Читать книгу Einführung in die antike Ikonographie - Patrick Schollmeyer - Страница 7
I. Einführung in Gegenstand, Fragestellung und Methode
ОглавлениеIkonographie
Auch wenn der Terminus Ikonographie auf die altgriechischen Worte eikon (Bild) und graphein (schreiben) zurückgeht, so ist er dennoch ein vollständig moderner Begriff. Im Allgemeinen meint man damit die sachliche Beschreibung und Deutung von Bildern, wobei der Bildbegriff wiederum recht weit gefasst wird. Hierunter sind im Grunde genommen alle von Menschenhand gefertigten zwei- und dreidimensionalen Artefakte figürlicher Thematik zu subsumieren. Wer immer eine Ikonographie antiker Bilder schreiben oder lesen möchte, sollte sich zunächst einmal der schlichten Tatsache einer trotz großer antiker wie nachantiker Zerstörungen noch immer immens gewaltigen Materialbasis an Skulpturen, Reliefs, Gemälden, Münzen, Gemmen und Kameen sowie mit Bildschmuck dekorierten Gebäuden, Gefäßen, Schmuck, Möbeln, Waffen und anderen Gerätschaften aller Arten bewusst werden. Figürlich gestaltet waren zudem viele antike Textilien, neben Gewändern ebenso Teppiche und Wandbehänge. Neben diesen statischen gab es in Griechenland und Rom aber auch lebende Bilder zu bestaunen. Theateraufführungen, Kultfeiern und Festumzüge sind solche performativen Akte gewesen, in denen rituelle Handlungen zusammen mit gleichsam als Requisiten verwendeten realen Bildwerken in sinnstiftender Weise ein in der Gemeinschaft erlebbares bildmächtiges Gefühl soziokultureller Zugehörigkeit evozierten. Die Bilderwelt der Antike war demnach ausgesprochen vielfältig und kein antiker Lebensbereich ist offenbar ohne Bilder ausgekommen.
Wer immer sich aber dieser Vielfalt nähern möchte, sollte zunächst einmal Klarheit über die methodische Vorgehensweise erlangen wollen. Am Anfang hat dabei der Blick auf die antiken Verhältnisse zu stehen. Wie war der Zugang der Griechen und Römer zu den sie umgebenden Bildern. Wie sahen und deuteten sie diese?
C. Plinius Secundus Mimesis
Der im Jahre 79 n. Chr. als Kommandant der am Kap Misenum stationierten römischen Flotte beim Vesuvausbruch ums Leben gekommene Schriftsteller C. Plinius Secundus erzählt im 35. Buch (Kapitel 151–152) seiner auf 37 Bände angelegten enzyklopädischen Naturgeschichte (lat. Naturalis historia) die anrührende Geschichte eines korinthischen Mädchens, die traurig wegen einer bevorstehenden längeren Abwesenheit ihres Geliebten seinen von einer Kerze auf eine Wand geworfenen Profilschatten dort mittels Nachzeichnung der Umrisslinie verewigt habe. Ihr Vater, der bekannte Töpfer Butades aus Sikyon, füllte diesen Schattenriss dann mit Ton auf und stellte auf diese Weise das erste Tonrelief her, das er anschließend gemeinsam mit Gefäßen in seinem Töpferofen brannte. Als Votivgabe soll das fertige Werk mehrere Jahrhunderte lang bis zur Zerstörung Korinths 146 v. Chr. durch L. Mummius Achaicus in einem Nymphenheiligtum der Stadt zu besichtigen gewesen sein. Auch wenn diese von Plinius berichtete Anekdote wohl kaum die historische Wahrheit über die Entstehung der griechischen Tonplastik berichtet, so spiegelt sie auf anschauliche Weise eine der Grundprinzipien antiker Kunstwahrnehmung. Sowohl den antiken Griechen als auch den Römern war es eine Selbstverständlichkeit, von ihren Kunstwerken anzunehmen, sie ahmten die Natur nach. Je höher der Grad der Mimesis (gr. Nachahmung) war, desto größer fiel das Lob aus. Geradezu topischen Charakter haben die zahlreichen Schilderungen sinnentäuschender Kunstwerke in der antiken Literatur. Vor allem bei Plinius, aber nicht nur bei diesem, erfahren wir beispielsweise von Tafelgemälden des 4. Jahrhunderts v. Chr., die in der Imitation der Natur so perfekt gewesen seien (perfecta sunt omnia), dass sie Mensch wie Tier glauben machten, das auf ihnen Dargestellte stünde leibhaftig vor ihnen.
Auf der Basis solcher Erzählungen ließe sich leicht annehmen, antike Bildwerke erschöpften sich in der mimetischen Wiedergabe natürlicher Wirklichkeit und seien daher bezogen auf die einzelnen Bildelemente auch heute noch vergleichsweise einfach zu verstehen. Dass das bloße Sehen und Wiedererkennen realer Dinge jedoch nicht ausreicht, um ein Bild in all seinen Facetten wahrzunehmen, mithin seinen Sinn vollumfänglich zu erfassen, ist eine philosophische Binsenweisheit und war bereits antiken Bildbetrachtern ein bekanntes Phänomen.
Tabula Cebetis
Besonders aufschlussreich liest sich hierzu ein kaiserzeitlicher Text, der anschaulich Probleme und Lösungen antiker Bildentschlüsselung am Beispiel einer angeblich von Kebes, einem griechischen Philosophen des späten 5. und frühen 4. Jahrhunderts v. Chr. aus Theben geweihten Tafel (lat. Tabula Cebetis) schildert, die zwei gemeinsam Reisende trotz der auf ihr dargestellten, an sich realistischen Schilderungen nicht zu entschlüsseln vermögen:
„Wir schlenderten durch einen Tempel des Kronos, in dem wir viele verschiedene Opfergaben betrachteten. An der Frontseite des Naos hing eine Tafel, auf der sich ein fremdartiges Bild befand, das eigenartige Geschichten aufwies, die wir nicht identifizieren konnten. Weder schien uns eine Stadt noch ein Feldlager dargestellt, aber es war ein Mauerring, der zwei weitere in sich einschloss, der eine weiter, der andere enger. Es gab auch eine Tür, in dem ersten Ring. Vor der Tür schien uns eine große Menschenmenge zu stehen und innerhalb der Mauer sah man eine Anzahl von Frauen. An der Tür der ersten Mauer saß ein alter Mann, der den Eindruck machte, der Menge Anweisungen zu geben.
Als wir uns nun längere Zeit nach der Geschichte befragten, sagte ein alter Mann, der dabei stand: Ihr erleidet nichts Ungewöhnliches, wenn ihr nach dieser Darstellung fragt. Sogar viele der Einheimischen wissen nicht, was der Inhalt bedeutet. Denn das Weihgeschenk kommt nicht aus dieser Stadt, sondern vor langer Zeit kam ein Fremder hierher, ein kluger Mann, der nach Wort und Werk nach der Regel des Pythagoras und Parmenides zu leben sich bemühte. Und dieser weihte sowohl den Tempel hier als auch das Bild dem Kronos.
Also kennst du wohl, sagte ich, diesen Mann selbst und hast ihn gesehen? Ich habe ihn sogar in meiner Jugend lange Zeit bewundert, erwiderte er. Denn er pflegte viele ernste Gespräche zu führen und über diese Geschichte hier hörte ich ihn oftmals erklären.
Nun denn, beim Zeus, sagte ich, wenn du nicht zufällig etwas anderes zu tun hast, erzähle uns. Denn uns verlangt sehr, zu hören, was dieses Ding wohl bedeutet. […]
So nahm er einen Stab, zeigte auf das Bild und sagte: Seht ihr diese Ringmauer? Wir sehen sie. Ihr müsst zunächst wissen, dass dieser Platz Leben genannt wird. Und die Menge, die bei der Tür steht, besteht aus denjenigen, die in das Leben treten wollen. Der alte Mann, der hier aufsteht, in der einen Hand einen Zettel hält und mit der anderen auf etwas zu zeigen scheint, wird Dämon genannt. Den Eintretenden gibt er Anweisungen, was sie tun müssen, wenn sie ins Leben treten. Er zeigt, welchen Weg sie gehen müssen, wenn sie im Leben gerettet werden möchten.
Welchen Weg schreibt er zu gehen vor und wie, fragte ich. Siehst Du, fragte er, den bei der Tür aufgestellten Thron, an der Stelle, wo die Menge hereinkommt? Und siehst du darauf eine Frau sitzen, einfühlsam dargestellt und von überzeugender Erscheinung, die einen Becher in der Hand hält?
Ich sehe sie, aber wer ist sie?
Täuschung wird sie genannt, sagte er, die alle Menschen in die Irre führt. Und was tut sie?
Sie lässt die Eintretenden von ihrer Macht trinken.
Und was ist das für ein Getränk?
Irrtum, sagte er, und Unwissenheit. […]
(Tabula Cebetis, I–IV; Übersetzung: Arwed Arnulf)
Wer sich heute mit Bildwerken der griechischen und römischen Antike beschäftigt, sollte sich also zunächst eingestehen, dass er im Grunde genommen wie die beiden Reisenden der Tabula Cebetis professioneller Erklärungshilfen bedarf, wenn er nicht bei einem rein ästhetisch motivierten Bildgenuss stehen bleiben möchte, zumal der moderne im Gegensatz zum antiken Betrachter noch dazu eine ungeheure zeitliche wie kulturelle Distanz zu überbrücken hat.
Diese Lücke zu schließen oder sie zumindest kleiner werden zu lassen, gehört somit zu den zentralen Aufgaben der professionellen Beschäftigung mit der Bildwelt der Griechen und Römer. Gelingen kann dies nur, wenn man möglichst ganzheitlich vorgeht und versucht, auf der Basis aller zur Verfügung stehenden bildlichen wie schriftlichen Quellen die antiken Sehgewohnheiten zu rekonstruieren. Dabei darf aber nie vergessen werden, dass die zeitgenössischen Rezipienten nicht nur über eine weitaus größere Dichte an Informationen verfügten, sondern diese zudem von besserer Qualität waren. Inschriften unterrichteten über Künstler sowie Auftraggeber und gaben den Zeitpunkt der Entstehung, vielfach auch den Anlass der Verfertigung an. Professionelle Erklärer versorgten die nicht unmittelbaren Zeitgenossen darüber hinaus mit manch wissenswertem Detail und deuteten komplexere Bildinhalte für die Unkundigen.
Periegese Ekphrasis
Manches von diesem unschätzbaren Wissen blieb in der griechischen und römischen Literatur erhalten. An erster Stelle zu nennen ist die aus eigener Anschauung geschöpfte, Periegese (gr. Herumführen und Erklären) genannte Beschreibung griechischer Städte und Heiligtümer in zehn Büchern aus der Feder des im 2. Jahrhundert n. Chr. lebenden kaiserzeitlichen Griechen Pausanias. Trotz der Fülle der hierbei erwähnten Bauten, Gemälde und Skulpturen handelt es sich nicht um ein Handbuch zu Formen sowie Bedeutung antiker Bildwerke im Allgemeinen. Auch die vielen, vor allem aus der Kaiserzeit stammenden literarischen Bildbeschreibungen genügen diesem Anspruch nicht. Ekphrasis (gr.) und descriptio (lat.) waren in der klassischen Antike zwar prominente Lehrgegenstände in der rhetorischen Ausbildung der jungen Angehörigen der sozialen Eliten, doch diente die Beschreibung von Kunstwerken hierbei vornehmlich der Schulung der eigenen sprachlichen Ausdruckskraft, der Befähigung zur Schaffung immaterieller geistiger Bilder, die das innere Auge schauen konnte, und war weniger als eine im heutigen kunsthistorischen Sinn wissenschaftliche Anleitung zum Bildverständnis an sich gemeint.
Hermeneutik
Wenn heute im akademischen Unterricht in der Grundstufe vor allem Wert darauf gelegt wird, die aus der Antike auf uns gekommenen Bilder zu beschreiben, so geschieht dies daher nicht aus der antiken Tradition der Ekphrasis heraus. Im Vordergrund steht vielmehr der Versuch, sich das jeweilige Bild als Quelle für weitergehende Fragestellungen umfassend anzueignen, es wie bei der Analyse eines fremdsprachlichen Textes zunächst zu verstehen, d.h. in die eigene Sprache zu übertragen. Allein diesem Zweck der Erfassung der ‚Vokabeln‘ dient die minutiöse Beschreibung aller Bilddetails. Erst danach kann der zweite Schritt erfolgen, der in der Aufgabe besteht, die einzelnen Bildelemente sprich Vokabeln als Teil einer komplexen Bildsyntax zu begreifen, d.h. sie interpretierend zu übersetzen, und abschließend zu versuchen, die Bildgrammatik insgesamt zu entschlüsseln, somit der Bildbotschaft auf die Spur zu kommen. Dieser Teil der Arbeit wird mit einem philosophischen Begriff als Hermeneutik (von gr. hermeneuein = erklären, auslegen, übersetzen) bezeichnet.
Ikonographie, Ikonologie, Semiotik
In den historischen Bildwissenschaften wurden hierzu zwei Verfahren ausgebildet, die dazu geeignet sind, ein Bild wie einen fremdsprachlichen Text zu übersetzen und zu analysieren. An erster Stelle ist von der Ikonographie zu sprechen. Der Begriff steht wie eingangs erwähnt für die sachliche Erklärung des Bildinhaltes bei gleichzeitiger Beachtung von zeitlichen Veränderungen. Antiquarischer Sachverstand (Erkennen und korrektes Benennen aller Sachdetails wie Attribute, Kleidung, Waffen, Geräte etc.) und die Kenntnis antiker Darstellungskonventionen (beispielsweise das Verschränken der Hände als Zeichen der Eintracht und des Einverständnisses und nicht als Begrüßungs- respektive Verabschiedungsgestus) sind hierbei Kompetenzen, die es sich im Laufe des Studiums mittels einschlägiger Lexika und der Lektüre ikonographischer Kommentare anzueignen gilt. Bei der sogenannten Ikonologie, ein ebenfalls moderner Terminus (von gr. Logos = Wort, Rede, Erzählung, Lehre) wird dagegen in stärker interpretatorischer Weise auf die Funktion der Bilder im Sinn der Vermittlung von Botschaften gezielt. Gemeint sind hiermit gesellschaftliche Wertvorstellungen und politisch-religiöse Ideologien der Antike. Die sich mit der Entstehung und dem Wesen von Zeichen beschäftigende Theorie nennt man Semiotik (von gr. semeion = Kennzeichen). Im Gegensatz zu vielen Werken der nachantiken Kunstgeschichte fehlen zu den antiken Denkmälern jedoch in aller Regel umfassende Quellendokumentationen zu genauer Entstehungszeit, Auftraggeber, Intension des Auftrags etc. Es können daher keine detaillierten Einzelfallinterpretationen vorgelegt, sondern lediglich in eher allgemeiner Weise für einzelne Monumente oder meist ganze Gattungen beziehungsweise Bildthemen Grundzüge einer intendierten Bildbotschaft skizziert werden. Beachtet man dabei jedoch den jeweiligen funktionalen Kontext sowie den Kreis der möglichen Auftraggeber respektive Publikums genau, so wird man dennoch den Sinngehalt der Bilder zumindest grundsätzlich entschlüsseln können.
Wie bei der ikonographisch-ikonologischen Analyse im Einzelnen zu verfahren ist, welche Möglichkeiten der moderne Betrachter hat, mittels genauer Anschauung die Darstellungen zu verstehen, und wo ihm hierbei grundsätzliche Grenzen gesetzt sind, soll exemplarisch an zwei Bilddenkmälern aus dem Besitz des Instituts für Klassische Archäologie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz demonstriert werden.
Abb. 1: Deckel einer attisch-rotfigurigen Lekanis um 410/400 v. Chr.; Mainz, Institut für Klassische Archäologie Inv. 118.
Lekanis
Bei dem ersten Bildbeispiel (Abb. 1) handelt sich um einen tönernen Deckel, der aller Wahrscheinlichkeit nach zu einer flachen Schüssel gehörte, die in der Antike Lekanis genannt wurde und zur Aufnahme von Speisen, Gewürzen und kleineren Vorratsmengen diente. Bildliche Darstellungen von Hochzeitszeremonien und reale Grabfunde legen zudem ihre Verwendung als Brautgeschenk oder im Totenkult nahe. Die spezifische Verzierungstechnik verrät im Einklang mit dem rötlichen Ton die Herkunft des Stückes aus der Werkstatt eines attischen Töpfers. Der Stil der Dekoration lässt sich sehr gut sowohl mit dem weiterer Gefäßbilder als auch von gleichzeitig entstandenen Skulpturen vergleichen. Diese in der Forschung als Reicher Stil bekannte Phase der Klassik umfasst die letzten drei Jahrzehnte des 5. Jahrhunderts v. Chr. (430–400 v. Chr.). Der Deckel selbst dürfte um 410/400 v. Chr. entstanden sein.
Die Beschreibung des Dargestellten hat zunächst von der möglichst wertneutralen Erfassung und Benennung der abgebildeten Personen sowie Gegenstände auszugehen. Insgesamt sind sechs bekleidete weibliche Figuren zu sehen, die sich wegen des mittig angebrachten Deckelknaufes am Besten vom Rand aus betrachten und kompositorisch zu zwei größeren Dreipersonengruppen zusammenschließen lassen, bei der jeweils eine im Zentrum sitzende Frau links und rechts von stehenden Frauen flankiert wird. Sämtliche Figuren tragen fein gefältelte dünne Gewänder, die die darunterliegenden Körperformen deutlich hervortreten lassen, wie es als Kennzeichen des Reichen Stils zur Entstehungszeit des Deckels allgemein üblich gewesen ist. Das Geschehen spielt sich offenbar im Freien ab, worauf die als Felsen erkennbaren Sitze samt den sie umgebenden Pflanzen hindeuten. Die beiden Sitzenden halten unterschiedliche Dinge in ihren Händen. Bei der einen ist es ein heute kaum noch sichtbarer Vogel, bei der anderen ein Gefäß. Vor beziehungsweise hinter ihnen befinden sich jeweils eine Truhe respektive ein Kasten. Die stehenden Frauen bringen zudem weitere Gegenstände, von denen augenscheinlich lange zweibahnige Stoffbänder herabhängen. Ein solches Tuch hängt zudem zwischen einer Sitzenden und einer Stehenden gewissermaßen in der Luft. Unter dem, was in den Händen gehalten wird, ist am leichtesten erkennbar ein Kasten, den seine Trägerin auf ihrer rechten Hand balanciert, während sie mit der linken eine Kette aus aufgereihten Perlen umfasst. Hinzuweisen ist ferner auf einen großen Vogel, der einer der Damen voranschreitet, und ein korbähnliches Gebilde hinter dieser Gruppe.
Realien
Eine derart nüchterne Sachbeschreibung dessen, was das heutige menschliche Auge vor dem Hintergrund der eigenen Seherfahrungen erfassen kann, wird dem antiken Betrachterhorizont natürlich kaum gerecht. Den zeitgenössischen Rezipienten war es auf Grund ihrer intimen Vertrautheit mit den eigenen Sitten und Gebräuchen leichthin möglich, weitere Details intuitiv zu erfassen. Wir Heutigen müssen diese Sehfertigkeit erst mühselig wiederherstellen. Ein erster Schritt ist der Versuch der korrekten benennenden Identifizierung der dargestellten Realien. Durch den Vergleich mit weiteren Darstellungen sowie tatsächlich erhaltenen Gegenständen in Kombination mit Schriftquellen, die die antike Terminologie überliefern, ist man auch heute in der Mehrzahl der Fälle in der Lage, zu korrekten Identifizierungen zu gelangen. Vor allem die großen realienkundlichen Kompendien des 19. und 20. Jahrhunderts erleichtern den noch Ungeübten den Zugang. Auf diese Weise lassen sich auch die Realia des Mainzer Lekanisdeckels vergleichsweise einfach benennen. Bei den Kleidern der Frauen handelte es sich allesamt um sogenannte Chitone. Das Gefäß in der Hand der einen Sitzenden ist als Alabastron, ein Salbölfläschchen anzusprechen. Die von drei Frauen in der linken Hand gehaltenen Gegenstände sind jeweils ein tönernes Behältnis mit sehr hohem Fuß, das in der Antike Exaleiptron genannt wurde und zur Aufbewahrung teurer Kosmetika diente. Die Stoffbahnen nannte man Tänien und den Korb Kalathos. Nur die Deutung des Gegenstands in der rechten Hand einer der Exaleiptron-Trägerinnen muss unsicher bleiben. Vielleicht handelt es sich hierbei um eine Haarhaube. Der große Vogel ist sicher eine Gans.
Der ikonographisch Interessierte wird als nächsten Schritt versuchen, zu einer Benennung der bislang namenlosen Personen und damit zu einer Deutung des gesamten Bildinhaltes zu gelangen. Zu diesem Zweck muss er sich wiederum des systematischen Vergleichs mit anderen Darstellungen bedienen. Dabei ist zu unterscheiden zwischen den Begriffen Motiv und Thema. Letzterer Terminus kann als Summe des gesamten Darstellungsinhalts verstanden werden. Bezogen auf das Mainzer Fallbeispiel ist beim gegenwärtig erreichten Stand der Bildbeschreibung eine Nennung des konkreten Bildthemas noch nicht möglich. Allenfalls könnten wir in einem recht banalen allumfassenden Sinn von einer Frauenszene sprechen. Der Begriff Motiv dient dagegen zur allgemeinen Beschreibung konkreter Gegenstände sowie spezifischer Figurentypen in ihren verschiedenen Aktionen (Handlungen) und Bewegungsweisen (Haltungen). Im Fall des Mainzer Lekanisdeckels lassen sich so unterschiedliche Bildmotive klar voneinander abgrenzen. Eine entsprechende Suche im erhaltenen Bildervorrat nach auf Felsen sitzenden respektive stehenden und in ihren Händen Kästchen oder Gefäße haltenden Frauen erbrächte mögliche ikonographische Vergleichsbeispiele. Auf der Basis einer chronologischen Reihung ließe sich durch das Aufzeigen von motivischen Abhängigkeiten zunächst einmal eine Motivgeschichte schreiben, die wiederum die Grundlage für weitere Überlegungen bildete. Eine solche Zusammenstellung könnte – sofern eindeutig Benennbares unter den gesammelten Vergleichsbeispielen wäre – wesentlich zur Gesamtdeutung beitragen. Aber auch ohne ein solches Glück ermöglicht der Vergleich mit anderen Stücken grundlegende Aussagen hinsichtlich Zeitstellung, Häufigkeit sowie vor allem kontextuelle Eingebundenheit von Motiven und legt auf diese Weise die eine oder andere Interpretation nahe. Die Bildmotivik des Mainzer Lekanisdeckels kann unter diesen Vorzeichen problemlos in die Nähe der gerade im späteren 5. Jahrhundert v. Chr. so beliebten Frauengemachdarstellungen gerückt werden. Dass die Lekanis als Gefäßtyp zudem nach Ausweis bildlicher attischer Darstellungen des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. mehrfach im Zusammenhang mit Hochzeitszeremonien vorkommt und häufiger als Grabbeigabe in Frauengräbern fungierte, könnte die Subsummierung des Dargestellten unter dem Begriff Frauengemachszene noch zusätzlich stützen. Dargestellt wäre demnach das lebensweltliche Hochzeitsglück einer jungen Braut, deren Verwandte und/oder Dienerinnen ihr Geschenke, darunter Schmuck und kostbare Salböle, sowie Gegenstände des Hochzeitsrituals reichen. Damit könnte, nachdem die Erfassung des eigentlichen Bildthemas gelungen scheint, die ikonographische Erschließung des Bildes zu ihrem Abschluss gelangt sein. Doch wird sich ein aufmerksamer Betrachter des Bildes daran stören müssen, dass die vermeintliche Brautgemachszene im Freien spielt, wie die Felssitze unmissverständlich klar machen. Schaut er noch genauer hin, so wird er die – allerdings lediglich am Original und selbst dort heute nur schwach erkennbaren – Beischriften zur Kenntnis nehmen, die letztlich den Schlüssel zur richtigen Deutung liefern. Eine der sitzenden Hauptfiguren und zwar die, die den Vogel in ihrer Rechten hält, wird am Felsen inschriftlich als Eunomia (gr. Personifikation der guten Ordnung, Gesetzlichkeit, Wohlverhalten) bezeichnet. Die auf sie mit einem Kästchen Zueilende ist Eukleia (gr. Personifikation des hohen Ansehens). Eine dritte Inschrift ist zwischen der zweiten das Alabastron haltenden Sitzenden und ihrer rechts neben ihr stehenden Begleitfigur zu lesen. Während man in der älteren Forschung die erhaltenen Buchstaben durchweg als Paphia, einen Beinamen der Aphrodite (von Paphos, dem Ort ihres ersten Landgangs auf Zypern), interpretierte, gibt es heute Stimmen, die eine Lesung als Padia, die verschriebene Form von Paidia (gr. Kinderspiel, Scherz) bevorzugen. Trotz dieser Unsicherheit bleibt festzuhalten, dass die rein ikonographische Analyse der Frauenfiguren ohne die Kenntnis der Beischriften nur zu einem sehr allgemeinen Benennungsvorschlag geführt hätte. Erinnerst sei in diesem Zusammenhang zudem an die vielen Bilder, die den heutigen Betrachtern keine schriftlichen Hinweise auf die Deutung des Dargestellten liefern.
Eunomia Eukleia
Mit den aus der ikonographischen Analyse der Bilder gewonnenen Erkenntnissen kann nunmehr der Versuch der ikonologischen Erklärung des Gefäßbildes unternommen werden. Der moderne Betrachter wird also nach dem Sinn des Dargestellten fragen, mithin der Verwendung des Bildwerks auf die Spur kommen wollen. Diese ikonologische Analyse gehört zu den diffizileren Aufgaben, da sie oftmals genaue Kenntnisse antiker Mentalitäten voraussetzt, die freilich ebenso wie die konkreten Funktionszusammenhänge in vielen Fällen nur recht bruchstückhaft rekonstruierbar sind. Ausgehend von den beiden sicher benennbaren Figuren Eunomia und Eukleia ließe sich zunächst unter Einbeziehung literarischer wie epigraphischer Quellen der Stellenwert derartiger Personifikationen in ihrer Zeit herausarbeiten. Zu fragen wäre beispielsweise, wann und in welchen Kontexten sie erstmals belegt sind, sowie ferner, ob es einen entsprechenden Kult gegeben hat. Die hieraus gewonnenen Ergebnisse müssten dann unter Einbeziehung möglicher Funktionszusammenhänge sowie Beachtung des genauen Zeithorizonts mit dem kombiniert werden, was die ikonographische Analyse des Bildthemas beziehungsweise einzelner Bildmotive an Vergleichsbeispielen erbracht hat. Für den Mainzer Lekanisdeckel bedeutete dies konkret, sich klarzumachen, dass seine Herstellung in eine Zeit fiel, in der die attische Demokratie in Folge des verheerenden Peloponnesischen Krieges mit seinen zahlreichen für Athen schmerzhaften Niederlagen gegen Sparta und der viele Menschenleben kostenden Pestepidemie in eine schwere Krise geraten war. In diesem Zusammenhang muss der Ruf nach guter Ordnung und hohem Ansehen sicher mehr als nur ein frommer Wunsch Einzelner, vielmehr in den politischen Debatten der Zeit eine zentrale Forderung gewesen sein. Doch sollte man bei dieser Interpretation keinesfalls vergessen, dass das Deckelbild allein aufgrund des Bildträgers kein öffentlich-politisches Monument gewesen ist und die Darstellung somit auch wohl kaum als entsprechende Propaganda gemeint gewesen sein kann. Auch wenn leider keine zweifelsfreie Entscheidung darüber möglich ist, ob es sich bei dieser Lekanis einst um ein Weihgeschenk in ein Heiligtum, ein Geschenk für eine Athener Braut oder ihre Totengabe gehandelt hat, so kommt man dennoch nicht umhin, die möglichen Verwendungszwecke des Gefäßes in die Betrachtung mit einzubeziehen. Denn erst die Anbindung der bildlichen Darstellung an die konkreten Funktionszusammenhänge des Bildträgers an sich erlaubt es, wenigstens die Grundstrukturen der Bildbotschaft zu entschlüsseln. Die ikonologische Interpretation des Mainzer Lekanisdeckels hat daher von der schlichten Tatsache auszugehen, dass das Gefäß ursprünglich sicher zum Besitz einer Frau gehört hat. Dies intendiert die Annahme, die Bilder spiegelten somit vornehmlich die damalige Wertewelt vornehmer Athenerinnen wider. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Versammlung der Frauen, darunter zwei eindeutig benennbare Personifikationen sowie möglicherweise eine dritte respektive Aphrodite selbst, als allegorische Verheißung glückseligen gesellschaftlichen Daseins lesen, dessen Basis antikem Verständnis nach familiäre Harmonie und untadeliger Ruf gewesen ist. Insofern visualisieren die Figuren des Mainzer Deckels in gewisser Weise tatsächlich Teilaspekte der Mentalität der zeitgenössischen Athener, die auf die enormen Umwälzungen, die der Peloponnesische Krieg mit sich brachte, offenbar mit einem Wunsch nach geordneter Lebensführung reagierten. Diese Wunschwelt gestalteten sie dabei offenkundig als visionär-glückshafte Gegenbilder zur grausam-harten Realität. Bezeichnenderweise zeigt auch die übrige erhaltene Bildwelt der Zeit eine Fülle ähnlicher Glückseligkeitsidyllen. Wollte man nun über diese allgemeinen Aussagen hinausgelangen, müsste erstens der tatsächliche Gebrauch und zweitens der oder die Auftraggeber/in des Mainzer Lekanisdeckels zweifelsfrei bekannt sein. Beides ist jedoch nicht der Fall, so dass sich hier eine weitergehende inhaltliche sprich individualisierte Zuspitzung der ikonologischen Interpretation aus methodischen Gründen verbietet.
Herakleides Manteltänzerinnen
Das zweite Exempel ist eine 17 cm hohe Statuette aus gebranntem Ton (Abb. 2). Gearbeitet wurde das Stück im späten 4. Jahrhundert v. Chr. wohl in Athen. Ähnliche Figuren fein gekleideter Frauen waren ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beliebte Kunsthandelsobjekte. Der Umstand, dass sie von ihren Käufern vor dem Hintergrund der damaligen Ausstattung vornehmer Salons lange Zeit hauptsächlich als reine Kunstwerke und quasi Nippes betrachtet worden sind, hat den Blick für die tatsächlichen antiken Verhältnisse verstellt und ist insofern gerade für die Anfänger/innen lehrreich, wie gefährlich es sein kann, sich Bildzeugnissen des Altertums mit der Brille eigener Sehgewohnheiten und Erfahrungen anzunähern. Erst der vorurteilslose Blick offenbart den tatsächlichen Bedeutungshorizont. So wird eine sorgfältige Betrachtung und Beschreibung ergeben, dass die Figur eine Frau zeigt, die sich in einen langen Mantel gehüllt hat, unter den sie ein ebenfalls langes Gewand und Schnabelschuhe trägt. Der Mantel ist über den Kopf gezogen und verhüllt das gesamte Haar sowie das Gesicht bis auf die Augen und auch die Hände. Eine solche Tracht schreibt der hellenistische Schriftsteller Herakleides in seinen Reisebildern (Herakleides 1, 18) beispielsweise den Frauen von Theben zu. Dem aufmerksamen Betrachter darf aber nicht das Bewegungsmotiv der Statuette entgehen. Vergleichbare Darstellungen legen nahe, dass ein Tanz gemeint ist. Dazu passt die unter dem Mantelsaum am Kopf hervortretende Weihebinde. Es handelt sich also augenscheinlich um die Wiedergabe eines kultischen Tanzes, der jedoch nicht genauer benannt und inhaltlich erfasst werden kann. Bedauerlicherweise wissen wir auch nichts über die Fundumstände der kleinen Manteltänzerin zu sagen. Trotzdem sind weitergehende Aussagen statthaft. Ermöglicht werden sie allein durch den Vergleich mit ähnlichen Objekten. Tanzdarstellungen in der griechischen Bildkunst sowie einige schriftliche Quellen legen den Schluss nahe, dass solche Manteltänzerinnen meist vornehme junge Damen waren, die im Begriff standen, zur Braut zu werden. Exakte Beobachtungen zu Fundzusammenhängen lassen erkennen, dass solche Statuetten vor allem entweder als Weihegaben in Heiligtümern entsprechender Schutzgöttinnen oder als Grabbeigaben jung verstorbener Frauen Verwendung fanden. Von einer reinen Genrefigur zu sprechen, wie es die ältere Forschung getan hat, entbehrt demnach jeglicher antiker Grundlage.
Abb. 2: Attische Terrakotta-Statuette einer Manteltänzerin aus dem späten 4. Jahrhundert v. Chr.; Mainz, Institut für Klassische Archäologie Inv. 200.
Beide Fallbeispiele mögen einen Eindruck davon gegeben haben, dass es bei der ikonographisch-ikonologischen Interpretation antiker Kunstwerke vor allem darauf ankommt, die Analyse als Versuch der Wiederherstellung des ursprünglichen funktionalen Kontextes zu begreifen. Als vordringliches Ziel der Betrachtung antiker Bilder kann somit deren Erschließung als eine spezifische Form visuellen Sprechens vergangener Gesellschaften über ihre Werte, Ideale und Normen gelten.