Читать книгу Der Musterknabe - Patrick Redmond - Страница 8

Оглавление

Hepton, 1950

Ein geruhsamer Samstag im Mai. In dem Laden an der Ecke der Moreton Street saß Mabel Cooper hinter der Theke und las einen Zeitschriftenartikel über Elizabeth Taylor, die vor kurzem geheiratet hatte. Nicky Hilton sah sehr gut aus, und die Verfasserin des Artikels war sicher, dass Elizabeth mit ihm die Liebe fürs Leben gefunden hatte. Mabel war derselben Meinung.

Das Geräusch von Schritten ließ sie aufblicken. Beim Anblick der hübschen jungen Frau mit dem kleinen Jungen an der Hand verwandelte sich ihr aufgesetztes Lächeln in ein echtes.

»Hallo, Anna.«

»Hallo, Mrs. Cooper. Wie geht es Ihnen?«

»Gut, und wenn ich Sie beide sehe, gleich noch besser.«

»Hat sich Ihre Schwester wieder erholt?«

»Ja. Lieb, dass Sie fragen. Und wie geht es dir heute, Ronnie?«

Ronnie schien einen Moment zu überlegen. »Es geht mir heute sehr gut, Mrs. Cooper«, antwortete er dann langsam und bedächtig, als würde er über jedes einzelne Wort nachdenken, ehe er es aussprach. Obwohl er noch keine fünf Jahre alt war, hatte er eine altmodische, würdevolle Art, die Mabel ganz bezaubernd fand. Er war seiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Lediglich die Augenfarbe war anders. Sie hatte blaue Augen, er graugrüne.

Mabel verschränkte mit gespielter Entrüstung die Arme. »Ronnie, wie sollst du mich nennen?«

Auf seinem ernsten Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. »Tante Mabel.«

»Genau.« Mabel lächelte nun ebenfalls. »Und was darf es heute sein, Anna?«

Wie jeden Samstag wechselten Anna und Ronnie erst mal einen verschwörerischen Blick. Mabel griff unter die Ladentheke und zog einen kleinen Notizblock und einen brandneuen Bleistift heraus. Ronnies Lächeln verwandelte sich in ein Strahlen.

»Den letzten Block hat er schon wieder ganz voll gezeichnet«, erklärte Anna stolz. »Seite für Seite, lauter unterschiedliche Bilder, und jedes davon wundervoll.«

»Nächstes Mal musst du mir ein paar mitbringen, damit ich sie mir ansehen kann. Machst du das, Ronnie?«

»Ja, Tante Mabel.«

Von hinten tauchte Mabels Mann Bill auf, eingehüllt in den aromatischen Geruch seines Pfeifentabaks. Er hatte wohl gerade ein kleines Nickerchen gemacht, denn er wirkte ein wenig verknittert.

»Hallo, Anna, hallo, Ronnie.«

»Hallo, Mr. Cooper.«

»Ronnie, wie sollst du zu mir sagen?«

»Onkel Bill.«

Bill reichte Ronnie einen Schokoriegel. Annas Blick wurde sorgenvoll. »Ich habe keine Lebensmittelmarken.«

»Das bleibt unser kleines Geheimnis.« Bill zwinkerte Ronnie verschwörerisch zu, und der kleine Junge zwinkerte zurück.

»Du kommst nächstes Jahr in die Schule, nicht wahr, Ronnie? Freust du dich schon darauf?«

»Ja, Tante Mabel.«

»Wirst du fleißig lernen, damit deine Mutter stolz auf dich sein kann?«

»Ja, Onkel Bill.«

»Braver Junge.«

Anna bezahlte den Notizblock und den Stift. »Danke für die Schokolade. Sie sind beide so lieb.«

»Ist uns ein Vergnügen«, antwortete Mabel. »Passen Sie auf sich auf, meine Liebe. Und du pass auf deine Mutter auf, Ronnie.«

»Das werde ich, Tante Mabel. Auf Wiedersehen, Onkel Bill.«

»Auf Wiedersehen, Ronnie.«

»Das arme Mädchen«, meinte Bill, als Anna und Ronnie draußen waren. »Sie hat es bestimmt nicht leicht.«

»Unter einem Dach mit dieser schrecklichen Vera!« Mabel schüttelte den Kopf. »Ich bin bloß froh, dass der Vater kein Neger war. Stell dir vor, Ronnie wäre so dunkelhäutig wie das Baby von Elsie Baxters Freundin. Erst gestern hat Elsie mir erzählt...«

»Du tratschst zu viel mit Elsie Baxter.«

»Was bleibt mir anderes übrig? Mit ihr macht es einfach mehr Spaß als mit dir, Mr. Misch-dich-nicht-in-die-Angelegenheiten-anderer-Leute.« Mabels Miene wurde nachdenklich. »Ich glaube allerdings nicht, dass Anna mit irgendjemandem tauschen möchte. Sie liebt diesen Jungen abgöttisch.«

»Er ist ja auch ein braver Junge. Bestimmt wird sie eines Tages sehr stolz auf ihn sein.«

Freitagabend. Anna verließ mit den anderen Sekretärinnen den Schreibpool von Hodgsons Dosenfabrik. Der Hof war voller rauchender, lachender Männer in bester Wochenendlaune. Ein paar stießen bewundernde Pfiffe aus, als sich die attraktiveren unter den Sekretärinnen näherten. Judy Bates, eine lebhafte achtzehnjährige Blondine, warf ihnen ein Küsschen zu, woraufhin Ellen Hayes, eine ältere Sekretärin, missbilligend den Kopf schüttelte. Ellen hielt Judy für die Sorte Mädchen, die sich früher oder später in Schwierigkeiten bringen würde. Sie hatte bei einer Tasse Tee mal etwas Derartiges zu Anna gesagt. Dann war ihr plötzlich bewusst geworden, mit wem sie sprach, und sie hatte hastig das Thema gewechselt.

Neben Anna ging Kate Brennan, ein fröhliches Mädchen in ihrem Alter. Als sie den Hof überquerten, wurde Kate von Mickey Lee begrüßt, einem der Maschinisten. Kate drückte zum Abschied Annas Arm. »Ein schönes Wochenende. Gib Ronnie einen Kuss von mir.«

»Mach ich. Dir auch ein schönes Wochenende.«

Eilig ging Kate zu Mickey hinüber. Ihrer schlanken Figur war nicht anzusehen, dass sie fünf Jahre zuvor ein Baby zur Welt gebracht hatte. Genau wie Anna hatte sie sich von einem Soldaten schwängern lassen. Das kleine Mädchen war zur Adoption freigegeben worden, und Kate verlor inzwischen kein Wort mehr über sie, als hätte es sie nie gegeben. Manchmal aber, wenn ihr Blick auf das kleine Foto von Ronnie fiel, das Anna auf ihrem Schreibtisch stehen hatte, trat ein bekümmerter Ausdruck in Kates Augen. Das dauerte immer nur einen kurzen Moment, dann lächelte sie wieder und machte irgendeine scherzhafte Bemerkung.

Als sie sich dem Tor näherten, entdeckte Anna Harry Hopkins, einen kleinen, ernsten Mann um die Dreißig. Drei Jahre zuvor hatte Harry begonnen, ihr den Hof zu machen, und nach sechs Monaten hatte er sie gefragt, ob sie seine Frau werden wolle. Obwohl sie nicht in ihn verliebt gewesen war, hatte sie ihn sympathisch gefunden und war bereit gewesen, eine gemeinsame Zukunft mit ihm aufzubauen – bis zu dem Moment, als er in sanftem Ton bemerkt hatte, es sei noch nicht zu spät, Ronnie adoptieren zu lassen...

Als sie aneinander vorbeigingen, trafen sich ihre Blicke. Beide lächelten und sahen dann ganz schnell wieder weg.

Am Tor wurde Anna von Stan erwartet, dem anzusehen war, dass er sich im Anzug wesentlich weniger wohl fühlte als in den Overalls, die er früher getragen hatte. Er war befördert worden und saß inzwischen den ganzen Tag hinter dem Schreibtisch. Anna wusste, dass er lieber wieder ein einfacher Fabrikarbeiter gewesen wäre, aber nichts auf der Welt hätte Vera dazu bewegen können, auf ihren neuen Status als Manager-Gattin zu verzichten.

Gemeinsam verließen sie das Fabrikgelände und gingen die Straße zur Hesketh Junction hinauf. Rechts zweigten die Baxter Road und die anderen schmalen Straßen ab, in denen sich lauter kleine Häuser mit Außentoiletten wie die Ölsardinen aneinander drängten. Bis letztes Jahr wäre das ihre Richtung gewesen. Inzwischen aber bogen sie nach links ab und steuerten auf die Moreton Street und die wohlhabendere Gegend zu, die von der aufstrebenden Mittelklasse der Stadt bewohnt wurde.

Stan berichtete von den Ereignissen des Tages, wobei er sich Mühe gab, möglichst amüsant zu erzählen. Er besaß keinerlei komödiantisches Talent, aber um ihm eine Freude zu machen, lachte sie trotzdem. Als sie fünf Jahre zuvor beschlossen hatte, Ronnie zu behalten, war Stan derjenige gewesen, der ihre Partei ergriffen und sich trotz Veras Drängen geweigert hatte, sie hinauszuwerfen. Zum ersten Mal hatte sie erlebt, dass er seiner Frau die Stirn bot.

Sie bogen in die Moreton Street ein, eine unscheinbare Straße mit Doppelhäusern aus den dreißiger Jahren. Ihre Haushälfte stand auf der rechten Seite und ging auf die Bahnlinie hinaus, die von London nach East Anglia führte. An der Ecke der Straße lag ein kleiner Park, in dem ein paar Jungs Fußball spielten. Der neunjährige Thomas stand neben einem provisorischen Tor und sprach mit Johnny Scott, dessen älterer Bruder Jimmy bereits wegen Diebstahls im Gefängnis gewesen war. Vera hielt die Scotts für schlechten Umgang und hatte Thomas jeden Kontakt mit Johnny verboten, aber Anna war keine Petze, und Stan hatte die beiden nicht bemerkt.

Ein halbes Dutzend kleinerer Jungs spielte auf der Straße Fußball. Der siebenjährige Peter schoss ein Tor und wurde von seinen Mannschaftskollegen beglückwünscht. Mabel Cooper stand vor ihrem Laden und sprach mit Emily Hopkins. Als Mabel Anna entdeckte, winkte sie ihr fröhlich zu. Emily verzog keine Miene. Sie war Harrys Schwester und von Anfang an gegen seine Verbindung mit Anna gewesen.

Während sie weiterging, musste Anna an Kate und Mickey denken, die sich an diesem Abend einen Robert-Mitchum-Film ansehen und auf dem Heimweg irgendwo Fisch und Pommes essen würden. Sie selbst würde den Abend damit verbringen, für alle zu kochen und anschließend noch sämtliche anderen Aufgaben zu erledigen, die Vera ihr zugedacht hatte.

Aber so war es nun mal. Sie hatte sich entschieden und konnte nun nichts mehr daran ändern.

Ein Schrei riss sie aus ihren Gedanken. Ronnie kam so schnell die Straße entlanggelaufen, dass seine Füße kaum den Boden zu berühren schienen. Die Shorts, die er von Peter geerbt hatte, war ihm immer noch zu groß. Seine Socken schlackerten um die Knöchel. Als er seine Mutter erreichte, schlang er die Arme um sie und begann ihr sofort von seinem Tag zu erzählen. Die Worte brachen in einem Schwall aus ihm heraus, sodass sie anfangs kaum etwas verstand. Stan betrachtete die beiden lächelnd.

Während Anna auf ihren Sohn hinunterblickte, erfüllte sie eine unbändige Liebe zu ihm.

Ronnie wusste, dass er am Samstag mit dem Baden an der Reihe war. Jedem Mitglied des Haushalts war ein bestimmter Abend zugewiesen: Tante Vera badete am Montag, Onkel Stan am Dienstag, Thomas am Mittwoch, Peter am Donnerstag, Anna am Freitag und Ronnie am Samstag. Sonntags blieb das Bad leer, denn auch wenn das Haus in der Moreton Street größer war als das in der Baxton Road und Onkel Stan jetzt mehr verdiente, hielt Tante Vera trotzdem nichts davon, Geld für heißes Wasser zu verschwenden, wenn es nicht absolut nötig war.

An der Innenseite der Badewanne gab es einen roten Strich. Mehr Wasser durfte nicht eingelassen werden. Ronnie hätte die Wanne so gerne mal bis zum Rand gefüllt, aber wie bei allem anderen in der Moreton Street 41 war Tante Veras Wort auch hier Gesetz.

Seine Mutter kniete neben der Wanne und schüttete vorsichtig die erlaubte Menge Shampoo in den Deckel der Flasche. Nur einen halben Deckel pro Kopf, so lautete ein weiteres von Veras Gesetzen. »Schließ die Augen, Liebling«, sagte Anna, ehe sie das Shampoo in Ronnies Haar massierte. Als sie fertig war, legte er den Kopf zurück, damit sie den Schaum ausspülen konnte.

»Hatte Ophelia auch schmutziges Haar?«, fragte er, nachdem er sich wieder aufgesetzt hatte.

»Ophelia?«

»In dem Bilderbuch.« Er meinte das Buch über berühmte Maler, das sie in der Bücherei für ihn ausgeliehen hatte. Ein Mann namens Millais hatte ein Mädchen namens Ophelia gemalt, das im Wasser lag, das Haar wie einen Heiligenschein um sich ausgebreitet. Dieses Bild hatte ihm am besten gefallen.

»Wahrscheinlich schon, wenn auch nicht ganz so schmutziges wie du.«

Er stieg aus der Wanne. »Na, wer ist jetzt ein richtig sauberer Junge?«, fragte sie, während sie ihn abtrocknete.

»Ich«, antwortete er. Ihre Hände waren zart und sanft.

Nachdem er sich mit der vorgeschriebenen Menge Zahnpasta die Zähne geputzt hatte, führte sie ihn in das Zimmer zurück, das sie sich teilten. Unten hörte man Thomas und Peter streiten. Tante Vera rief, sie sollten endlich ruhig sein, sie wolle sich im Radio ihre Big-Band-Sendung anhören.

Das Zimmer von Anna und Ronnie war das kleinste im Haus, wenn auch größer als das, das sie sich in der Baxter Road geteilt hatten. Annas Bett stand neben der Tür, und Ronnie schlief auf einer Campingliege neben dem Fenster, das auf den Garten hinter dem Haus und den Damm der Eisenbahnlinie hinausging. Ronnie kniete neben seinem Bett nieder und sagte das Gebet auf, das seine Mutter ihn gelehrt hatte.

»Lieber Gott, segne Mum und Tante Vera, Onkel Stan, Thomas und Peter. Segne auch Granny Mary, Grandpa Ronald und Onkel John im Himmel. Und segne meinen Dad, damit ihm nichts passiert, egal, wo er ist. Vielen Dank für diesen schönen Tag, lieber Gott. Amen.«

Er kletterte ins Bett. Anna schüttelte sein Kissen auf. »Erzähl mir von unserem Haus«, bat er sie.

»Eines Tages, wenn ich genug Geld gespart habe, werde ich ein schönes Haus für uns kaufen. Dann wirst du ein großes Zimmer haben, bei dem du die Wände ganz mit deinen Bildern voll malen kannst. Unser Garten wird so groß sein, dass ein Mann einen ganzen Tag brauchen wird, um das Gras zu mähen. Und du bekommst einen Hund und ...«

Er betrachtete ihr Gesicht. Obwohl sie lächelte, blickten ihre Augen traurig. Sie arbeitete in derselben Fabrik wie Onkel Stan. Sie war Sekretärin, aber keine besonders gute. Er hatte gehört, wie Onkel Stan das zu Tante Vera sagte. Mrs. Tanner, die den Schreibpool leitete, schrie seine Mutter manchmal an. Tante Vera sagte, dass seine Mutter faul war, aber das stimmte nicht. Sie tat ihr Bestes, und eines Tages würde er hingehen und Mrs. Tanner anschreien. Mal sehen, wie ihr das gefallen würde.

»Wenn ich größer bin«, erklärte er, »dann helfe ich dir bei deiner Arbeit.«

Sie streichelte seine Wange. »Das ist lieb von dir.«

»Und dann, wenn wir unser Haus haben, kann mein Dad kommen und bei uns wohnen.«

Für einen Moment verschwand das Lächeln aus ihrem Gesicht. »Vielleicht. Aber wenn nicht, werden wir trotzdem glücklich sein, nicht wahr?«

»Ja.«

»Was wollen wir morgen machen? In den Park gehen und schaukeln?«

»Ich werde ein neues Bild für dich zeichnen.«

»Das nehme ich in die Arbeit mit und hänge es an die Wand, und wenn mich die Leute fragen, von wem es ist, dann sage ich, von meinem Sohn Ronald Sidney, der eines Tages ein berühmter Künstler sein wird, sodass alle Menschen auf der Welt seinen Namen kennen werden.«

Sie beugte sich zu ihm hinunter und nahm ihn in den Arm. Ihre Haut roch nach Seife und Blumen. Er erwiderte ihre Umarmung, so fest er konnte. Peter hatte ihm mal den Arm verdreht, um ihn auf diese Weise zu der Äußerung zu zwingen, er wünschte, Tante Vera wäre seine Mutter. Am Ende hatte er es gesagt, dabei aber die Finger überkreuzt. Er würde seine Mutter nicht für hundert Tante Veras eintauschen.

Nachdem sie gegangen war, zog er die Vorhänge zurück und starrte in den Sommerabend hinaus. Es war noch hell, und im Garten nebenan saß Mr. Jackson und las Zeitung. Tante Vera sagte, dass Mr. Jackson ein Spieler sei, der Geld auf Pferde setze. Tante Vera bezeichnete das als ein Laster.

Bald würde es so dunkel sein, dass man den Mond am Himmel sehen konnte. Zurzeit war er nur eine schmale Sichel, aber es würde nicht lange dauern, dann würde er so dick und rund werden wie die Äpfel, die Mrs. Cooper in ihrem Laden verkaufte. Seine Mutter hatte ihm eine Menge über Monde und Sternbilder erklärt. Tante Vera hielt Monde und Sternbilder wahrscheinlich auch für ein Laster.

Ein Zug ratterte vorbei und blies Rauchwolken in die Luft. Er kam aus Richtung London und war voll besetzt. Eine Frau, die ihn am Fenster entdeckte, winkte ihm zu. Er winkte zurück.

Eines Tages würden er und seine Mutter in diesem Zug sitzen. Sein Vater würde kommen und sie in ein schönes Haus bringen, das ihnen ganz allein gehörte, und sie würden Tante Vera und ihre Gesetze und Regeln ganz weit hinter sich lassen.

April 1951

»Bastard«, flüsterte Peter.

Ronnie schüttelte den Kopf. Sie saßen unter dem Küchentisch und spielten mit Peters Spielzeugsoldaten. Ronnie fand Soldaten langweilig, aber da keiner von Peters Freunden Zeit hatte, war er genötigt worden, ihre Stelle einzunehmen.

»Es stimmt«, fuhr Peter fort. »Das wissen alle.«

Ronnie hatte keine genaue Vorstellung davon, was ein Bastard war, aber er wusste, dass es etwas Schlimmes sein musste. Noch dazu etwas Schlimmes, das seine Mutter betraf, auch das wusste er, und deswegen reckte er das Kinn vor und sagte: »Es stimmt nicht.«

Peter grinste. Er hatte die kräftige Statur und die Übellaunigkeit seiner Mutter geerbt. »Wo ist denn dann dein Vater?«

»Er hat mit seinem Flugzeug im Krieg gekämpft, aber er wird bald kommen.« Ronnie war sicher, dass das stimmte. Seine Mutter hatte ihm gesagt, dass sein Vater vielleicht im Himmel sei, aber das glaubte er nicht. In der Sonntagsschule hatte er gelernt, dass Gott gütig und großzügig war. Granny Mary, Grandpa Ronald und Onkel John waren schon im Himmel, und Ronnie war davon überzeugt, dass ein gütiger und großzügiger Gott nicht so herzlos sein konnte.

»Der Krieg ist seit Jahren zu Ende, du Dummkopf.« Peter begann leise vor sich hinzusingen: »Dummer Bastard Ronnie! Dummer Bastard Ronnie!«

Es war fünf Uhr. Onkel Stan und seine Mutter waren noch in der Arbeit. Thomas machte oben seine Hausaufgaben, und Tante Vera unterhielt sich im Wohnzimmer mit ihrer Freundin Mrs. Brown. Als sie noch in der Baxter Road wohnten, hatten sie auf dem Wohnzimmerboden spielen dürfen, weil dort bloß ein alter Teppich lag. Der neue Raum aber war mit einem Teppichboden ausgelegt, und Tante Vera hatte Angst vor Abdrücken und Flecken.

»Kleiner dummer Heulsusen-Bastard«, fuhr Peter fort, während er Ronnie gegen den Arm boxte. Es machte Peter Spaß, Ronnie zum Weinen zu bringen. Vor einem Jahr war das noch ganz leicht gewesen, aber mittlerweile war Ronnie fünfeinhalb und lernte langsam, sich zur Wehr zu setzen.

»Wie viel ist sieben mal vier?«

Peter starrte ihn ratlos an. Ronnie lächelte. Seine Mutter brachte ihm gerade das Einmaleins bei. Eigentlich waren sie schon beim Sechser-Einmaleins angekommen, aber das behielt er vorerst noch für sich.

»Mathe ist was für Mädchen«, meinte Peter, der die Schule hasste und dessen Zeugnisse Onkel Stan seufzen und Tante Vera kreischen ließen.

»Achtundzwanzig. Ich bin jünger als du und weiß es trotzdem. Also, wer ist hier der Dumme?« Ronnie begann Peters Gesang nachzuäffen. »Dummer hässlicher Peter! Dummer hässlicher Peter!«

Peter boxte Ronnie noch fester. »Wenigstens bin ich kein Bastard«, zischte er, ehe er unter dem Tisch hervorkroch und in den Garten hinauslief, wobei er versehentlich auf ein paar von seinen Soldaten trat.

Ronnie blieb, wo er war. Während er sich den Arm rieb, hörte er Tante Vera im Wohnzimmer über irgendeine Bemerkung von Mrs. Brown lachen. Die Soldaten lagen auf dem Boden verstreut. Sie wurden in einer Blechdose aufbewahrt. Da Tante Vera es nicht erlaubte, dass sie Spielsachen einfach herumliegen ließen, begann er, sie aufzuräumen.

Peters Lieblingssoldat war ein napoleonischer Grenadier. Peter hatte Glück gehabt, dass er im Eifer des Gefechts nicht zu Bruch gegangen war. Aber das wusste Peter ja nicht, und deswegen brach Ronnie ihn mit einer raschen Bewegung entzwei, ehe er den Deckel auf die Dose klappte.

Tante Veras Hobby war Lesen. »Ich liebe Dickens und diese wundervollen Brontë-Schwestern«, verkündete sie ihren neuen Freundinnen in der Moreton Street. Vielleicht stimmte das ja, aber seine Mutter hatte ihm erzählt, dass Tante Vera viel lieber die billigen Schundromane mit den glänzenden Umschlägen las, die Onkel Stan ihr von Boots mitbrachte und die sie in einer Küchenschublade versteckte, wenn ihre neuen Freundinnen zu Besuch kamen.

Tante Veras wirkliches Hobby aber war Schreien. Wenn sie schlechte Laune hatte, was ziemlich häufig vorkam, war ihr jedes Familienmitglied als Opfer recht, aber da Ronnie mit Tante Vera allein bleiben musste, wenn die anderen in der Arbeit oder in der Schule waren, bekam er am meisten ab.

Es war nicht leicht, mit Tante Vera allein zu sein. Von all den Regeln, nach denen er leben musste, war die wichtigste, dass er Tante Vera nicht auf die Nerven gehen durfte, wenn er sich in ihrer Obhut befand. Sie erwartete von ihm, dass er sich in seinem Zimmer oder im Garten still beschäftigte. Mittags stellte sie ihm ein Sandwich und ein Glas Milch auf den Küchentisch. Beim Essen und Trinken durfte er ebenfalls keinen Lärm machen, und bevor er wieder zu seinen einsamen Spielen zurückkehrte, musste er seinen Teller und sein Glas im Spülbecken abwaschen.

Wenn Tante Vera Besuch bekam, hatte Ronnie strenge Anweisung, in seinem Zimmer zu bleiben, aber an diesem speziellen Nachmittag trieb ihn der Durst nach unten. Um in die Küche zu gelangen, musste er durchs Wohnzimmer, wo Tante Vera mit Mrs. Brown auf dem Sofa saß und Tee trank. Sie trug eine kurzärmelige Bluse, sodass ihre fleischigen, mit Sommersprossen übersäten Arme zu sehen waren. »Was ist, Ronnie?«, fragte sie ihn, wobei sie eine übertrieben freundliche Miene aufsetzte und so bedächtig sprach, wie sie es immer tat, wenn eine ihrer neuen Freundinnen zu Besuch war.

»Könnte ich bitte ein Glas Wasser haben?«

»Aber natürlich.« Tante Vera deutete in Richtung Küche.

Mrs. Brown stellte ihre Teetasse ab. »Wie geht es dir, Ronnie?«

»Sehr gut, Mrs. Brown, vielen Dank.«

Sie hielt ihm ihre Wange hin. Er berührte sie nur ganz leicht mit den Lippen, wobei er die Luft anhielt, um ihr süßliches Parfüm nicht riechen zu müssen. Sie war älter als Tante Vera und versteckte ihre Falten hinter einer dicken Schicht Make-up. Ihr Mann war stellvertretender Bankdirektor, und sie wohnte auf der anderen Seite der Straße, wo die Häuser größer und die störenden Züge nicht mehr ganz so laut zu hören waren. Tante Vera bildete sich viel darauf ein, die Frau eines stellvertretenden Bankdirektors zur Freundin zu haben.

Während er sein Glas füllte, hörte er, wie die beiden über ihn sprachen.

»Er hat gute Manieren«, stellte Mrs. Brown fest.

»Darauf bestehe ich. Schließlich sind es die Manieren, die einen Menschen ausmachen.«

»Und hübsch ist er auch. Da schlägt er ganz nach seiner Mutter.«

»Hauptsache, er schlägt nicht nach ihr, was Intelligenz und Moral betrifft.«

Er kippte sein Wasser hinunter. Mrs. Brown rauchte eine Zigarette. Tante Vera mochte den Zigarettengeruch nicht, und Onkel Sam musste sogar bei Regen im Garten rauchen. Aber Onkel Sam war nicht die Frau eines stellvertretenden Bankdirektors.

»Sie hat Glück, so verständnisvolle Verwandte wie Sie und Stan zu haben. Als die Tochter meines Cousins von einem Soldaten schwanger wurde, hat er sie aus dem Haus geworfen.«

»Stan wollte dasselbe tun, aber ich habe ihn nicht gelassen. Schließlich gehört sie zur Familie.«

»Sie sind eine herzensgute Frau, Vera Finnegan.«

»Ich versuche es zumindest.«

»Vielleicht wird sie eines Tages doch noch heiraten.«

»Das glaube ich nicht. Es gibt nicht viele Männer, die den Bastard eines anderen aufziehen wollen.«

Ronnie spülte sein Glas aus und stellte es zurück in den Schrank. Mrs. Brown erklärte, sie müsse jetzt leider aufbrechen. Tante Vera antwortete, dass sie noch ein Kapitel lesen werde. Sie erwähnte dabei auch die Autorin des Buches, eine gewisse Jane Austen.

Nachdem er in sein Zimmer zurückgekehrt war, trat er an den Nachttisch seiner Mutter, zog die Schublade heraus und griff nach dem Foto, das sie dort aufbewahrte. Eine winzige Schwarzweißaufnahme von einem Mann in Pilotenuniform. Der Mann hatte ein energisches Kinn, ein sympathisches Gesicht und ein Muttermal am Hals. Sein Vater.

Seine Mutter nannte ihn ihren Sonnenschein. Ihren kleinen Ronnie Sunshine, der sie glücklich machte, auch wenn der Himmel grau war. Er wollte, dass sie immer glücklich war, wusste aber, dass sie manchmal trotz ihres Lächelns traurig war. Er wünschte, sein Vater wäre hier, um ihm dabei zu helfen, sie glücklich zu machen. Er konnte es nicht ertragen, wenn sie unglücklich war.

Die Haustür fiel ins Schloss. Mrs. Brown war gegangen, und Tante Vera zitierte ihn nach unten. Nun klang ihre Stimme barsch und wütend.

Bevor er ihrer Aufforderung nachkam, starrte er noch einen Moment aus dem Fenster. Über der Eisenbahnlinie leuchtete der Himmel in einem schönen Blau. Vor seinem geistigen Auge sah er seinen Vater in einem schimmernden Flugzeug sitzen, voll mit Bomben, die er direkt über Tante Veras Kopf abwerfen würde.

September. In einem überfüllten Klassenzimmer betrachtete Miss Sims die Reihen der Fünfjährigen und genoss das Spiel, das sie zu Beginn jedes Schuljahrs spielte.

In nicht allzu ferner Zukunft würden diese Kinder eine Prüfung ablegen, die darüber entschied, ob sie ihren Schulabschluss am Gymnasium oder an der Haupt- oder Realschule machen würden. Ersteres bot einem gescheiten Kind die Chance auf ein Universitätsstudium und aufregende neue Horizonte. Die beiden anderen Möglichkeiten lieferten den weniger akademisch Begabten die Grundlage für eine Berufsausbildung auf einem etwas bescheideneren Niveau. Obwohl Miss Sims noch kaum etwas über die Talente der einzelnen Schüler wusste, betrachtete sie gern ihre Gesichter und versuchte vorherzusagen, welchen Weg sie jeweils einschlagen würden.

Über die hübsche Catherine Meadows in der ersten Reihe brauchte sie gar nicht nachzudenken. Catherines Vater war Börsenmakler und konnte es sich leisten, seine Tochter auf eine Privatschule zu schicken.

In der letzten Reihe flüsterte Alan Deakins gerade mit seinem Nachbarn. Aus seinen Augen blitzte der Schalk. Ein intelligentes, aber lausbubenhaftes Gesicht. Der Unruhestifter der Klasse, der aller Wahrscheinlichkeit nach das Potenzial fürs Gymnasium besaß, aber nicht den nötigen Fleiß dafür aufbringen würde.

In der dritten Reihe unterdrückte Margaret Fisher ein Gähnen. Ein rundes, ausdrucksloses Gesicht, das keinerlei Interesse für die neue Umgebung erkennen ließ. Zweifellos eine Kandidatin für die Hauptschule.

Aus der zweiten Reihe starrte Ronald Sidney mit ernster Miene nach vorn. Ein hübscher Junge mit schönen, weit auseinander stehenden Augen. Ein angenehmer Kontrast zu seinen wenig sympathischen Finnegan-Cousins, die sie als Schüler gehabt hatte. Peter war wie Alan ein Störenfried gewesen, und Thomas, der dieses Jahr die Prüfung machen würde, passte genau in das Margaret-Schema, wie sich mit ziemlicher Sicherheit an seinen Noten würde ablesen lassen.

Ronald reagierte auf ihren Blick mit einem Lächeln, das sein ganzes Gesicht strahlen ließ. Seine Augen leuchteten, als fände er die Aussicht, etwas zu lernen, ungeheuer aufregend.

O ja, definitiv ein zukünftiger Gymnasiast.

Es wird mir eine Freude sein, dich zu unterrichten, dachte sie, während sie sein Lächeln erwiderte.

Sie stellte ihnen eine Rechenaufgabe. Die meisten in der Klasse starrten sie ratlos an, aber ein paar Hände schossen in die Luft. Eine davon gehörte Ronald Sidney.

Jeden Freitag zahlte Anna einen Teil ihres Lohns auf ein Sparkonto ein. Es war nur eine sehr kleine Summe. Der Großteil ihres Geldes ging an Vera, als Beitrag zu ihrer Unterbringung und Verköstigung, und was dann noch übrig blieb, reichte gerade mal aus, um das fürs Leben Notwendige zu kaufen und Ronnie hin und wieder eine kleine Freude zu bereiten.

Das Mädchen hinter dem Schalter starrte auf das Sparbuch hinunter. »Sidney«, sagte sie und deutete auf den Namen darin. »Sind Sie Ronnies Mutter?«

»Ja.«

»Meine Tante ist seine Klassenlehrerin. Miss Sims. Sie erzählt die ganze Zeit von ihm. Dass er so gescheit ist.«

»Danke.« Anna lächelte. »Ronnie redet auch ständig von Ihrer Tante.«

Was nicht wirklich stimmte. Ronnie sprach selten über seine Lehrerin oder die anderen Kinder in seiner Klasse. Dabei ging er gern in die Schule. Die Menschen, die er dort traf, schienen jedoch wenig Eindruck bei ihm zu hinterlassen.

Er lernte so schnell, sein Wissen wuchs mit jedem Tag. Nur ganz selten brauchte er beim Lesen ihre Hilfe, und im Kopfrechnen war er manchmal schon besser als sie. Da sie selbst nicht gerade mit großer Intelligenz gesegnet war, fand sie es wundervoll, ein so gescheites Kind zu haben.

Das Mädchen gab ihr das Sparbuch zurück. Anna warf einen Blick auf den neuen Kontostand, der immer noch lächerlich niedrig war. Es reichte nicht mal für einen Reisewecker, geschweige denn für ein großes Haus. Vielleicht würde es nie reichen.

Aber so durfte sie nicht denken. Nicht mal einen Moment.

Sie trat auf die High Street hinaus. Das triste Zentrum einer tristen Stadt. Am Himmel hingen schwere dunkle Wolken. Alles um sie herum war grau, ein seelenloser Außenbezirk des sich ständig weiter ausbreitenden London.

Sie wollte weg von hier, weg von Vera und deren Verachtung und all den anderen, die sie verurteilten, auch wenn das vielleicht gar nicht deren Absicht war. An irgendeinen grünen, schönen Ort, wo sie mit Ronnie neu anfangen konnte. Wo Ronnie alles haben würde, was sie ihm versprochen hatte.

Eines Tages würde sie es möglich machen. Aber wie?

Dezember. Ronnies erstes Zeugnis.

»...eine Freude zu unterrichten! Ein überdurchschnittlich begabter Junge, der noch dazu hart arbeitet und gute Manieren hat. Wirklich ein vollkommener kleiner Gentleman, auf den seine Familie stolz sein kann.«

Weihnachten. Ronnie saß mit seiner Familie im Wohnzimmer. In der Ecke stand ein kleiner Weihnachtsbaum, dekoriert mit dem Weihnachtsschmuck, den Tante Vera den Rest des Jahres in einer Schachtel im Speicher aufbewahrte. Tante Vera hatte den Baum allein geschmückt, obwohl Ronnie ihr seine Hilfe angeboten hatte, die sie jedoch mit der Begründung ablehnte, er mache bloß etwas kaputt.

Es war früher Nachmittag, und sie hatten gerade das von Ronnies Mutter zubereitete und aus gefülltem Truthahn mit Bratkartoffeln, Erbsen und Karotten bestehende Mittagessen beendet. Im Vorjahr hatten sie sich noch mit Rindfleisch begnügen müssen, und voller Stolz hatte Tante Vera ihren neuen Freundinnen erzählt, dass es bei ihnen Truthahn gebe.

Ronnie hockte neben dem Sessel seiner Mutter auf dem Boden und betrachtete seine Geschenke: einen Malkasten und zwei kleine Pinsel. »Freust du dich?«, fragte sie ängstlich. Statt einer Antwort strahlte er sie nur an.

»Wehe, er kleckst damit herum!«, mäkelte Tante Vera, die neben dem Kamin auf dem Sofa saß. Von Tante Vera und Onkel Stan hatte Ronnie einen Schal bekommen.

»Das wird er nicht.«

»Das möchte ich ihm auch geraten haben!« Tante Veras Stimme klang streitlustig. Seit sie am Vormittag aus der Kirche zurückgekehrt waren, hatten Onkel Stan und sie schon eine Menge Bier getrunken. Onkel Stan schnarchte neben ihr auf dem Sofa. Thomas lag vor dem Kamin, vertieft in sein neues Comicheft, während Peter draußen mit seinen neuen Rollschuhen kämpfte.

Ronnie griff hinter das Bücherregal und zog den Umschlag heraus, den er dort versteckt hatte. Eine Karte, die er in der Schule gemacht hatte. Die Vorderseite zierte das Bild eines in den Farben des Regenbogens ausgemalten schönen Hauses, und innen stand: »Frohe Weihnachten, Mum. Alles Liebe von Ronnie Sunshine.« Alle Schüler seiner Klasse hatten Karten für ihre Mütter angefertigt. Miss Sims hatte zu ihm gesagt, dass seine die beste sei, und er hatte geantwortet, das liege daran, dass er die beste Mutter habe.

Nun war es an Anna zu lächeln. »Das ist das schönste Geschenk, das ich je bekommen habe.«

Er deutete auf die Vorderseite der Karte. »Das ist das Haus, das du für uns kaufen wirst.«

»Was für ein Haus?«, fragte Tante Vera.

»Mum wird ein großes Haus für uns kaufen.«

»Und wie will sie das machen?«

»Indem sie ganz viel Geld spart. Und wenn sie es gekauft hat, wird mein Dad kommen und bei uns wohnen.«

Tante Vera nahm einen Schluck Bier und stellte das Glas dann neben dem teuren Parfüm ab, das Onkel Stan ihr geschenkt hatte. Es war dasselbe, das Mrs. Brown benutzte. Die Form der Flasche kam Ronnie irgendwie bekannt vor, aber ihm fiel nicht ein, woran sie ihn erinnerte.

»Du bist doch ein kluger Junge, Ronnie. Zumindest steht das in deinem Zeugnis, nicht wahr?«

»Ja, Tante Vera.«

»Dann habe ich jetzt eine Lektion für dich: Deine Mutter ist eine Idiotin, die euch nie im Leben irgendwas kaufen wird. Tu dir selbst einen Gefallen, und merk dir das gut.«

»Meine Mum ist keine Idiotin.«

»Dann lass uns doch einen Brief an deinen Dad schreiben. Na, Anna, wie lautet denn seine Adresse?«

»Hör auf, Vera...«, begann Ronnies Mutter.

»Oder was? Was willst du tun? Gehen? Nur zu, warum nicht? Mal sehen, wie lange du und Ronnie ohne uns überlebt.«

»Meine Mum ist keine Idiotin!«

Tante Vera begann zu lachen. Seine Mutter legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Tante Vera zieht dich bloß auf.«

Ein Stück Kohle fiel aus dem Kamin und weckte Onkel Stan. Thomas blickte von seinem Comicheft auf. »Du schnarchst wie ein Schwein, Dad.« Onkel Stan zuckte mit den Schultern, drehte sich um und schlief weiter. Tante Vera nahm einen weiteren Schluck Bier. Während er sie beobachtete, fiel Ronnie ein, dass ihn das Parfüm an eine Zaubertrankflasche erinnerte, die er in einem Schulbuch gesehen hatte. Eine böse Hexe hatte den Zaubertrank einer schönen Frau gegeben, die glaubte, dadurch für immer jung zu bleiben. Stattdessen war der Trank in ihrem Magen zu Feuer geworden und hatte sie zu Asche verbrannt.

Er stellte sich vor, dass Tante Vera aus Versehen einen Schluck aus der Parfümflasche nehmen würde. Nur einen winzigen Schluck. Dann würde sie sich mit einem Schrei an den Hals fassen.

Tante Vera lachte immer noch. Er begann ebenfalls zu lachen. Seine Mutter starrte ihn verwirrt an. »Still, Ronnie!«, ermahnte sie ihn.

Er musste sich auf die Lippe beißen, um das Lachen zu unterdrücken.

Januar 1952

Anna saß auf Ronnies Bett und ließ sich von ihm eine Geschichte über eine Prinzessin vorlesen, die einen Zauberring besaß und dadurch sieben Wünsche frei hatte. Das Buch stammte aus der Bücherei, und Anna hatte anfangs Bedenken gehabt, dass es noch zu schwierig für Ronnie sein könnte, aber er kam mühelos damit zurecht. Am Vorabend hatte ihn die Geschichte völlig in ihren Bann gezogen, aber im Moment schien er nicht bei der Sache zu sein.

»Was ist los, Ronnie?«

»Wann kommt Dad?«

Sie spürte ein dumpfes Ziehen in der Herzgegend, den Rest eines Schmerzes, der einmal unerträglich gewesen war. »Liebling, ich habe dir doch gesagt, dass er vielleicht gar nicht kommt. Du solltest nicht damit rechnen.«

»Ich möchte aber, dass er kommt.«

»Das weiß ich, Liebling, aber womöglich ist er schon im Himmel. Wir haben keine Ahnung, wo er ist.«

Trotzig schob Ronnie sein Kinn vor. »Er ist nicht im Himmel. Er wird kommen und mir helfen.«

»Dir helfen?«

»Wir werden uns zusammen um dich kümmern.«

Draußen hörte man den Regen prasseln. Es war ein stürmischer Winterabend, aber trotz der Kälte im Zimmer empfand sie seine Worte wie einen warmen Windhauch. Sie nahm seine Hand und presste sie an ihre Wange. »Du brauchst keine Hilfe, Ronnie. Du kannst das auch allein ganz wunderbar. Und nun lass uns die Geschichte zu Ende lesen. Jemima hat nur noch einen einzigen Wunsch übrig. Was würdest du dir wünschen, wenn du an ihrer Stelle wärst?«

»Dass Tante Vera bald in den Himmel kommt.«

Sie ließ seine Hand los. »Ronnie, wie kannst du nur so etwas Böses sagen!«

Während draußen der Regen gegen die Scheibe prasselte, starrte er auf die Buchseite hinunter.

»So etwas darfst du nicht sagen. Nie wieder. Ich weiß, dass Tante Vera manchmal wütend wird, aber das ist nun mal ihre Art. Sie und Onkel Stan waren sehr gut zu uns. Sie haben uns ein Zuhause gegeben.«

Ronnie schwieg. Sein gestreifter Schlafanzug war ihm viel zu groß. Ein Erbstück von Peter, wie so viele seiner Sachen. Draußen ratterte ein Zug vorbei. Obwohl das Fenster geschlossen war, erfüllte der Lärm den Raum.

»Ronnie?«

Er blickte auf. »Wir werden bald unser eigenes Haus haben. Du wirst uns eines kaufen. Dann spielt es keine Rolle mehr, ob Tante Vera im Himmel ist oder nicht.«

Irritiert schüttelte sie den Kopf. »Ronnie, es ist nicht richtig, so zu reden. Du machst mich damit sehr traurig.«

Wieder schwieg er. Sein Blick erschien ihr plötzlich wie der eines Fremden.

Dann begann er zu lächeln. Sein typisches Ronnie-Sunshine-Lächeln, mit dem er es immer schaffte, sie aufzuheitern, selbst wenn sie noch so düsterer Stimmung war.

»Es tut mir Leid, Mum. Ich hab dich lieb.« Mit diesen Worten wandte er sich wieder seinem Buch zu.

Mittagspause. Auf dem Hof, der im Schatten des düsteren viktorianischen Schulhauses lag, wimmelte es von Leben. Buben jagten hinter Fußbällen oder hintereinander her, Mädchen schwangen Springseile, spielten Himmel und Hölle oder beschäftigten sich mit ihren Puppen.

Catherine Meadows, des Seilhüpfens müde, beobachtete Ronnie Sidney, der allein in einer Ecke saß.

Er zeichnete. Wie immer. Laut Miss Sims war er sehr begabt. Miss Sims mochte Ronnie. Wenn Miss Sims nicht da war, verspottete Alan Deakins Ronnie und Archie Clark als Streber, was meist damit endete, dass Archie weinte und alle anderen lachten. Doch Ronnie zuckte nur mit den Achseln und ließ sich bei dem, was er gerade tat, nicht stören. Irgendwann wurde es Alan dann langweilig, und er fing an, jemand anderen aufzuziehen.

Sie ging zu Ronnie. »Was zeichnest du denn da?«

Ronnie gab keine Antwort. Als sie sich vorbeugte, um einen Blick darauf zu werfen, presste er das Blatt an seine Brust.

»Zeichnest du mich?«

»Nein.«

Catherine seufzte. Ihre Freundinnen Phyllis und Jean fanden, dass Alan der bestaussehendste Junge in der Klasse war, aber Catherines Favorit war Ronnie. Manchmal versuchte sie mit ihm ins Gespräch zu kommen, aber er wirkte nie sonderlich interessiert. Catherine fand das seltsam, denn schließlich war sie hübsch und ihr Vater ein wichtiger Mann, weshalb alle anderen Kinder mit ihr befreundet sein wollten.

Sie blieb abwartend stehen, aber Ronnie beachtete sie nicht. Da Catherine es nicht gewohnt war, ignoriert zu werden, streckte sie ihm nach einer Weile die Zunge heraus und kehrte zu ihren Freundinnen zurück. Zehn Minuten später ertönte die Glocke. Ronnie stand auf. Nachdem er seine Zeichnung noch einen Moment nachdenklich betrachtete hatte, zerknüllte er das Blatt, warf es in die Mülltonne und folgte den anderen Kindern nach drinnen.

Catherine ging zu der Tonne und fischte das zerknüllte Blatt wieder heraus, aber statt des erhofften Bildes von sich selbst hielt sie zwei separate Zeichnungen in der Hand, die beide eine dicke, wütend dreinblickende Frau in einem Garten hinter einer Eisenbahnlinie darstellten. Das erste Bild zeigte die Frau, wie sie einen kleinen Jungen anschrie, ohne dabei den Jagdbomber über ihrem Kopf zu bemerken. Auf dem zweiten Bild hatte eine Bombe die Frau in Stücke gerissen, und der kleine Junge winkte dem Piloten, während er mit der anderen Hand den abgetrennten Kopf der Frau an den Haaren kreisen ließ.

Enttäuscht warf Catherine das Blatt zurück in die Tonne.

Sommer. »... ein hervorragendes Jahr. Einem Jungen mit Ronnies Begabung und Fleiß sind keine Grenzen gesetzt. Er wird Großes leisten.«

November. Ronnie saß mit Peter am Küchentisch. Obwohl die Tür zum Wohnzimmer geschlossen war, konnte man Tante Veras Stimme deutlich hören.

»Stan musste ein gutes Wort für dich einlegen! Er hätte seinen Job verlieren können, und warum? Weil du zu blöd bist, um deinen eigenen richtig zu machen!«

Schweigen. Ronnie wünschte sich so sehr, seine Mutter würde sich wehren, doch sie sagte nichts.

»Aber blöd ist ja dein zweiter Vorname, stimmt’s?«

Ronnie versuchte zu verstehen, was passiert war. Anscheinend hatte seine Mutter in der Arbeit irgendeinen Fehler gemacht und dabei fast ihren Job verloren.

»Sieh dir Ronnie an. Jeder Mensch mit ein bisschen Verstand hätte ihn zur Adoption freigegeben. Ihm einen anständigen Start ins Leben ermöglicht. Das könntest du immer noch, aber du tust es nicht, weil du zu blöd bist!«

In Ronnie machte sich ein Gefühl von Kälte breit. Neben ihm begann Peter zu kichern. Thomas war nicht da, er übernachtete bei einem Freund aus seiner neuen Schule.

Endlich sagte seine Mutter etwas. »Lass Ronnie aus dem Spiel.«

»Warum? Es stimmt doch. Es reicht dir nicht, dein eigenes Leben zu ruinieren, du musst dasselbe auch noch mit seinem tun!«

Peter versetzte Ronnie unter dem Tisch einen Tritt. »Dich würde sowieso niemand adoptieren. Sie würden dich in ein Waisenhaus stecken, zusammen mit den ganzen anderen Bastarden.«

»Nun ist es aber genug, Vera«, mischte Onkel Stan sich ein.

»Warum? So denken alle hier in der Gegend. Und wieso ergreifst du eigentlich schon wieder Partei für sie? Ich möchte ein einziges Mal erleben, dass du zu mir hältst!«

Peter stupste Ronnie mit dem Finger an. »Du kommst ins Waisenhaus, Bastard.«

Der Streit ging weiter. Dann waren plötzlich Schritte zu hören. Ronnies Mutter lief nach oben. Tante Vera erschien mit rotem, wütendem Gesicht in der Küche. »Wie es aussieht, bleibt das Abendessen heute an mir hängen. Ihr beide könnt euch nützlich machen. Peter, schäl die Kartoffeln. Ronnie, du deckst den Tisch. Und was haben die Rollschuhe da auf dem Boden zu suchen? Raus damit, aber schnell!«

Peter sprang auf. Ronnie folgte seinem Beispiel, steuerte jedoch auf die Küchentür zu, wo ein besorgt dreinblickender Onkel Stan stand.

»Wo willst du hin?«, fragte Tante Vera.

»Zu meiner Mum.«

»Mach, was ich dir gesagt habe. Deck den Tisch.«

»Ich möchte zu meiner Mum.«

»Lass ihn gehen, Vera.« Ein weiterer schwacher Einmischungsversuch von Onkel Stan.

Tante Vera verschränkte die Arme. »Deck den Tisch, Ronnie.«

Ronnie schüttelte den Kopf.

»Los jetzt!«

Einen Moment lang bot er ihr die Stirn. Seine Hände waren zu Fäusten geballt. Im Hintergrund begann Peter wieder zu kichern.

Dann entspannten sich Ronnies Hände, und er lächelte. Es wirkte wie eine sanfte Geste der Unterwerfung.

»Ja, Tante Vera. Entschuldige, Tante Vera.«

Brav machte er sich an die Arbeit.

Anna saß auf ihrem Bett und starrte auf den silbernen Ring, den sie am Finger trug.

Sie hatte ihn zum dreizehnten Geburtstag von ihren Eltern bekommen. Es war der letzte Geburtstag gewesen, den sie mit ihnen gefeiert hatte, ehe jener fatale Bombenangriff sie auslöschte. Sie besaß sonst nichts, was sie an ihre Lieben erinnert hätte, keine Fotos und auch keine anderen Gegenstände. Alles, was für sie einen emotionalen Wert gehabt hatte, war durch die Bombe zerstört worden.

Alles bis auf ihre Erinnerungen. Erinnerungen an die Stimme ihres Vaters, das Lächeln ihrer Mutter, die Art, wie ihr Bruder gelacht hatte, wenn er ihr einen Witz erzählte oder sie wegen ihrer Schwärmerei für einen Filmstar aufzog. Schwache Echos aus einer Zeit, als sie noch keine Angst vor der Zukunft gehabt hatte. Als sie noch wusste, was es hieß, sich sicher und geborgen zu fühlen.

Sie musste hier weg. Mit Ronnie irgendwo anders hinziehen. Aber wohin? Und wovon sollten sie leben? Sie war weder mit Intelligenz noch mit irgendeiner besonderen Begabung gesegnet. Sie würde nicht in der Lage sein, genug zu verdienen, um sie beide zu ernähren. Nicht ohne die Hilfe von Stan und Vera.

Sie hörte Schritte. Sekunden später stand Ronnie in der Tür und starrte sie ängstlich an. Er hatte ein Stück Marmeladenbrot in der Hand. Während sie ihn ansah, wurde ihr plötzlich klar, dass Vera Recht hatte. Sie hätte ihn zur Adoption freigeben und ihm auf diese Weise einen anständigen Start ins Leben ermöglichen sollen. Sie hätte ihn nicht bei sich behalten dürfen, bloß weil sie zu schwach war, um allein zu sein.

Plötzlich empfand sie einen überwältigenden Abscheu vor sich selbst und brach in Tränen aus.

Er lief zu ihr, schlang die Arme um ihren Hals. »Nicht weinen, Mum. Bitte.«

»Oh, Ronnie...«

Sie hielten einander eine Weile schweigend im Arm. Anna wiegte sich vor und zurück, während Ronnie auf ihren Knien saß, sodass ein Außenstehender wahrscheinlich den Eindruck gehabt hätte, als wäre sie diejenige, die Trost spendete.

Langsam versiegten ihre Tränen. Sie wischte sich über die Augen. »Du darfst mein albernes Geheule nicht ernst nehmen.«

Er berührte ihren Ring. »Du hast an Granny Mary gedacht, stimmt’s?«

»Ja.«

»Sie fehlt dir. Und Grandpa Ronald und Onkel John. Du wünschst dir, sie wären hier.«

Sie nickte.

»Ich möchte nicht adoptiert werden, Mum. Lass mich nicht adoptieren.«

»Niemals.«

»Versprochen?«

»Versprochen.«

»Großes Ehrenwort?«

»Ganz großes Ehrenwort.«

Er legte den Kopf an ihre Brust. Sie streichelte sein Haar. »Es tut mir Leid, Ronnie.«

»Was?«

»Dass du nur mich hast.«

»Mein Dad wird bald kommen, und dann werde ich euch beide haben.«

»Er wird nicht kommen, Ronnie.«

»Doch, das wird er, und dann...«

Sie nahm sein Gesicht in beide Hände und sah ihn an. »Ronnie, du musst mir jetzt gut zuhören. Dein Vater wird nicht kommen. Niemals. Ich würde alles dafür geben, dir etwas anderes sagen zu können, aber es ist nun mal so. Wir haben nur einander.«

Sein Blick verdüsterte sich. Er wirkte auf einmal viel älter, als wäre er wirklich schon der kleine Mann, der er so verzweifelt zu sein versuchte. Ein Gefühl von Scham stieg in ihr auf. Sie wünschte, sie hätte ihm erlaubt, seinen Traum noch eine Weile weiterzuträumen.

»Mach dir keine Sorgen, Mum«, tröstete er sie schließlich. »Wir schaffen das schon. Ich werde mich um dich kümmern, das verspreche ich dir.«

Dann begann er zu singen. »You are my sunshine, my only sunshine. You make me happy when skies are grey.« Er sang hoch und ziemlich falsch. Eine Welle der Liebe durchflutete sie mit einer solchen Heftigkeit, dass sie glaubte, ihr Herz müsste gleich zerspringen.

»Soll ich dir ein Geheimnis verraten, Ronnie? Immer wenn ich ein bisschen traurig bin, sage ich mir, dass ich der glücklichste Mensch auf der Welt bin, weil ich den besten Sohn habe, den es nur geben kann. Hübsch, gescheit und brav. Und eines Tages werde ich dafür sorgen, dass du genauso stolz auf mich sein kannst wie ich auf dich.«

Das Stück Brot lag neben ihnen auf dem Bett. Er griff danach und hielt es ihr hin. Obwohl sie keinen Hunger hatte, tat sie ihm den Gefallen und biss hinein.

Dienstagabend. Anna ging die Moreton Street entlang. Es war halb acht. Sie hatte Überstunden gemacht. Ein Versuch, das Desaster der vergangenen Woche wieder gutzumachen.

Neben ihr ging Stan. Er war mit ein paar Freunden aus der Fabrik auf ein Bier gewesen. Seinem unsicheren Gang nach zu schließen hatte er sich allerdings weit mehr als nur eines genehmigt. Obwohl Vera auch des Öfteren zu tief ins Glas schaute, konnte sie ziemlich unangenehm werden, wenn Stan betrunken nach Hause kam. Anna überlegte, ob sie ihn dazu auffordern sollte, im Café in der High Street eine Tasse Kaffee zu trinken, entschied sich dann aber dagegen. Vera wartete mit dem Abendessen, und wenn sie zu spät kamen, würden sie die nächsten Tage nichts zu lachen haben.

Es war dunkel, und außer ihnen befand sich kaum noch jemand auf der Straße. Nur Veras Freundin Mrs. Brown kam ihnen Arm in Arm mit ihrem Gatten, dem stellvertretenden Bankdirektor, entgegen, angetan mit falschen Perlen und auf hohen Absätzen einherstolzierend, die unter ihrer massigen Gestalt gleich abzubrechen drohten. Vielleicht gingen sie zum Abendessen in das neue Restaurant in der High Street. Die Browns aßen oft auswärts. Vera lag Stan ständig damit in den Ohren, dass er sie doch auch mal zum Essen ausführen solle, aber Stan sagte immer, das koste zu viel.

Im Vorbeigehen tauschten sie ein paar höfliche Floskeln aus. Als Mrs. Brown Stans betrunkenen Zustand bemerkte, lächelte sie halb amüsiert, halb verächtlich. Anna spürte, wie Mr. Brown sie von oben bis unten musterte. Im Dezember vergangenen Jahres hatte er sie bei der Weihnachtsparty von Stan und Vera in der Küche abgefangen und sie gefragt, ob sie nicht mal Lust hätte, mit ihm eine Spritztour in seinem neuen Wagen zu machen; sie sei doch ein Mädchen, das offensichtlich gern ein bisschen Spaß habe. Sie hatte abgelehnt, und er war nie wieder darauf zu sprechen gekommen. Doch bei seinem Anblick hatte sie immer noch das Bedürfnis, sich auf der Stelle gründlich zu waschen.

Sie setzten sich wieder in Bewegung und steuerten auf Nummer 41 zu. Thomas saß in seinem Zimmer am Fenster und kämpfte mit seinen Hausaufgaben. Als er sie kommen sah, winkte er ihnen zu. Anna winkte zurück, während Stan nach seinem Schlüssel suchte und aufschloss. Anna ging als Erste hinein.

Und hörte den Schrei.

Er kam aus der Küche, hoch und schrill, eine Mischung aus Angst und schrecklichem Schmerz.

Sie rannte los, gefolgt von Stan. Vera lag auf dem Boden, neben ihr die Fritteuse. Siedendes Fett lief über den Boden. In der Luft hing der unangenehme Geruch nach verbranntem Fleisch.

Stan, der vom Alkohol noch immer ziemlich benebelt war, wirkte vor Schreck wie gelähmt, sodass Anna die Sache in die Hand nahm. »Lauf zu den Jacksons rüber, sie haben ein Telefon. Wir brauchen einen Krankenwagen. Schnell!« Während er sich wortlos umdrehte und losrannte, beugte sich Anna zu Vera hinunter und zog sie aus der Gefahrenzone.

Thomas erschien in der Tür, gefolgt von Peter und Ronnie. »Nicht reinkommen!«, rief Anna ihnen zu. Vera, die jetzt leise vor sich hinwimmerte, begann zu zittern. Die Schocksymptome setzten ein. »Bringt mir eine Decke. Schnell!«

Während sie wartete, gab sie beruhigende Laute von sich, vermied es dabei aber, sich die beschädigte Haut an Veras Unterarm genauer anzusehen. Stattdessen blieb ihr Blick an Peters Rollschuh hängen, der teilweise von der Fritteuse verdeckt wurde, als versuchte er seine Schuld zu verheimlichen.

Anna saß auf Veras Bett und wechselte ihren Verband.

Sie zog ein wenig fester als beabsichtigt. Vera zuckte zusammen. »Vorsichtig!«

»Entschuldige.«

»Wenigstens bist du nicht so schlimm wie die blöde Krankenschwester. Ich habe sie gefragt, ob sie ihre Ausbildung in Belsen gemacht hat.« Vera lachte über ihren eigenen Witz, was an der fahlen Blässe ihres Gesichts aber wenig änderte. Die Schmerzmittel schienen nicht zu wirken. Stan hatte Anna erzählt, dass sie nachts vor Schmerzen aufwachte.

Peter erschien in der Tür. »Geht es dir gut, Mum?«, fragte er ängstlich.

»Ja.« Veras Ton war schroff.

»Wirklich?«

»Das habe ich doch gerade gesagt, oder nicht? Lass uns jetzt wieder allein.«

Peter tat, wie ihm geheißen. Anna machte schweigend weiter. »So, fertig«, sagte sie schließlich. »Tut mir Leid, wenn ich grob zu dir war.«

»Du hast es ja nicht absichtlich gemacht. Außerdem, immer noch besser du als Stan.« Wieder lachte sie. »Wenn er es machen würde, könnte mich jetzt die ganze Straße schreien hören. Dieser Mann ist wirklich zu gar nichts zu gebrauchen.«

»Peter hat es auch nicht absichtlich getan.«

Veras Mund nahm einen harten Zug an. »Ich sage ihm ständig, dass er seine Sachen wegräumen soll. Wenn er mir zugehört hätte...«

»Aber er war so aufgeregt, und...«

»Das hilft mir jetzt auch nichts mehr.«

»Ich weiß, aber...«

»Als ich zur Schule ging, gab es in meiner Klasse ein Mädchen mit Brandnarben. Sie befanden sich auf der Seite ihres Kopfes, sodass ihr Haar an dieser Stelle nicht richtig wuchs. Wir nannten sie Vogelscheuche. Oft weinte sie und behauptete, eines Tages würden die Narben verblassen und die Haare nachwachsen, und sie würde schöner sein als wir alle zusammen. Das arme kleine Kalb.«

Während der neun Jahre, die sie nun schon zusammenlebten, hatte Anna in Veras Augen die unterschiedlichsten Gefühlsregungen beobachtet, aber noch nie zuvor Angst. Diese völlig neue Erfahrung weckte in ihr eine ebenfalls neue Emotion: Mitleid.

»Es wird verblassen, Vera. Hab ein bisschen Geduld.«

»Eigentlich hatte ich ja noch Glück, weil es nur am Arm ist. Stell dir vor, es hätte mein Gesicht erwischt, wie bei der Vogelscheuche.«

Beide Frauen schwiegen einen Moment. Draußen auf der Straße gingen zwei junge Männer lachend vorüber.

»Ich werde ihm verzeihen«, erklärte Vera schließlich. »Was bleibt mir anderes übrig? Er wird mir nicht ewig gehören. Wie hat es meine Mutter immer ausgedrückt? Ein Sohn ist nur so lange ein Sohn, bis er heiratet. Eines Tages wird ihn mir irgendein Mädchen wegnehmen, genau wie eine andere mir Thomas wegnehmen wird, und dann habe ich nur noch Stan, Gott steh mir bei.«

»Ronnie wird mich nie verlassen.«

»Meinst du?«

Anna stellte sich Ronnie als Erwachsenen vor. Gut aussehend und klug. Talentiert und charmant. Einen solchen Mann würden zahllose Mädchen lieben. Dann würde er seine Mutter nicht mehr brauchen.

Plötzlich war sie wieder dreizehn, stand ein weiteres Mal vor den Scherben ihres Zuhauses. Sie spürte den Staub in ihrem Mund und empfand ein schreckliches Gefühl von Leere.

Die beiden Frauen starrten einander an. In diesem Moment geteilter Angst waren ihre alten Animositäten für eine Weile vergessen.

»Vielleicht hast du Recht. Ronnie ist ein guter Junge.« Eine Spur von Bitterkeit hatte sich in Veras Stimme geschlichen. »Eins steht fest. Du wirst mehr Grund haben, stolz auf ihn zu sein, als ich bei meinen beiden.«

»Ich glaube, ich sollte mich jetzt um das Abendessen kümmern. Die anderen werden bestimmt schon hungrig sein.«

Vera nickte. Anna machte sich auf den Weg nach unten.

Manchmal, wenn Anna Ronnie eine besondere Freude machen wollte, ging sie mit ihm ins Amalfi-Café an der High Street.

Das Café gehörte der Familie Luca, die aus Neapel nach England ausgewandert war. Mrs. Luca machte wundervolle Kuchen, die in einer großen Vitrine auf der Theke ausgestellt waren, aber trotz Annas Drängen, doch mal wagemutig zu sein, nahm Ronnie immer dieselbe Sorte Marmeladentörtchen und dazu eine Flasche Limonade.

Sie saßen an einem Tisch am Fenster. Ronnie aß zuerst den Teig und sparte sich die Marmelade bis zum Schluss auf. »Wäre es nicht besser, beides zusammen zu essen?«, meinte Anna. Er machte sich nicht die Mühe, ihr darauf eine Antwort zu geben. Sie erinnerte sich, dass ihr Bruder und sie von ihren Eltern einst denselben Rat bekommen und ihn genauso ignoriert hatten.

»Königin Elizabeth wird bald gekrönt, oder?«, fragte er, als er den Mund gerade mal nicht voll hatte.

Sie nickte. Die Zeitungen hatten über Vorbereitungen für die Krönung berichtet, die im folgenden Jahr stattfinden sollte.

»Wird sie nach der Krönung ›jungfräuliche Königin‹ heißen?«

Anna dachte an Prinz Charles und Prinzessin Anne. »Das glaube ich nicht, mein Liebling.«

»Warum nicht?«

Sie spürte, wie sie rot wurde. »Iss dein Törtchen auf«, sagte sie. Ein Mann am Nebentisch hatte ihr Gespräch belauscht und lächelte amüsiert.

Das Café war voll besetzt. An einem Tisch ganz in ihrer Nähe verschlang ein Mädchen in Ronnies Alter einen großen Eisbecher. Sie war in Begleitung eines gut gekleideten Paars, bei dem es sich wahrscheinlich um ihre Eltern handelte. Das Mädchen winkte Ronnie zu. »Kennst du sie?«, erkundigte sich Anna.

»Das ist Catherine Meadows.«

»Geht sie in deine Klasse?«

»Ja.«

»Ist sie eine Freundin von dir?«

»Kann man sagen.«

»Bist du mit ihr genauso gut befreundet wie mit Archie?«

Ronnie zuckte nur mit den Achseln und widmete sich dann weiter seinem Törtchen. Seine neue Klassenlehrerin hatte ihr gesagt, Ronnie sei bei seinen Klassenkameraden recht beliebt, habe aber noch keine engen Freundschaften geschlossen. Einmal war er von Archie Clark zum Tee eingeladen worden, hatte aber keine besondere Lust gehabt, die Einladung zu erwidern. In gewisser Hinsicht war das ein Segen. Vera beschwerte sich ständig über die Freunde von Peter und Thomas. Sie zu fragen, ob Ronnie seinerseits auch noch ein paar bewirten dürfe, wäre gewesen, als würde man einen Stier mit einem roten Tuch reizen.

Während sie an ihrem Tee nippte, musste sie an Peter denken. Stan hatte ihm eine Tracht Prügel verpasst, und Vera war eine Weile sehr kühl zu ihm gewesen, was sich jedoch allmählich wie der legte.

Trotzdem hätte das Ganze viel schlimmer enden können. Eine Narbe am Arm war immer noch besser als ein vernarbtes Gesicht.

Sie schauderte. Ronnie runzelte die Stirn. »Was ist?«

»Ich musste gerade an Tante Vera denken.«

»Sie tut dir Leid, nicht?«

Sie nickte. Draußen ging gerade ihre Freundin Kate vorbei, Arm in Arm mit Mickey Lee. Kate und Mickey würden in zwei Wochen heiraten. Beide winkten ihr zu.

»Warum?«

Einen Moment lang fiel ihr gar nicht auf, was er da gesagt hatte. Als es ihr bewusst wurde, stellte sie ihre Tasse ab.

»Warum? Ronnie, was für eine Frage!«

Er starrte sie mit ernster Miene an.

»Tut sie dir denn nicht Leid?«, fragte Anna.

Er gab ihr keine Antwort. Ohne mit der Wimper zu zucken, durchbohrte er sie mit seinem Blick, als würde er nach etwas suchen.

»Ronnie?«

»Sie ist grässlich zu dir. Sie hat dich zum Weinen gebracht.«

»Nein, das stimmt nicht. Ich hatte bloß einen schlechten Tag, das habe ich dir doch erklärt.«

»Sie wollte, dass du mich zur Adoption freigibst.«

»Sie war nur wütend. Sie hat es nicht so gemeint.«

»Doch, das hat sie.«

Wieder musste sie an Peter denken. Nach dem Unfall hatte er steif und fest behauptet, er habe seine Rollschuhe aufgeräumt. Jemand anderer müsse sie dort liegen gelassen haben. Vielleicht Thomas. Oder Ronnie.

Aber das war lächerlich. Ronnie interessierte sich überhaupt nicht fürs Rollschuhlaufen. Außerdem hätte er sie nie an einer so gefährlichen Stelle liegen lassen.

Es sei denn, er hätte es absichtlich getan.

In ihrem Kopf regte sich etwas. Erinnerungsfetzen, die in einem dunklen Winkel ihres Gedächtnisses begraben lagen. Ein Gespräch zwischen Ronnie und ihr, das sie bei der Lektüre eines Märchens geführt hatten.

»Jemima hat nur noch einen einzigen Wunsch übrig. Was würdest du dir wünschen, wenn du an ihrer Stelle wärst

»Dass Tante Vera bald in den Himmel kommt

Ein Bild stahl sich vor ihr geistiges Auge. Ronnie, wie er in der Küchentür stand und Tante Vera beobachtete. Auf den richtigen Moment wartete, wenn sie ihm den Rücken zukehrte...

Sie schob das Bild beiseite, als wäre es mit einem Virus verseucht, und errichtete im Geist einen Schutzwall, der verhindern sollte, dass es je wieder in ihr Bewusstsein drang. Wie konnte sie so etwas über ihr eigenes Kind denken? Ihren Liebling. Ihren kleinen Ronnie Sunshine.

Den einzigen Menschen auf der Welt, den sie liebhaben durfte.

Jemand rief Ronnies Namen. Catherine Meadows war am Gehen und winkte Ronnie zum Abschied noch mal zu. Diesmal winkte er zurück. Catherine lächelte. Sie war ein hübsches Mädchen, das wahrscheinlich zu einer noch hübscheren Frau heranwachsen würde. Womöglich würde ihr eines Tages eine solche Frau ihren Ronnie wegnehmen.

»Du machst nur Spaß oder, Ronnie? In Wirklichkeit tut dir Tante Vera doch auch Leid?« Ihr Ton klang eher feststellend als fragend.

Er blinzelte. Einen Moment lang wirkte sein Blick betrübt. Wahrscheinlich schämte er sich.

»Ja, Mum.«

Es klang, als würde er es ehrlich meinen. Selbstverständlich meinte er es ehrlich, da war sie sich ganz sicher.

Er nahm einen Schluck von seiner Limo. Die Kohlensäure stieg ihm in die Nase, und er musste husten. Alle sahen zu ihnen herüber. »Hey, Ronnie, sollen die Leute glauben, ich hätte dich vergiftet?«, rief Mr. Luca hinter der Ladentheke. Anna wischte ihm mit einem Taschentuch den Mund ab, und sie mussten beide lachen.

Mitternacht. In der Moreton Street 41 war alles still – bis auf Ronnie, der im ersten Stock den Gang entlangschlich und vor der letzten Tür auf der linken Seite stehen blieb.

Die Tür war geschlossen. Er drehte den Knauf und schob sie einen Fuß breit auf. Weiter durfte er sie nicht öffnen, weil sie sonst zu knarren begann, das hatte er am Nachmittag ausprobiert, als alle anderen unten waren. Aber es reichte, um hineinzugelangen.

In der Mitte des Raums stand ein Doppelbett. Onkel Stan schlief auf der rechten Seite, Tante Vera auf der linken. Obwohl im Zimmer keine Lampe brannte, fiel durch die dünnen Vorhänge genug Licht herein.

Ronnie achtete darauf, nicht auf die knarrende Bodendiele in der Nähe des Fensters zu treten, während er durch den kalten Raum auf Tante Vera zuschlich. Er trug nur seinen Schlafanzug, keinen Bademantel. Wenn sie aufwachten, würde er so tun, als schlafwandelte er. Thomas hatte in Ronnies Alter zum Schlafwandeln geneigt. Ronnie hatte gehört, wie Tante Vera Mrs. Brown davon erzählte.

Tante Vera lag mit offenem Mund auf dem Rücken und gab beim Atmen ein dumpfes Schnarren von sich, gegen das Onkel Stans Schnarchen wie Donner klang. Ihr rechter Arm lag über ihrer Brust, aber das war nicht der Arm, für den Ronnie sich interessierte.

Vorsichtig zog er die Bettdecke zurück, um einen Blick auf den linken Arm werfen zu können, der ausgestreckt neben dem Körper lag. Er war mittlerweile nicht mehr verbunden. Trotz des schwachen Lichts konnte er die verbrannte Stelle sehen. Er streckte die Hand aus, hätte sie am liebsten berührt, ließ es dann aber bleiben, um Tante Vera ja nicht zu wecken. Es reichte schon aus, die narbige Haut zu sehen, zu wissen, dass sie existierte.

Viele Kinder in seiner Klasse hatten Rollschuhe. Sally Smiths Oma war über einen gestolpert und hatte sich den Knöchel gebrochen. Als Sally in der Schule davon erzählte, hatte in seinem Kopf plötzlich ein Gedanke Gestalt angenommen, der dort wohl schon eine Weile schlummerte. Ein gebrochener Knöchel wäre schön gewesen, aber ein vernarbter Arm war noch besser.

Seine Mutter sagte immer, Tante Vera meine es nicht wirklich böse, sondern sei im Grunde ein netter Mensch, aber das glaubte er nicht. Tante Vera hielt seine Mutter für dumm, und es machte ihr Spaß, sie zum Weinen zu bringen. Tante Vera wollte, dass seine Mutter ihn zur Adoption freigab und zu fremden Leuten schickte, sodass sie sich nie wieder sehen würden.

Aber er würde seine Mutter nie verlassen. Was sie auch sagte, eines Tages würde sein Vater doch kommen und sich um sie beide kümmern, doch bis dahin war das seine Aufgabe. Und Tante Vera sollte besser nicht versuchen, ihn wegzuschicken, denn wenn sie das tat, dann...

Auf jeden Fall sollte sie es besser nicht versuchen. Das war alles.

Nachdem er in sein Zimmer zurückgekehrt war, blickte er auf seine Mutter hinunter. Sie lag auf der Seite und atmete ruhig. Ronnie fand, dass sie aussah wie eine Prinzessin aus einem Märchenbuch. Er befeuchtete einen Finger und strich eine abstehende Strähne ihres Haars glatt.

Er würde nicht zulassen, dass ihr jemand wehtat. Sie war seine Mutter, und er liebte sie. Und sie liebte ihn, weil er ihr kleiner Ronnie Sunshine war, der sie glücklich machte, wenn der Himmel grau war. Sie sagte oft zu ihm, dass er der beste Junge der Welt sei und sie sich glücklich schätze, weil er so hübsch und gescheit und brav sei.

Aber er war nicht immer brav. Manchmal tat er schlimme Dinge und war stolz darauf. Er wollte, dass sie deswegen auch stolz auf ihn war und ihn lobte, aber schon bei der geringsten Andeutung in diese Richtung war sie geschockt, weil ihr kleiner Ronnie Sunshine niemals etwas Schlimmes tat. Ihr kleiner Ronnie Sunshine hatte nicht einmal schlimme Gedanken.

Wenn sie wüsste, was er manchmal dachte und tat, wäre sie wohl nicht mehr stolz auf ihn, würde ihn womöglich nicht mehr lieben.

Sie lächelte im Schlaf. Ihr Gesicht wirkte weich und lieb. Er stellte sich vor, wie ihre Züge hart werden würden. Wie sie ihn aus kalten Augen betrachten würde. »Geh weg, Ronald. Du bist böse, und ich hasse dich. Du bist nicht mehr mein kleiner Ronnie Sunshine.«

Dann würde er keinen Menschen mehr haben, der ihn liebte, und wäre ganz allein.

Die Vorstellung erschreckte ihn so sehr, dass er in Tränen ausbrach.

In ihrem Traum war Weihnachten. Sie war neun Jahre alt und öffnete gerade ihren Strumpf. Ihr Vater rauchte Pfeife, und ihre Mutter sagte zu ihm, dass er genau aussehe wie Ronald Colman, während die Familienkatze laut miaute, als wollte sie sich über den Rauchgeruch beschweren. Ihr Bruder John hatte eine Harmonika bekommen und versuchte »Hark the Herald Angels Sing« zu spielen, während sie alle lachten und dazu sangen...

Als sie aufwachte, glaubte sie einen Moment lang, das Lachen immer noch zu hören, aber dann wurde ihr bewusst, dass es sich in Wirklichkeit um ein Weinen handelte. Ronnie stand neben ihrem Bett, zitternd vor Kälte, und schluchzte herzerweichend.

Sie schloss ihn in die Arme und bedeckte seine nassen Wangen mit Küssen. »Ist schon gut, Ronnie, Mummy ist ja bei dir.« Sanft wiegte sie ihn hin und her, tröstete ihn mit beruhigenden Lauten, während draußen ein Zug vorbeidonnerte und den Raum mit Licht und Lärm füllte.

»Was ist mit dir, mein Schatz? Hat dich ein schlimmer Traum erschreckt?«

Er nickte.

»Was hast du denn geträumt?«

Er öffnete den Mund, machte ihn aber gleich wieder zu und schüttelte den Kopf.

»Du musst es mir nicht erzählen, Liebling. Hauptsache, es ist vorbei. Ich bin bei dir, dir kann nichts passieren.« Während sie ihm übers Haar strich, starrte er sie aus großen, angsterfüllten Augen an. Sie musste daran denken, was ihr im Café durch den Kopf geschossen war. Inzwischen schämte sie sich dafür. Er war doch noch ein richtiges Baby und würde nie jemandem absichtlich wehtun.

»Möchtest du bei mir schlafen? Ich werde aufpassen, dass dir die Ungeheuer aus deinem Traum nichts mehr tun, das verspreche ich dir.«

Während er neben sie kroch und die Arme um sie schlang, zog sie die Bettdecke hoch. Dann streichelte sie weiter sein Haar und begann ein Schlaflied zu summen.

Montagabend, zwei Wochen später. Ronnie saß zu Füßen seiner Mutter auf dem Boden und las. Tante Vera und Onkel Stan hatten sich auf dem Sofa vor dem Kamin niedergelassen.

Im Radio lief eine Sendung mit klassischer Musik. »Nun hören Sie eine Sinfonie von Haydn«, verkündete der Sprecher gerade mit samtweicher Stimme. Tante Vera nickte beifällig. Haydn war einer der Lieblingskomponisten von Mrs. Brown. Onkel Stan, der lieber Jazz gehört hätte, bemühte sich, ebenfalls ein wenig Begeisterung in seinen Blick zu legen.

Tante Vera trug einen dicken Pullover. Früher hatte sie immer die Ärmel hochgeschoben, selbst wenn es noch so kalt war. Inzwischen tat sie das nicht mehr. Während sie der Musik lauschte, strichen ihre Finger immer wieder über die Wolle, die die verbrannte Hautpartie bedeckte.

Sie bemerkte Ronnies Blick.

»Tut es noch weh?«, fragte er.

»Ein bisschen.«

»Das tut mir Leid.«

Seine Mutter, die gerade damit beschäftigt war, eines seiner Hemden zu flicken, streichelte ihm übers Haar. Er blickte mit bekümmerter Miene zu ihr auf. So, wie sie es von ihrem kleinen Ronnie Sunshine erwartete.

»Braver Junge«, flüsterte sie.

Er versuchte sich wieder auf sein Buch zu konzentrieren, aber Tante Veras Handbewegungen lenkten ihn immer wieder ab. Sein Blick wurde davon angezogen wie die Motten vom Licht.

Frühling 1953

In der Langley Avenue reihten sich lauter elegante Häuser aus grauem Stein aneinander, die alle aus der Zeit um die Jahrhundertwende stammten. Die Bewohner der Straße rühmten sich gern damit, dass es sich um die beste Adresse der Stadt handelte, was bei einem so tristen Ort wie Hepton nicht viel hieß.

Vierzig Jahre waren vergangen, seit June und Albert Sanderson mit ihren beiden kleinen Söhnen in diese Straße gezogen waren. Damals war Albert ein ehrgeiziger junger Anwalt gewesen. Inzwischen waren seine Söhne auch Anwälte und hatten ihre eigenen Familien, während Albert, dem es gesundheitlich nicht besonders gut ging, seine Tage mit Briefmarkensammeln und der Lektüre von Krimis verbrachte. Sein Ehrgeiz beschränkte sich mittlerweile darauf, möglichst früh den Täter zu erraten.

Bis vor sieben Monaten hatte die alte Doris Clark als Putzfrau für sie gearbeitet und war jeden Samstag wie eine gute Fee durch ihr voll gestopftes Haus gefegt. Als Doris schließlich in den Ruhestand gegangen war, hatte ihnen eine Bekannte, Sarah Brown, als Ersatz eine junge Frau namens Anna vorgeschlagen, die einen unehelichen Sohn zu ernähren hatte und deswegen nach einer Möglichkeit suchte, zusätzlich Geld zu verdienen.

An diesem Samstag saß June gerade in ihrer Küche und schrieb einen Brief an ihre Cousine Barbara. Anna saß neben ihr und polierte das Tafelsilber.

Als June mit ihrem Brief fertig war, erhob sie sich und streckte ihre arthritischen Finger. »Zeit für eine Tasse Tee«, verkündete sie. »Ich mache welchen«, sagte Anna.

»Nicht nötig, bleiben Sie sitzen. Ich stehe schon.« June füllte den Wasserkessel und stellte ihn auf den Herd. Aus dem Wohnzimmer drang die Stimme von Ivor Novello, harmonisch unterlegt von Alberts Schnarchgeräuschen. Anna fuhr fort, das Besteck zu polieren. Sie leistete gute Arbeit. Und sie war ein lieber Mensch. Immer bereit, zwei älteren Leutchen zuzuhören, die ihre Söhne vermissten und nur einander und das Radio als Gesellschaft hatten. June war froh, sie gefunden zu haben.

»Wie geht es Stan?«, fragte sie. »Ist er immer noch so erkältet?«

»Nein, es geht ihm schon viel besser. Lieb, dass Sie fragen.«

»Und Vera? Wie geht es ihr?«

»Auch gut.« Annas Blick blieb auf das Besteck gerichtet. Obwohl sie selten über ihr Leben in der Moreton Street sprach, spürte June, dass sie es dort nicht leicht hatte. Durch Sarah Brown wusste sie, dass Vera ein schrecklicher Snob war und es nicht gerne sah, dass eine ihrer Verwandten nebenbei als Putzfrau arbeitete.

Das Wasser kochte. June goss drei Tassen Tee ein, füllte ein Glas mit Zitronenlimonade und belud einen Teller mit Keksen. »Kommen Sie mit hinüber, meine Liebe«, sagte sie zu Anna. »Sie haben sich eine Pause verdient.«

Als sie das Wohnzimmer betrat, räusperte sie sich. Albert öffnete die Augen. »Ich habe nicht geschlafen«, versicherte er hastig. »Oder, Ronnie?«

Ronnie schüttelte den Kopf. Er saß an einem kleinen Tisch neben dem Fenster über einen Zeichenblock gebeugt. Anna brachte ihn oft mit, wofür sie sich immer des Langen und Breiten entschuldigte. Dabei war der Junge wirklich ein Musterkind. Junes Nachbarin Penelope Walsh hatte erklärt, sie würde niemals eine Putzfrau mit einem ledigen Kind beschäftigen, aber June weigerte sich, jemanden für etwas zu verdammen, das nichts anderes war als normale menschliche Schwäche.

Sie reichte Ronnie den Saft und hielt ihm den Teller mit den Keksen hin, wobei sie ihn drängte, gleich zwei zu nehmen. »Vielen Dank, Mrs. Sanderson«, sagte er. Der Junge hatte vorbildliche Manieren, seine Mutter konnte wirklich stolz auf ihn sein. Einen Moment lang betrachtete sie die Schiffe, die er gezeichnet hatte. Für einen knapp Achtjährigen machte er das erstaunlich gut.

»Eine sehr schöne Zeichnung, Ronnie«, lobte sie ihn.

»Die ist für Sie.«

»Was für ein wundervolles Geschenk. Sieh mal, Albert, ist das nicht großartig?«

Albert nickte. »Sie haben wirklich einen begabten Jungen«, sagte er zu Anna, deren Gesicht vor Freude aufleuchtete, sodass sie selbst wieder wie ein Kind aussah.

Ronnie setzte sich neben seine Mutter, die liebevoll den Arm um ihn legte. Albert erzählte ihnen von dem Fernsehapparat, den sie kaufen wollten, damit sie sich die Krönung der Königin ansehen konnten. Ronnie erklärte, die Eltern eines Klassenkameraden namens Archie Clark hätten sich gerade so ein Gerät angeschafft, hätten aber noch keine Ahnung, wie es funktioniere.

Anna lächelte Ronnie an. Aus ihrem Blick sprach ungetrübte, kindliche Liebe. Einmal hatte sie June anvertraut, dass sie Ronnie versprochen habe, eines Tages ein großes Haus auf dem Land für sie beide zu erwerben. Wie sie das mit ihren mageren Einkünften bewerkstelligen wollte, war allerdings fraglich.

June wünschte, sie könnte ihr irgendwie helfen, sah aber keine Möglichkeit.

Sommer. »...immer höflich und aufmerksam. Ronnie lernt seinen Stoff gut

7. Oktober 1953. Der Abend, an dem Thomas nicht nach Hause kam.

Anfangs machte sich keiner große Sorgen. Als sie sich zum Abendessen niederließen, herrschte bei Tante Vera noch der Zorn vor. »Was für eine Verschwendung! Das ganze gute Essen! Der kann sich auf was gefasst machen!«

Bis sie mit dem Essen fertig waren, war ihre Stimmung bereits umgeschlagen und an die Stelle des Zorns war Angst getreten. Derartiges Verhalten war völlig untypisch für Thomas. »Bestimmt ist er wieder bei diesem Taugenichts Johnny Scott. Peter, lauf schnell zu ihm rüber und hol ihn.« Peter tat, wie ihm geheißen, kam aber mit der Nachricht zurück, dass bei den Scotts niemand wisse, wo Thomas sein könne.

Die Zeit verging. Andere Freunde wurden aufgesucht, aber alle gaben die gleiche Auskunft. Tante Vera wurde immer besorgter. Onkel Stan versuchte sie zu beruhigen: »Bestimmt kommt er bald. Außerdem ist er ja kein Baby mehr.« Ohne Erfolg. »Er ist doch erst zwölf! Da sollte er so spät nicht mehr unterwegs sein. Nicht ohne uns zu informieren. Mein Gott, wo steckt er bloß?«

Als Anna vorschlug, die Polizei anzurufen, wurde Tante Vera panisch. »Du glaubst, ihm ist etwas Schlimmes zugestoßen, nicht wahr? Nicht wahr?!« Anna verneinte. Sie erklärte, das sei eine reine Vorsichtsmaßnahme. Ronnie und Peter verfolgten das Ganze mit großen Augen. In der Aufregung dachte niemand daran, dass für die beiden längst Schlafenszeit war.

Den Rest des Abends ging es drunter und drüber. Immer mehr Leute kamen ins Haus: Mrs. Brown und ihr Mann. Die Jacksons von nebenan. Ehemalige Nachbarn aus der Baxter Road, die sie seit ihrem Umzug kaum noch gesehen hatten. Die Luft war von besorgten Stimmen erfüllt, und Tante Vera klang zunehmend schrill. Die Uhr über dem Kamin tickte unerbittlich vor sich hin. Zehn Uhr. Elf. Mitternacht.

Die Polizei traf ein. Die Beamten stellten Fragen, machten sich Notizen. Einer von ihnen riet Tante Vera, sich ein bisschen hinzulegen, woraufhin sie ihn anschrie und als Idioten bezeichnete. »Wie soll ich schlafen, wenn mein Kind vermisst ist?« Dabei rieb sie sich ständig mit der Hand über den linken Arm. Es schien ihr völlig egal zu sein, dass der Ärmel ihrer Bluse hochgerutscht war und alle ihre verbrannte Haut sahen.

Irgendwann leerte sich das Haus wieder, und die fünf Bewohner blieben allein zurück. Stan und Tante Vera saßen Hand in Hand vor dem Kamin und ermahnten einander mit angsterfüllter Stimme, tapfer zu sein. Peter kauerte zu ihren Füßen, während Ronnie auf den Knien seiner Mutter saß. »Ihr solltet längst im Bett sein«, flüsterte sie, aber er schüttelte den Kopf, und sie ließ ihn gewähren.

Schließlich schlief er ein und träumte, dass die Polizeibeamten zurückkehrten und verkündeten, Thomas sei unversehrt gefunden worden, woraufhin sie ein mit Thomas’ Sonntagssachen bekleidetes Skelett hereinführten. Als er aufwachte, war es fast Morgen. Nur Tante Vera war noch wach und rieb geistesabwesend ihren lädierten Arm, während ihr die Tränen über die Wangen liefen.

Nachdem er sie eine Weile beobachtet hatte, sagte er: »Nicht weinen.«

»Ich kann nicht anders. Es ist unerträglich. Das Schlimmste, was passieren konnte.«

»Schlimmer als das mit deinem Arm?«

»Viel schlimmer.«

Er lehnte sich vor. »Warum?«

»Weil das andere mir selbst passiert ist. Ich war diejenige, die leiden musste. Jetzt muss vielleicht Thomas leiden.« Sie begann zu schluchzen. »Womöglich ist er schon tot, und ich kann gar nichts tun. Das ist der schlimmste Schmerz überhaupt. Wenn einem Menschen, den man liebt, etwas Schreckliches zustößt. Das tut viel weher als das mit dem Arm.«

»Aber...«

Sie wischte sich über die Wangen. »Schlaf weiter, Ronnie. Ich mag nicht mehr reden.«

Gehorsam wie immer, schloss er die Augen.

9. Oktober. Unter Aufsicht von Mrs. Jennings beteten die Schüler der dritten Klasse dafür, dass Thomas Finnegan, der fünf Jahre zuvor selbst in diesem Klassenzimmer gesessen hatte, wohlbehalten nach Hause zurückkehren möge.

Es gab noch immer keine Neuigkeiten über seinen Verbleib. Obwohl Thomas nicht gerade einer ihrer Lieblingsschüler gewesen war, wurde Mrs. Jennings bei dem Gedanken, ihm könnte etwas geschehen sein, angst und bange, und sie betete ihrerseits ebenfalls, dass sich das Ganze als Dummejungenstreich entpuppen würde und nicht etwas viel Schlimmeres dahintersteckte.

Ein leises Kichern unterbrach sie in ihren Gedanken. Alan Deakins, der Störenfried der Klasse, erheiterte seine Freunde Robert Bates und Stuart Hooper, indem er wilde Grimassen schnitt. Mrs. Jennings bedachte alle drei mit einem strafenden Blick, woraufhin sie ganz schnell die Augen schlossen. Nun hatten nur noch zwei Schüler der Klasse die Augen geöffnet.

Die hübsche Catherine Meadows in der ersten Reihe drehte sich immer wieder besorgt nach Ronnie Sidney um. Catherine war auf eine kindliche Weise in Ronnie verliebt und nahm offensichtlich regen Anteil an seinem Kummer.

Ronnie selbst, der neben dem kleinen Archie Clark in der zweiten Reihe saß, starrte mit gerunzelter Stirn vor sich hin. Die Gedanken, die in seinem Kopf herumschwirrten, schienen ihm schwer zu schaffen zu machen. Mrs. Jennings mochte Ronnie. Er war ein braver Junge: höflich, fleißig und gescheit. Außerdem besaß er Phantasie. Genug Phantasie, um sich wegen des Wohlergehens seines Cousins Thomas Sorgen zu machen.

Sie suchte seinen Blick, um ihm mitfühlend zuzulächeln, aber er war so sehr mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, dass er es gar nicht bemerkte.

10. Oktober. Thomas kam nach Hause.

Er war mit Harry Fisher unterwegs gewesen, einem älteren Jungen, der eine andere Schule der Gegend besuchte und regelmäßig blau machte. Harrys Mutter lebte nicht mehr, und sein Vater, ein notorischer Trinker, war für eine Woche verreist und hatte sich darauf verlassen, dass Harry schon für sich selbst sorgen würde. Harry aber hatte andere Vorstellungen gehabt. Nachdem er sich von den Ersparnissen seines Vaters etwas abgezweigt hatte, wollte er sich mit dem Geld ein paar schöne Tage im West End machen und brauchte dazu die Gesellschaft eines Kumpels. Seine Wahl war auf Thomas gefallen, der leicht zu beeindrucken und zu lenken war.

Die Polizeibeamten reagierten äußerst wütend. »Das war ausgesprochen dumm von dir, junger Mann. Du hast unsere kostbare Zeit verschwendet und alle in Angst und Schrecken versetzt.« Vera war außer sich. »Ich weiß nicht, ob ich dich küssen oder umbringen soll!« Am Ende entschied sie sich für Ersteres und verwöhnte Thomas mit Kuchen und Limonade. Peter verkündete entrüstet, wenn das so sei, dann werde er ebenfalls weglaufen, wofür er von Stan eine Ohrfeige erhielt.

Anna, die fast so erleichtert war wie Vera, drückte Ronnie an sich. »Du darfst mir niemals einen solchen Schrecken einjagen, Ronnie. Die Vorstellung, dir würde etwas Schlimmes passieren – das könnte ich nicht ertragen.«

Er drückte sie seinerseits an sich. »Ich werde so etwas nie tun, Mum. Das verspreche ich dir.«

Dezember. Zwei Tage vor Beginn der Weihnachtsferien. Soeben hatte Mrs. Jennings ihrer Klasse die letzten Sätze einer Geschichte vorgelesen, in der es um einen Mann namens Horatio ging, der von jemandem niedergeschlagen, ausgeraubt und dann einfach liegen gelassen worden war. Nach Jahren des Suchens hatte Horatio den Schuldigen aufgespürt und in einem Duell getötet. Ihre Kollegin Miss Sims hatte wegen der düsteren Thematik Bedenken geäußert, aber Mrs. Jennings wusste aus Erfahrung, dass selbst die Kinder mit den unschuldigsten Gesichtern gerne blutrünstige Geschichten hörten.

»Hat euch das gefallen?«, fragte sie.

Als Antwort bekam sie ein einstimmiges Ja und heftiges Kopfnicken. Alan Deakins merkte außerdem an, Horatio hätte den Räuber in kochendes Öl werfen sollen, woraufhin Catherine Meadows ihn rügte, er solle nicht so schreckliches Zeug sagen.

»Für Horatio war nur wichtig, dass er überhaupt Rache nehmen konnte, Alan. Und das hat er getan.« Mrs. Jennings klappte ihr Buch zu. »So, und jetzt...«

»Nein, das hat er nicht«, fiel ihr Ronnie Sidney ins Wort.

»Doch, Ronnie. Er hat Sir Neville getötet.«

»Pff!«, machte Alan Deakins. Ein paar Kinder lachten.

Ronnie schüttelte den Kopf. »Sir Neville war verheiratet. Er liebte seine Frau. Horatio hätte lieber sie umbringen sollen. Das hätte Sir Neville viel mehr wehgetan und wäre eine bessere Rache gewesen.«

Mrs. Jennings starrte ihn bestürzt an. »Nun ja, ich weiß nicht, Ronnie...«

»Doch, ganz bestimmt.«

Alan prustete verächtlich. Wieder fingen ein paar Schüler zu kichern an. Catherine zischte ihn an, er solle endlich Ruhe geben.

»Tja, vielleicht hast du Recht, Ronnie«, meinte Mrs. Jennings. »So, und nun möchte ich, dass ihr den Rest der Stunde alle ein Bild von Sir Nevilles Schloss zeichnet.«

Fünf Minuten später saßen alle Schüler über ein Blatt Papier gebeugt, auch Ronnie Sidney. Mrs. Jennings betrachtete ihn nachdenklich. Seine Bemerkungen hatten sie ein wenig erschreckt, aber wahrscheinlich gab es dafür eine einfache Erklärung. Sie wusste, dass er mit seiner Mutter viel las. Vielleicht hatten sie sich bereits an Shakespeares Tragödien herangewagt. Obwohl Ronnie noch zu jung war, um wirklich etwas damit anfangen zu können, hatte er bestimmt das eine oder andere verstanden. Er war schließlich ein gescheiter Junge, der sich mit dem Lernen leicht tat.

Sie begann darüber nachzudenken, was sie zum Abendessen kochen sollte.

September 1954

»Anna«, sagte June Sanderson. »Es gibt da etwas, worüber wir reden müssen.«

»Habe ich etwas falsch gemacht?«

»Nein, ganz und gar nicht. Ich habe Ihnen einen Vorschlag zu unterbreiten.«

Die beiden Frauen saßen in Junes Küche. Albert war oben im ersten Stock und zeigte Ronnie die Neuerwerbungen in seiner Briefmarkensammlung.

»Ich habe eine Cousine. Barbara Pembroke. Ich glaube, ich habe sie schon mal erwähnt.«

»Die verwitwete Dame, die nach Oxfordshire gezogen ist?«

»Genau. In einen Ort namens Kendleton. Sie besitzt dort ein Haus am Fluss.«

Anna nickte.

»Ich habe Barbara in einem Brief von Ihnen erzählt. Wie sehr Albert und ich Sie schätzen. Barbara ist eine alte Dame, der es gesundheitlich nicht besonders gut geht. Sie hat ein schwaches Herz und nicht mehr lange zu leben.«

Wieder nickte Anna, diesmal mit leicht fragendem Blick.

»Und sie ist einsam. Sie hat keine Verwandten, die irgendwo in der Nähe leben. Ihr einziger Sohn lebt in Amerika, und sie hätte gern eine Art Gesellschafterin. Eine Frau, die bei ihr im Haus wohnt. Nur damit sie nicht mehr so allein ist. Es wäre ein bisschen Hausarbeit zu machen, aber nicht viel. Sie ist eine wohlhabende Dame, die über eine Köchin und eine Putzfrau verfügt. Einen Gärtner gibt es auch. Es kommt sogar regelmäßig eine Krankenschwester. Ihr geht es wirklich nur um ein wenig Gesellschaft.«

»Und da haben Sie an mich gedacht?«

»Sie würde gut bezahlen, Anna. Sehr gut sogar, wenn sie dafür die richtige Person findet. Sie ist eine nette Frau. Vielleicht ein bisschen eigen in ihrer Art, aber gütig. Und...«, June suchte zögernd nach den richtigen Worten, »... und großzügig. Eine Frau, die eine gute Gesellschafterin in ihrem Testament berücksichtigen würde.«

»Verstehe.«

»Ich weiß, dass Sie von hier weg möchten. Dass Sie davon träumen, sich anderswo ein neues Leben und ein eigenes Zuhause aufzubauen. Vielleicht haben Sie nun die Chance dazu.«

Anna stellte das Tablett ab, das sie gerade poliert hatte. »Glauben Sie denn, sie würde mich wollen?«

»Natürlich müssten Sie beide sich erst mal kennen lernen, aber ich bin sicher, dass Sie ihr gefallen werden. Wie gesagt, ich habe ihr bereits alles über Sie erzählt. Ein Loblied auf Sie gesungen.« June musste lachen. »Womit ich mir letztendlich ins eigene Fleisch schneide, denn eigentlich möchte ich Sie ja auf keinen Fall verlieren.«

Annas Blick wurde nachdenklich. »Kurz vor dem Krieg, als ich noch ein Kind war, haben meine Eltern mit meinem Bruder und mir mal einen Bootsausflug gemacht. Wir sind durch die Londoner Kanäle aufs Land hinausgefahren. Das Wetter war herrlich, und wir halfen mit, die Schleusentore zu betätigen. Wir kamen damals auch durch Oxfordshire. Es war eine sehr schöne Gegend.«

»Das ist es immer noch. The Chilterns. The Goring Gap. Oxford selbst. Die dortige Universität ist die beste im ganzen Land.«

»Noch besser als Cambridge?«

June tat entrüstet. »Tausendmal besser.« Dann lächelte sie. »Mein Bruder und Albert haben dort studiert. Die beiden freundeten sich an, und auf diese Weise lernten mein Mann und ich uns kennen. Es könnte also sein, dass ich da nicht ganz objektiv bin.«

Anna lächelte nun ebenfalls. »Ja, das glaube ich auch.«

»Es ist eine völlig andere Welt als hier.«

Annas Augen begannen zu leuchten. »Die Art von Welt, die ich mir für Ronnie wünsche. Grün und schön. Wie sind die Schulen in Kendleton?«

June spürte, wie ihr Magen sich ein wenig verkrampfte. »Die Sache hat einen Haken, Anna. Barbara braucht Ruhe, und ihr Arzt hat ihr dringend davon abgeraten, sich ein Kind ins Haus zu holen. Ronnie müsste bei Stan und Vera bleiben.«

Das Lächeln verschwand genauso schnell aus Annas Gesicht, wie es gekommen war. »Dann wird sie sich jemand anderen suchen müssen.«

»Aber...«

»Nein.«

»Anna, denken Sie ...«

»Nein! Auf keinen Fall. Ronnie ist alles, was ich habe. Ich könnte ihn nie verlassen. Niemals!« Errötend senkte Anna die Stimme. »Bitte entschuldigen Sie. Ich wollte nicht unhöflich sein. Sie waren immer so freundlich zu uns, und ich bin Ihnen auch sehr dankbar, aber das ist völlig unmöglich.«

Anna griff wieder nach dem Tablett und setzte ihre Arbeit fort. June hörte Albert oben über irgendeine Bemerkung von Ronnie lachen. Ihr Blick fiel auf die Zeichnung des Londoner Tower an der Wand gegenüber. Ein weiterer von Ronnies Malversuchen. Für einen knapp neunjährigen Jungen außergewöhnlich gut.

»Es wäre ja nicht für immer, Anna. Ein paar Jahre, vielleicht sogar weniger. Sie könnten ihn hier doch immer wieder besuchen. Kendleton ist nicht so weit weg. Albert und ich würden ein Auge auf Ronnie haben. Er könnte jederzeit bei uns vorbeischauen. Sie wissen, wie gern wir ihn haben. Bitte verwerfen Sie die Idee nicht einfach so. Versprechen Sie mir, dass Sie darüber nachdenken werden.«

Anna schwieg. Oben war erneut Lachen zu hören.

»Was ist los, Mum?«

»Nichts, Ronnie.«

»Du hast doch irgendwas.«

Sie saßen an einem Fenster des Amalfi-Cafés. Ronnie hatte in zwischen die Marmeladentörtchen satt und bevorzugte jetzt Schokoladeneclairs. Das Café war voll, das Stimmengewirr übertönte fast den Alma-Cogan-Song, der auf der neu installierten Jukebox lief.

Sie erzählte ihm von dem Gespräch mit June Sanderson. »Wirst du es machen?«, fragte er, als sie geendet hatte.

»Nein. Ich habe Mrs. Sanderson gesagt, dass ihre Cousine sich jemand anderen suchen muss.«

Er nickte.

»Was sie nun sicher auch tun wird.«

»Eine so Nette wie dich wird sie nicht finden.«

»Danke für das Kompliment, Ronnie.« Anna nahm einen Schluck Tee. An einem der Nachbartische unterhielt sich Emily Hopkins, die Schwester ihres ehemaligen Verehrers Harry, mit einer jüngeren Frau namens Peggy. Beide sahen immer wieder zu ihnen herüber, sodass sich Anna nicht besonders wohl fühlte. Harry und Peggy hatten im Vorjahr geheiratet und erwarteten zu Weihnachten ihr erstes Kind. Peggy hatte stumpfes Haar und einen schmalen, verkniffenen Mund. Annas Freundin Kate fand, dass Harry ein Narr war und Peggy weder Annas gutes Aussehen noch ihr liebes Wesen besaß. Dafür hatte sie aber auch kein uneheliches Kind.

Ronnie starrte Anna mit einem seltsamen Blick an. Nun war es an ihr, besorgt nachzufragen, was denn los sei, aber er gab ihr keine Antwort.

»Ronnie?«

Er schluckte. »Du solltest es machen.«

Anna stellte ihre Tasse ab. »Du möchtest, dass ich weggehe?«

»Nein. Aber...« Er musste den Satz nicht zu Ende sprechen, sie wusste, was er dachte. Dasselbe wie sie.

»Ich möchte dich nicht allein zurücklassen, Ronnie.«

»Ich werde schon zurechtkommen, ich bin ja kein Baby mehr.«

An seiner Operlippe klebte Sahne. Anna wischte sie weg. »Nein, das bist du nicht«, sagte sie leise. »Du bist mein großer, gescheiter, erwachsener Junge.«

Emily und Peggy starrten immer noch zu ihnen herüber. Ronnie, sonst so brav, zog eine Grimasse in ihre Richtung, woraufhin beide schnell den Blick abwandten. Anna musste ein Lachen unterdrücken. »Das war ungezogen«, erklärte sie. »Ich bin sehr böse auf dich.«

Wieder zog er ein Gesicht, diesmal aber ein nettes. Sie musste daran denken, was sie durch eine Heirat mit Harry alles gewonnen hätte. Einen anständigen, fleißigen Mann. Ein eigenes Zuhause. Ehrbarkeit. Vielleicht weitere Kinder. Nur auf Ronnie hätte sie dann für immer verzichten müssen.

Sie griff nach seiner Hand und drückte sie. Er lächelte sie an.

»Ich hab dich sehr lieb, Ronnie Sunshine. Mehr als alles andere auf der Welt.«

»Ich hab dich auch lieb, Mum. Ich möchte nicht, dass du weggehst. Aber wenn du doch gehst, werde ich schon zurechtkommen.«

»Iss dein Eclair auf. Wir sprechen ein anderes Mal darüber.«

Er biss ein Stück ab und tat, als würde es ihm schmecken, aber als sie das Café verließen, lag auf seinem Teller noch die Hälfte des Gebäcks.

Oktober. Während ihr Mann zu einer Quizsendung schnarchte, die gerade in ihrem neuen Fernseher lief, betrachtete Mrs. Fletcher die Ergebnisse eines kleinen Zeichenwettbewerbs, den sie in der vierten Klasse veranstaltet hatte. Das Thema lautete: »Eine wichtige Person in meinem Leben.« Der Gewinner würde fünf Shilling bekommen, und sein Bild würde eine Woche lang am schwarzen Brett der Schule hängen.

Die meisten Kinder hatten sich für ein Porträt ihrer Mutter entschieden. Der ungezogene Alan Deakins hatte Marilyn Monroe gezeichnet, die in Mrs. Jennings Augen eine Schlampe war, aber Alans Mutter sah ihrer Meinung nach auch aus wie eine Schlampe, sodass es im Grunde recht gut passte. Stuart Hooper, dem als Klassenschlechtestem an ihrem Wohlwollen gelegen war, hatte ein Bild von ihr gezeichnet. Leider war es nicht so schmeichelhaft ausgefallen, wie es wohl seine Absicht gewesen war, und erinnerte eher an die Fratze eines Wasserspeiers. Ein paar andere hatten ihre Väter porträtiert. Die patriotisch gesinnte Catherine Meadows hatte die Königin gezeichnet, Archie Clark seine Katze.

Eine Arbeit aber ließ alle anderen verblassen: Ronnie Sidneys Bild von seinem Cousin Thomas.

Es war eine sehr ungewöhnliche Zeichnung, auf der Thomas selbst gar nicht zu sehen war, sondern ein Friedhof. In der Mitte ragte ein Grabstein auf, der von einem steinernen Engel mit ausgebreiteten Flügeln und andächtig gefalteten Händen bewacht wurde. Die Inschrift auf dem Grabstein lautete: »Thomas Stanley Finnegan. Geboren am 12. November 1940. Gestorben am 7. Oktober 1953

Mrs. Fletchers Gedanken wanderten zurück zum letzten Oktober, als Thomas vermisst gewesen war. Ihre Kollegin Mrs. Jennings hatte ihr erzählt, dass die ganze Klasse für Thomas’ sichere Rückkehr gebetet habe und wie besorgt Ronnie gewesen sei. Offenbar hatte er befürchtet, Thomas könnte tot sein. Zum Glück war die Sache gut ausgegangen.

Aber es hätte auch ganz anders kommen können – wie in Ronnies Zeichnung dargestellt.

Es war ein interessantes Bild, das von Intelligenz zeugte. Sehr phantasievoll, genau wie Ronnie selbst, zugleich aber auch höchst beunruhigend. Leider eignete es sich nicht, um an ein schwarzes Brett gepinnt zu werden. Mrs. Fletcher befürchtete, die Erstklässler könnten Albträume davon bekommen.

Sie beschloss, den Preis einem anderen Kind zu geben. Ronnie würde noch genügend Wettbewerbe gewinnen.

Januar 1955

Ronnie stand am Bahnhof Paddington Station auf einem Bahnsteig und sprach durch ein offenes Zugfenster mit seiner Mutter. Onkel Stan und Peter, die ihr beim Tragen ihres Gepäcks geholfen hatten, warteten ein Stück entfernt.

»Ich werde dir jeden Tag schreiben«, sagte sie. »Wenn du es nicht aushältst, komme ich zurück. Ich muss dort nicht bleiben.«

»Mach dir keine Sorgen, Mum.« Er schenkte ihr sein schönstes Ronnie-Sunshine-Lächeln. »Ich komme schon klar.«

Der Schaffner blies in seine Pfeife. Es war Zeit. Sie lehnte sich zum Fenster hinaus und umarmte ihn, so gut es ging, während sich hinter ihr andere Reisende vorbeischoben und nach einem Platz suchten.

Der Zug setzte sich in Bewegung und stieß dabei weiße Dampfwolken aus. Anna blieb am Fenster stehen und winkte. Ronnie erwiderte ihr Winken. Fast wäre er hinter ihr hergelaufen und hätte sie angefleht, bei ihm zu bleiben.

Schließlich ging er zu den anderen zurück.

»Na, das hätten wir geschafft, Ronnie«, sagte Onkel Stan betont munter.

Ronnie nickte.

»Lass uns irgendwo einen Teller Pommes essen. Ich bin sicher, dieses eine Mal wird deine Tante nichts dagegen haben.«

»Danke, Onkel Stan.«

»Ich muss mir nur noch schnell eine Schachtel Zigaretten besorgen. Ihr beide wartet so lange hier.«

»Willst du denn gar nicht weinen?«, fragte Peter, als sie allein waren.

»Nein.«

»Doch, ich sehe es dir an. Nun leg schon los, du Heulsusenbastard. Fang an, nach deiner Mummy zu weinen.«

Ronnie schüttelte den Kopf.

»Du darfst bloß bei uns bleiben, weil Dad zu Mum gesagt hat, dass es einen schlechten Eindruck macht, wenn wir dich nicht behalten. Sonst müsstest du jetzt zu all den anderen Bastarden ins Waisenhaus.«

Ronnie hatte plötzlich einen Kloß im Hals. Die Tränen, gegen die er schon den ganzen Tag ankämpfte, ließen sich kaum mehr zurückhalten. Peter, der das spürte, bekam vor Schadenfreude glänzende Augen. Während Ronnie in diese Augen starrte, musste er daran denken, wie Tante Vera auf dem Küchenboden gelegen hatte. Er stellte sich statt ihrer Peter vor: laut schreiend, weil ihm das kochende Pommesfett das Gesicht wegfraß.

Langsam blubberte in seinem Hals ein Lachen hoch und löste den Kloß wieder auf.

Das Lächeln verschwand aus Peters Gesicht. Verwirrt starrte er Ronnie an. »Nun wein doch endlich!«

»Und wenn ich es nicht tue? Lässt du dann wieder einen von deinen Rollschuhen liegen, damit ich darüber falle?«

Peter lief rot an. »Du Mistkerl!«, stieß er hervor. Dann ging er seinem Vater entgegen.

Ronnie drehte sich um, weil er einen letzten Blick auf den Zug, in dem seine Mutter saß, erhaschen wollte, aber der Bahnsteig lag bereits verlassen da. Sie war weg.

4. Februar 1955

Liebe Mum,

danke für deinen Brief. Er ist heute Morgen gekommen, und ich habe ihn gleich beim Frühstück gelesen. Tante Vera passte das gar nicht, aber das war mir egal. Ich habe ihn in die Schule mitgenommen und dort noch dreimal gelesen. Heute Abend im Bett werde ich ihn noch mal lesen!

Mir geht es gut. Thomas ist erkältet und hat Onkel Stan angesteckt, mich aber nicht. Mrs. Fletcher hat mir ein Buch mit dem Titel König Salomons Minen zum Lesen gegeben. Es ist sehr gut. Wir hatten eine Matheprobe, und ich und Archie waren die beiden Besten. Gestern Abend waren Mr. und Mrs. Brown zum Essen da, und Tante Vera hat einen Fischeintopf aus einem Rezeptbuch gekocht. Sie hat den ganzen Tag dazu gebraucht, aber hinterher hörte ich, wie Mrs. Brown zu Mr. Brown sagte, sie habe in ihrem ganzen Leben noch nie so etwas Schreckliches gegessen.

Gestern habe ich Mr. und Mrs. Sanderson besucht. Ich soll dich herzlich von ihnen grüßen, und von Tante Mabel und Onkel Bill auch. Mr. Sanderson hat mir ein paar amerikanische Briefmarken geschenkt und ein Album, in das ich sie reintun kann. Es hat eine Menge Seiten für die verschiedenen Länder. Archies Onkel lebt in Australien, und er wird mir auch Briefmarken geben.

Catherine Meadows hat sich heute in der Schule neben mich gesetzt und gesagt, dass sie sich um mich kümmern wird, während du in Oxfordshire bist. Aber ich habe ihr geantwortet, dass ich niemanden brauche, der sich um mich kümmert. Es ist meine Aufgabe, mich um dich zu kümmern.

Ganz, ganz liebe Grüße

von

Ronnie Sunshine

Mabel Cooper stand in ihrem Laden an der Ecke und hörte zu, wie Emily Hopkins vom neugeborenen Sohn ihres Bruders Harry schwärmte, dem kleinen John. »Ein so schönes Baby! Und gescheit ist er auch. Gestern hat er...« Mabel nickte höflich, fragte sich insgeheim aber, ob Emily überhaupt vorhatte, etwas zu kaufen.

Ronnie Sidney betrat den Laden. Er trug seine Schuluniform und hatte einen weißen Umschlag in der Hand.

»Hallo, Ronnie. Was für eine nette Überraschung.«

»Wie geht es Ihnen, Tante Mabel?«

»Bei deinem Anblick gleich noch viel besser.«

Er trat an die Ladentheke. Emily bekam einen verkniffenen Zug um den Mund. Sie musterte Ronnie von oben bis unten, als versuchte sie irgendeinen Makel an ihm zu entdecken. »Wie geht es deiner Mutter?«, fragte sie kurz angebunden.

»Gut, vielen Dank.«

»Tja, ich muss wieder los. Nächstes Mal bringe ich Ihnen ein Foto von John mit, Mabel.«

»Und eine Einkaufsliste«, murmelte Mabel, während Emily den Laden verließ. Dann lächelte sie Ronnie an. »Ist das ein Brief an deine Mutter?«

»Ja.« Er hielt ihr einen Shilling hin. »Könnte ich bitte eine Briefmarke dafür haben?«

Sie gab ihm eine. »Hast du ihr liebe Grüße von uns ausgerichtet?«

Er nickte.

»Und wie geht es dir, Ronnie?«, fragte sie, während er die Briefmarke auf den Umschlag klebte.

»Gut«, antwortete er, ohne den Kopf zu heben.

»Wirklich?«

Nun blickte er doch auf und brachte sogar ein Lächeln zustande. »Ja, wirklich.«

Sie reichte ihm einen Schokoriegel. Den größten, den sie hatte. »Hier, für dich.«

»Danke, Tante Mabel.«

»Komm bald mal zum Tee vorbei. Und bring ein paar von deinen Bildern mit. Wir würden so gern wieder welche sehen.«

»Das mache ich. Auf Wiedersehen, Tante Mabel, und grüßen Sie Onkel Bill von mir.«

Sie sah ihm nach. Seine Uniform war ihm zu groß, er hatte sie bestimmt von Thomas oder Peter geerbt, aber mit der Zeit würde er schon hineinwachsen. Draußen auf der Straße spielten ein paar Jungen Fußball. Obwohl es bereits zu dämmern begann, nutzten sie noch die letzten paar Minuten Tageslicht. Einer von ihnen rief zu Ronnie hinüber, ob er mitspielen wolle, aber er schüttelte den Kopf und eilte weiter.

Vor Jahren hatte sie im Radio mal einen Psychiater darüber reden hören, dass kreative Menschen oft die Einsamkeit brauchten, um die Musik in ihrem Inneren richtig hören zu können. Ronnie war ein ziemlicher Einzelgänger und künstlerisch sehr begabt. Ihr Mann Bill prophezeite, dass Ronnie eines Tages berühmt sein würde. Vielleicht hatte er Recht. Vielleicht würden die Leute sie in zwanzig Jahren nach dem Ronnie Sidney fragen, und sie würde ihnen antworten: »Er war immer in sich gekehrt. Ein Einzelgänger. Aber das brauchte er. Er konnte seine Energie nicht mit Banalitäten verschwenden – nicht, wenn er die Musik in seinem Inneren hören wollte.«

Der kleine Ronnie Sidney. Ein großer Mann der Zukunft? Sie hoffte es, aber letztendlich würde sich das erst mit der Zeit zeigen.

Eine weitere Kundin betrat den Laden.

Das Haus in der Moreton Street Nummer 41 war dunkel. Ronnie saß im Bademantel auf dem Fensterbrett seines Schlafzimmers und zeichnete im Mondlicht ein Bild für seine Mutter.

Es war eine Kopie seines Lieblingsbildes: die ertrinkende Ophelia mit Blumen im Haar. Leider war es nicht so perfekt wie das Original und Ronnie nicht so gut wie Millais. Noch nicht. Eines Tages aber würde er ein berühmter Künstler sein, und alle Menschen würden seinen Namen kennen. Das wünschte sich seine Mutter für ihn, und er wünschte es sich für sie.

Ihr Bett war inzwischen abgezogen. Onkel Stan hatte gesagt, er könne darin schlafen, wenn er wolle. Obwohl es eine angenehme Abwechslung zu seiner Campingliege gewesen wäre, für die er allmählich zu groß wurde, hatte er das Angebot abgelehnt. Es war das Bett seiner Mutter, und er wollte nicht, dass jemand anderer darin schlief, nicht einmal er selbst.

Ronnie hielt einen Moment inne und starrte zum Vollmond hinauf, der hoch oben am kalten Nachthimmel stand. Wie schon so oft, stellte er sich vor, er könnte dort oben das Flugzeug seines Vaters vorüberfliegen sehen. Trotz der Ermahnungen seiner Mutter hatte er die Hoffnung nie aufgegeben. Eines Tages würde sein Vater kommen, und dann wären sie drei endlich zusammen. Er und seine Mutter würden Teil einer richtigen Familie sein und nicht mehr nur die lästigen Anhängsel einer fremden.

Eines Tages würde es so weit sein, das wusste er genau.

Draußen ratterte ein Zug vorbei, sodass der Raum plötzlich von Licht und Lärm erfüllt war. In seiner Phantasiewelt ging Ronnie gerade auf ein schönes Haus an einem Fluss zu, wo seine Eltern auf ihn warteten, während gleichzeitig der Zug entgleiste, die Böschung hinunterraste, in das Haus krachte, das Ronnie hinter sich zurückgelassen hatte, und das Leben der dort Schlafenden auslöschte.

Die Zeichnung war fertig. Gut, aber nicht gut genug. Nachdem er sie zerrissen hatte, begann er von neuem, und diesmal konzentrierte er seine ganze Energie auf das Blatt Papier, blendete sämtliche Hintergrundgeräusche aus, um die Musik in seinem Inneren besser hören zu können: ein Durcheinander von kleinen Melodien, die sich irgendwann zu Konzerten und Sinfonien vereinen würden. Wohin diese Melodien ihn letztendlich führten, würde sich erst mit der Zeit erweisen.

Der kleine Ronnie Sunshine, eine Tasche voller Korn.

Der kleine Ronnie Sunshine, Stock und Hut steht ihm gut.

Der kleine Ronnie Sunshine, ein zukünftiger Mozart.

Der kleine Ronnie Sunshine...

Der Musterknabe

Подняться наверх