig. Stieß er. Und eckte er. Überall an. Eine kleine Mentalität. Ist pures Gift. Für einen angehenden Künstler. Der sich nach Großem sehnt. Nach Schönem. Wahrem. Und Gutem. Um es mit Goethe zu sagen. Nach jenen Dingen. Nach jener Kraft. Welche die Welt. Im Innersten. Zusammenhält. Doch dafür gab es hier keinen Platz. In Klosterneuburg. Bei den Einwohnern nicht. Bei Leopold Berger nicht. Bei Johann Gierlinger nicht. Auf dem Gymnasium nicht. Wo seine schulischen Leistungen sich nicht verbesserten. Ganz im Gegenteil sogar. Denn am Ende musste er wegen seiner schlechten schulischen Leistungen sogar ein Jahr wiederholen. Sitzen bleiben. Hängen bleiben. Eine Ehrenrunde drehen. Wie man es damals schon scherzhaft unter Schülern nannte. Aber zu Scherzen ist einem Sitzenbleiber wohl kaum zumute. Er empfindet es allenfalls als peinlich. Als erniedrigend. Und demütigend. Damals. Wie heute. Ist es überdies nicht wirklich pädagogisch wertvoll. In der Regel. Macht es einen schlechten Schüler. Zu keinem besseren. Sondern ganz im Gegenteil. Sitzenbleiben. Sollten vielmehr die Lehrer. Sie allein. Sind schuld. Wenn ihre Schützlinge durchfallen. Denn entweder haben sie ihren Job nicht richtig gemacht. Oder die betreffenden Schüler sind einfach zu dumm. Und dann gehören sie auch nicht aufs Gymnasium.

Dumm war Egon Schiele keineswegs. Aber er lebte nun mal in seiner eigenen Welt. Schon von Kindesbeinen an. Vertrug er Dominanz und Autorität nur sehr schlecht. Beziehungsweise. Gar nicht. Und doch. Schien diese ihn überallhin zu verfolgen. Zuerst daheim. Beim Vater. Dann in Krems. Bei der Witwe. Und den Lehrern. Jetzt in Klosterneuburg. Bei den Lehrern. Bei Leopold Berger. Bei Johann Gierlinger. Und bei Leopold Czihaczek. Seinem Onkel. Wo er anstandshalber seine Aufwartung machen musste. Sogar regelmäßig. Zum Essen eingeladen wurde. In einem steifen Umfeld. Bei einem steifen Mann. Wohlhabend. Und streng. Diszipliniert. Und fleißig. Humorlos. Und zielstrebig. Und gerade deshalb wohlhabend. Denn von nichts. Kommt nichts. Und das musste der Junge sich demnach auch immer wieder anhören. Im Prinzip. Jedes Mal. Wenn er zum Essen erschien. Beziehungsweise. Erscheinen musste. In seinem jungen Leben. Das gänzlich aus Zwängen zu bestehen schien. Und aus Verpflichtungen. An die ihn sein Onkel regelmäßig erinnerte. Weshalb Egon Schiele ihn nicht mochte. Und doch. Musste er immer wieder zum Essen hingehen. Mit Bauchschmerzen. Und verschwitzten Handflächen. Denn mit diesem Czihaczek war nicht zu spaßen. Ingenieur. Czihaczek. Bitte schön. Verstand keinen Spaß. Und verfügte über keinerlei Humor. Ein Bahnbeamter. Wie sein eigener Vater. Nur um einiges trockener. Stammte er aus einer einfachen Beamtenfamilie. Und schlug ebenfalls eine Laufbahn ein. Als Ingenieur. Und Oberinspektor. Der K.u.K. Staatsbahnen. Der Kaiser-Ferdinands-Nordbahn. Um genau zu sein. Wurde Leopold Czihaczek zu einem relativ wohlhabenden Mann. Erst nachdem er die Schwester von Egon Schieles Vater geehelicht hatte. Marie Leopoldine Schiele8. Brachte einiges Geld in die Ehe mit. Was ihr nicht viel brachte. Denn die Ehe der Czihaczeks blieb kinderlos. Weshalb beide keine Ahnung hatten. Was es bedeutet. Einen Jungen großzuziehen. Zumal einen. Von diesem Kaliber. Der nicht folgsam war. Der es einfach nicht gewöhnt war. Zu parieren. Und zu gehorchen. Wie ein Soldat. Beziehungsweise. Wie ein Beamter. Beobachtete Leopold Czihaczek sein Mündel ganz genau. Und unentwegt. Waren seine Blicke auf ihn gerichtet. Mit Argusaugen. Verfolgte er. Eine jede seiner Bewegungen. Still. Und lauernd. Wie ein Luchs. Auf der Pirsch. Was durchaus passend war. Was seinen Namen anbelangt. Czihaczek. Kam von Číháček. Ein eingedeutschter böhmischer Name. Číháček. Kommt von číhat. Was „lauern“ bedeutet. Lauern. Belauern. Auflauern. Lauschen. Luchsen. Lugen. Nach Beute lugen. Auf der Lauer sein. Immer auf der Hut. Vor den Fehlern. Und Schwächen. Der anderen. Auf Tschechisch. War Číhák also ein Belauernder. Ein stiller Beobachter. Ein Raubtier. Versteckt. Und unsichtbar. Für andere. Und dieser Číháček. Der kleine Belauernde. Mit Diminutiv-Suffix. Der machte seinem Namen alle Ehre. Wie der junge Egon Schiele fand. So ein richtig übler kleiner Spießer halt.

„Soso, der junge Herr will also Künstler werden …“ So begannen alle Gespräche. Bei Tisch. Gab es gar kein anderes Thema. Und nicht nur dort. Pflegte er den Jungen stets als „der Herr Künstler“ zu bezeichnen. Was abschätzig klang. Und auch so gemeint war. Ein Schimpfwort. Geradezu. Und gleichzusetzten. Mit Träumer. Also Taugenichts. Tunichtgut. Und Nichtsnutz.

„Genauso wie dieser Klimt.“ Kam dann immer wieder. Im nächsten Satz. Beziehungsweise. „Wie dieser verrückte Klimt.“ Denn Klimt. War geradezu ein Schimpfwort. In Wien. In jenen Tagen. Nachdem er sich vor fünf Jahren abgespalten hatte. Mit seiner Secession. Und seither nur noch für Skandale sorgte. Allem voran. Mit seinen Fakultätsbildern. Mit diesem pornographischen Dreck. Für die Wiener Universität. Wo sie an der Decke hätten angebracht werden sollen. In der großen Aula. Und wo bereits abzusehen war. Dass dies niemals geschehen würde.

„Wo kämen wir da hin?“, echauffierte sich auch der Herr Ingenieur.

Der Untergang des Abendlandes. Wäre das. Ein Niedergang. Der Sitte. Und der Moral. Überall wogende Brüste. Und bebende Schenkel. Und sogar Nackte. Schwangere. Nein. Pfui. Gack. Zumal in einem derart ehrenwerten Umfeld. Bei derart ehrenwerten Sujets. Die geradezu heilig waren. Unantastbar. Wie die Philosophie. Ausgerechnet. Und die Medizin. Sowie die Jurisprudenz. Die Theologie hingegen. Hatte man ihm gerade noch so eben entreißen können. Diesem verrückten Klimt. Um sie dem Franz Matsch zu übertragen. Dem Braven. Dem Schönen. Dem Wahren. Dem Guten. Klimts ehemaligem Associé nämlich. Mit welchem jener sich inzwischen verkracht hatte. Dieser Widerling. Dieser Lüstling. Dieser Aufrührer. Dieser Umstürzler9.

„Und so willst Du also werden?“, fragte Leopold Czihaczek. Alias Leipold Číháček. Lauernd. Dieser Belauerer.

Egon schwieg. Und doch. Öffnete sich soeben eine Tür. Während Leopold Czihaczek ein Fenster schloss. ‚Wogende Brüste. Bebende Schenkel. Und sogar Nackte. Schwangere.‘ Heureka! Genau das war es. Alea iacta est. Der Junge wusste nun. Wohin er musste. Was seine Bestimmung war. Er würde seinen ständigen Protest zu Papier bringen. Und ihn zum Beruf machen. Mehr noch. Als dieser Klimt. Von dem man nur Schlechtes hörte. In jenen Tagen. Was der konnte. Konnte er schon lange. Vermutlich. Sogar noch besser. Noch skandalöser. Noch abstoßender. Noch revolutionärer. Das schrieb er sich hinter seine Ohren. Und es sollte sein gesamtes zukünftiges Leben bestimmen.

9

Zusätzlich zu seinen persönlichen Lebensumständen. Begann sich nun auch noch der Gesundheitszustand seines Vaters dramatisch zu verschlechtern. Die Syphilis. Auch Lues genannt. Ist eine tückische Krankheit. Und verläuft immer tödlich. Wenn sie unbehandelt bleibt. Und dem war damals durchweg so. Bis 1910. Als Paul Ehrlich das Arsphenamin einführte. Das zuerst entdeckte Antibiotikum der Geschichte. Gefolgt vom Sulfonamid. Im Jahre 1935. Doch bis zum Jahre 1942. Sollte es noch dauern. Bis der erste Mensch mit Penicillin behandelt werden konnte. Weshalb es vorher keine Rettung gab. Für Syphiliskranke. Sowie für unzählige Opfer. Anderweitiger schwerer Erkrankungen.

Tückisch ist die Krankheit deshalb. Weil sie in verschiedenen Stadien verläuft. Wobei sie oft übersehen wird. Zu Anfang. In ihrem Primärstadium. Wo lediglich ein gerötetes Geschwür erscheint. An genau jener Körperstelle. An der die Bakterien eingedrungen sind. In die Haut. Oder in die Schleimhaut. Jedoch nicht sofort. Sondern erst drei bis vier Wochen nach dem Vorfall. Weshalb der Infizierte diese Symptome oftmals gar nicht mit dem Moment der Ansteckung verbindet. Zumal jene Geschwüre kaum schmerzen. Zumeist sogar gar nicht. Fatalerweise. Heilen sie zudem auch unbehandelt von selbst wieder ab. Bereits nach vier bis sechs Wochen. Weshalb viele Infizierte ihre schwere Erkrankung häufig gar nicht als solche erkennen.

Ungefähr acht Wochen nach der Ansteckung. Tritt bereits das Sekundärstadium ein. Wobei es oft zu grippeartigen Beschwerden kommt. Wie Fieber. Kopfschmerzen. Gliederschmerzen. Abgeschlagenheit. Geschwollenen Lymphknoten. Doch auch hier ahnt der Infizierte oftmals nicht die Schwere seiner Erkrankung. Es könnte sich ja um eine hundsgemeine Grippe handeln. Bei den meisten Erkrankten. Erscheint schließlich ein Hautausschlag. Ganze zehn Wochen nach der Ansteckung. Weshalb man auch dies oft nicht mit dem Moment der Infektion verbindet. Zumal es sich oft nur um blass rosafarbene Flecken handelt. Leicht zu übersehen. Fatalerweise. Und typischerweise. Sind all diese Hautausschläge der Syphilis kaum oder gar nicht mit Schmerzen oder gar mit Juckreiz verbunden. Und selbst wenn einigen Erkrankten das Haar ausfällt. Kommen viele nicht darauf. Dass es die Syphilis sein könnte.

Zudem heilen sämtliche Ausschläge nach rund vier Monaten wieder ab. Ganz von allein. Und selbst wenn sie unbehandelt in verschiedenen Zeitabständen wiederkehren. Verbinden die Erkrankten sie längst nicht mehr mit dem Moment der Ansteckung. Der dann oftmals schon viele Monate zurückliegt. Sogar viele Jahre. Denn nun kann die Syphilis bei vielen Erkrankten zu einem Stillstand kommen. Freilich befinden die Erreger sich immer noch im Körper. Und der Infizierte ist immer noch ansteckend. In dieser Latenzphase. Die viele Jahre anhalten kann. Bis sich schließlich die nächste Phase ankündigt. Die sogenannte Spätsyphilis.

Dieses Tertiärstadium. Tritt erst drei bis fünf Jahre nach dem Sekundärstadium ein. Inzwischen ist nicht mehr nur die Eintrittspforte befallen. Sowie die Haut. Und die Lymphknoten. Denn die Erreger haben inzwischen den gesamten Körper befallen. Auch die inneren Organe. Adern. Blutgefäße. Luftwege. Muskeln. Knochen. Rachen. Speiseröhre. Magen. Leber. Und so weiter. Und so fort. Bilden sich verhärtete Knoten. Im Körper. Und auf dem Körper. Mitunter sogar große Geschwüre. Wobei der Körper förmlich aufgefressen wird. Von der Krankheit. Die jetzt wütet. Wie die Pest. Unter Umständen. Kann sich am Gaumen ein ganzes Loch auftun. Das bis zur Nasenhöhle reicht. Der ganze Nasenrücken kann einfallen. Noch ganze dreißig Jahre nach der Infektion. Kann zum Beispiel ein Knoten an der Hauptschlagader das Gewebe so rissig gemacht haben. Dass der Betroffene plötzlich innerlich verblutet.

Doch das ist noch lange nicht alles. Während der Endphase. Kommt es noch dicker. Im sogenannten Quartärstadium. Zehn bis zwanzig Jahre nach Beginn der Infektion. Erkrankt ein Viertel aller unbehandelten Patienten an chronischer Hirnentzündung. Die unweigerlich zu Demenz führt. Bei einem weiteren Viertel aller Infizierten treten schwere neurologische Störungen auf. Die zu einem zunehmenden Abbau der intellektuellen Fähigkeiten führen. Zu Sprachstörungen. Zu einer erheblichen Verschlechterung der Sicht. Insofern der Sehnerv betroffen ist. Bishin zur völligen Erblindung. Ein Schaden. Folgt auf den anderen. Kreislaufschaden. Knochenschaden. Gelenkschaden. Kollateralschaden. Totalschaden. Die Bewegungen sind nicht mehr kontrollierbar. Der Erkrankte kann nicht mehr gehen. Nicht mehr stehen. Nicht einmal mehr sitzen. Er verliert die Kontrolle. Über seinen gesamten Körper. Über seine Blase. Über seinen Darm. Und so weiter. Und so fort. Die Schädigung des Rückenmarks. Und der von ihm ausgehenden Nerven. Führen zunächst zu Schmerzen. Doch schließlich fühlt der Erkrankte gar nichts mehr. Weder Schmerz. Noch Hitze. Noch Kälte. Bis er schließlich einer kompletten Lähmung anheim fällt.

In genau dieses schreckliche Endstadium. In welchem die Syphilis längst nicht mehr nur den Körper betrifft. Sondern auch die kognitiven Fähigkeiten. Weil sie das zentrale Nervensystem zerstört. Trat nun auch Adolf Schieles Syphilis-Erkrankung ein. Im Jahre 1902. Als sein Sohn gerade einmal zwölf Jahre alt war. Zeigte sein Vater plötzlich erste Anzeichen geistigen Verfalls. Peu à peu. Verlor er die Kontrolle. Über seinen Körper. Und über seinen Verstand. Zunehmend. Dämmerte er nur noch so. Vor sich hin. Unterbrochen. Von jähen und kurzzeitigen Phasen der Geistesgegenwärtigkeit. Wobei diese enorm sein kann. Bei einigen Spätsyphilitischen. Und zu einer erheblichen Steigerung der kognitiven und mentalen Fähigkeiten führt. Weshalb man diese Momente auch lucidi intervalli nennt. Lichte Intervalle. Wo der Sterbende plötzlich ungewöhnlich „hell“ ist. Und klar. Im Kopf. Verbinden sich plötzlich die möglichsten und unmöglichsten Synapsen. Und der Erkrankte kann unter Umständen heller sein. Und klarer. Als er es je zuvor gewesen ist. In seinem Leben. Mehr noch. Geradezu hellsichtig. Erhält er den totalen Überblick. Und Durchblick. In die Dinge. Und in jene Kraft. Welche die Welt. Im Innersten. Zusammenhält. Zumindest kurzzeitig. Bevor er plötzlich wieder vor sich hindämmert. Und nicht einmal mehr weiß. Wo er ist. Und wer er ist. Und was er ist.

Zu diesen außergewöhnlichen psychischen Veränderungen. In der Endphase. Der Syphilis. Können auch verschiedene Arten von Wahrnehmungsveränderungen hinzukommen. Sowie eine übermäßige Steigerung der Libido. Womit die Krankheit just nach jenem schreit. Was sie überhaupt erst ermöglicht hat. In einem letzten Aufbäumen. Vor dem Ende. Ihres Wirts. Und somit auch. Vor dem eigenen. All dies bekam der Sohn voll mit. Mit gerade einmal zwölf Jahren. Sah er. Wie der Vater sich veränderte. Wie er mal klar war. Dann wieder voll. Daneben. War bereits seine gesamte Kindheit gewesen. Überschattet. Von der Krankheit. Seines Vaters. Doch nun. Tat sich die Hölle auf. Förmlich. Und regelrecht. Verschlang sie den Vater. Vor den Augen. Der Familie. Und die ganze Familie. Gleich mit. Denn Adolf Schieles Gesundheitszustand verschlechterte sich. Zusehends. Und zunehmend. Konnte man gar nicht mehr sprechen. Mit ihm. Und von einem Gesundheitszustand. Denn es war inzwischen ein permanenter Krankheitszustand geworden. Weshalb er nun seinen Dienst nicht mehr versehen konnte. Im Jahre 1902. Musste er in Pension gehen. Mit gerade einmal 52 Jahren.

Für die Familie. Brachen nun harte Zeiten an. Noch härtere. Als ohnehin schon. Denn das Geld reichte nicht mehr. Weder vorne. Noch hinten. Und dabei. Hatte es verhältnismäßig harmlos angefangen. Es begann damit. Dass der Vater zunehmend geistig verwirrt war. Und weiterhin seine Dienstuniform trug. Im Hause. Während der Mahlzeiten. Ließ er ein weiteres Gedeck auftragen. Für einen Gast. Den keiner sah. Nur er selbst. Unterhielt sich schließlich sogar mit ihm. Was die Kinder lustig fanden. Sie lachten darüber. Während die Mutter bittere Tränen weinte. Ahnte sie bereits. Dass es nun bald mit ihm zu Ende gehen würde. In nicht einmal zwei Jahren. Sollte sie bereits Witwe sein. Und ihre drei Kinder. Halbwaisen. Die ihren Vater nun zunehmend nackt sahen. Da dieser sich immer öfter auszog. Grundlos. Schickte die Mutter ihre Kinder also nicht weg. Ins Nebenzimmer. In solchen Fällen. Zog sie den Gatten wieder an. Nur mit größter Mühe. Und unter größtem Protest. Masturbierte der Vater immerzu. Nicht nur einmal. Musste der junge Sohn dies mitansehen. Denn der Vater verlor zunehmend die Kontrolle. Über sich selbst. Und über seine Triebe. Und trieb es. Überall. Unter anderem. Bei Tisch. Wenn die ganze Familie zusammensaß. Immer öfter. Sah der Junge eine feuerrote Penisspitze. Und diesen ausgezehrten Körper. Sehnig. Und blass. Gequält. Und gebeugt. Hätte er ihn gern gezeichnet. Die Augen. Wirr. Und vor Schrecken geweitet. Das Haar. Zerzaust. Und nach allen Seiten abstehend. Die Finger. Abgespreizt. Und seltsam verbogen. Und einmal tat er es sogar. Er riskierte es. Und zeichnete seinen Vater heimlich. Als dieser wieder mal nackt bei Tische saß. Und masturbierte. Bekam es die Mutter mit. Diesen unverschämten Voyeurismus. Und schlug ihrem Sohn ins Gesicht. Das allererste Mal. Und das letzte Mal. In seinem ganzen Leben. Würde er diesen Anblick nie wieder vergessen können. Der Vater. Der Starke. Der Schöne. Der Wunderschöne. Der Weiberheld. Der Gigolo. Der Playboy. War nurmehr ein Häufchen Elend. Ein Wrack. Mehr tot. Als lebendig. Und trotzdem schön. Immer noch. Trotz des Verfalls.

Die Schönheit. Des Verfalls. Ein Paradoxon. Ein unauflöslicher Widerspruch. Und doch. Sollte es Egon Schiele gelingen. Und zwar sehr bald schon. Diesen Widerspruch zu lösen. Und diese beiden völlig gegensätzlichen Pole zu vereinen. Die scheinbar nicht miteinander zu vereinen sind. Zumindest in der Kunst. Seit der Barockzeit. Und bis dato. Von Gustav Klimt einmal abgesehen. Auf der einen Seite. Das Leben. Und die Schönheit. Auf der anderen. Die Krankheit. Der Verfall. Der Wahnsinn. Und der Tod. Als Bindeglied. Die Sexualität. Die Libido. Die das Leben erst ermöglicht. Und erschafft. Einerseits. Und es wieder nimmt. Andererseits. Durch die Syphilis. Also durch die Sexualität. Und durch die Libido. Ein Teufelskreis. Ein kompliziertes und verworrenes Amalgam. Das den Jungen psychisch enorm belastete. Denn er fürchtete sich. Vor der Krankheit. Und vor dem Tode. Des Vaters. Hatte er Angst. Dass er auch so enden würde. Eines Tages. In nicht allzu ferner Zukunft. Sollte er selbst sich nurmehr auf diese Weise darstellen. Immerzu. Und in jedem Selbstportrait. Wie besessen. Lauerte der Tod. Das sah er. Das spürte er. Und doch. Hätte er niemals erahnen können. Zu diesem Zeitpunkt. Dass auch er selbst bereits bald sterben würde. Allzu bald. In 16 Jahren nur. In der Blüte. Seines jugendlichen Lebens. Aber als große Berühmtheit. Als einer der wichtigsten Graphiker und Maler überhaupt. Eben weil er jene scheinbar unvereinbaren Parameter zusammenführte. Sie zum zentralen Thema seines Schaffens machte. Und sie somit zur allerhöchsten Kunstform erhob. Schönheit. Und Hässlichkeit. Leben. Und Tod. Gesundheit. Und Krankheit. Jugend. Und Verfall. All dies. Eng miteinander verknüpft. Mit jenem gewissen Bande. Der Erotik. Der Sexualität. Und der Libido. Eines. Mit dem anderen. Fest verwoben. Undurchdringlich. Unauflöslich. Unnachahmbar. Einmalig. Einzigartig.

10

Während Egon Schieles Vater dahinsiechte. Und schrittweise verstarb. Praktisch vor den Augen. Seines erst zwölfjährigen Sohnes. Wurden die legendären Wiener Werkstätten geboren. Genauer gesagt. Am 12. Mai. 1903. Aus der Taufe gehoben. Als „Wiener Werkstätte Produktiv-Genossenschaft von Kunsthandwerkern in Wien registrierte Genossenschaft mit unbeschränkter Haftung“. Vom Architekten Josef Hoffmann. Sowie vom Maler und Graphiker Koloman Moser. Die sich zu Direktoren ernannten. Während der Kaufmann und Kunstliebhaber Fritz Waerndorfer das Kapital beisteuerte. Und Geschäftsführer wurde. Ursprünglich. Sollte dieses Kollektiv nur zehn Jahre Bestand haben. Wie die Secession. An deren Gründung bereits eben jene drei Männer maßgeblich beteiligt gewesen waren. Mit dem erklärten Ziel. Die Kunst zu befreien. Vom Kommerz. Und um das Kunsthandwerk aufzuwerten. Das bislang lediglich als zweitklassige Kunstform galt. Beziehungsweise. Als gar keine Kunst.

Josef Hoffmann hatte bislang auch stets die Innengestaltung der Secession geplant. Für die jeweiligen Ausstellungen. Hatte er alle Einbauten und Dekorationen ausgeführt. Stets sehr effizient. Und hochästhetisch. Immer klar. Und minimalistisch. Immer funktional. Und auf die jeweiligen Bilder abgestimmt. Modern. Und avantgardistisch. Also der Zeit ein Stück weit voraus. Denn die Form. Folgt der Funktion. Sagte er immer. Während Koloman Moser für die Gestaltung des Ver Sacrum verantwortlich zeichnete. Der offiziellen Zeitschrift. Der Secession. Und damit das gesamte Druckwesen revolutionierte. Mit seinen ungewöhnlichen Illustrationen. Mit seinen neuartigen Textblöcken. Und Schrifttypen. Dem Lay-Out. Wie man es heute nennen würde. Wurde er berühmt. Und unsterblich. Genauso wie Josef Hoffmann. Mit seinen legendären Bauten.

Zwei kreative Köpfe also. Zwei Genies. Zwei Erneuerer. Die nun auch die Gebrauchskunst revolutionieren wollten. Beziehungsweise. Sie in den Stand erheben. Der echten Kunst. Der hohen Kunst. Und im Hintergrund. Zog Gustav Klimt die Fäden. Wie immer. Wurde er dabei unterstützt. Von Freunden. Wie Emilie Flöge. Und vom liberalen Großbürgertum. Vor allem dem jüdischen. Wie dem Ehepaar Gallia. Oder der Familie Wittgenstein. Deren Ehefrauen und Töchter Klimt portraitierte. Und so ging eines. Ins andere. So hing eines. Am anderen. Eine Hand. Wusch die andere. Kurz nach der Gründung der Werkstätten. Wurden auch schon die ersten Handwerker eingestellt. Zunächst ein Silberschmied. Sowie zwei Metallarbeiter. Und bereits im Oktober. Konnte man sich vergrößern. Man bezog ein größeres Atelier. Mit diversen Werkräumen. Für Edelmetalle. Sowie unedle Metalle. Für Buchbinderei. Und Lederarbeiten. Mit einer Tischlerei. Und Lackiererei. Schon Anfang 1905. Sollte die Wiener Werkstätte bereits über einhundert Mitarbeiter beschäftigen. Deren Lohnsumme zumindest 50.000 Kronen im Jahr betrug. Prompto. Gliederte Josef Hoffmann sein Architekturbüro an die Werkstätte an. Sowie ein eigenes Baubüro. Kunst wurde also nicht nur mit Gewerbe verknüpft. Sondern auch gleich mit Architektur. Alles lag fortan in einer Hand. Beziehungsweise. In einigen wenigen. Herrschte plötzlich Aufbruchstimmung. In Wien. Welches sich radikal veränderte. In diesen Tagen. Und zwar grundlegend. Und gegen seinen Willen. Gegen seine Natur. Wurde Wien über Nacht modern. Mehr noch. Wurde es zu einem der wichtigsten Zentren für diese neuartige Kunst überhaupt. Für die moderne Kunst. Und zwar weltweit. Dank einer kleinen Handvoll Leute. Einer kleinen Clique. Von Pionieren. Der Moderne. Von Stilisten. Von Genies. Gustav Klimt. Josef Hoffmann. Koloman Moser. Fritz Waerndorfer. Und Carl Moll. Sorgten auch dafür. Dass in eben jenem Jahre ein Museum für Moderne Kunst eröffnet wurde. 1903. Mitten in Wien. Nämlich die Moderne Galerie. Im Belvedere.

Die Wiener Werkstätte entwickelte sich. Sehr rasch. Zu einem Bollwerk. Gegen die seelenlose maschinelle Fertigung. Welche die Märkte überschwemmte. Mit minderwertigen und einheitlichen Produkten. Bereits in jenen Tagen. War sie ein flammendes Plädoyer. Für das traditionelle Handwerk. Für die Handarbeit. Für die individuelle Fertigung. Und für die Qualität. Der einzelnen Produkte. Wobei man sich auf die Forderungen von John Ruskin und William Morris berief. Welche dies bereits fast ein halbes Jahrhundert zuvor propagiert hatten. In England. Der ersten großen Industrienation. Welche bereits unter der Massenproduktion litt. Mehr noch. Bezog sich die Wiener Werkstätte auch auf deren Stil. Sowie auf jenen des schottischen Designers Charles Rennie Mackintosh. Vor allem. In den ersten Jahren. Wirkte dieser neue Wiener Stil extrem reduziert. Und streng. Geometrisch. Passte dies. Wie die Faust. Aufs Auge. Im überbordenden und vom Historismus geprägten Wien. In jenen Tagen. Legte man jedoch trotz aller Reduktion großen Wert. Auf edle Materialien. Und auf eine solide handwerkliche Verarbeitung. Wobei nicht etwa der Wert des Materials im Vordergrund stand. Sondern dessen Wirkung. Ein farbiger Halb-Edelstein. Konnte schließlich weitaus mehr hergeben. Als ein Diamant. Auch bei der Wahl der Hölzer. Und sogar der Metalle. Orientierte man sich nicht nach deren materiellen Wert. Sondern nach deren Farbigkeit. Und Textur. Oberstes Ziel bei alledem war und blieb die Aufwertung des Kunsthandwerks. Schließlich sollte es den Hohen Künsten gleichgestellt werden.

Und so. Entstanden wahre Meisterwerke. Der modernen Gebrauchskunst. Und der modernen Architektur. In Wien. Und um Wien herum. Einzigartig. Und unvergleichlich. In ihrer Modernität. Waren auch die Bauten des Sanatoriums Purkersdorf. Welche ab 1905 entstanden. Als Gemeinschaftsarbeit. Der Wiener Werkstätten. Unter Generalplanung. Von Josef Hoffmann. Sollte es in die Architekturgeschichte eingehen. Denn Hoffmann entwarf ganz konsequent. Einen modernen Bau. Flach. Und kubisch. Schneeweiß. Und nahezu schmucklos. Wobei die einzige Fassadendekoration aus einem schmalen Streifen bestand. Aus einem Band. Aus blauen und weißen Kacheln. Quadratisch. Praktisch. Gut. Waren auch die Nutzräume. Die man mit den neuesten Errungenschaften der medizinischen Technik und Hygiene ausstattete. Wobei die Form immer der Funktion folgte. Form. Follows. Function. Hoffmanns Credo. Und Motto. Welches die gesamte Moderne nachhaltig beeinflussen und prägen sollte.

Im selben Jahr. 1905. Sollten die Wiener Werkstätten auch ihren größten Auftrag erhalten. Und dies sogar im Ausland. Nämlich den Bau und die Ausstattung eines Stadtpalais. In Brüssel. Welches ein Großindustrieller in Auftrag gab. Ein gewisser Adolphe Stoclet. Nach dem das Palais schließlich benannt wurde. Auch mitten in Wien. Konnte der Traum von einem Gesamtkunstwerk realisiert werden. In Form einer Theater-Bar. Für das damals frisch gegründete Cabaret. Fledermaus. Im Jahre 1907. Leierten die Wiener Werkstätten ebenfalls die Produktion von künstlerischen Postkarten an. Im großen Stil. Verlegte man sich nun also auch auf Papierkram. Neben Büchern. Auch auf Werbeplakate. Firmensignets. Rechnungen. Briefköpfe. Monogramme. Ex Libris. Menükarten. Speisekarten. Tischkarten. Flaschen-Etikette. Et cetera. Alles sollte durchgestaltet werden. Und zwar von Grund weg. Alle Bereiche. Des öffentlichen Lebens. Aber auch des privaten. Vom ganzen Haus. Mit Garten. Über die Möbel. Bishin zum Besteck. Entwarf Kolo Moser dazu sogar auch neue Backformen. Womit die Wiener Werkstätten das Unerreichbare erreichten. Nämlich die Verwirklichung eines Gesamtkunstwerks10.

11

Der verzweifelte Aufschrei der Mutter. Ließ den Kindern das Blut in den Adern gefrieren. Umgehend stürmten sie. In die Wohnstube. Wo der Ofen hell loderte. Und die Mutter davor kniete. Weinend. Und mit einem Schürhaken wild darin herumstochernd. Offensichtlich. Bemühte sie sich. Den brennenden Inhalt aus dem Ofen hinauszubefördern. Ohne Erfolg. Denn das Papier verbrannte noch in der Luft. Bevor es überhaupt die Steinplatte am Boden berühren konnte. Den Vater schien es nicht zu kümmern. Er saß. Reglos. Im Fauteuil.

„Was ist los, Mamá?“, fragte Melanie mit zitternden Lippen.

„Geht hinaus!“, rief die Mutter. Aufgebracht. Ohne sich nach ihren Kindern umzuwenden. „Und schließt die Tür!“

Die Kinder taten. Wie ihnen befohlen. Sie schlossen die Tür. Doch nur. Um sich dahinter zu verschanzen. Die Ohren fest. An die Tür gepresst.

„Wie konntest Du das nur thun?“, hörten sie ihre Mutter schreien. „Bist Du von allen guthen Geistern verlassen? Wir sind ruiniert! Hörst Du? Ruiniert! Mein Gott …“

Die Kinder verstanden nicht. Worum es ging. Aber es musste mit dem Ofen zu tun haben. Beziehungsweise. Mit dem Papier. Darin.

„Hat Papá etwa unser Geld verbrannt?“, flüsterte nun die kleine Gerti.

„Pscht!“, machte Melanie. Und hielt ihr den Finger auf die Lippen.

„Das ist ganz genauso, wie als ob Du all unser Geld verbrannt hättest!“, hörten sie die Mutter lamentieren. „Unser gesamter Wertpapierbesitz! Mein Gott …“

„Was ist ein Wertpapierbesitz?“, fragte Gertrude.

„Das ist wie Geld!“, sagte Melanie. „Und jetzt sei endlich still! Ich erzähle es Dir nachher!“

Egon hingegen. Blieb still. Mit seinen dreizehn Jahren. Fast vierzehn. Wusste er ganz genau. Was sich da soeben zugetragen hatte. Eine Katastrophe. Sondergleichen. Die der Vater da soeben angerichtet hatte. In einem Zustand geistiger Verwirrtheit. Waren sie am Ende. Vorher schon. Hatten sie am Rande gestanden. Des Ruins. Seit der Zwangspensionierung. Des Vaters. Doch nun. War es aus. Die Mutter. Würde nun arbeiten gehen müssen. Melanie. Würde nun arbeiten gehen müssen. Er selbst. Würde nun arbeiten gehen müssen. Sie alle. Würden nun arbeiten gehen müssen. Denn sie waren nun ruiniert.

„Ausgerechnet unsere Anleihen!“, die Mutter stöhnte. „Der gesamte Aktienbesitz der Familie! Unsere gesamte Zukunft! In Rauch und Flammen aufgegangen! Eingeäschert! Wie konntest Du das nur thun?“

Die Kinder vernahmen nun die Stimme des Vaters. Leise. Durch die Tür hindurch. War kein Wort zu verstehen.

„Adolf, ich weiß ja, daß Du es schwer hattest in letzter Zeit, aber, mein Gott, wie konntest Du uns das nur anthun? Ausgerechnet die Aktien der K.u.K. Staats-Bahnen! Mein Gott … Alles verbrannt! Alles!“

Egon schluckte. Er wusste. Dass die finanzielle Zukunft der gesamten Familie an diesen Wertpapieren hing. Die der Vater einst günstig erworben hatte. Vorzugsweise. Als höherer Bahnbediensteter. Waren sie von stark steigendem Wert. Von unschätzbarem Wert. In jenen Tagen. Im großen Zeitalter. Der Eisenbahn. Wo noch ganze Strecken ausgebaut wurden. Quer über den Kontinent. Wo Millionenbeträge investiert wurden. Ins Streckennetz. In Bahnhofsbauten. In Viadukte. In die Zukunft. Der Menschheit. Wie der Vater stets zu sagen pflegte: „Die Eisenbahn wird es immer geben! Und selbst wenn der Mensch eines fernen Tages zum Monde fliegen sollte, so wird er hier unten, auf Erden, immer noch mit der Eisenbahn fahren! Und das erste, was er auf dem Monde thun wird, ist, dort eine Eisenbahntrasse zu bauen!“ Und der Vater hatte Recht behalten. Auch was den Wert der Aktien anbelangte. Der Wertpapiere. Deren Wert sich in den letzten Jahren um ein Etliches vervielfacht hatte. Und er stieg immer noch. Von Tag. Zu Tag. Immer weiter. Und dies. Trotz der Erfindung des Automobils. Und trotz der Straßenbahn. Die erst vor zwei Jahren elektrifiziert worden war. 1902. In Wien. In der K.u.K. Hauptstadt. Eines Riesenreiches. Hing alles von der Eisenbahn ab. Alles. Stand. Und fiel. Mit der Eisenbahn. Dem Gott. Des Neunzehnten Jahrhunderts. Und des Zwanzigsten ebenso. Wie es schien.

Die Mutter reagierte umgehend. Geistesgegenwärtig. Griff sie. Hart durch. Und packte. Den Gatten. Die Kinder. Sowie einige Halbseligkeiten. Und verließ die Stadt. Es war eine regelrechte Flucht. Zurück. An ihren Geburtsort. Back. To the roots. Sozusagen. Nach Krumau. In Südböhmen. Wo man vorübergehend zur Ruhe kommen wollte. Fernab. Aller Wirren. In Tulln. Bei Wien. Aus der Zielscheibe genommen. Der Nachbarn. Die längst schon mitbekommen hatten. Was da lief. Im Hause Schiele. Denn die Syphilis trug stets das dunkle Mal. Der Lasterhaftigkeit. Der Unsitte. Der Unmoral. Und somit der Gottlosigkeit. Keine guten Voraussetzungen. Für ein harmonisches Miteinander. Mit den Nachbarn. Zumal in einer Kleinstadt. Die durchweg konservativ geprägt war. Hier. In Krumau. In Český Krumlov. Würde man nicht nachfragen. Dachte sie. Hier. Würde man nicht nachbohren. Hoffte sie. Und doch. Haben alle Wände Ohren. Und aller Augen. Warten auf Dich. O Herr. In einer Kleinstadt. Auch in Krumau. Wo die Moderne noch nicht so recht Einzug gehalten hatte. Wie dem jungen Egon Schiele gleich auffiel. Waren die Straßen oft noch lehmig. In den Außenbezirken. Rollten immer noch Pferde- und Ochsenkarren durch die Stadt. Eine magische Stadt. Wie er fand. Die schönste Stadt. Überhaupt. Diese Lage. An der Moldau. Beziehungsweise. In der Moldau. Denn der Fluss machte hier eine scharfe Biegung. Nein. Eine Schleife. In ostwestlicher Ausrichtung. Ganz eng. So eng. Dass beinahe eine Insel entstand. In dieser „krummen Au“. Umgeben von Wasser. Und Bergen. Und genau dort. Auf dieser Insel. Mitten im Fluss. War diese Stadt entstanden. Krumau. Über die Jahrhunderte. Hatte man jedes freie Fleckchen zugebaut. Ganz eng. Ganz dicht. An dicht. Schmiegten sich die Häuser. Klein. Krumm. Bucklig. Ihre schiefen Dächer. Majestätisch überragt. Von einer mächtigen Burg. Von wahrhaft gigantischen Ausmaßen. Mit einer Gesamtfläche von zehn Hektar. Nach der Prager Burg. Der zweitgrößte historische Bau in Böhmen überhaupt. Welcher hoch über dem Städtchen thronte. Auf einem anschließenden Bergkamm. Wie im tiefsten Mittelalter. Fühlte man sich hier.

Wien hingegen. Der K.u.K. Reichshauptstadt. Hatte man das Mittelalterliche gehörig ausgetrieben. In den letzten Jahrzehnten. War so gut wie alles abgerissen worden. Was klein war. Und krumm. Und bucklig. Denn Wien war eine Weltmetropole geworden. Praktisch über Nacht. War sie zur Millionenstadt geworden. Von denen es zur damaligen Zeit nicht viele gab. Nur sieben. Auf der ganzen Erde. Neben Wien. Auch Paris. Berlin. London. Moskau. New York. Und Chicago. Und das war’s auch schon. Mit den Millionenmetropolen. Um 1900. War Wien bereits vollständig elektrifiziert. Sogar die Straßenbahn. In jenen Jahren. Knatterten Automobile durch die Straßen. Fuhren stampfend die Lokomotiven ein. In die zahlreichen Kopfbahnhöfe. Strömten sie zuhauf. Die Völker. Der Donaumonarchie. Auf der Suche nach Glück. Und Vergnügen. Nach dem großen Geld. Und der Selbstverwirklichung. Dienten Reformer wie Sigmund Freud. Aus Mähren. Also Österreich. Der seine „Traumdeutung“ erst vier Jahre zuvor publiziert hatte. Im Jahre 1900. Suchte er ihn fachmännisch zu zerlegen. Und zu verstehen. Den Traum. Einer ganzen Ära. Eines zweiten Goldenen Zeitalters. Nach dem Barock. Die reichste und innovativste Epoche. Der gesamten Menschheitsgeschichte.

Dem jungen Egon Schiele fiel der Unterschied sofort auf. Denn er kannte Wien bereits. Das ja nur rund 30 Kilometer Luftlinie vor seiner Haustür lag. Eine halbe Stunde also. Mit der Eisenbahn. Welche die Familie oft und gerne benutzte. Naturgemäß. Als Eisenbahnerfamilie. Und dies sogar kostenlos. Weshalb man früher zahlreiche Ausflüge unternommen hatte. Ins Umland. Früher. Als der Vater noch gesund war. Beziehungsweise. Noch nicht so krank. Denn gesund war er schon lange nicht mehr. Doch der Ortswechsel schien ihm gut zu tun. Anfänglich. Konnte er sogar kleinere Spaziergänge unternehmen. Auf einen Stock gestützt. Doch nicht mehr lange. Da sich sein Gesundheitszustand bald wieder dramatisch verschlechterte. Erkundeten Egon und Melanie das Städtchen. Auf eigene Faust. Und zunehmend. Tat Egon dies allein. Das war er ja nun schon gewöhnt. Aus Krems. Und Klosterneuburg. Wo er es schließlich erlernt hatte. Das Alleinsein. Und das Erkunden. Auf eigene Faust. War in Krumau umso aufregender. Da es hier diese mächtige Burg gab. Zu welcher er oft hinaufstieg. Um den Überblick zu behalten. Über die Lage. Und über das Städtchen. Welches tief unter ihm lag. Umgeben. Von einem grünen Band. Aus Bergen. Umschlossen. Von einem blauen Band. Aus Wasser. Mit seinen verworrenen Gäßchen. Mit seinen Glockentürmen. Und seinen gebückten Häusern. Dicht. An Dicht. Bekrönt. Von feuerroten Giebel- und Satteldächern. Schwer atmend. Im Dunst. Wie ein lebendiges Wesen. Und das war es ja schließlich auch.

Wobei ihm bald schon mehr auffiel. Als nur die Details. Denn er erkannte. Dass es eine verbindende Struktur gab. Die allem zugrunde lag. Eine Ordnung. Welche die Stadt. Und die Welt. Im Innersten. Zusammenhält. Denn zusammengehalten wurde die Altstadt Krumaus. Vom kreisrunden Band. Der Moldau. Die hier eine Schleife ausbildete. In westlicher Richtung. Geschlossen. Und leicht geöffnet. Nach Osten hin. Nicht ganz kreisrund. Aber fast. Eher länglich. Ellipsenförmig. Genauso.


Wie der gesamte Burgberg. Welcher nördlich der Stadt lag. Sorgsam von ihr getrennt. Durch den Fluss. Und der wiederum einen Kreis bildete. Einerseits. Begrenzt. Vom Flüsschen Polečnice. Im Norden. Welches beinahe mit der Moldau zusammenstieß. Im Westen. Und schließlich in sie mündete. Im Osten. Wo die Moldau eine weitere Schleife vollführte. Doch diesmal seitenverkehrt. In östlicher Richtung. Geschlossen. Und leicht geöffnet. Nach Westen hin. Nicht ganz kreisrund. Aber fast. Eher länglich. Ellipsenförmig. Genauso.


Zwei fast perfekte Kreise also. Die Altstadt. Auf der einen Seite. Und der Burgberg. Auf der anderen. Geboren aus Land. Und Wasser. Zwei fast perfekte Kreise. Die sich verbanden. Und wiederum getrennt wurden. Durch die Moldau. Die ein großes S in die Landschaft schnitt. Von Süden. Nach Norden. Nur gedrungen. In die Breite gegangen. Und spiegelverkehrt.


Zwei übereinanderstehende Kreise also. Die bei genauerem Hinsehen nicht perfekt rund waren. Sondern länglich. Jeweils. In ostwestliche Richtung. Leicht auseinandergezogen. Sodass sie beide zusammen einen perfekten Kreis ergaben. In der Mitte unterteilt. Am Äquator sozusagen. Durch die Moldau.


Im Großen. Und Ganzen. Und von oben betrachtet. Aus der Luft. Beziehungsweise. Vom Burgberg aus. Erinnerte es an das Yin. Und an das Yang. Der Chinesen. Wobei oben der Adel residierte. Im hellen Yin. Und unten das Volk lebte. Im dunklen Yang. Beides sorgsam voneinander getrennt. Und präzise unterteilt. Vom Wasser des Flusses. Und dennoch. Beides fest umschlossen. Und beides vereint. Vom selben Wasser.


Diese seltsame Genese. Der Stadt Krumau. Die in einer krummen Au lag. In einer spiegelverkehrten S-Kurve. Der Moldau. War eine umgekehrte Genese. Denn sie vollzog eine Art umgekehrte Zellteilung. Eine Zellzusammenführung. Im Großen. Und Ganzen. War ein kreisförmiges Gebilde entstanden. Aus zweien. Die sich zusammengeschlossen hatten.


Von Zellteilung. Und anderem. Verstand Egon Schiele nicht viel. Jedoch sehr wohl. Von Formen. Und Strukturen. Dieser verrückte Klimt. Hatte es schließlich vorgemacht. Ihm. Und der ganzen Welt. Allen. Hatte er gezeigt. Dass etwas zugrunde liegt. Allem. Und der ganzen Welt. Nämlich das Ornament. Als universale Formel. Als stetig wiederkehrendes Muster. Welches die Welt. Im Innersten. Zusammenhält. Welches sie abbildbar macht. In einem sich ständig wiederholenden Reigen. War es das Hauptmotto seiner erst vor sieben Jahren gegründeten Secession. Flächenstil. Und ein sich ständig wiederholendes Ornament. Wie von Maschinen gemacht. Eine Art. Perpetuum. Mobile. Eine Art. Faust‘sche Formel. Eine Art. Bekenntnis. Zu einer höheren Einheit. Und Wahrheit. Die alles umfasst. Und alles durchdringt. Selbst die kompliziertesten Strukturen.

Und es waren just eben jene Strukturen. Die größeren. Die überragenden. Welche den jungen Schiele zunehmend zu interessieren begannen. Auch die Giebeldächer. Der Altstadt. Konnte man sehr gut auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Denn sie staffelten sich. Parallel zueinander. Um den quadratischen Hauptplatz herum. Doch nicht nur dort. Auch am Ufer der Moldau etwa. Ergaben sie ein sich ständig wiederholendes Muster. Ein Ornament. Aus roten Giebeldächern. Deren einzelne Schindeln wiederum ein Muster ergaben. Ein Ornament. Gleichmäßig. Und sich wiederholend. Immer. Und immer wieder. Wiederholten sich auch die weiß getünchten Rauchfänge. Und die Fenster. Glichen einander. Wie ein Ei. Dem anderen. Obwohl manche geöffnet waren. Und manche geschlossen. Manche rot lackiert. Manche grün. Oder blau. Aber das machte nichts. Das störte ihn nicht. Trotz aller individuellen Aspekte. Hatte all dies eine klare Struktur. Einheitlich. Und unverrückbar. Ergab all dies plötzlich Sinn. Einen höheren Sinn. Der ihm bislang versagt geblieben war. Der ihm bislang gefehlt hatte. In seinem Leben. In diesem schrecklichen Chaos. In dieser wirren Hölle. Aus einem dahinsiechenden Vater. Einer weinenden Mutter. Tobenden Lehrern. Zänkischen Vermietern. Egal ob in Krems. Oder in Klosterneuburg. War sein noch sehr junges Leben das reinste Chaos. Und auch in seinem Kopfe. Wollten sich die Dinge nicht ordnen. Die man ihm in der Schule eintrichterte. Notfalls. Mit Gewalt. Verweigerte er es. Denn er wollte verstehen. Nicht wiederholen. Er wollte den Sinn der Dinge erkennen. Und sich nicht damit begnügen. Sie bloß auswendig zu lernen.

Doch hier. In Krumau. Ergab plötzlich alles einen Sinn. Hier. War die Mutter geboren. Hierher. Zog sie sich zurück. In ihrer größten Not. Gab sie somit ihren Kindern ein geistiges und emotionales Zuhause. Eine Heimat. Einen Ort. Der Ruhe. Einen Rückzugsort. Wie aus einem Traum. Wie aus einem uralten Märchen. Der von sagenhaften Gestalten bevölkert schien. Der Fluss. Von Wassermännern. Mit irren Glotzaugen. Und breitem Mund. Mit Schwimmhäuten. Und grünen Schuppen. Welche die Menschen ins Wasser zogen. Und die Seelen der Ertrunkenen in Weckgläsern sammelten. Tief unten. Im Wasser. Gab es Nymphen. Und in den Wäldern. Feen. Elfen. Und Hexen. Víla. Dieses tschechische Wort. Hörte er oft. Schon in seiner Kindheit. Stand es für alles Unerklärliche. Für alles Überirdische. Für alles Mystische. Denn es bedeutet Nymphe. Und Fee. Und Elfe. Zugleich. War es sehr gut möglich. Dass dort auch ein riesiger Drache hauste. Grauslich. Feuerspeiend. Und mit drei Köpfen. Wie jener. Aus dem Märchen. „Prinz Bajaja“. Von Božena Němcová. Einer großen Geschichtenerzählerin. Der größten überhaupt. In Böhmen. War ihre Herkunft genauso sagenumrankt. Wie ihre Märchen. Verstarb sie just in jenem Jahre. Als Gustav Klimt geboren wurde. Gab es also durchaus eine höhere Ordnung. In diesem Chaos. Aus Krankheit. Leben. Und Tod. Dachte der Junge. Und begann sich allmählich mit diesem Konzept anzufreunden. Denn er begriff. Dass es durchaus einen Ausgleich gibt. Für eines. Das gehen muss. Kommt ein anderes. Und wirkt an seiner statt.

12

Trotz der Krankheit des Vaters. Waren die Ferien ein Segen. Für die Kinder. Und der Sommer. Voller schwerer Süße. Die Früchte. Und die Blumen. In den Bauerngärten. Liebte Egon Schiele die Spaziergänge durch die Stadt. Und weit aus ihr hinaus. Die Mutter verbat es ihm zwar. Und doch hielt er sich nicht daran. Dies schien sein Lebensmotto zu sein. So auch an jenem Tage. Als er sich bis weit ins Umland vorwagte. Wo die Zeit stehengeblieben zu sein schien. Schien die Sonne. Von einem makellosen Himmel herab. War es heiß. Und die alten Frauen saßen auf den Bänken. Vor ihren Häusern. Mit Kopftüchern. Und in volkstümlicher Tracht. War die Welt hier noch in Ordnung. Hier draußen. Auf dem Lande. Fühlte er sich wohl. Inmitten der Natur. Mit ihren Formen. Und Strukturen. Die er überall erkannte. Im Geäst. Der Bäume. Bishin zu den Adern. In ihrem Blattwerk. Das symmetrisch angeordnet war. Herzförmig. Wie bei den Linden. Oder oval. Lanzettförmig. Und mehrfach geschwungen. Wie bei der Eiche. Auch die Blüten und Blumen waren symmetrisch. Und auf eine einfache Grundform zurückzuführen. Egal. Ob die Sonnenblume. Mit ihren hängenden Köpfen. Oder der Rittersporn. Mit seinen blauen Kelchen. Die wie Sterne aussahen. Von vorn gesehen. Und genauer betrachtet. War alles Ornament. Alles wiederholte sich. In diesem Punkt. Hatte Gustav Klimt vollkommen Recht.

Oft rückte er mit seinem Notizheft aus. Mit einem Bleistift bewaffnet. Übte er sich darin. Diese einfachen Grundformen aufs Papier zu übertragen. Jedoch nicht eindimensional. Ohne Tiefenwirkung. Ohne Perspektive. Ohne Schatten. Das war nur was für Kinder. Für Laien. Beziehungsweise. Für Profis. Wie diesen Klimt. So weit war er selbst aber noch nicht. Zunächst einmal. Musste er das Handwerkszeug erlernen. Wozu eine genaue Betrachtung der Dinge zählt. Sowie deren genaue Wiedergabe. Doch bald schon. In vier bis fünf Jahren nur. Sollte er diesen Sprung wagen. Diese Grenze überschreiten. Von einer korrekten Wiedergabe. Mit Tiefenwirkung. Und Schatten. Zum Flächenstil. Sollte dies sein Markenzeichen werden. Genauso. Wie bei Klimt. Verband ihn die tiefe Liebe zur Natur. Die einen. Suchen Gott. In der Kirche. Die von Menschen gemacht ist. Die anderen. Suchen ihn in der Natur. Und sie finden ihn dort. In Form einer höheren Wahrheit. Einer allem zugrundeliegenden Ordnung. Einem unverkennbaren System. Das alles zusammenhält. Auf dieser Welt. Waren damals viele Menschen noch gläubig. Fast alle sogar. Gingen in die Kirche. Und hinterfragten die Dinge nicht. Egon Schiele tat es sehr wohl. Von Anfang an. Interessierte ihn die Natur mehr. Als die Kirche. Obwohl er auch nichts gegen sie hatte. Bestritt er lieber eigene Wege. Die oft steinig waren. Voller Dornen. Und oft auch ins Nichts führten. Doch das war ihm lieber. Als die ausgetretenen Pfade. Der anderen. Lebenswege. Und Lebensgeschichten. Interessierten ihn. Schon sehr früh. Erkannte er sie. Las sie förmlich ab. An den Gesichtern. Der Menschen. Die ihn brennend interessierten. Zunehmend. Zeichnete er sie. Vor allem jene der Alten. Die ihm mehr erzählten. Als jene der Jungen. Mit ihren glatten Gesichtern. Wo es nicht viel zu zeichnen gab. Konzentrierte er sich. Zunehmend. Auf Runzeln. Und Falten. Auf den wissenden Ausdruck. Der Augen. Auf die gebeugte Haltung. Des Rückens. Und des Kopfes. Bereits zum Grabe hin sich neigend. Der alte Mensch. So wie die Sonnenblume. Eine weitere Parallele. Zwischen Egon Schiele. Und Gustav Klimt. Deren Geburtstage fast dreißig Jahre auseinanderlagen.

Gutgelaunt. Kehrte er nach Hause zurück. Und betrat das Wohnzimmer. Summend. Gefror ihm plötzlich das Blut in den Adern. Als er seinen Vater splitterfasernackt am Fenster stehen sah. Mehr im Fenster. Als am Fenster. Beziehungsweise. Mehr aus dem Fenster. Als im Fenster. Lehnte dieser sich weit vor. Viel zu weit. Sodass es den Jungen durchfuhr.

„Vater! Nicht!“, schrie er. Und machte einen Satz nach vorn. Auf den Vater zu. Mit letzter Kraft. Hielt er diesen. An seinen knochigen Oberarmen fest.

„Laß mich!“, stammelte dieser mit erstickter Stimme. Und versuchte sich loszureißen. Um ein Haar. Wäre er gefallen.

„Was ist hier los?“, die Mutter war aus der Küche ins Wohnzimmer geeilt. Nachdem sie den Schrei des Jungen gehört hatte.

„Mutter! Hilf mir!“, rief der Junge verzweifelt. Dem der Vater zunehmend entglitt.

„Mein Gott!“, entfuhr es ihr. Umgehend. Lief sie auf die beiden zu. „Halt ihn fest!“, rief sie ihrem Sohn zu. Und ging ihm augenblicklich zur Hand.

„Halte Du seine Arme fest!“, stöhnte der Junge. „Allein schaffe ich es nicht!“

Doch der Vater wehrte sich. Er weigerte sich. Er schlug um sich. Er wollte nicht mehr. Zurück. Ins Zimmer. Und ins Leben. Schon gar nicht. Denn es war längst keines mehr.

„Adolf!“, schrie die Mutter ihren Gatten fassungslos an. „Bist Du wahnsinnig geworden?“

Gemeinsam mit dem Sohne. Bugsierte sie ihn. Zurück ins Zimmer.

„Laßt mich in Ruhe!“, protestierte der Vater. Mit schwacher Stimme. „Ich falle euch allen doch nur zur Last! Meine Lähmung schreitet ungehindert fort. Und dann diese Schmerzen … Ich halte das einfach nicht mehr aus!“

Inzwischen war auch Melanie ins Zimmer gekommen. Gefolgt. Von der kleinen Gerti.

„Papá!“, rief diese besorgt aus. „Geht es Dir nicht gut?“

„Geht hinaus!“, befahl die Mutter. „Geht alle hinaus! Du auch, Egon!“

Was nun folgte. War ein Donnerwetter. Wie die Kinder es selten erlebt hatten. Die Mutter schrie. Zeter. Und Mordio. Sie tobte. Klagte. Und weinte.

„Wie kannst Du mir das nur anthun?“, hörten die Kinder ihre Stimme. Gedämpft. Durch das schwere Holz der Tür. „Und den Kindern erst! Weißt Du denn nicht, was Du damit bei ihnen anrichtest? Was Du damit bei uns allen anrichtest?“

Egon wurde schwarz vor Augen. Noch nie zuvor. Hatte er etwas derart Schreckliches mitansehen müssen. Etwas derart Bedrohliches. Und zutiefst Verstörendes. Der Vater. Sein Erzeuger. Und Ernährer. Der starke Mann. Der schöne Mann. Zumindest einst. War er der Halt. In größter Not. Der Anker. Auf stürmischer See. Und der Fels. In der Brandung. War nun keiner mehr. Nurmehr ein Häufchen Elend. War von ihm übriggeblieben. Eine halbe Portion. Ein jämmerlicher Ritter. Von der traurigen Gestalt. Bedauernswert. Und angsteinflößend. Zugleich.

„Was hat Papá getan, daß Mamá so böse ist?“, fragte die kleine Gerti. Und weinte.

„Ach, es ist nichts!“ Egon tätschelte zerstreut ihren Kopf. „Geht ihr beiden doch spielen. Am besten nach unten, in den Garten. Das wird schon wieder. Macht euch keine Sorgen. Es ist nichts.“

Doch ein Suizidversuch. Ist nicht nichts. Zumal. Wenn es der eigene Vater ist. Egon sah ihn immer noch nackt. Vor seinem geistigen Auge. Hatte der Vater sich schon oft grundlos entkleidet. Das war er bereits gewöhnt. Und doch. War es diesmal etwas anderes. Diesmal. Hatte er ihn selbst berühren müssen. Diese blasse und fleckige Haut. Die dünn war. Wie Pergament. Darunter die Knochen. Zerbrechlich. Wie Porzellan. Dieser ausgezehrte Körper. Sehnig. Und blass. Gequält. Und gebeugt. Hätte er ihn gern gezeichnet. Die Augen. Wirr. Und vor Schrecken geweitet. Das Haar. Zerzaust. Und nach allen Seiten abstehend. Die Finger. Abgespreizt. Und seltsam verbogen. In seinem ganzen Leben. Würde er diesen Anblick nie wieder vergessen können. Der Vater. Der Starke. Der Schöne. Der Wunderschöne. Der Weiberheld. Der Gigolo. Der Playboy. War nurmehr ein Häufchen Elend. Ein Wrack. Mehr tot. Als lebendig. Und trotzdem schön. Immer noch. Trotz des Verfalls.

Es war nicht nichts. Der Suizidversuch des Vaters. Machte auch dem Sohne Angst. Er fürchtete sich. Vor der Krankheit. Und vor dem Tode. Des Vaters. Überfielen ihn Zweifel. Ob seiner eigenen Gesundheit. Dass er vielleicht auch so enden würde. Eines Tages. In nicht allzu ferner Zukunft. Sollte er selbst sich nurmehr auf diese Weise darstellen. Mit ausgezehrtem Körper. Sehnig. Und blass. Gequält. Und gebeugt. Die Augen. Wirr. Und vor Schrecken geweitet. Das Haar. Zerzaust. Und nach allen Seiten abstehend. Die Finger. Abgespreizt. Und seltsam verbogen. Immerzu. Und in jedem Selbstportrait. Wie besessen.

Und fürchtet euch nicht. Vor denen. Die den Leib töten. Und die Seele nicht können töten. Fürchtet euch aber vielmehr vor dem. Der Leib und Seele verderben kann. In der Hölle.

(Nach Matthäus, 10,28)

13

Im selben Jahr. 1904. Im Schicksalsjahr. Für den erst dreizehnjährigen Egon Schiele. Zog die gesamte Familie nach Klosterneuburg. In die Ortnergasse No28. Dem Sohne nach. Denn in Tulln machte es nun keinen Sinn mehr. Man konnte nun nicht mehr weiter in der Dienstwohnung bleiben. Im Bahnhofsgebäude. Nachdem der Vater von seinem Posten entfernt worden war. Bei der K.u.K. Staatsbahn. Von Amts wegen. Zerrissen sich zudem die Nachbarn förmlich das Maul. Über den Syphilitischen. In ihren eigenen Reihen. Wollte man dieses schwarze Schaf nicht länger dulden. Und mit der ganzen Familie nichts mehr zu tun haben. Denn sie alle trugen den Makel. Das schwarze Mal. Der Syphilis. Und somit des Todes.

Doch der Neuanfang in Klosterneuburg war schwer. Allem voran für die Mutter. Denn es war kein Neuanfang. Es war lediglich eine Fortsetzung. Des inzwischen schon alltäglichen Horrors in Tulln. Mehr noch. War es eine kontinuierliche Verschlechterung. Denn die Lähmung des Vaters schritt ungehindert fort. Mittlerweile. War er zu einem kompletten Pflegefall geworden. Der sich nicht einmal mehr selbst waschen konnte. Geschweige denn. Auf die Toilette gehen. Nicht einmal mehr die Kontrolle über seine Muskeln war ihm vergönnt geblieben. Auch über seine Schließmuskeln. War er nicht mehr Herr. Weshalb er sich permanent ins Bett entleerte. So von hinten. Wie von vorn. Gab es keine Ruhepause für die Mutter. Die furchtbar gealtert war. In den letzten beiden Jahren. Schien alles schief zu gehen. Und auch der Junge. Machte ihr zunehmend Sorgen. Denn seine Ergebnisse in der Schule wurden auch nicht besser. Ganz im Gegenteil sogar. War er stets akut versetzungsgefährdet. Die Lehrer interessierte es nicht. Welche Tragödie sich daheim bei dem Jungen abspielte. Darauf konnte keine Rücksicht genommen werden. Leistung und Noten standen stets im Vordergrund. Und so ist es auch noch heute.

Keinem von ihnen. War zum Feiern zumute. Keiner von ihnen. Sang erbauliche Lieder. Und keiner von ihnen. Sagte ein Gebet auf. Als man sich gemeinsam um den Weihnachtsbaum setzte. Schweigend. Verzehrte man den Karpfen. Und den Erdäpfelsalat. Alle. Bis auf den Vater. Dessen Lähmung inzwischen so weit fortgeschritten war. Dass er sich nicht mehr selbst ernähren konnte. Dass man ihn mit vereinten Kräften ins Wohnzimmer hatte tragen müssen. Machte den Kindern Angst. Und doch beobachteten sie dies alles sehr genau. Mit kindlicher Neugier. Und mit brennendem Interesse. Empfanden sie eine neue Art von Verbundenheit. Mit dem Vater. Den die Mutter bereits seit einigen Wochen füttern musste. Wie ein kleines Kind. War er nun einer von ihnen geworden. Jünger noch. Unfähig. Sich selbst zu versorgen. Sah Egon gar nicht mehr hin. Er konnte es nicht ertragen. Wie dem Vater der Kartoffelbrei aus dem Mundwinkel lief. Da er nicht mehr kauen und schlucken konnte. War es nurmehr eine Frage von Tagen. Bis er verhungern würde. Qualvoll verenden. Wie ein Hund. Der stolze Vater. Der schöne Vater. Der wunderschöne Vater.

Manchmal. In den wenigen luziden Intervallen. Die dem Vater anfangs noch vergönnt waren. Blickte dieser seinen Sohn an. Stumm. Und durchdringend. Mit panischem Blick. Den Mund verzogen. Und geöffnet. Zu einem stummen Schrei. Hielt Egon sich die Augen zu. Und die Ohren. Da nurmehr unverständliche Laute aus dem Munde strömten. Des Vaters. Der somit entmenschlicht wurde. Der nurmehr dasaß. Und sich nicht rühren konnte. Den man füttern musste. Den man waschen musste. Und der sich völlig unkontrolliert entleerte. Wie ein Tier. Gab er nurmehr blökende Laute von sich. Und grunzende Geräusche. Was die Kinder früher zum Lachen gebracht hätte. Ließ sie nun erschaudern. Sie waren sich dessen bewusst. Dass sie erledigt waren. Sobald der Vater nicht mehr lebte. Wären sie alle dazu gezwungen. Arbeiten zu gehen. Und sich ihr Brot selbst zu verdienen. Im Schweiße. Ihres Angesichts. Schien auch der Vater dies zu wissen. Immer noch. Obwohl sein Körper ihm längst nicht mehr gehorchte. Schien er doch noch bei klarem Verstand. Ab und zu. Kreuzte sich sein Blick. Mit jenem seines Sohnes. Der unvermittelt wegschaute. Während sich eine Träne bildete. Im Auge des Vaters. Und unbemerkt die eingefallene Wange hinunterrann.

Keiner sprach. Und keiner wagte eine Prognose. Für das neue Jahr. 1905. Erst recht nicht. Als sich das alte Jahr schließlich seinem Ende zuneigte. Geistesabwesend. Richtete die Mutter belegte Brote her. In der Küche. Assistiert. Von ihren drei Kindern. Kochte sie Linsen. Nach altem böhmischem Brauch. Sollten sie Geld bringen. Und Glück. Im Neuen Jahr. Das bereits in der Türschwelle stand. Beziehungsweise. Klopfte es bereits an. Und machte ihnen Angst. Denn sie alle waren sich dessen bewusst. Dass es jenes Jahr sein würde. In dem sie ihren Vater verlieren würden. Beziehungsweise. Ihren Ehemann. Und doch. Sollte es anders kommen. Denn der Tod erwies sich als Sadist. Wie so oft. Holte er den Vater. Genau an der Schwelle. Zwischen den beiden Jahren. Just am Silvesterabend. 1904. Erwartete die Familie das schrecklichste Neujahrsfest. Das man sich nur vorstellen kann. Denn anstatt zu feiern. Zu singen. Und zu lachen. Mussten nun Vorkehrungen fürs Begräbnis getroffen werden.

„Mamá!“ Die kleine Gerti war mit angstgeweiteten Augen in die Küche gestürmt. „Papá ist aus dem Sessel gefallen!“

Sofort lief die Mutter ins Wohnzimmer. In ihrer Kochschürze. Gefolgt von ihren Kindern. Wurden sie nun alle Zeugen. Eines schrecklichen Todes. Eines Kampfes. Um Leben. Und Tod. Den der Vater schließlich verlor. Nach quälenden zehn Minuten.

„Geht hinaus!“, befahl die Mutter ihren Kindern. Und doch blieben sie.

Stumm umklammerte der Sohn seine Mutter. Die ihn wegstieß.

„Herrgott, so ruf doch den Arzt! Nun lauf schon!“

Melanie lief an seiner statt. Denn der Junge wollte unbedingt dabei sein. Ganz bewusst. Wollte er den Augenblick des Todes miterleben. Der schon so lange über ihnen geschwebt hatte. Wie ein Damoklesschwert. Bäumte sich der Vater auf. Beziehungsweise. Das. Was von ihm übriggeblieben war. Stieß animalische Laute aus. Denn in dieser halbtoten Hülle steckte scheinbar immer noch einiges an Leben. Der Mensch. Adolf Schiele. Wollte sterben. Um jeden Preis. Um endlich erlöst zu werden. Von seinen Qualen. Und der Schmach. Die seine Krankheit über die ganze Familie gebracht hatte. Der Vater. Adolf Schiele. Wollte hingegen nicht abtreten. Und seine Familie im Stich lassen. Seine treusorgende Ehefrau. Und seine drei Kinder. Die alle noch minderjährig waren. Melanie. Mit ihren 18 Jahren. Egon. Mit seinen 14 Jahren. Und Gerti. Mit ihren 10 Jahren.

Nie. Würde Egon diesen Anblick vergessen. Den sich aufbäumenden Körper seines Vaters. Nach hinten durchgebogen. Trotz seiner Lähmung. Die verkrampften Finger. Das zerzauste Haar. Den irren Blick. Sollte er immer wieder zeichnen. Und malen. Sein Leben lang. Würde er ihn verfolgen. Bis in seine Träume. Bis in sein tiefstes Unterbewusstsein. Welches sich fortan immer wieder manifestieren würde. In seiner Kunst. Entging dem Jungen nicht der Zynismus. Und die Bösartigkeit. Des Todes. Dieses elenden Bürokraten. Der nicht hatte warten können. Bis man das neue Jahr begrüßt hatte. Gemeinsam. Mit dem Vater. War ihnen kein gemeinsamer Silvesterabend mehr vergönnt. Mit Schaudern. Erkannte Egon die düstere Symbolik. In diesem Akt. Der Lebensauslöschung. Genau an der Schwelle. Vom Alten. Zum Neuen. Während das alte Jahr abtrat. Und ein neues kam. Würde das alte niemals wiederkehren. Genauso wie der Vater. Den der Junge abgöttisch liebte. Obwohl sie doch grundverschieden waren. Würde ihn ein schlechtes Gewissen quälen. Sein Leben lang. Denn schließlich hatte er ja versagt. Er war dem Vater kein guter Sohn gewesen. Ein Versager war er. In der Schule. Wie im Leben. Hatte der Vater ihn lediglich als Versager gekannt. Er war gestorben. Mit diesem letzten Bilde seines Sohnes vor Augen. Dem Bilde. Eines Versagers.

Dies würde er niemals wieder gutmachen können. Und doch. Sollte er fortan alles in seinem Leben daran setzen. Den Vater zufriedenzustellen. Posthum. Sein Versprechen einzulösen. Das der Vater ihm abgenommen hatte. Kurz vor seinem Tode. Beziehungsweise. Als dieser noch klar bei Verstand gewesen war. Hatte der Sohn es ihm versprechen müssen. Dass er fleißig sein würde. Produktiv. Und erfolgreich. Und fürwahr. Der Vater wäre stolz auf ihn gewesen. Denn der Sohn. Der ewig Letzte. Wurde zu einem der Ersten. Und der Bedeutendsten. Expressionistischen Künstler. Überhaupt. Nicht nur des alten Österreich-Ungarn. Sondern weltweit. Ein Meilenstein. Der Kunstgeschichte. Einer der Größten. Und der Begnadetsten. Graphiker. Überhaupt. Seit Michelangelo Buonarroti. Revolutionierte er. Die gesamte Kunstgeschichte. Und läutete. Eine neue Ära ein. Und dies sehr bald schon. In gerade einmal vier Jahren.

„ … auch Gerti weiß nicht … wieviel und wie schwere seelische Leiden ich ertragen muß. Ich weiß nicht, ob es überhaupt jemanden gibt, welcher mit jener Wehmut an meinen Vater sich erinnert; ich weiß nicht, wer es verstehen kann, warum ich gerade solche Orte aufsuche, wo mein Vater war, wo ich den Schmerz in mir in wehmütigen Stunden absichtlich erlebe … Äußerlichkeit ist, das Andenken, das mehr weniger [sic!] verwoben ist, trage ich in mir. – Warum male ich Gräber? und viele ähnliche Bilder – weil dies innig in mir fortlebt …“11

(Brief Egon Schieles vom 12. Juli 1913 an seinen Jugendfreund, Künstlerkollegen und späteren Schwager Anton Peschka)

14

Nach dem Begräbnis. War vor dem Begräbnis. Nichts hatte sich geändert. In der Schule. Bildete Egon immer noch das Schlusslicht. Schlimmer noch. Denn seine schulischen Leistungen fielen immer weiter ab. Während das Familienleben völlig zum Erliegen gekommen war. Schien die Mutter jegliche Lebensfreude verloren zu haben. Längst schon. Hatte sich die finanzielle Lage der Familie verschlechtert. Und es wurde immer schlimmer. Denn die spärliche Hinterbliebenenrente reichte vorn und hinten nicht aus. Um die ganze Familie zu erhalten. Musste Melanie eine Stelle bei der Eisenbahn annehmen. Und so zum Lebensunterhalt beitragen. Die Mutter entlasten. Da sie es allein nicht mehr schaffte. Bot Leopold Czihaczek ihr seine Dienste an. Ihr Schwiegerschwager. Beziehungsweise. Ihr Schwippschwager. Der Ehemann. Der Schwester. Ihres verstorbenen Gatten. Wurde nun Vormund ihrer Kinder. Die alle noch minderjährig waren. Nach damaligem Gesetz. Erreichte man die Volljährigkeit erst mit 21. In Österreich. Sollte es noch lange so bleiben. Nämlich bis ins Jahr 1973.

Und so blieb also alles schön in der Familie. Als Leopold Czihaczek zum Vormund der Kinder ernannt wurde. Traditionsgemäß. Als Taufpate. Der sich bei der Taufe verpflichtete. Die Obsorge über die Kinder zu übernehmen. Sollte ihren Eltern etwas zustoßen. Ausgerechnet. Dieser Czihaczek. Dachte Egon. Mit Widerwillen. Dieser Belauerer. Dieser Despot. Humorlos. Phantasielos. Streng. Spießig. Und stets auf Disziplin pochend. Ganz ungut war er ja nicht. Eine künstlerische Ader hatte er ja auch. Zumindest ansatzweise. Zumindest indirekt. Als Musikliebhaber. Der auch selbst Klavier spielte. Und als Kunstfreund. Im Allgemeinen. Insofern es sich nur um klassische Kunst handelte. Also die alte. Die gute. Nicht die moderne. Die schlechte. Denn dafür hatte er keinerlei Verständnis. Wie so viele. In jenen Tagen. Und auch heute noch. Trotz allem. Entging dem jungen Schiele auch hier wieder nicht die Ironie. Der Situation. Denn der eine strenge Vater. War nun durch einen anderen ersetzt worden. Der noch strenger war. Noch viel strenger. Denn jetzt. Mit einigem Abstand. Sah er es ganz deutlich. Jetzt. Hatte er ja den direkten Vergleich. Gegen diesen Czihaczek. War sein eigener Vater geradezu gleichgültig gewesen. Genauso wie die Mutter. Marie Schiele. Die es nun doppelt gab. Zumindest indirekt. Denn die Gattin des Leopold Czihaczek hieß ebenfalls Marie Schiele12. Seine leibliche Tante also. Trug diesen Namen von Geburt an. Bis zum Augenblicke ihrer Hochzeit. Während seine eigene Mutter diesen Namen erst im Augenblicke ihrer Heirat angenommen hatte. Und wieder einmal. Begriff Egon. Dass hinter allem ein System zu stecken schien. Ein höheres. Und auf den ersten Blick nicht sogleich erkennbares. Eine höhere Ordnung. Über den Dingen. Eine Art Ausgleich. Denn für eines. Das gehen muss. Kommt ein anderes. Und wirkt an seiner statt. So schien es immer zu sein. Man musste nur danach suchen. Beziehungsweise. Dafür empfänglich sein. Sich nicht verschließen. Vor den Dingen. Die jenseits unserer Macht liegen. Und die über uns entscheiden. Die uns lenken. Die schalten. Und walten. Genauso wie das Ornament. Als universales Muster. Als Matrize. Die allem zugrunde liegt. Im Kleinen. Gibt es eine höhere Struktur. Der alles zugrunde liegt. Im Großen. Dessen war er sich nun sicher. Auch der Tod seines Vaters. Müsste demnach einen Sinn ergeben. Und doch. Erkannte er ihn nicht. Noch nicht. Doch die Kunstwelt würde diesen tragischen Verlust einst sehr begrüßen. Zumindest indirekt. Denn just dieser Verlust. Würde die Kunst des Jungen adeln. Sie erst gebären.

„Auf ein Wort, in mein Bureau!“ Mit diesem kurzen Satz. Hatte Leopold Czihaczek sein Mündel ins Arbeitszimmer zitiert. Er war ein wortkarger Mann. Der sich stets unmissverständlich und klar ausdrückte. Der keine großen Worte verlor. Vor allem. Wenn es um eine wichtige Sache ging.

Schweigend folgte Egon ihm ins Büro.

„Schließ die Tür!“, befahl Ingenieur Czihaczek knapp. Und bedeutete seinem Mündel. Sich zu setzen.

Trotzig. Zog Egon es vor. Stehenzubleiben. Einerseits. Um seine vermeintliche Macht zu demonstrieren. Andererseits. Um so schnell wie möglich flüchten zu können. Falls das Gespräch eine unangenehme Wendung nehmen sollte.

„Jetzt, da ich zu Deinem officiellen Vormund ernannt wurde“, kam Ingenieur Czihaczek ohne Umschweife zum Punkt, „werden sich einige Dinge ändern müssen.“

Schon blickte Egon nervös nach der Tür. Verärgert. Und verunsichert. Zugleich. Trotzig. Und dickköpfig. Wie er nun mal war. Vertrug er keine Autorität. Und ein autoritäres Gebaren. Schon gar nicht.

„Dein aufsässiges Verhalten nimmt in der letzten Zeit stark zu“, konstatierte der Ingenieur. „Meine Gattin, also Deine Tante, sowie ich selbst, empfinden es als genauso sonderbar wie unverschämt. Schließlich geben wir uns die redlichste Mühe mit Dir.“

Egon schaute demonstrativ zum Fenster hinaus.

„Mit Deinen Schwestern verhält es sich anders. Sie sind fügsam und folgsam – und doch kann ich mich nicht des Eindrucks erwehren, daß Du einen schlechten Einfluß auf die Jüngste, Gertrude, ausübst, da auch ihr Verhalten mir gegenüber in der letzten Zeit einiges zu wünschen übrig läßt.“

Egon reagierte nicht. Und starrte weiterhin trotzig aus dem Fenster.

„Am liebsten würde ich Dich auf eine Internat-Schule schicken, weit weg von hier, wo sie Dir die Manieren schon noch einbläuen würden, doch Deine Mutter bat mich, inständig sogar, es nicht zu thun.“

Nun ging ein leichter Ruck durch Egons Körper. Kaum merklich. Aber Leopold Czihaczek hatte es dennoch bemerkt. Denn seinen wachen Augen entging nichts.

„Deine Mutter hat Mitleid mit Dir und wünscht Dich in ihrer Nähe – und dies, obwohl Du ihr doch stets einen derartigen Kummer bereitest. Du bist ihr keine Hilfe – ganz im Gegentheil sogar! – denn Deine schulischen Leistungen fallen immer weiter ab, wozu dann ja auch noch Dein extrem aufsässiges Verhalten kommt, welches der momentanen Lage so ganz und gar nicht angebracht ist. Du solltest dankbar sein, daß ich mich jetzt um Dich und um Deine Geschwister kümmere – und daß ich einigermaßen wohlhabend bin, bedeutet nicht, daß meine Gattin und ich den Umstand nicht in unserem Geldbeutel spüren, daß wir nun vier weitere Mäuler zu stopfen haben, denn obwohl Melanie nun ihr eigenes Geld verdient, so reicht es doch vorn und hinten nicht aus.“

Egon ärgerte dieses Gespräch. Und doch blieb er. Es wäre einfach zu unverschämt gewesen. Ausgerechnet jetzt wegzulaufen.

„Am liebsten würde ich Dich jetzt gleich zum Arbeiten schicken – in eine Handwerkerlehre zumindest – denn zu etwas anderem scheinst Du ja nicht zu taugen. Interessanterweise will Dich keiner Deiner Familienmitglieder bei sich unterkommen lassen – weder zur Untermiete, noch bezüglich einer Anstellung im familieneigenen Betriebe. Was sagst Du dazu?“

Doch Egon sagte nichts.

„Weißt Du, was das bedeutet?“, hakte Leopold Czihaczek noch einmal nach. Obwohl er keine Antwort erwartete. „Es bedeutet, daß selbst Dein eigen Fleisch und Blut Dich nicht bei sich haben und unterstützen möchte! Ich jedoch, bin nicht einmal mit Dir blutsverwandt – und doch bleibt es an mir hängen! Ausgerechnet an jenem, dem Du mit Abstand von allen den geringsten Respekt entgegenbringst!“

Egon schwieg.

„Du solltest einmal guth darüber nachdenken, was Du da überhaupt thust! Ohne meine Hilfe, würdet ihr alle jetzt in einem Armenhause leben – vermuthlich sogar getrennt von eurer Mutter, in einem Kinderheime, wo ganz andere Sitten herrschen als hier in meinem Hause. Ist Dir das klar?“

„Jawohl, Onkel!“, kam es plötzlich. Und völlig überraschend. Aus Egons Munde. Denn er wusste. Dass er den Bogen überspannt hatte. Und dass er am kürzeren Hebel saß. Nur ein Wort. Seines Vormunds. Und es war aus. Mit ihm. Und mit der ganzen Familie. Zudem begriff er. Dass Leopold Czihaczek dies alles nicht etwa aus reinem Wohlgefallen tat. Er hatte ein Versprechen abgegeben. Vor langer Zeit. Als Taufpate. Der Kinder. Konnte er ja schließlich nichts dafür. Dass er mit Egon ausgerechnet so einen Dickkopf vererbt bekommen hatte. So einen Satansbraten. Ein dreistes Kuckucksei. Mitten in seinem gutbürgerlichen Nest. Und der Mann tat ihm plötzlich leid.

„Oha!?“ Leopold Czihaczek hob seine spitzen Brauen. Die sorgsame Dreiecke über seinen Augen bildeten. Und zwirbelte seinen Spitzbart. Er konnte es kaum fassen. Und doch. Ritt er nicht darauf herum. Auf seinem Triumph. Über den Jungen. Sondern nahm diese einsichtige Reaktion seines renitenten Gegenübers mit Dankbarkeit an. Besser eine Art Waffenstillstandsabkommen. Eine Entente. Wenn auch nicht gerade sehr cordiale. Als dieser andauernde Krieg. Der beiden Parteien schwer zu schaffen machte.

„Nun denn …“ Leopold Czihaczek wirkte plötzlich irritiert. „Jedenfalls nahm Dein Vater mir das Versprechen ab, daß ich peinlichst genau darauf achten solle, daß Du auch ja das Gymnasium mit einer Matura abschließen mögest und anschließend an der Technischen Hochschule zu Wien Ingenieurwesen studierst. Wenn ich mir Deine schulischen Leistungen jedoch so ansehe, dann befürchte ich, dieses Versprechen nicht einlösen zu können.“

Egon sah betreten zu Boden.

„Willst Du es denn nicht Deinem Vater zuliebe thun, wenn Du es schon nicht Dir zuliebe thun kannst? Dein Vater hat sich redlich um Deine Zukunft bemüht – und doch hat er auf ganzer Linie versagt.“

„Wie das?“, wagte der Junge nun erstmals einen Einwand.

„Nun …“ Leopold Czihaczek zwirbelte erneut seinen Spitzbart. „Ich weiß ja nicht, in wie weit Du informiert bist, aber auch Dein Vater war ein wenig … sagen wir: nachlässig in gewissen Dingen.“

„In gewissen Dingen?“

„Nun, sowohl in Erziehungsfragen – ließ er euch Kindern doch allzu viele Freiheiten! – als auch, was seine eigene Lebensführung anbelangt. Du weißt schon, worauf ich hinaus will …“

„Nein, ich fürchte, das weiß ich nicht.“ Doch er ahnte es. Er befürchtete es. Dass Leopold Czihaczek nun dessen Krankheit thematisieren würde. Dieser elende Moralapostel.

„Weißt Du eigentlich, wie sich Dein Vater mit dieser todbringenden Krankheit infiziert hat?“, fragte dieser nun. Geradeheraus. War sein Blick dabei. Durchdringend. Hart. Und kalt.

Egon zog es vor zu schweigen. Abgesehen davon. Wusste er es auch nicht.

„Nun, er hat sich in einem Bordell angesteckt, bei den Huren. In Triest, vermuthlich, denn so genau wusste er dies selber nicht … Du bist nun alt genug, Du solltest also einige Dinge über Deinen Vater erfahren, ohne daß ich sein Andenken nun in den Schmutz ziehen wollte. Aber Du hast ein Recht, es zu erfahren …“

„Ich verzichte darauf!“, entgegnete Egon. Kurz. Und knapp.

„Wie es aussieht, zog er sich die Syphilis sogar während seiner Hochzeitsreise zu, die ihn und Deine Mutter in den Süden Österreichs führte, ans Meer …“, fuhr Leopold Czihaczek dennoch fort. „Deine Mutter hatte während der Hochzeitsnacht, warum auch immer, die Ehe mit ihm nicht vollziehen wollen, so sagte er mir, was ihn letztendlich ins Bordell trieb. Und erst am vierten Tage nach der Eheschließung, da ward die Ehe denn endlich vollzogen, wobei er Deine Mutter ebenfalls mit dieser todbringenden Krankheit infizierte, was auch ihre zahlreichen Totgeburten erklärt.“

„Lügen! Nichts als Lügen!“, der Junge hielt sich die Ohren zu.

„Es sind keine Lügen. Dein Vater hat es mir selbst erzählt!“, rechtfertigte Leopold Czihaczek sich.

„Alles infame Lügen! Nur, um das Andenken meines Vaters zu besudeln! Ich glaube kein Wort davon!“

„Nun, wie Du willst. Es ist im Grunde auch unerheblich. Ich wollte Dir damit nur sagen, daß der Apfel für gewöhnlich nicht weit vom Stamme fällt – und daß Dein Vater Schimpf und Schande über uns alle gebracht hat, allen voran über meine Gattin, seine Schwester, und auch über Deine Mutter, sein angetrautes Weib. So kommt es eben, wenn man nicht nachdenkt, bevor man etwas thut. Das scheinst Du ja von ihm geerbt zu haben!“

„Ich bitte, mich nun zurückziehen zu dürfen. Ich möchte dieses Gespräch, das ohnehin nur eine einzige Anklagerede ist, nicht mehr führen.“ Nur mit größter Mühe. Konnte Egon seine Wut verbergen. Fest. Presste er seine Zähne aufeinander. Und ballte seine Fäuste zusammen.

„Nun denn, geh!“ Ingenieur Czihaczek winkte den Jungen herablassend mit der rechten Hand hinaus. „Nur rede mir ja kein Wort davon mit Deiner Mutter! Sie macht ohnehin schon genug durch wegen Deines Vaters und Dir, also mach es nicht noch schlimmer!“

Völlig am Boden zerstört. Verließ der Junge das Arbeitszimmer seines Vormunds. Der seinen Vater soeben zum zweiten Mal getötet hatte. In seinen Augen. Konnte dummes Geschwätz in der Familie sich fatal auswirken. Und das Ansehen eines Menschen noch lange nach dessen Tode beschmutzen. Manchmal. Ist es eben besser. Über gewisse Dinge Schweigen zu bewahren. Beziehungsweise. Gar nicht erst darüber zu spekulieren. Jedenfalls. Sollte nicht despektierlich über Tote geredet werden. Die sich ohnehin nicht mehr selbst verteidigen können.

15

Der Sohn öffnete die Augen. Und traute diesen nicht. Denn vor seinem Bette saß jemand. Dessen Antlitz er anfangs nur verschwommen wahrnehmen konnte. Ungläubig. Rieb er sich die Augen. Und doch träumte er nicht. Es war sein Vater. Jung. Gesund. Und schön. Wie er ihn kaum noch in Erinnerung hatte.

„Vater!“, rief er überrascht aus. „Was machst Du hier?“

„Nun, ich wollte nur kurz nach dem Rechten sehen, mein Sohn!“, entgegnete dieser. Und fürwahr. Er war es. Und er blieb. So oft der Sohn sich auch selbst in die Hand kneifen mochte.

„Aber …“, stammelte dieser, „Du bist doch …“

„Ich bin … was?“, entgegnete der Vater mit ruhiger Stimme. „Etwa thot? Mein Junge, Du siehst mich an, als hättest Du soeben einen Geist erblickt!“

„So kommt es mir vor. Ich muß schlecht geträumt haben. Mir träumte, Du seist …“

„Ich weiß!“ Der Vater nickte. „Das Leben ist nichts weiter als ein einziger Traum. Es ist das Materielle, das uns daran hindert, die Wahrheit zu erkennen, das echte Leben zu sehen, denn dieses spielt sich nicht im materiellen Bereiche ab. Aber das weißt Du ja als Künstler!“

„Als Künstler? Seit wann nennst Du mich so? Du hattest doch stets etwas gegen eine künstlerische Laufbahn meinerseits!?“

„Ja, mein Junge, dem war thatsächlich so. Doch nun sehe ich die Dinge anders. Nun sehe ich sie mit dem Herzen, nicht mehr mit meinen Augen und mit meinem Verstande, und das macht einen großen Unterschied.“

„Mit dem Herzen?“

„Nun, nicht wirklich mit dem Herzen – ich weiß gar nicht, wie ich es treffend ausdrücken soll … In Wahrheit sehe ich weder mit den Augen, noch mit dem Herzen, eigentlich sehe ich überhaupt nicht mehr, ich fühle vielmehr. Oder sagen wir: Ich bin ein Theil geworden von allem – und alles ist ein Theil geworden von mir.“

„Du sprichst wie ein Künstler. Oder wie ein Geistlicher. Diese Töne kenne ich gar nicht bei Dir …“

„Nun, wir beide hatten ja auch nicht wirklich die Zeit, uns näher kennenzulernen, findest Du nicht auch? Meine Krankheit hat mir Vieles genommen, vor allem die Fähigkeit, die wirklich wichtigen Dinge zu sehen. Mir ging es lediglich darum, Dich materiell abgesichert zu wissen – das ist völlig normal für einen Vater – doch nun weiß ich es besser. Nun sehe ich alle Dinge, erkenne und verstehe alle Zusammenhänge – mittlerweile weiß ich, daß die materiellen Dinge nicht wirklich von Belang und von Wichtigkeit sind, zumindest nicht dauerhaft. Sie sind nicht von ewigem Bestand. Einzig wichtig ist, daß der Mensch glücklich ist und ausschließlich jene Dinge thut, die ihn wirklich interessieren, die ihn erfüllen, die ihn glücklich und frei machen. Alles andere ist nebensächlich. Alles andere ist nicht von Dauer. Alles andere vergeht. Nur das eigene Glücksempfinden, das bleibt am Ende übrig. Aber auch die Ängste, insofern man diese zuläßt. Also komme ich zu Dir, mein Sohn, um Dir einen guthen Rath zu geben, der da lautet: Lebe Dein Leben! Lebe es, als sei es Dein einziges und letztes, denn dem ist so, zumindest was diese Welt anbelangt! Arrangiere Dich mit der materiellen Welt, aber laß sie niemals Oberhand gewinnen über Dich, über Deine Ziele und über Deine Träume. Thue ausschließlich das, was Du für wichtig erachtest, selbstverständlich ohne dabei anderen Menschen oder Lebewesen zu schaden. Folge Deinem Herzen, Deiner inneren Stimme. Höre nicht auf die anderen. Ein Künstler kann nur ein Künstler sein, wenn er sich von allem lossagt, wenn er nicht nach materiellem Reichthum strebt, sondern sich mit Leib und Seele dem Ideellen, dem Immateriellen, verschreibt. Andernfalls wird er höchstens ein guther Geschäftsmann, jedoch niemals ein guther Künstler sein. Ein wahrer Künstler bewegt sich zwischen den Welten – zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren – er ist ein Gleiter, ein Medium, ein Selbstseher, und seine Kunst gewinnt nur dann an Tiefe, an Wahrheit und an Überzeugung, wenn er zwischen diesen beiden Welten vermittelt. Für all die anderen, denen es nicht vergönnt ist, zu sehen, so wie er selbst es thut.“

„Ein Selbstseher? Was meinst Du damit?“

„Nun … Einer, der sich selbst erkennt, einer der sich seiner selbst bewußt ist. Doch er sieht und erkennt natürlich nicht nur sich selbst, sondern auch die anderen. Er sieht sich selbst, die anderen – sowie alles andere. So wie ich, so wie …“

„Wie ein Verstorbener und Wiedererweckter?“

„Ja, durchaus. Sagen wir: Wie einer, der sich seiner materiellen Hülle entledigt hat. Denn nur dann werden ihm tiefere Einblicke in die Materie vergönnt, nur dann vermag er es, hinter die Dinge zu sehen und somit die größeren Zusammenhänge zu erkennen.“

„Das gelingt mir öfters.“

„Ja, ich weiß. Das Zeichnen, das Malen, das Musizieren, das Schreiben, die Kunst im Allgemeinen, ist nicht nur Meditation. Sie ist gleichzeitig auch Transzendenz. Nur sehr wenige Menschen sind zu diesem Vorgang überhaupt fähig. Du solltest diese Gabe nutzen, mein Sohn, Du mußt es sogar! Du mußt die Massen anführen, sie erwecken, und sie aus der Finsternis zum Lichte geleiten! Lasse Dich nicht abbringen von Deinem Wege – und zwar von niemandem, auch nicht von jenen Menschen, die es nur guth mit Dir meinen und sich um Dich sorgen! Gehe Deinen Weg weiter und lasse Dich von nichts und niemandem beirren oder gar von diesem Wege abbringen, denn es ist Dein Weg, hörst Du? Es ist Dein Schicksal.“

„Mein Schicksal?“

„Ja! Es ist Dir vorherbestimmt!“

„Ich glaube nicht so recht an diese Dinge!“

„Warum sollte ein Vater seinen Sohn belügen? Er weiß es. Zumindest weiß er es jetzt. Er hat es selbst erfahren! An seinem eigenen Leibe hat er all dies verspüren müssen. Die eigenen Augen haben ihm erst genommen werden müssen, damit er die Dinge sieht. Der eigene Körper hat ihm erst entrissen werden müssen, damit er diesen spürt. Das eigene Herz hat erst zu schlagen aufhören müssen, damit er auf dieses vertraut. Seinen eigenen Sohn hat er erst verlieren müssen, damit er ihm voller Liebe und Verständnis entgegentrethen kann. Und der Sohn kann seinem Vater vertrauen.“

„Aber das weiß ich doch! Nur macht es mich einigermaßen stutzig, daß Du nun genau das Gegenteil von dem sagst, was Du früher immer gepredigt hast. Immerzu hieß es, ich solle Ingenieur werden, meine Matura machen, und andere Dinge wie diese. Niemals hast Du bislang so offen mit mir geredet!“

„Das konnte ich nicht, mein Sohn!“, sagte der Vater. „Ich konnte es nicht. Ich war ein Gefangener. Ein Gefangener meines Körpers, ein Gefangener meiner Erziehung, ein Gefangener meiner Rolle als Vater, ein Gefangener meiner Krankheit. Nun bin ich frei. Nun sehe ich. Nun bin ich ein Selbstseher. Einer, der sich selbst erkennt. Sich selbst, die anderen – und alles andere!“

„Ich glaube Dir“, sagte der Sohn. „Und ich vertraue Dir. Selbstverständlich, denn Du bist mein Vater. In Deine Hand würde ich mein Leben legen!“

„Amen, so sei es!“, entgegnete der Vater. Und verschwand. Wobei er sich förmlich in Luft auflöste.

Nachdenklich. Blickte Egon sich im Raume um. Das fahle Morgenlicht fiel schräg ins Zimmer ein. Und streifte vage den Parkettboden. Unversehens. Fiel sein Blick auf das kleine Holzregal. Neben seinem Bette. Darin all die Schmetterlinge. Und Mineralien. Die sein Vater während seiner eigenen Jugend gesammelt hatte. Und die der Junge von ihm geerbt hatte. Als einziges Erbe. Denn außer dieser spärlichen Naturaliensammlung hatte es nichts zu erben gegeben. Mit einem Mal. Musste er schlucken. Denn er erinnerte sich wieder. An die frühen Jahre. An bessere Jahre. An das Zeichentalent. Seines Vaters. Das er ebenfalls von ihm geerbt hatte. Ebenso. Wie dessen Naturverbundenheit. Mit einem Mal. Und nach sehr langer Zeit. Fühlte er sich plötzlich. Mit dem Vater eng verbunden. Und es rührte ihn. Dieser eigentümliche Geruch. Seines Vaters. Diese seltsame Mischung. Aus Wald. Und Eisenbahn. Die immer noch in der Luft hing.

Als der Sohn erwachte. War der Vater nicht mehr da. Und doch war er es mehr. Als je zuvor. Denn der Sohn war endlich aufgewacht. Aus einem Albtraum. Namens Leben. Welches uns vorgaukelt. Wach zu sein. Und nicht wirklich existent zu sein. Wenn wir schlafen. Und träumen. Wenn wir uns Dinge vorstellen. Uns Dinge einbilden. Die nichts wert sind. Wenn wir erwachen. Denn in diesem Albtraum des vermeintlichen Erwachtseins zählen ausschließlich Dinge. Die man nachweisen und vermessen kann. Die wirklich wichtigen Dinge. Jedoch nicht. Denn die kann man nicht nachweisen und vermessen.

Gott. Hatte sich ihm offenbart. Der himmlische Vater. Hatte sich ihm gezeigt. In Form seines irdischen Vaters. Denn die Wege des Herrn. Sind unergründlich. Und doch ist er. Gut. Und gerecht. Der Hirte. Der Schöpfer. Und Herr. Ich bin nicht würdig. Dass Du eingehst. Unter meinem Dach. Aber sprich nur. Ein Wort. So wird meine Seele gesund.

„Ich habe tatsächlich einen schönen spiritistischen Fall heute erlebt, ich war wach, doch gebannt von dem Geist, der sich vor meinem Wachwerden im Traum angemeldet hat, solange er mit mir gesprochen hat, war ich starr und sprachlos.“ 13

(Brief Egon Schieles an seine Schwester)

16

Da stand er nun. Der arme Tor. Und war so klug. Als wie zuvor. Beziehungsweise. Viel weniger noch. Als Halbwaise. Als halbe Portion. Sozusagen. Vaterlos. Konnte er das gesamte Ausmaß der Katastrophe kaum annähernd überblicken. Denn der Leithammel fehlte. Die Leitfigur. Die Galionsfigur. Die Identifikationsfigur. Die Vaterfigur halt. An der sich ein junger Mann stets orientieren sollte. Sich reiben. Und messen. Durch die sich ein junger Mann erst identifiziert. Vor allem. Wenn männliche Freunde fehlen. Und so. Trat nun allmählich eine andere Vaterfigur auf den Plan. Nicht etwa sein offizieller Vormund. Leopold Czihaczek. Gott bewahre! Denn den lehnte er strikt ab. Sondern ein Star. Eine Art Popstar. Der Jahrhundertwende. Ein Skandalkünstler. Von dem alles sprach. Und alle. Sich das Maul zerrissen. Der taugte als Identifikationsfigur. Dachte der junge Egon. Der eine gewisse Geistesverwandtschaft zwischen ihnen ortete. Und die ist bekanntlich stärker. Als Blut. Denn Blutsverwandtschaft ist noch lange keine Garantie dafür. Dass man sich auch wirklich versteht.

Bald schon. Sollte Gustav Klimt diese Rolle übernehmen. Ob er nun wollte. Oder nicht. Denn der junge Schiele hatte ihn dazu auserkoren. Klimt. Der selbst kein guter Vater war. Wurde dem Jungen zur Vaterfigur. Und zum Vorbild. Und nach diesem Bilde. Orientierte er sich. Zunächst. An der Secession. Die Klimt begründet hatte. Und über die er sehr gut im Bilde war. Über die er sich einen Überblick verschaffte. Indem er alles zu sammeln begann. Was er nur kriegen konnte. Zeitungsartikel. Postkarten. Einladungskarten. Und sogar Plakate. Zu den Ausstellungen. Der Secession. Die er nächtens von den Wänden riss. Und bei sich daheim hortete. Wie viele andere junge Männer auch. Stück. Für Stück. Entstand ein regelrechter Anbetungsschrein. Ein Reliquiar. Eine Art Altar. Der Kunst. Und der Anbetung. Seines großen Meisters. Seines geistigen und künstlerischen Vorbildes. Und Ziehvaters. Was sich auch bald schon in seinem eigenen Schaffen zeigen sollte. In seinen eigenen Zeichnungen. Die zunehmend kantiger wurden. Dekorativer. Ornamentaler. Flächiger. Schattenloser. Ganz im Stile. Und Geiste. Seines Meisters. Den er zutiefst bewunderte. Und abgöttisch verehrte.

Klimt bewies ihm. Dass es auch so ging. Dass man sich auch als Rebell durchsetzen konnte. Nein. Mehr noch. Dass man auch als Rebell erfolgreich sein konnte. Geliebt. Und gehasst. Gleichzeitig. Bestärkte ihn dies nur noch mehr. In seinem eigenen Schaffen. Und in seinem eigenen Wunsch. Künstler zu werden. Was anfangs noch als Spinnerei eines Pubertierenden abgetan werden konnte. Wurde nun unübersehbar. Allmählich. Während seiner so sehr verhassten Gymnasialzeit. Freundete sich der heranwachsende Egon mit seinem Zeichenlehrer an. Einem gewissen Ludwig Karl Strauch14. Ausgerechnet mit einem Lehrer. Der sein Talent erkannte. Als einziger. Unter den Lehrern. Nahm er den Jungen in Schutz.

„Der Junge ist überaus talentiert!“, pflegte er zu sagen. Wenn sich wieder mal alles gegen diesen verschworen hatte. Und wenn dessen neuerliche Versetzung gefährdet schien. Wieder mal. Ergriff er dessen Partei. Als Advocatus. Diaboli. Als Verteidiger. Dieses Satansbratens. Der es ihm hoch anrechnete. Und der sich Mühe gab. Im Zeichenunterricht. War es doch der einzige Unterricht. Der ihn überhaupt interessierte. Und wo er sich überhaupt wirklich anstrengte. Denn alles andere interessierte ihn einfach nicht.

„Du mußt Künstler werden!“, sagte der Zeichenlehrer. Immerzu. Der auch selbst Künstler war. Und sich lediglich ein Zubrot verdiente. Mit dem Kunstunterricht. Als brotloser Künstler. Erlangte er dennoch einige Bekanntheit. In Wien. Und um Wien herum. Als Landschafts- und Portraitmaler. Was er an der Wiener Akademie gelernt hatte. Kam dem jungen Schiele nun zugute. Denn Ludwig Karl Strauch nahm ihn prompt unter seine Fittiche. Nicht nur im Unterricht. Sondern auch privat. Denn er bot ihm Privatstunden an. Gratis sogar. Beziehungsweise. Nur für einen geringen Obolus. Den er als Materialkostenzuschuss verbuchte. Denn er glaubte an den Jungen. Und gestattete ihm sogar. Sein Atelier zu nutzen. Und darin zu arbeiten. Zunächst nur einmal die Woche. Doch dann immer öfter. Stand der junge Schiele auf der Matte. Dem diese Besuche sehr am Herzen lagen. Weil sie ihn aus einer Welt entführten. Die ihm von jeher als unerträglich erschienen war. Als nicht die seine. Als banal. Überflüssig. Und nicht von Dauer. Fühlte er sich wohl. In diesem Umfeld. Aus Kunst. Und Künstlern. Zumal Ludwig Karl Strauch gute Kontakte pflegte. Sogar zu Gustav Klimt. Dem Fürsten. Der Wiener Kunstszene. An dem man nicht vorbeikam. Mit dem alles hing. Und fiel. Was den Jungen zusätzlich faszinierte. War es doch eine Eintrittskarte. Sozusagen. In die Welt da draußen. In die Kunst- und Künstlerwelt. Also in die echte.

„Ja, mein Junge!“ Ludwig Karl Strauch nickte zufrieden. „Das ist guth! Siehst Du? Genauso mußt Du den Stift führen, damit der Schatten correct wiedergegeben wird! Natürlich ist dies längst nicht mehr die Ultima Ratio, wie Du weißt, denn die Secession hat es uns allen vorgemacht, daß es auch eine Welt ohne Schatten und somit ohne Tiefenwirkung geben kann, aber wir müssen alle klein anfangen, wir müssen alle erst einmal dahinkommen, und an der Academie wird man derartige Escapaden ganz sicher nicht dulden!“

Der Junge nickte. Ganz in seine Zeichnung vertieft.

„Ich selbst habe ja noch unter Professor Griepenkerl studiert, einem ganz üblen Kerl!“ Ludwig Karl Strauch lachte. „Nein, übel ist er eigentlich nicht, nur schrecklich conservativ. Kein Wunder, ist er doch irgendwann im Frühjahr 1839 geboren, in Oldenburg – also Piefke ist er zu allem Übel auch noch! – und allmählich wird er nun schon siebzig Lenze alt, wobei er jedoch noch gar nicht ans Aufhören denkt, der alte Hund! Solltest Du eines schönen Tages an der Wiener Academie der Bildenden Künste angenommen werden, so würde es mich gar nicht verwundern, wenn er plötzlich vor Dir stünde – als Dein Professor für Allgemeine Malerei! Mit siebzig Jahren noch! Nein, den wird man liegend aus der Academie tragen müssen, dessen bin ich mir sicher, der gibt nicht auf, der ist zäh wie Leder!“

Egon Schiele lächelte.

„Der Griepenkerl duldet keinerlei Widerspruch. Er ist wirklich ein Maler alter Schule – er zwingt die Schüler zu absolutem Gehorsam, so wie in einer absoluten Monarchie! Nein, also mit parlamentarischer oder mit constitutioneller Monarchie, so wie in unserem Lande, seit Anno 1861, respective erst seit 1867, also erst seit achtunddreißig Jahren, ist diesbezüglich nicht zu rechnen und darüber hinaus auch keinerlei Entgegenkommen zu erwarten! Und dabei hat er eine ganze Armada von inzwischen berühmten Malern ausgebildet, welche justament die Wiener Kunstwelt gehörig reformiert und somit ganz ordentlich durcheinandergewirbelt haben! So zum Beispiel Carl Moll, Alfred Roller, Max Kurzweil oder Carl Otto Czeschka, wobei alle von ihnen Mitglieder – respective sogar Mitbegründer! – der Wiener Secession wurden. Seither verbiethet er übrigens seinen Schülern, sich die Ausstellungen der Secession anzusehen, vermuthlich aus didactischen Gründen, damit seine conservativen Erziehungsmethoden dadurch nicht über den Haufen geworfen werden, respective ‚unterwandert‘ oder ‚untergraben‘, wie er selbst es wohl ausdrücken würde …“

„Glaubt Ihr denn daran, daß ich eine Chance an der Akademie hätte, Meister Strauch?“

„Aber selbstverständlich!“ Der Künstler schüttelte den Kopf. „Wenn ich selbst es geschafft habe, dann schaffst Du es auch, bei Deinem großen Talent! Fünfzehn Jahre war ich jung, also genauso alt wie Du es jetzt bist, als ich die Aufnahmeprüfung erfolgreich ablegte! Nur fleißig mußt Du sein – und gefügig! Blinder Gehorsam und eiserne Disciplin sind ja nicht gerade Deine allergrößten Stärken!“

Der junge Schiele liebte es. Im Atelier. Von Ludwig Karl Strauch. Der nur 15 Jahre älter war. Als er selbst. Beziehungsweise. Doppelt so alt. Je nachdem. Wie man es sah. War der eine Dreißig. Der andere erst Fünfzehn. Und doch. Erschien dieser Altersunterschied beiden marginal. Denn sie waren ja schließlich Brüder. Im Geiste. Konnte der junge Schiele Vieles von seinem Meister lernen. Sehr Vieles sogar. Mehr noch. Als in der Natur. Durch bloßes Eigenstudium. Was ihm dennoch zugutekommen sollte. Und zwar sehr bald schon. Wenn er sich nämlich lossagen sollte. Loslösen. Von der klassischen Kunst. Der etablierten. Der herkömmlichen. Der akademischen. Um eigene Wege zu gehen. Wie Klimt. Es bereits vor ihm getan hatte. Sollte er revoltieren. Sich auflehnen. Gegen das Establishment. Im Grunde. Hatte er das ja immer schon getan. Ganz von Anfang an. War es seine Antriebsfeder gewesen. Mit der er immer wieder auf Widerstand gestoßen war. Und dies immer noch tat. Außer bei Ludwig Karl Strauch. Der ihn praktisch adoptierte. Wie einen eigenen Sohn. Nahm er ihn bei sich auf. Und förderte ihn. Wo er nur konnte. Ebnete er ihm den Weg. Für ein künftiges Leben. Als freischaffender Künstler. Was ihm selbst missglückt war. Sollte der Junge einst besser machen. „Denn eine guthe und gewissenhafte Vorbereitung ist schon mal die halbe Miete!“ Pflegte er zu sagen. „Einen Plan muß man haben. Für sein Leben. Und für die Zukunft. Sonst wird das alles nichts!“ Weshalb er den erst fünfzehnjährigen Egon Schiele gut und gewissenhaft instruierte. Ihn vorbereitete. Für die zahlreichen Prüfungen. Eines künftigen Künstlerlebens. Sowie für die große Aufnahmeprüfung. An der Wiener Akademie der bildenden Künste. Die er selbst ebenfalls mit fünfzehn Jahren bestanden hatte. Eine seltsame Parallele. Wie so viele andere auch. Glaubte Egon Schiele. An das Schicksal. An eine Fügung. Ob göttlich. Oder nicht. Gab es da etwas. Abseits der sichtbaren Welt. Das alle Dinge im Innersten zusammenhält. Und miteinander verbindet. Sodass eines aufbauen kann. Auf das andere. Welches somit erst zu seiner wahren Bestimmung findet.

Gern erzählte Ludwig Karl Strauch Schwänke. Aus seinem Privatleben. Und so erfuhr Egon Schiele einiges darüber. Was diesen Künstler überhaupt nach Klosterneuburg verschlagen hatte.

„Ehrlich gesagt, war es meine tiefe Zuneigung zu Camilla von Savageri, die mich hierhergebracht hat!“, verriet er seinem jungen Schüler, nachdem sich die beiden angefreundet hatten. „Niemals hätte ich mir träumen lassen, daß ich ausgerechnet hier, im beschaulichen Klosterneuburg lande – justament als Lehrer auch noch! – wo ich doch immer schon überaus unstet und rastlos war, die Dinge in meinem Leben nach aller Möglichkeit unverbindlich hielt und immerzu vom Reisefieber ergriffen war. Vielleicht ist es Dir ja bereits zu Ohren gekommen – hier im Ort wird ja furchtbar viel geklatscht, naturgemäß, wie in allen Kleinstädten – aber ich bin in der Welt schon sehr weit herumgekommen!“

„Ich gebe nicht viel auf Klatsch und Tratsch“, entgegnete der Junge. Den es wirklich nicht interessierte. Was die Leute so redeten.

„Nun denn …“ Ludwig Karl Strauch plusterte sich auf. Wie ein Gockel. Stolz. Und eitel. Wie Künstler nun mal sind. Fuhr er fort: „Nach meinem Studium an der Academie der Bildenden Künste erhielt ich vor sechs Jahren, also im Jahre 1899, als erfolgreicher Hochschul-Absolvent, das Kenyon-Reisestipendiat, welches mir einen einjährigen Aufenthalt in Rom ermöglichte. Ach Gott, Rom!“ Sein Blick verklärte sich. „Die Mutter aller Städte! Da mußt Du unbedingt einmal hinfahren, es gibt nichts Vergleichbares auf der Welt! Dieses helle und warme Licht, diese scharf conturierten und tiefschwarzen Schatten, die bunte Folklore, die alten und krummen Mauern, roth und ockerfarben, abgeblättert und angestaubt, abgenagt vom Zahn der Zeit, die Denkmale von geradezu wahnwitzigen Ausmaßen, wie das Colosseum, das Pantheon, die Diocletians- und die Caracalla-Thermen, die Fori Imperiali, die Fontana di Trevi, der Petersdom, sowie unzählige andere Monumente aus der Antike und aus der Barockzeit, welche über die ganze Stadt verteilt liegen und sich noch weit darüber hinaus in die liebliche Landschaft des Latium erstrecken – und über alledem weht ein Hauch von ätherischen Ölen, die den majestätischen, schirmförmigen Pinien entströmen, den blühenden Orangen- und Citronenbäumchen, sowie ganzen Wänden aus dunkel schimmerndem Lorbeer, darin untertags das monotone Zirpen der Zikaden erklingt, in der flirrenden Hitze einlullend wie ein Rausch, wohingegen des nachts der Gesang der Nachtigall aus dem Strauchwerk ertönt, lieblich und von überirdischer Schönheit, unter einem riesenhaften Mond, der sich silbern in den Fluten des Tibers spiegelt, die unaufhaltsam zur Küste sich hindrängen – und schließlich, nicht zu vergessen, hinter all dieser wunderbaren Szenerie verborgen, als würdige Bekrönung des Ganzen sozusagen, erstreckt sich, bis zum Horizonte hin, das schäumende und wogende Meer! Ach Gott, das Meer, mit seinen tausend Thönen von Blau – und mit seinen schier unendlichen, schneeweißen Sandstränden – bei meiner armen Seele, was fehlt mir das hier!“

„Aber warum seid Ihr denn nicht dortgeblieben, wenn es Euch doch so sehr erfüllt hat?“

„I wo!“ Strauch winkte ab. „Ich bin kein Mann fürs Bleiben – zumindest war ich das bis jetzt nie. Es zog mich stets weiter – auf zu neuen Ufern, zu neuen Abenteuern, zu neuen Horizonten! Stets wollte ich wissen, was sich hinter der Berg- oder Hügelkuppe verbirgt – und kaum habe ich es gesehen, so entdeckte ich auch schon die nächste, und so weiter und so fort. Zumindest war es bis jetzt so …“

„Was war denn Eure weiteste Reise?“, beeilte sich Egon zu fragen. Da er erkannte. Dass sich plötzlich ein wehmütiger Zug breitzumachen begann. Um den Mund des Meisters. Wirkte er wie ein Tiger. Den man in einen viel zu kleinen Käfig gesperrt hatte. In einen Zwinger. Namens Klosterneuburg. Und namens K.u.K. Nieder-Österreichisches Landes-Real- und Ober-Gymnasium. Dortselbst.

„Ja, mein lieber Junge“ Der Meister fasste sich wieder. „Bevor ich also vor wenigen Monaten hier in Klosterneuburg landete, zog es mich wahrlich in die Ferne. Und zwar so weit fort, daß Du es Dir vermuthlich nicht einmal vorstellen kannst!“

„Bis nach Spanien? Zu den Stierkämpfern?“

„Pah! Noch weiter!“ Strauch lachte. „Mein ewiges Draufgängerthum und meine chronische Abenteuerlust führten mich bishin ins ferne Africa – nein, noch weiter, nämlich bis an die allersüdlichste Spitze des africanischen Continents, und zwar bis nach Transvaal, in Süd-Africa!“

„Du meine Güte!“, der junge Egon mochte es kaum glauben. Ungläubig starrte er seinen Meister an. Mit offenem Mund. Gab es da andererseits aber auch all diese exotisch anmutenden Mitbringsel. Überall im Atelier. Die Böden und die Wände bedeckend.

„Jaja!“, machte der Meister. Nicht ohne Stolz. Auf sich selbst. „Bis nach Süd-Africa hat es mich verschlagen!“

„Aber warum das? Warum ausgerechnet Südafrika?“

„Nun, weil ich immer schon davon geträumt hatte! Immer schon hatte ich Löwen und Elephanten sehen wollen, Giraffen, Nashörner und Flußpferde, Zebras und Gnus, Affen und Schlangen, so lang wie ein Automobil!“

„Nein!“

„Aber ja!“ Strauch nickte selbstgefällig. „Außerdem schloß ich mich dort unten als Freiwilliger den Buren im Kampfe gegen die Engländer an – und zwar erfolgreich, wie man weiß!“

„Wie?“

„Jaja! Und was ich dort alles erlebt habe! Darüber könnte man glatt einen Roman verfassen, das geht wirklich auf keine Kuhhaut! Es ist ja eine völlig fremde Cultur, vor allem fernab der colonialisierten Centren, also wenn man sich bis in den Busch oder in die Steppe vorwagt!“

„Ich persönlich kenne niemanden, den es je so weit von zu Hause getrieben hätte! Himmel! Südafrika! Was für ein Abenteuer!“

„Vor allem die Reise dorthin – und wieder zurück – war ein wahrliches Abenteuer, über das man ganze Bände füllen könnte! Wir nahmen ja die Ost-Passage, zunächst über das Mittelmeer, dann über Ägypten und durchs Rothe Meer, über Äthiopien, und schließlich über den Indischen Ozean, über Sansibar und an Madagaskar vorbei, wobei wir unterwegs mehrere Zwischenstationen einlegten – eine monatelange Reise ist das, von und nach Wien zurück! Ich weiß nicht, ob ich überhaupt jemals noch einmal die Kraft dazu hätte!“

„Und habt Ihr dort unten auch gemalt?“

„Aber natürlich! Sowohl gemalt als auch gezeichnet. Sehr viel sogar! Die Bilder hat man mir dann hier in Wien förmlich aus den Händen gerissen! Der Orientalismus war ja damals, am Ende des vorherigen Jahrhunderts, groß in Mode. Alle Künstler thaten es: Leopold Carl Müller, zum Beispiel, der insgesamt neun Male nach Ägypten reiste und dort unter anderem den großen Hans Makart und Franz Lenbach traf. Aber auch der Wiener Künstler Josef Hoffmann – nicht etwa der berühmte Architect, sondern der Maler, sein Namensvetter – den es nicht nur nach Scandinavien, Bosnien, nach Tunis, Algier und auf die Balearen verschlug, sondern bis nach Klein-Asien, über Constantinopel bis weit ins Osmanische Reich hinein, ferner nach Ägypten, wie fast alle, aber sogar bis nach Indien, nach Ceylon, auf Java, nach China und Japan, aber auch nach Nord-America. Den Wiener Maler Thomas Ender verschlug es im Zuge der K.u.K. Österreichischen Naturwissenschaftlichen Expedition bis nach Brasilien. Auch der Wiener Maler Hubert Sattler reiste nicht nur nach Constantinopel, nach Palästina, nach Ägypten und bis auf den Sinai, sondern auch nach America und bishin zum Nordkap! Und so weiter und so fort. Ach, es waren zig, wenn nicht gar hunderte Künstler, allein aus Österreich, die es bis in die entlegensten Winkel der Erde verschlug!“

„Und ich sitze hier im faden Kloburg fest …“

„Ach, keine Sorge, Deine große Zeit wird auch noch kommen! Du bist ja noch jung, erst fünfzehn Jahre alt, warte nur ab!“

„Hm. Ich weiß nicht, ob ich der Typ für derartige Reisen bin. Mich interessiert sie zwar schon, die große, weite Welt, doch mehr noch interessiert mich der Mensch, sein Gemüt und seine Regungen, eine Reise ins Innere sozusagen.“

„Das eine schließt das andere nicht aus. Ganz und gar nicht sogar! Warte …“, Strauch erhob sich, um in einem verborgenen Winkel seines Ateliers in einem Stoß aus Büchern und Papieren zu kramen. Schließlich kam er mit einer großen Skizzenmappe zurück. „Hier, siehst Du? Das hier befand sich unter anderem in meinem Reisegepäck. Neben zahlreichen, detailliert ausgeführten Gemälden, nahm ich auch Studien wie diese mit. Und einige Bilder ließ ich gleich dort! Einen Augenblick!“ Wieder erhob er sich und kehrte mit einer kleinen Schatulle zurück.

„Was ist das denn? Etwa ein Orden?“

„Allerdings! Es ist der ‚Orden vom strahlenden Stern‘ von Sansibar, der mir vom Sultan höchstpersönlich verliehen wurde – und zwar für ein Portrait, das ich für ihn fertigte!“

„Unglaublich!“ Egon schüttelte den Kopf. „Wer hätte das gedacht? Ein kleiner Pauker aus dem kleinen Kloburg kann sich nun einen Orden des Sultans von Sansibar ans Revers heften!“

„Nur mal nicht so vorlaut, mein Kleiner!“, ermahnte Strauch ihn lachend. „Wer weiß, vielleicht werde ich ihn ja künftig während des Unterrichts tragen – vermuthlich werden mir meine Schüler dann mit ein wenig mehr Respect gegenübertrethen!?“

„Ich finde, Ihr solltet dies alles während des Unterrichts durchaus an die große Glocke hängen! Eure Reise nach Süd-Afrika, die Geschichte mit dem Sultan, die Abenteuer von Löwen und Riesenschlangen, und so weiter und so fort!“

„Ach!“, Strauch winkte ab. Und wirkte dabei ein wenig resigniert. „Besser ich erinnere mich selbst nicht daran. Sonst könnte ich hier in Klosterneuburg gar nicht functionieren.“

„Aber stellt Ihr nebenher auch noch weiterhin Eure Gemälde aus, oder seid Ihr nun voll und ganz dem undankbaren Lehrberufe zum Opfer gefallen?“

„Oh ja, aber natürlich! Erstmals zeigte ich eine Auswahl dieser Arbeiten vor drei Jahren, Anno 1902, in der renommierten Galerie Miethke in der Inneren Stadt, in Wien. Und seitdem präsentierte ich sie immer wieder gerne der Öffentlichkeit.“

„Aber warum habt Ihr Euch um Himmels Willen ausgerechnet in Klosterneuburg niedergelassen? Warum nicht zumindest in Wien, in der Reichshauptstadt, wo Ihr unter Gleichgesinnten wäret und wo man als Künstler freier leben kann, unter Seinesgleichen, zumal mit einem ganzen Tross an potentiellen Kunden?“

„Nun, ich erwähnte es ja eingangs bereits. Es war die Liebe, die mich hierherbrachte.“

Egon verzog sein Gesicht.

„Jaja, das wirst Du eines Tages auch noch erleben, wart‘s nur ab! Die Liebe vernebelt einem das Hirn, sie macht einen wahrlich blind, und doch treibt sie einem alle Flausen aus! Dann will man sich nurmehr ewig binden, sich seßhaft machen, sich ein festes und solides Heim schaffen und Kinder zeugen. Dann ist es vorbei mit den ewigen Junggesellen-Allüren!“

„Ich weiß nicht, ob ich das will.“

„Da hat man gar keine andere Wahl, mein Junge!“, Strauch lachte. Und es klang ein wenig bitter.

„Gut, daß Ihr wegen der Dame nach Klosterneuburg gekommen seid, das kann ich ja noch halbwegs nachvollziehen – aber warum um alles in der Welt habt Ihr, mit Verlaub, diesen öden Lehrberuf ergriffen?“

„Öde ist es ganz und gar nicht, wenn man die Stelle eines Lehrers für Freihandzeichnen am Gymnasium antritt!“, protestierte Strauch. „So kann ich zumindest das Nützliche mit dem Angenehmen verbinden, und zwar weitaus besser als in jedem anderen nur erdenklichen Berufe!“

„Hm. Das stimmt auch wieder … Aber warum habt Ihr überhaupt diese Stelle angetreten? Brachten die Gemälde etwa nicht genug ein, um als freier Künstler leben zu können?“

„Nein, ganz im Gegentheil, Du Frechdachs! Sieh Dich nur vor!“ Strauch hob mahnend den rechten Zeigefinger. Er lächelte zwar. Und doch sah man ihm an. Daß er eine derartige Offenheit nicht gewöhnt war. Der Junge nahm wirklich kein Blatt vor den Mund. „Ich that dies, weil Camillas Eltern, verständlicherweise, gegen eine Verbindung ihrer Tochter mit einem Thunichtguth waren, also mit einem freischaffenden Künstler, der ein ungesichertes und unregelmäßiges Einkommen bezieht. Sie sollte, ihrem Stande entsprechend, einen Mann mit einem ehrbaren Beruf ehelichen. Deshalb entschied ich mich schließlich zum Lehrberuf, obwohl ich ja eigentlich immer nur Maler sein wollte, frei wie ein Vogel! Allein aus Liebe zu Camilla, bin ich also Dein Lehrer geworden! Tja, so spielt das Leben …“

„Na dann“, Egon Schiele lächelte verschmitzt, „hat es doch durchaus sein Gutes!“

„Nur deshalb habe ich das Lehramt für Bildnerische Erziehung und Mathematik absolviert – und nach Abschluß meines Studiums trath ich also just in diesem Jahre, Anno 1905, meine Anstellung in Deinem Gymnasium an, als Lehrer im Freihandzeichnen. Nur aus diesem Grunde zog ich heuer nach Klosterneuburg und durfte daraufhin auch gleich meine liebe Camilla ehelichen!“

„Ich gratuliere! Und ich stelle mit Erschütterung fest: Lehrer sind auch nur Menschen!“, bemerkte Egon Schiele flapsig. „In meinen Augen waren sie bislang immer nur seltsame Maschinen, die eigens dafür erfunden wurden, um uns Schüler zu terrorisieren!“

„Aber, aber!“ Strauch lachte. „Niemand will hier irgendwen terrorisieren! Schließlich sind wir ja da, um euch Schülern zu helfen!“

„Das sehe ich nicht so. Zumindest habe ich es bislang nicht so gesehen.“

„Nun, die Lehrmethoden einiger Pauker, wie ihr Schüler uns nennt, sind in der That … nun, sagen wir: etwas veraltet.“

„Allerdings!“

„Dem wollte ich von Anfang an entgegenwirken! Meine Unterrichtsmethoden im Zeichenunterricht beschränken sich, wie Du ja selbst weißt, nicht auf die Correctheit und Präcision der Ausführung sowie auf das sture Copieren vorgegebener Unterlagen, denn dies ist in meinen Augen eher contraproductiv, thötet es doch den eigentlichen creativen Geist vielmehr ab, als daß es ihn befeuern und befördern würde!“

„Ich weiß! Und ich weiß es auch sehr zu schätzen!“

„Dies sehen leider nicht alle Lehrer so. Es gab sogar schon die eine oder andere Beschwerde gegen mich – und dies bereits in den ersten Monaten meiner Dienstzeit!“

„Unfaßbar! Diese falschen Hunde! Was haben sie denn gesagt?“

„Nun, mir direct haben sie natürlich nichts gesagt – sie haben sich vielmehr mit einer schriftlichen Beschwerde an die Direction gewandt!“

„Das ist ja wieder mal typisch!“

„Ich möchte nunmal neue Wege beschreiten – diesbezüglich bin ich wohl doch mehr Künstler als Lehrer – wobei ich ein glühender Anhänger der neuen und modernen Unterrichtsmethoden des böhmischen Künstlers Franz Cizek bin, der ja vor acht Jahren, also Anno 1897, im Gründungsjahre der Secession übrigens, seine eigene Kunst-Schule eröffnete. Seit zwei Jahren, also seit 1903, unterrichtet er an der Wiener Kunstgewerbeschule15, die aufgrund ihrer modernen Tendenzen inzwischen auch weltweit einen sehr guthen Ruf genießt. Unter vielen anderen heute bedeutenden Künstlern hat ja auch Gustav Klimt dort studiert!“

„Ja, das habe ich gehört.“

„Cizeks Devise lautet, daß die jungen Künstler ungezwungen und intuitiv malen oder zeichnen sollen – dies ist wahrlich ein völlig neuer, ja revolutionärer Ansatz, der meiner Meinung nach noch den ganzen zukünftigen Kunstunterricht revolutionieren wird!“16

„Und genau dies fordert Ihr ja ebenfalls in Eurem Unterricht! Wir sollen aus dem Bauch heraus erschaffen, nicht so sehr mit dem Kopf!“

„Ja, weil der menschliche Verstand – vor allem, wenn der Mensch älter wird – die schöpferische Urkraft eher behindert denn fördert! Je länger wir darüber nachdenken, was wir malen sollen, je mehr wir es planen und systematisch zerlegen, desto weniger authentisch wird es – und desto weniger wertvoll, desto weniger künstlerisch, so finde ich.“

„Mir hilft dieser Ansatz sehr!“

„Natürlich thut er das! Du warst ja, wie alle jungen Künstler übrigens, allzu sehr darauf bedacht, immerzu correct und präcise zu arbeiten, aber dies ist nicht das Wesen der Kunst. Dies mag das Wesen des Kunsthandwerks respective der academischen Malerei sein, aber nicht der echten, der wahren, der freien, der unmittelbaren Kunst! Will man authentische Inhalte oder gar Gefühle vermitteln, dann kommt man mit Präcision und Correctheit nicht weit. Eine Bauzeichnung soll präcise sein, aber ein Blumenbouquet oder eine Landschaft dürfen durchaus intuitiv behandelt werden – schließlich kann man sie ja getrost photographieren, wenn man ein naturgetreues Abbild wünscht!“

„Und beim Portrait?“

„Nun, das ist die Schwierigkeit – und große Künstler wie Gustav Klimt haben es uns ja bereits vorgemacht: Man muß nunmal den genauen Grad ermitteln, in wie weit man hier von einer allzu correcten Malweise abweichen darf und in wie weit eben nicht, denn schließlich soll das Portrait dem Portraitierten trotz allem ähnlich sehen! Abgesehen davon würde es ja sonst auch nicht vom Kunden acceptiert werden – und dies wäre fatal!“

„Aber wie kann ich frei arbeiten und dennoch ein genaues Abbild einer zu portraitierenden Person erschaffen?“

„Nun …“ Ludwig Karl Strauch lächelte. „Geh ins Kunsthistorische Hofmuseum! Sieh Dir die Portraits eines El Greco oder eines Velázquez an! Die sind schon wesentlich früher als wir zu einem annehmbaren Ergebnis gekommen! Das Studium der Alten Meister ist unabdingbar für einen jungen Künstler! In gewisser Weise ist ja alles schon einmal dagewesen – man muß also nur danach suchen und kann sich durchaus davon inspirieren lassen. Gustav Klimt thut dies ja auch! Sein gesamtes Werk ist ein einziges Sammelsurium an Bezügen zu anderen großen Meistern! Man sollte durchaus aufbauen auf dem reichen Erfahrungsschatz früherer Künstlergenerationen. Schließlich kann man das Rad ja nicht immer wieder von neuem erfinden.“

17

Doch der Künstler Ludwig Karl Strauch tat mehr. Als dem jungen Schiele nur ein Halt zu sein. Ein Vorbild. Eine Leitfigur. Eine Vaterfigur. Sogar sehr bald schon. Sollte er ihm den Weg ebnen. An die Akademie. Gemeinsam mit einem Bekannten. Einem gewissen Herrn. Dr. Wolfgang Pauker17. Dem Augustiner-Chorherrn. Kunsthistoriker. Und Schatzmeister. Des Stiftes Klosterneuburg. Zudem auch Religionslehrer. Am Gymnasium. Das Egon Schiele besuchte. War Strauch sehr gut vernetzt. Zumal hier. In Klosterneuburg. Ließ er den Jungen teilhaben. An diesem Netzwerk. Wobei der junge Schiele wichtige Bekanntschaften schließen konnte. Unter anderem. Mit anderen Klosterneuburger Malern. So etwa mit Adolf Michael Boehm18. Oder mit Max Kahrer19. Die ebenfalls hier gestrandet waren. In Klosterneuburg. Bei Wien. Sollten sie letztendlich auch sterben. Und begraben werden. Genauso wie Ludwig Karl Strauch. Auch.

Oft. Saßen sie beisammen. In einem kleinen aber erlesenen Künstlerkreise. Und redeten über die neuesten künstlerischen Strömungen. Sowie über Privates. Wobei der junge Schiele ihnen aufmerksam zuhörte. Sog er alles in sich auf. Wie ein Schwamm. Wollte er profitieren. Vom Erfahrungsschatz dieser drei Künstler. Die alle aus demselben Grunde nach Klosterneuburg gekommen waren. Das ja nur wenige Kilometer nördlich vor den Toren der K.u.K. Reichshauptstadt lag. Und wo die Mieten ungemein günstiger waren. Als in Wien. War hier auch die Künstlerdichte weitaus geringer. Sodass sie sich hier eine Nische erkämpfen konnten. Mit vergleichsweise großen Ateliers. Wobei sie ihre Produkte gut in der Reichshauptstadt absetzen konnten. Die in nur wenigen Minuten erreichbar war. Dank der guten Bahnverbindung. War also beides möglich. Ein unbeschwertes und weitaus günstigeres Leben auf dem Lande. Sowie eine dauerhafte Präsenz in der Stadt. In der Reichshauptstadt sogar. Die immer mehr Künstler verließen. In jenen Tagen. Aufgrund der geradezu explodierenden Mietpreise. Geschah dies auch in anderen europäischen Metropolen. Wie in Paris zum Beispiel. Wo die Künstler auf den Montmartre zogen. Beziehungsweise. Auf den Montparnasse.

Auch in Wien. War übrigens der Einfluss der Franzosen unverkennbar. Vor allem. In den letzten beiden Jahrzehnten. Des 19. Jahrhunderts. Wo viele den Impressionismus übernommen hatten. Der von Künstlern wie Claude Monet begründet worden war. Und der sich gerade mit diesem Spannungsverhältnis auseinandersetzte. Zwischen industrialisierter Großstadt. Und unberührtem Landleben. War es eine sehr moderne Kunstströmung. Der auch zahlreiche Wiener Künstler verfallen waren. Unter anderem. Emil Jakob Schindler. Der Vater Alma Mahlers. Sowie Tina Blau. Theodor von Hörmann. Und so weiter. Und so fort20. Doch vor allem. Ein gewisser Gustav Klimt. Der erst durch den französischen Impressionismus zur Secession gefunden hatte. Zu seinem eigenen Stil. Der ihn weltberühmt gemacht hatte. Wobei er sein Leben lang dem Impressionismus treu bleiben sollte. Was die Landschaftsmalerei anbelangt. Verließ er die Hauptstadt ebenfalls. Nicht dauerhaft. Aber regelmäßig. Jedes Jahr. Während der Sommermonate. Zur sogenannten Sommerfrische. Wie alle es taten. Die es sich leisten konnten.

„Der Impressionismus hat uns allen die Augen geöffnet!“, sagte Max Kahrer, nachdem er dem jungen Schiele einige seiner eigenen impressionistischen Werke aus früheren Tagen gezeigt hatte. „Wie Du siehst, war auch ich selbst anfangs sehr stark von dieser neuen, französischen Sichtweise geprägt, bevor die Wiener Secession einen bestimmenden Einfluß auf mein Werk nahm.“

„Ja“, pflichtete ihm Ludwig Karl Strauch bei. „Wobei Du von uns allen wohl am meisten von der impressionistischen Technik der Franzosen beeinflußt warst. Man sieht es sehr guth in Deinen zahlreichen Landschaftsbildern, die ja vornehmlich hier in den Donau-Auen, in und um Wien herum, auch in Klosterneuburg, entstanden sind.“

„Nicht nur dort!“, fügte Kahrer, nicht ohne Stolz, hinzu. „Ich habe ja theilweise auch im Hochgebirge gemalt, wie zum Beispiel Thomas Ender auch, oder Hubert Sattler, sowie an den malerischen Ufern der ober-österreichischen und der bajuwarischen Seen. Am liebsten male ich thatsächlich dort, wo Wasser ist. Da ist nämlich auch das Licht ganz besonders schön.“

„Das stimmt allerdings!“ Adolf Michael Boehm nickte zustimmend mit dem Kopf. Und Strauch tat es ihm sogleich nach.

„Und es ist sehr schwierig, dieses ganz spezielle Licht einzufangen!“, fügte Strauch hinzu, wobei er sich an den jungen Schiele wandte. „Es ist ständig in Bewegung, wie Du sicherlich weißt, vor allem, wenn ein Lüftchen weht! Dann bricht sich das Sonnenlicht tausendfach in den Schaumkronen der Wellen. Sie reflectieren es, sie werfen es zurück, in die gesamte Umgebung, wo es sich dann an alle Dinge heftet. An die Blätter, an die Baumstämme, an die Moosflecken, auf die Steine, wobei sich dadurch nicht nur das Licht verändert, sondern natürlich auch der jeweilige Farbthon.“

„Genau deshalb ist die impressionistische Malweise auch so ideal für die Landschaftsmalerei!“, fuhr Max Kahrer fort. „Beim Portrait, sowie bei allem, was innen liegt, bei künstlichem Lichte, kann es sogar störend sein. Doch draußen, gerade bei wechselndem, flackerndem Sonnenlichte, kann es gar keine beßre Maltechnik geben, um dieses Phänomen gebührlich einzufangen.“

„Ein einziger Tupfen eines anderen, helleren Farb-Thons genügt schon, um dieses Lichtspiel fürs menschliche Auge zu verdeutlichen!“, sagte nun Boehm. „Und es geht sehr schnell, das ist der enorme Vortheil dabei! Mit der classischen, academischen Technik kämen wir diesbezüglich nicht sehr weit. Es würde alles viel zu lange dauern, verständlicherweise, denn die classische Malerei in Schichten, die Lasurmalerei, eignet sich lediglich für Bildnisse, die über einen längeren Zeitraum hin entstehen, aufgrund der langen Trocknungszeiten der Ölfarbe.“

„Hast Du Dich auch schon einmal in Öl versucht?“, fragte Kahrer nun den Jungen.

„Nein, noch nicht. Meister Strauch ist der Meinung, ich solle zunächst das Zeichenhandwerk gebührend erlernen, bevor ich mit den verschiedenen Farb- und Maltechniken beginne.“

„Das stimmt auch wieder!“, sagte Kahrer. „Man muß die Sache Schritt für Schritt angehen. Alles der Reihe nach. Und es ist ja auch noch kein Meister vom Himmel gefallen. Das ist alles reine Übungssache.“

„Aber Talent gehört natürlich auch dazu!“, ergänzte Strauch.

„Sicherlich!“, pflichteten die anderen beiden ihm kopfnickend bei.

„Die freie Technik des Impressionismus hat uns ja eigentlich erst zur Secession geführt“, meinte nun Boehm. „Denn eine allzu strenge Tiefenwirkung sowie die Construction ausgedehnter Schattenzonen werden bereits im Impressionismus weitgehend vermieden – ist es doch eine reine Lichtmalerei, wo die Farbflächen im Vordergrund stehen, also die Gesamtwirkung, das Große und Ganze, bei weitgehendem Verzicht auf die Détails.“

„Generell sollten in einem impressionistischen Bilde alle allzu dunklen Thöne vermieden werden, Schwarz sowieso“, ergänzte Kahrer.

„Zumal es ja auch ein ganz bewußter Gegenpart zur Photographie sein soll, die nun schon seit sechsundsechzig Jahren die naturgetreue Abbildung, respective die exacte Ablichtung der Natur, vereinnahmt und diese somit als einzig wahre Form der realistischen Darstellung für sich in Anspruch nimmt, weshalb der Realismus in der Malerei ohnehin längst hinfällig ist“, fügte Strauch hinzu.

„Abgesehen von ihrer Farblosigkeit!“, sagte Boehm. „Das ist das große Glück für uns Maler, daß die Photographie lediglich schwarz-weiß ist – zumindest bislang, denn just in diesen Tagen wird ja angeblich mit einem brandneuen Autochrom-Verfahren experimentiert, welches bald schon die Farbphotographie ermöglichen sollte. Also ist es nun wohl auch bald mit dem Privileg der Farbigkeit für uns Maler ein- für allemal vorbei.“

„Es werden sich neue Wege des Ausdrucks finden!“, zeigte sich Kahrer überzeugt. „In Frankreich reagiert man ja auch bereits darauf, indem sich justament heuer eine Künstlergruppe rund um den Maler Henri Matisse zusammengethan hat, die sich ‚Les fauves‘, die Wilden, nennen – und auch in Dresden gibt es eine Künstlergruppe, die sich ebenfalls heuer, beinahe zeitgleich, constituiert hat und die sich ‚Die Brücke‘ nennt. Die Malweise sowohl der Fauves, als auch der Brücke, ist überaus expressiv, ein völlig neuartiger Stil, eine Art Expressionismus, der die gesamte Zukunft der Malerei bestimmen wird, dessen bin ich mir sicher. Denn falls die Photographie nun thatsächlich serienmäßig farbig sein wird, gibt es absolut keinen Grund mehr für einen Maler, sich mit einem farbigen Realismus abzumühen, kann er die Photographie ohnehin niemals übertreffen – und die Farbphotographie schon gar nicht!“

„Und dann werden die Bäume blau sein, und die Flüsse roth, die Himmel gelb, und die Antlitze violett!“, meinte Strauch. „Je nach Bedarf, respective je nach Stimmungslage, eben dem jeweiligen Ausdruck, der Expression, entsprechend – ganz im Gegensatz zum Impressionismus, der lediglich darum bemüht ist, den schnellen Eindruck einzufangen, und zwar, bei aller technischer Freiheit, so realistisch wie möglich.“

„Ja, der Realismus ist definitiv thot“, bestätigte auch Boehm. „Die Photographie hat ihn umgebracht – aber auch die neue Zeit, die Ära der Electricität, der Automobile, der electrischen Gerätschaften jeglicher Couleur. Immerhin leben wir ja nun schon – und zwar bereits ganze fünf Jahre lang – im Zwanzigsten Jahrhundert, das sich deutlich absetzen möchte von seinem Vorgänger, und dies natürlich auch in der Kunst.“

„Und genau dies wollen wir ja auch thun, indem wir einen neuen Künstlerbund gründen, und zwar hier, in Klosterneuburg!“, sagte Max Kahrer nun. Und seine Augen flackerten geradezu. Vor Stolz.

„Wie bitte?“ Egon Schiele stand plötzlich der Mund offen.

„Nun, eigentlich ist es noch geheim“, sagte Boehm beschwichtigend. „Aber ja, der liebe Maxi möchte hier bald einen eigenen Künstlerbund gründen. Und ich werde natürlich mit von der Partie sein!“

„Und ich auch!“, sagte Strauch.

„Aber das ist ja großartig!“ Der junge Schiele schien außer sich vor Freude. „Dann können wir alle zusammen in Klosterneuburg schaffen und müssen unsere Bilder nicht mehr in Wien verkaufen! Die Wiener werden herkommen, um sie uns aus den Händen zu reißen!“

Wir? Unsere Bilder?“, bremste Kahrer nun den überschwenglichen Enthusiasmus des Jungen. „Besteh‘ Du erst einmal die Aufnahmeprüfung an der Academie! Und die Wiener Academie der Bildenden Künste ist wahrlich kein Honigschlecken, davon kann ich, wie alle meine Freunde und Collegen hier in diesem Raume, ein leidlich Liedchen singen, eine wahre Litanei, habe ich selbst doch ganze vier Jahre dortselbst zugebracht – und zwar von 1893 bis 1897!“

„Auch unter diesem … wie hieß er doch gleich?“ Schiele überlegte kurz, „Griepenkerl?“

„Wer nicht?“ Kahrer lachte. „Aber im Gegensatz zum lieben Ludwig hatte ich das große Glück, die meiste Zeit unter Franz Rumpler zu studieren, der um einiges aufgeschlossener war als der alte Griesgram Griepenkerl, bei dem ich natürlich ebenfalls einen Cursus verbuchen mußte, wie alle hier – an dem kam man einfach nicht drumherum!“

Alle drei Künstler lachten.

„Aber wenn ich dann mein Studium …“, versuchte der junge Egon es noch einmal.

„Besteh‘ erst die Prüfung, dann halte es vier Jahre lang dort aus – und dann sehen wir weiter!“, sagte Kahrer. Mit bestimmter Miene. Sprach er nun ausführlich über seine geplante Künstlervereinigung. Die er tatsächlich auch gründen sollte. Und zwar im nächsten Jahre schon. 1906. Als „Verein heimischer Künstler in Klosterneuburg“. Wobei er zeitweilig auch deren Vorsitz führen sollte.

„Eine eigene Künstlervereinigung …“ Egon Schiele schien ganz in seine schwärmerischen Gedanken versunken. „Ein eigener Künstlerbund, so wie die legendäre Secession!“

„Nun ja, ganz so legendär wird unser Künstlerbund hier im beschaulichen Klosterneuburg wohl nicht werden“, versuchte Kahrer ihn wieder in die Realität zurückzuholen. „Obwohl, wer weiß das schon? Schließlich hatte Gustav Klimt ja auch einmal ganz klein angefangen! Noch vor wenigen Wochen habe ich übrigens mit ihm darüber geredet, mit dem erklärten Ziele, mir von ihm einige Rathschläge einzuholen, wegen der Vereinsgründungs-Formalitäten und so weiter und so fort …“

„Kennt Ihr ihn etwa?“ Der junge Schiele sah Kahrer mit großen Augen an.

„Aber natürlich kenne ich Gustav Klimt persönlich!“, entgegnete Max Kahrer verblüfft. In seinen Augen. Muteten die Fragen des jungen Schiele mitunter etwas naiv an.

„Und wie ist er so?“, bohrte der Junge weiter. Tatsächlich. Klang es ein wenig einfältig. Kaum vorstellbar. War es für ihn. Daß alle drei hier im Raume anwesenden Künstler den Meister persönlich kannten. War dieser doch eine Art Gottheit. Dem baren Menschsein entrückt. Und enthoben. Hoch oben. Im Olymp der Kunst. Der für Normalsterbliche tabu war. Unbetretbar. Und unerreichbar.

„Nun, er ist eigentlich sehr schweigsam“, sagte Kahrer. „Er hört lieber zu, als daß er redet.“

„Aber er kann auch sehr aufbrausend sein!“, fügte Adolf Michael Boehm hinzu. Der wohl am allermeisten mit ihm zu tun hatte. „Bei der Gründung der Secession gingen manchmal die Nerven mit ihm durch. Vor allem aber in den Jahren 1901 und 1902, als der Streit um seine Facultäts-Bilder erst so richtig entbrannt war. Und auch jetzt, wo es ja mit der Secession zu Ende gegangen ist. Da hat er manches Mal sogar geschrien.“

„Wie?“ Egon bekam den Mund gar nicht mehr zu. „Ihr wart bei der Gründung der Secession dabei?“

„Aber natürlich! Und zwar ganz von Anfang an! Naturgemäß, als Gründungsmitglied!“ Adolf Michael Boehm genoss es sichtlich. Dass der Junge ihn derart bewunderte. Und er hatte auch allen Grund dazu. Während Max Kahrer nur zwölf Jahre älter war als Egon Schiele. War Adolf Michael Boehm ein ganzes Jahr älter. Als Gustav Klimt. Und somit ganze neunundzwanzig Jahre älter. Als Egon Schiele. Und dennoch. War es gerade die Generation Boehms. Welche die Kunstgeschichte wohl am allermeisten revolutioniert hatte. Zumindest in Wien.

„Ihr wart Gründungsmitglied der Secession?“ Der junge Schiele konnte es scheinbar gar nicht fassen. „Und warum erfahre ich das erst jetzt?“

„Ja, ich war einer der Mitbegründer der legendären Wiener Secession, ich habe tagein, tagaus eng mit Gustav Klimt zusammengearbeitet. Und dies bis vor kurzem, als ich nämlich gemeinsam mit ihm die Secession verließ, als Theil der sogenannten ‚Klimt-Gruppe‘!“

„Ich habe von diesem Austritt Klimts und seiner Truppe gehört“ Der junge Schiele war nicht nur von Ludwig Karl Strauch darüber informiert worden. Schließlich waren die Zeitungen in diesen Tagen alle voll davon. „Aber wie genau kam es denn zu diesem Austritt? Zumal aus dem eigenen Künstlerbund?“

„Nun, das ist schnell erzählt!“, sagte Boehm, der sich offensichtlich in der Rolle des Helden gefiel. „Schon seit einiger Zeit hatte es ganz ordentlich rumort, innerhalb der Secession. Längst schon hatte man sich intern, zumindest inhaltlich, aufgespalten, nämlich in zwei Lager: Einerseits in die sogenannten Stilisten, oder Stilkünstler, rund um Gustav Klimt und Josef Hoffmann, den neuen, ornamentalen und decorativen Flächen-Stil propagierend, dazu gehörte unter anderem auch ich selbst. Andererseits gab es da aber auch die sogenannten Naturalisten, die sich niemals allzu weit von den academischen Regeln entfernt hatten, die das Künstlerhaus lediglich aus politischen Gründen verlassen hatten, nicht aber aus inhaltlichen. Diese Naturalisten begnügten sich mit einer Malweise, die zwar nicht ganz so conservativ wie jene des Künstlerhauses und der Academie war, aber auch bei weitem nicht so progressiv und radical wie jene der Stilisten. Und diese internen Reibereien, vor allem weil die Stilisten nun mal wesentlich mehr Presse hatten, mehr Scandale producierten, stets in aller Munde waren und mit Vertretern wie Gustav Klimt, Josef Hoffmann, Carl Moll, Koloman Moser, Fritz Waerndorfer, Joseph Maria Olbrich, Otto Wagner, Max Kurzweil, Alfred Roller, et cetera, auch die weitaus berühmteren Mitglieder hatten, sollten bald schon dazu führen, daß die Secession intern zerbrechen mußte.“

„Aber waren nicht die Facultäts-Bilder Klimts der eigentlich Auslöser dafür?“, hakte Egon Schiele nach.

„Nun, zumindest indirect“, stellte Boehm richtig. „Der eigentliche Auslöser war die große Welt-Ausstellung in America, in St. Louis, im vergangenen Jahre, Anno 1904.“

„Ach ja, ich hatte in der Presse gelesen, daß man sich nicht auf geeignete Vertreter hatte einigen können.“

„Nun, das hatte man sehr wohl, nur schmeckte es eben den Naturalisten innerhalb der Secession nicht, weil sie dabei vollkommen ausgeklammert worden waren.“

„Wie das?“

„Nun, die Schuld daran trägt ganz eindeutig das K.u.K. Cultus-Ministerium. Denn man zögerte – und zwar viel zu lange. Man wurde sich bei der Frage nicht einig, ob man denn erstens überhaupt theilnehmen wolle – und zweitens, falls man es dennoch thäte, welche Kunstwerke man überhaupt nach St. Louis schicken solle.“

„Ich dachte, man hätte sich auf die Klimt‘schen Facultäts-Bilder geeinigt?“, warf Egon ein. Der es im vergangenen Jahre in der Presse gelesen hatte.

„Nun, dies war überaus problematisch“, sagte Boehm. „Es gab diesbezüglich nicht enden wollende interne Debatten. Ausgerechnet die verhaßten Facultäts-Bilder Klimts wollten einige nach America schicken, unter anderem der Minister selbst, was jedoch von vielen Mitgliedern des Cabinetts strict abgelehnt wurde. Ausgerechnet diese groß-formatigen Scandal-Bilder, die man daheim in Wien nicht haben wollte, sollten nun plötzlich zur Welt-Ausstellung geschickt werden und somit das gesamte Kunstschaffen der Donau-Monarchie repräsentieren!? Du darfst eines nicht vergessen: Gustav Klimt hat nicht nur Freunde in Wien – ganz im Gegentheil sogar! – die meisten hassen ihn, auch innerhalb der Secession, also innerhalb seines eigenen Hauses, wie man ja heuer gesehen hat.“

„Also wollte man just mit jenen Bildern, die man daheim so sehr haßte und kategorisch ablehnte, im Ausland und vor der ganzen Welt punkten und prahlen, unter dem Motto: ‚Seht her, was wir daheim nicht für einen tollen Künstler haben!‘?“

„Du hast es erfaßt!“ Boehm nickte. „Und durch dieses ganze Hin und Her erwog das Ministerium erst sehr späth die Theilnahme Österreich-Ungarns an der Welt-Ausstellung. Zu späth, wie sich bald darauf schon zeigen sollte …“

„Warum zu spät?“

„Weil das Ministerium sich, nachdem die hohen Herren sich endlich einig geworden waren, an die Secession wandte, respective an deren damaligen Präsidenten, Felician von Myrbach, der übrigens heuer gemeinsam mit Klimt und seiner Truppe die Secession verließ. Myrbach berief sogleich einen Arbeitsausschuß ein, der im Grunde nur aus Gustav Klimt und aus Josef Hoffmann bestand. Und dies, ohne daß dafür überhaupt eine Vollversammlung einberufen worden wäre, also ohne daß man – zumal in so einer wichtigen Frage – überhaupt den Rath aller Mitglieder eingeholt hätte!“

„Weil man keine Zeit mehr dafür hatte!“

„Richtig. Die Anmeldefristen endeten in Kürze, weshalb man also nun hastig eine Variante aus Werken zusammenstellte. Respective trafen allein Klimt und Hoffmann diese Auswahl, die sich zudem lediglich auf fünf Künstler beschränkte.“

„Auf Klimt und Hoffmann selbst, nehme ich an!?“

„Ja, wobei Hoffmann selbst nicht als Künstler ausstellen, sondern ihm die Gestaltung der gesamten Räumlichkeiten obliegen sollte. Die ausstellenden Künstler sollten, neben Klimt selbst, vier weitere Stilkünstler sein – nämlich Metzner, Andri, König und Lenz.“

„Alles sehr enge Freunde von Klimt, nehme ich an!?“

„Ja, das auch, das muß man sagen, aber vor allem waren es somit allesamt nur Stilisten, kein einziger Naturalist war darunter vertreten!“

„Das gab Ärger!“

„Allerdings! Das war natürlich ein Schlag ins Gesicht der Naturalisten. Und innerhalb der Secession führte dies schließlich zu einer ungemeinen Verschlechterung der Stimmung unter den Mitgliedern, die sich ohnehin bevormundet fühlten von Hoffmann und Klimt, den beiden Göttern des Kunst-Olymps, den beiden absolutistischen Herrschern über die Secession.“

„Verständlich!“

„Wobei ich Klimt bezüglich seiner Auswahl Recht geben muß: Die Stilisten waren nunmal wesentlich fortschrittlicher als die Naturalisten und hatten überdies einen extrem hohen Wiedererkennungswert. Klimt wollte der Welt kein unausgegorenes Wischiwaschi zeigen, sondern einen einheitlichen ‚Wiener Stil‘, der weltweit ganz sicherlich für Furore gesorgt hätte.“

„Und was geschah dann?“

„Nun, die Naturalisten verweigerten prompto die Theilnahme an der Welt-Ausstellung.“

„Um Gottes Willen! Was für ein Jammer!“

„Ja, allerdings. Aber auch dem Ministerium war diese Auswahl letztendlich zu wenig – und es lehnte sie kurzerhand ab, da es diese von Klimt und Hoffmann ausgewählten fünf Künstler nicht als repräsentativen Querschnitt des österreichischen Kunstschaffens ansah.“

„Was für ein unsägliches Hin und Her!“

„Ja. Und dieses ganze unsägliche – und darüber hinaus völlig uncoordinierte – Hin und Her führte schließlich dazu, daß man die Anmeldefrist verpaßte, respective einfach ausgebootet wurde. Womit die Präsentation der Secession in St. Louis geplatzt war. Eine Tragödie! Sowohl für die Secession als auch für die Wiener Werkstätten. Aber vor allem auch für Österreich, im Allgemeinen. Und natürlich auch für Gustav Klimt, der auf dieser Welt-Ausstellung ganz sicher für Furore gesorgt hätte – und zwar international! Vor allem mit seinen Facultäts-Bildern, die eindeutig und mit Abstand das Beste sind, was er bis dato je erschaffen hat! Sein Chef d’œuvre, sein Lebenswerk! Mit der ‚Jurisprudenz‘ und mit der ‚Philosophie‘ hätte er sich ganz sicher den americanischen Markt erschließen können! Und Österreich-Ungarn wäre glänzend dagestanden, als fortschrittliches und modernes Reich, welches an der Geburt der modernen Kunst maßgeblich betheiligt ist. So aber, hat man diese einmalige Chance verpaßt. Vor allem dank der extremen Über-Bureaucratisierung hier bei uns, die ja immer wildere Blüthen treibt.“

„Wie tragisch!“ Schiele seufzte. „Diese Fakultätsbilder brachten also niemandem Glück: Der Universität nicht, der Secession nicht, Österreich nicht – und Klimt am allerwenigsten.“

„Ja, allerdings“ Boehm nickte. „Und diese fatale Verkettung der Umstände war damit noch lange nicht beendet, denn nachdem die Facultäts-Bilder für die Welt-Ausstellung durch das Ministerium abgelehnt worden waren, reagierte Klimt und trath umgehend vom Auftrag für die noch auszuführenden Zwickel-Bilder am Plafond der Universitäts-Aula zurück.“

„Das Theater geht ja bis heute weiter!“, fügte Strauch hinzu. „Noch im März dieses Jahres trath erneut eine Sitzung der artistischen Commission zusammen, die zweite nun schon, allerdings ohne nennenswerthen Ausgang. Ich sehe es schon kommen: Die Felder am Plafond der Universitäts-Aula werden für immer leer bleiben!“

„Ja, das sehe ich auch so!“, bestätigte Boehm ihn kopfnickend. „Mit dem Klimt hat man es sich ein für allemal verscherzt, hier in Österreich. Er ist ein sturer Hund, mit eisernen Principien, er wird nimmermehr einlenken!“

„Anfang April dieses Jahres verfaßte er dann einen Brief ans Ministerium, worin er officiell vom gesamten Vertrag zurücktrath“, sagte nun auch Kahrer, der lange geschwiegen hatte, „und die im Laufe der Jahre bezogenen Vorschüsse nun ans Ministerium zurückzahlen wollte – ein ewiges Hin und Her, das bis heute andauert! Er gab ja dann sogar ein Interview, und zwar in der Wiener Allgemeine Zeitung, am 12. April war es, wenn ich mich nicht irre, also vor wenigen Monaten nur. Seine Freundin Bertha Zuckerkandl, die dort als Journalistin beschäftigt ist, rieth ihm wohl dazu, wobei das Ganze förmlich aus dem Ruder lief und zu einer regelrechten Presse-Schlacht – nein, zu einer Staats-Affaire! – ausartete, wie ihr alle wißt.“21

„Höchst unbeliebt hat er sich dadurch gemacht, vor allem beim Ministerium! Angeblich gab es bis dato ganze vier Versuche, Klimt mit einer Professur an der Academie zu bedenken – sie alle scheiterten, und zwar kläglich, weil man ihm nicht über den Weg traut!“ Boehm überlegte kurz. „Ich glaube, das war zum ersten Male bereits im Jahre 1891, dann 1901 – da kannte ich ihn ja schon – dann 1903, und dann eben heuer, 1905.“22

„Ja, er hat sich tatsächlich sehr unbeliebt gemacht bei der Obrigkeit – ausgerechnet er, der ja einst der Liebling der Oberschicht und sogar ein Protegé des Kaiserpaares höchstselbst gewesen war!“, bestätigte ihn Strauch. „Vor allem, als er das Ministerium direct angriff – und dies sogar mittels der Presse, also vor den Augen der gesamten Bevölkerung! So wird er niemals zum Professor ernannt werden!“

„Aber beim Volke punktet er seither!“, fügte nun Kahrer hinzu. „Vor allem die allzu critischen Wiener, die ihn nie gemocht haben, sehen ihn nun als einen von ihnen an – zudem als einen, der es wagt, seinen Mund aufzuthun und der Obrigkeit, dem anonymen Beamten-Apparate, die Stirn zu bieten!“

„Ja, er ist derzeit beliebter und berühmter denn je, das muß man schon sagen!“, meinte nun auch Boehm. „Wobei er auch einige Rückschläge bezüglich seiner Kunst einstecken muß, wird sie doch immer radicaler. So habe ich etwa gehört, daß die Familie Wittgenstein zurzeit ein Portrait ihrer Tochter nicht übernehmen möchte, weil es angeblich zu modern ausgefallen sei.“

„Andererseits hat er doch gerade dadurch, justament durch seinen radicalen, modernen und darüber hinaus sehr persönlichen Stil, zusammen mit Hoffmann diesen gigantischen Auftrag für das Palais Stoclet in Brüssel an Land gezogen“, entgegnete Strauch. „mit dessen Bau ja heuer begonnen wurde, wie ich gehört habe.“

„Er steht zur Zeit in der Blüthe seines Ruhmes, das muß man schon sagen“, meinte Boehm anerkennend. „Aber damit kann es ja auch schnell wieder vorbei sein, wie wir alle wissen. Ein falscher Schritt nur, und man ist weg vom Fenster – unter Umständen für immer, wenn man Pech hat.“

„Doch noch ist er lange nicht weg vom Fenster!“, warf der junge Schiele ein. „Er ist ein großes Vorbild – für uns alle – und vor allem für die ganz junge Künstler-Generation!“

„Ja, das stimmt“, sagte Boehm kopfnickend. „Aber sehr viele Feinde hat er sich gemacht. Sowohl in der Politik als auch unter den Künstlern selbst. Vor allem jetzt, wo er die Secession verlassen hat – seine eigene Secession, die er selbst erst gegründet hat, wohlgemerkt! Da sieht man auch, was für ein Dickkopf er ist! Mit dem ist einfach nicht guth Kirschenessen – glaubt mir, ich weiß, wovon ich da rede!“

„Aber weshalb hat er sein eigenes Haus verlassen? Warum hat er seine Gegner nicht einfach vor die Tür gesetzt?“, bohrte Egon weiter nach.

„Nun“, Boehm lächelte wissend. „So ist er nun mal, der Klimt: stur, eigensinnig, unnachgiebig, seinen Principien immer treu. Zudem weiß er, wann man gehen muß, wann es besser ist, einfach nachzugeben …“

„Eigentlich ist es ja Ironie des Schicksals, daß es just zur Secession von der Secession kam“, warf Strauch nun ein. „Also zur Abspaltung von der Abspaltung. Sozusagen zur Secessio Secessionem …“

„Was für ein schönes Wortspiel!“, lächelte Boehm anerkennend.

„Letztendlich losgetrethen wurde dies alles doch aber während einer Sitzung der Secession vor wenigen Wochen, nicht wahr?“, meldete sich nun auch Max Kahrer zu Wort.

„Das ist richtig!“, erwiderte Boehm kopfnickend. „Und zwar war dies am 14. Juni. Ich selbst war dabei. Im Verlaufe dieser Sitzung kam es plötzlich zu einer Abstimmung, zu einer regelrechten Kampf-Abstimmung, wobei man sich nicht so ganz traute, Klimt direct anzugehen, sondern sich zunächst nur gegen den armen Carl Moll verschwor, respective gegen dessen ‚Doppelbeschäftigung‘, wie man es nannte, weil er ja unlängst auch die Leitung der berühmten Galerie Miethke in der Inneren Stadt übernommen hatte. Diese ‚Verquickung aus Kunst und Kommerz‘ war vielen Mitgliedern der Secession ein Dorn im Auge – und, Egon, Du darfst bei alledem nicht vergessen, daß justament Josef Hoffmann, Koloman Moser und Fritz Waerndorfer vor zwei Jahren die Wiener Werkstätten gründeten, wobei sie ja ebenfalls Mitglieder der Secession waren!“

„Es grassierte also der Neid!“, schloss Egon Schiele richtig daraus.

„Jawohl. Es grassierte der Neid!“ Boehm nickte zustimmend. „Und dies, weil eben einige Wenige, und zwar aus dem allerengsten Dunstkreise um Klimt herum, zu derartigem Ruhme und Ansehen gekommen waren, auch international, während viele Mitglieder der Secession, vor allem die conservativeren Naturalisten, sich von dieser ‚Klimt-Clique‘, wie sie sie nannten, usurpiert und bevormundet fühlten, zumal jene ihnen ja auch noch zahlenmäßig unterlegen war!“

„Und wie ging diese Abstimmung aus?“

„Nun, die Gruppe der Naturalisten gewann – und zwar mit nur einer einzigen Stimme!“

„Wie kann das sein?“

„Nun, ganz einfach: Es gab einfach insgesamt mehr Naturalisten als Stilisten in der Secession.“

„Und die Klimt-Gruppe unterlag mit nur einer einzigen Stimme?“

„Ja, aber das reichte dann auch schon für den Auszug der sogenannten ‚Klimt-Gruppe‘, worunter ich ja ebenfalls zählte. Die Emotionen hatten sich inzwischen derart hochgeschaukelt, daß eine Verständigung zwischen den beiden verfeindeten Lagern einfach nicht mehr möglich war … Der König der Secession, Gustav Klimt, verließ also sein eigenes Haus, mitsamt seinem treuen Gefolge. Und dies waren sechzehn prominente Mitglieder. Nein: Es waren die prominentesten Mitglieder der Secession! Die profiliertesten, die erfolgreichsten, welche die Secession und somit das gesamte Kunstschaffen in Wien – nein, in ganz Österreich! – ganze acht Jahre lang entscheidend geprägt hatten. Darunter auch Josef Hoffmann, Carl Moll, Koloman Moser, Fritz Waerndorfer, Joseph Maria Olbrich, Max Kurzweil, Alfred Roller, Otto Wagner, und so weiter und so fort.“

„Der große Otto Wagner auch!“

„Ja, Wagner auch. Der Vater aller modernen Architecten, dessen revolutionärer Bau der Wiener Post-Sparkasse derzeit an der Ringstraße entsteht und ein deutliches Zeichen der Moderne setzt, mitten in der Reichshauptstadt!“

„Aber dieser Auszug war nicht an einem einzigen Tage erfolgt, soweit ich weiß“, meldete sich nun wieder Kahrer zu Wort.

„Auch das ist richtig!“, bestätigte ihn Boehm. „So titulierte etwa das Neue Wiener Tagblatt seine Sonntagsausgabe vom 11. Juni dieses Jahres mit: ‚Spaltung in der Secession. Austritt von sieben Gründern.‘23 Wobei der Articel gleich tags darauf erschien, vollzog sich diese allererste Spaltung doch justament am Vortage, nämlich am 10. Juni.“

„Diesen Artikel habe ich gelesen!“, rief der junge Schiele aufgeregt dazwischen. „Mein Gott, ist das aufregend, hier ausgerechnet einem Manne gegenüberzusitzen, der bei alldem höchstselbst dabei war!“

„Alle haben wohl diesen Articel gelesen!“, fuhr Boehm unbeirrt fort. „Und schon zwei Tage später, und zwar am Dienstag, dem 13. Juni, schrieb die Neue Freie Presse auch schon von ‚zehn Mitgliedern24, die ausgetrethen waren, während das Neue Wiener Tagblatt die Entgegnung eines der Ausgetrethenen veröffentlichte, in der von sechzehn Mitgliedern die Rede war! Man sieht also die große Confusion, die in jenen Tagen herrschte, denn es waren längst nicht alle Mitglieder der Klimt-Gruppe gleichzeitig ausgetrethen!“

„Aber warum denn nicht?“

„Nun, weil einige von uns – und dazu zählte ich selbst auch – immer noch gehofft hatten, man könne die Secession, die ja schließlich unser eigenes Haus war, noch halten!“

„Wartet, ich habe die Artikel dazu allesamt aufgehoben!“, meldete sich nun auch Ludwig Karl Strauch zu Wort und begann in seinen Unterlagen danach zu suchen. „Ja, hier liegen sie – das Ganze ist ja auch nur wenige Wochen her!“

„Laß einmal sehen!“, sagte nun Kahrer. Und griff nach einer der Zeitungen. „Die Neue Freie Presse hier ist vom 14. Juni, der Artikel zur Secessions-Abspaltung ist allerdings schon auf den 13. Juni datiert …“ Er begann nun lauthals daraus vorzulesen: „‚Zu Klimt, Wagner, Hoffmann, Moll, Moser, Roller, Luksch, List, Metzner und Bernatzik haben sich im Laufe des heutigen Tages noch Josef M. Auchentaller, Adolf Böhm … ‘“, dabei machte er eine kurze Pause und warf seinem neben ihm sitzenden Freund einen anerkennend-ironischen Blick zu, „‚Franz Wilhelm Jäger, Max Kurzweil und Emil Orlik gesellt.‘ Weiters heißt es: ‚Man erwartet noch weitere Austrittsanmeldungen, insbesondere aus dem Auslande. Man nennt den früheren Direktor der Kunstgewerbeschule, Felician Freiherr von Myrbach, und den in Darmstadt wirkenden Olbricht.‘25 Tz! Diese Idioten haben den armen Olbrich doch thatsächlich mit ‚t‘ am Ende geschrieben!“, sagte er und hielt den anderen die Zeitung hin.

„Das ist nicht der einzige Fehler, der ihnen unterlaufen ist!“, sagte nun Boehm, der seine namentliche Nennung in diesem Artikel sichtlich genoss. „Den Adolf Hölzel haben sie hier in dieser Aufzählung glatt vergessen! Der war nämlich auch darunter!“

„Hier, im Neues Wiener Tagblatt aber, vom 18. Juni, ist er sehr wohl aufgelistet!“, sagte Strauch, während er die anderen Zeitungen durchblätterte.

„Ich kann es immer noch nicht fassen, daß ich ausgerechnet hier, im faden und hinterwäldlerischen Kloburg, das anscheinend doch nicht so fad und hinterwäldlerisch ist, mit drei Männern zusammensitze – einer davon ist sogar mein Pauker! – die den großen Meister Klimt persönlich kennen! Und einer ist sogar darunter, der mit ihm acht Jahre lang durch die heiligen Hallen der Secession gewandelt und schließlich sogar mit ihm aus dieser ausgetreten ist!“ Egon Schiele schüttelte ungläubig den Kopf. „Und diesen gewissen Boehm erwähnen sie sogar namentlich in all diesen Zeitungen hier!“

„Jaja, ich bin eine Berühmtheit!“ Boehm lachte. „Wir alle sind es – und Du wirst es folgerichtig auch bald sein, wenn Du nur schön fleißig für Deine Aufnahmeprüfung an der Academie lernst!“

Egon Schiele. Zeit und Leben des Wiener Künstlers Egon Schiele

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