Читать книгу Die Krone von Eryendor - Patrizia Gebler - Страница 7
Feuerwerk
ОглавлениеDie große Uhr über der Eingangstür zeigte drei Minuten vor zwölf, als mein Vater mir bedeutete, mich neben ihn zu setzen. Ich hatte gerade mit Bel getanzt, doch sofort leistete ich dem Befehl folge und schritt auf den Thron zu.
„Seid alle leise“, sagte mein Vater fast flüsternd, sodass es bei dem Lärm der Musik in dem Saal natürlich unterging. Ich verdrehte die Augen, denn ich wusste, worauf das hinauslaufen würde: eine Demonstration seiner Macht.
„Wenn ihr nicht auf mich hört, werde ich euch erstarren lassen müssen“, flüsterte Glorícus. Wieder reagierte keiner.
„Detîner!“, rief der dunkle Fürst auf einmal laut und seine Stimme hallte mächtig durch den Saal. Alle Anwesenden wurden zu Statuen, konnten kein Körperteil mehr regen. Auch Helaina, Belamy und ich waren starr, doch meine Mutter war genauso mächtig wie ihr Gemahl und so schüttelte sie den Zauber einfach ab und schritt zu mir auf das Podest. Auch ich murmelte in meinem Kopf ,Loritomí!‘, doch nichts geschah. Die Magie meines Vaters war viel zu mächtig für mich. Wie seine Gemahlin besaß er sechs Seelen, die er sich von anderen Elfen geklaut und dann durch das abgeänderte heilige Ritual einverleibt hatte.
Es war nun so still in dem Raum, dass man eine Ratte hätte hören können, die über den Teppichboden huschte. Doch auch die Tiere waren eingefroren worden, also bewegten sich nur die beiden Herrscher des Landes.
„Vielen Dank, dass ihr alle gekommen seid. Es wird Zeit, meiner Tochter Geschenke zu überreichen, und ich hoffe, ihr habt euch alle etwas Besonderes überlegt“, Glorícus grinste bösartig, bevor er weitersprach: „Ich selbst habe natürlich auch eine Kleinigkeit für sie. Apperí“
Die beiden Flügeltüren öffneten sich genau in dem Moment, als die Uhr zwölf schlug und draußen ein Feuerwerk ertönte. Zum Glück hielt ich meinen Kopf so, dass ich aus dem Augenwinkel die Lichter sehen konnte, die mir immer so viel Freude bereiteten.
„Loritomí!“, sagte Helaina, denn sie schien es für sinnlos zu befinden, wenn manche Gäste die bunten Farben am Himmel gar nicht sehen konnten. Sofort wandten sich alle Köpfe zum Fenster und ein „Ah“ oder „Oh“ ging durch den Raum.
„Schatz, du hast mir gerade den Auftritt versaut“, sagte Glorícus seelenruhig, doch ich wusste, dass er genau dann am gefährlichsten und wütendsten war.
„Ich habe das Feuerwerk organisiert und Caraleya soll es auch sehen und genießen können. Oder möchtest du etwa nicht, dass unsere Tochter glücklich ist?“
„Unterstell mir niemals, dass ich meine Tochter nicht liebe, Helaina!“, drohte mein Vater jetzt, denn auf diesem Gebiet war er wirklich sehr empfindlich.
„Jetzt streitet euch nicht!“, ging ich dazwischen, aus Angst, dass die beiden sich gleich bekämpfen würden: „Ich finde das Feuerwerk toll, aber danach werde ich die ganze Aufmerksamkeit auf dein Geschenk richten, Vater.“
Dieser schien damit besänftigt worden zu sein, denn er nickte lächelnd und lehnte sich dann zurück, um das Feuerwerk zu begutachten.
Nach einigen Minuten verflogen die letzten Funken und sofort wurde die Aufmerksamkeit auf das große Objekt in der Mitte des Saales gerichtet. Glorícus klatschte dreimal in die Hände und die Diener entfernten den dunklen Samt, um einen Käfig zu enthüllen. Darin befand sich eine kleine schwarze Katze.
„Oh wie süß ist die denn?“, rief ich entzückt und lief auf das Wesen zu, welches verschreckt miaute.
„Schatz. Sie ist das Tier für dein erstes Opferritual. Damit du in die schwarze Magie einsteigen kannst“, sagte Helaina.
Alle Besucher des Balls schienen die Luft anzuhalten. Ich konnte den Schrecken in ihren Augen sehen, doch ich selbst fühlte ich nichts. Natürlich, ich fühlte mich von den großen, grünen Augen der Katze hingezogen und würde sie gerne groß werden sehen, doch auf den Befehl meiner Eltern würde ich sie auch ohne Reue umbringen. War es das, was mein Bruder als Monster bezeichnete? War es so schlimm, einem Tier das Leben zu nehmen?
„Meine Gattin macht Scherze! Sie soll dein Haustier sein, damit du endlich aufhörst zu betteln“, rief Glorícus und lachte laut. Ich lächelte meinen Vater an und steckte meinen neuen Begleiter liebevoll wieder in den Käfig. Dann wies ich die Diener an, die Katze auf mein Zimmer zu bringen. Ich dankte meinem Vater überschwänglich und setzte mich auf den Thron, um die Geschenke des Volkes zu empfangen.
Nachdem alle Gäste mir ein Geschenk überreicht hatten, durfte ich endlich wieder auf die Tanzfläche.
Suchend schaute ich mich nach meinem Bruder um, doch stattdessen tippte mir ein blonder Elf auf die Schulter: „Gegrüßt von den Göttern, Feirocodinât und Prinzessin. Würdet Ihr mir die Ehre erweisen und mit einem bescheidenen Bauernjungen wie mir tanzen?“
Schon seinem Tonfall nach war dieser Elf sehr von sich überzeugt, doch bevor ich Nein sagen konnte, hatte er mich schon fest an sich gezogen und wirbelte mich umher.
„Ihr seid wirklich bezaubernd schön“, säuselte er, während ich aufpassen musste, dass er mir nicht auf die Füße trat. Seine Muskeln konnte ich durch die dünne Kleidung erkennen und seine Haare, die etwas länger als meine waren, rochen stark nach einem blumigen Duftwasser. Mit erhobenem Kinn tanzte er mit mir, als müsste ich ihm dafür dankbar sein. Dieser Elf war wirklich viel zu sehr von sich selbst überzeugt. Er tanzte wahrscheinlich nur mit mir, da ich die Prinzessin war, sonst hätte er mir nicht eine Sekunde seiner Aufmerksamkeit geschenkt. Schade, dass er mich erkannt hatte, denn auf diese Begegnung hätte ich verzichten können.
„Darf ich übernehmen?“, fragte eine sehr bekannte Stimme und erleichtert ließ ich die schwitzigen Hände meines Partners los, um wieder mit Bel zu tanzen. Mit einem enttäuschten Gesicht zog der Elf weiter, um sich eine andere reiche Dame zu schnappen, die er umgarnen konnte.
„Du hast mich wirklich gerettet.“ Ich grinste fröhlich, während wir zum Takt des jetzt langsamen Liedes hin- und herwiegten.
„Ach wirklich? Dann schuldest du mir jetzt also etwas?“, meinte Belamy und lächelte dabei sein schelmisches Lächeln. Ich fragte mich, wieso er nur vor Frauen so schüchtern war, wenn er mit seinem markanten Wangenknochen und diesem besonderen, kantigen Gesicht doch so gut aussah.
„Hast du schon irgendetwas im Sinn?“
„Ja, jetzt, wo du es sagst“, druckste er zu meinem Erstaunen herum: „Kennst du Julíetta? Sie ist die mit dem gelben Kleid und den wunderschönen braunen Augen.“
Ich kicherte los, doch als ich das Gesicht meines Bruders sah, wurde ich sofort wieder ernst. Er dagegen blickte niedergeschlagen auf den Boden: „Vergiss es.“
„Nein, nein! Soll ich sie ansprechen?“, fragte ich sofort und bereute, dass ich kichern musste. Bel hatte mich noch nie gefragt, ob ich eine Dame für ihn ansprechen könnte und jetzt wollte ich die Möglichkeit nutzen. Ich kannte Julíetta zwar nicht persönlich, aber jeder sprach gut über die Tochter des reichsten Landwirtes von Shuf.
„Ich habe gedacht, wenn du für mich herausfindest, was sie alles mag, kann ich sie damit beeindrucken“, erklärte er mir mit so einem süßen Gesichtsausdruck, dass ich sofort zustimmen musste.
Also ließ ich die Hände meines Bruders los und tanzte mich zu der Elfe in dem gelben Kleid, welches einen ziemlich gewagten Ausschnitt besaß. Doch durch ihre relativ kleinen Brüste, sah dieser nicht billig aus, sondern sehr elegant. Ihre hellbraunen Haare waren nur zum Teil hochgesteckt und eine Traube von Elfen hatte sich schon um sie gebildet.
„Julíetta? Würdest du mir eine Minute schenken?“, fragte ich und bekam auch sofort die Aufmerksamkeit der hübschen Elfe mit den Sommersprossen auf ihrer Stupsnase.
„Oh, Prinzessin! Natürlich!“, sagte sie überrascht, entschuldigte sich bei ihren Verehrern und folgte mir zum Essen.
„Ich habe schon viel von dir gehört und wollte mich mal selber vergewissern, ob du wirklich so herzensgut bist, wie alle behaupten“, kam ich sofort zum Punkt, während ich mir eine Weintraube in den Mund steckte. Julíetta errötete leicht, antwortete mir aber mit fester Stimme: „Ich hoffe, dass ich diesen Gerüchten gerecht werden kann, Prinzessin.“
„Was ist denn deine Lieblingsblume, Lieblingsfarbe und Lieblingsessen?“, fragte ich offen und erntete ein schüchternes Lachen.
„Man könnte meinen, dass Ihr mit mir ausgehen möchtet.“
„Nein, aber vielleicht können wir ja Freundinnen werden“, sagte ich schnell, doch ich hatte schon gemerkt, dass ich zu direkt gewesen war. Hoffentlich hatte sie den wahren Grund meiner Fragen nicht bemerkt, doch leider war sie schlauer, als ich dachte.
„Hat vielleicht Euer Bruder Euch vorgeschickt, um mehr über mich zu erfahren?“, fragte sie mit einem Schmunzeln, sodass sie auch mir gleich sympathisch war.
„Nun ja, das könnte auch sein“, gab ich grinsend zu, während ich weiter Weintrauben aus der riesigen Schüssel stibitzte.
„Lilie, gelb und Torte“, sagte die Elfe und zwinkerte mir zu. Sie war etwas größer als ich, und mit ihren langen Beinen war sie vielleicht die Schönste im Raum.
„Danke, ich werde es ihm ausrichten“, lächelte ich und wollte gerade gehen, als sie mich am Handgelenk zurückhielt.
„Ich habe einen Verlobten. Ich will dem Prinzen nichts ausschlagen, aber ich bitte Euch das zu bedenken, wenn Ihr mit ihm redet“, flüsterte sie, danach ließ sie meine Hand los und widmete sich dem köstlichen Essen.
Nicht sicher, was ich von dem zweideutigen Gespräch halten sollte, ging ich zurück zu meinem Bruder, der schon gespannt wartete. Gezwungen setzte ich ein Lächeln auf, doch er bemerkte natürlich sofort, dass etwas nicht stimmte: „Was ist denn los, Feuermücke?“
Ich spürte, wie mein Mundwinkel zuckte, denn so nannte er mich immer, wenn er mich aufmuntern wollte.
„Lilie, gelb und Torte“, sagte ich, doch auch wenn er verstanden hatte, was ich meinte, ließ er nicht locker: „Ich kenne doch das Gesicht! Was ist denn passiert? Ist sie schon verlobt?“
„Das ist sie leider.“
Belamys Lächeln erstarb und seine Augen verloren den glücklichen Ausdruck.
„Oh“, war das Einzige, was er noch sagen konnte. Die Topfpflanze, die neben ihm stand, verblühte augenblicklich und wurde braun. So wirkten sich seine Gefühle immer auf die Pflanzenwelt aus, auch wenn Helaina ihm immer wieder versuchte zu zeigen, es zu verbergen. Ich fand es eine Besonderheit, dass er überhaupt Pflanzen beeinflussen konnte, denn normale Erdenmeister vermochten es nur, Erde und Steine zu bewegen oder zu verformen. Es musste ein besonderer Segen des Gottes Terrard gewesen sein, dass mein Bruder auch die Pflanzen zum Wachsen oder Verblühen bringen konnte. Das erkannte sogar Glorícus, der nie viel von der Erdengabe gehalten hatte. Sie übten gerade, Pflanzen auf große Distanz zu beeinflussen, um ihren Feinden in Tarsis beispielsweise einen großen Schrecken einzujagen.
„Auf welches hübsche Mädchen hast du dein Augenmerk gelegt, mein Sohn?“, fragte unser Vater, der anscheinend hinter uns gestanden hatte.
Ich zuckte kurz zusammen, fasste mich aber schnell wieder und drehte mich lächelnd zu ihm um. Bel schüttelte den Kopf, um mir zu bedeuten, nichts zu sagen, doch ich konnte Vater nicht belügen.
„Die Elfe im gelben Kleid“, sagte ich also. Bel schaute betrübt zu Boden, doch ich war mir keiner Schuld bewusst. Sollte er sich nicht so zieren. Ein wenig verknallt zu sein, hatte noch keinem was geschadet.
„Oh, sie ist wirklich außergewöhnlich hübsch“, meinte Vater, als er Julíetta betrachtet hatte. „Warum gehst du nicht zu ihr hin und tanzt mit ihr?“
„Sie ist schon verlobt“, antwortete ich anstelle meines Bruders, erntete jedoch einen strengen Blick von meinem Vater.
„Du bist wieder vorlaut! Ich habe deinen Bruder gefragt.“ Seine Stimme war so bedrohlich ruhig, dass ich mich schon auf eine Ohrfeige gefasst machte. Wahrscheinlich hielt ihn nur die Menge an Elfen ab, mir auch eine zu geben. Es würde jedoch noch ein Nachspiel haben, dessen war ich mir sicher.
„Verlobt also. Wer ist der Glückliche?“ Seine Frage erübrigte sich, als ein hellblonder Elf auf Julíetta zukam und sie leidenschaftlich küsste. Glorícus schien nicht begeistert zu sein.
„Also wollt ihr mir sagen, dass sie diesen Einfaltspinsel meinem Sohn vorzieht? Niemals. Caraleya, wirst du dem Jungen die schöne Aussicht vom Balkon aus zeigen?“
„Natürlich, Vater“, sagte ich schnell und beachtete den Schrecken in Bels Augen nicht. Er war schon immer etwas sanfter gewesen als gut für ihn war. Ich als ältere Schwester hatte früh gelernt, meine Gefühle einfach auszuschalten. Und die, die sich nicht unterdrücken ließen, wurden mithilfe von Magie verbannt. Belamy dagegen konnte ich schon früh beschützen, sodass er sich nicht so ein dickes Fell angelegt hatte. Vielleicht ein Fehler meinerseits, denn jetzt musste er es in dieser grausamen Welt aushalten, musste all den Schmerz und Mitgefühl ertragen.
„Hallo erneut“, sagte ich breit lächelnd, als sich zu den Turteltauben gestoßen war. „Das ist wohl dein Verlobter, nicht wahr? Dürfte ich ihn kurz entführen? Nur ein kleiner Rundgang des Schlosses. Eine Privatführung. Diese Bitte kannst du mir nicht abschlagen.“ Ich klimperte mit den Wimpern und lächelte, doch Julíetta wusste genau, wie jähzornig die gesamte Fürstenfamilie sein konnte.
„Natürlich. Schatz, mache einen Rundgang mit ihr.“ Sie küsste ihren Verlobten lange auf den Mund, als ob sie wusste, dass dies ihr letzter Kuss sein würde.
Ich hakte mich bei dem Elfen ein, der seine Haare zur Feier des Tages zu einem hohen Zopf geflochten hatte. Er schien skeptisch, lief aber brav mit mir mit.
Jetzt musste nur noch Bel seinen Teil erledigen und schon hatte Julíetta einen neuen Verlobten.
„Gehen wir raus, der Milchmond berührt fast den Blutmond und das ist jeden Monat ein Spektakel. Findest du nicht?“
„Ja schon“, antwortete der Elf etwas eingeschüchtert. „Feirocodinât, äh Prinzessin meine ich“, fügte er hektisch hinzu. Er schien sich in den Bräuchen der Oberschicht nicht auszukennen. Ich kicherte.
„Nenn mich einfach Cara. Oh, ich bin ja so ein Schusselkopf! Wie heißt du eigentlich?“, fragte ich mit meinem breitesten Lächeln. Diese ganze Mission von meinem Vater fing langsam an, mir Spaß zu machen.
„Faslyn“, antwortete der Elf.
„Hast du denn irgendeine Elementgabe?“, fragte ich gespielt interessiert.
„Ja, die Luftgabe“, antwortete er und ich musste eingestehen, dass dieses kleine Detail mir einen Strich durch meinen Plan machte. Es brachte nichts, etwas die Mauern runterzuwerfen, wenn es einfach wieder hochfliegen konnte. Dann musste ich es wohl mit der schwarzen Magie meiner Mutter probieren. Sie hatte mich eh dazu gedrängt, mehr zu üben. Wir liefen jetzt auf dem Balkon, im Schatten der Burg und nicht zu sehen von den Gästen im Inneren. Der perfekte Platz, um meine Aufgabe auszufüllen.
„Plausô mazpecha“, flüsterte ich und opferte ein kleines Stück meiner Seele der Magie. Die Magie war das Bindungsglied der fünf Götter, sie war allumfassend auf dieser Welt. Jeder trug sie in seiner Seele, doch nur wenige wussten sie zu benutzen. Da sich die Seele, genau wie die Leber, wieder regenerieren konnte, durfte man kleine Stückchen von sich opfern. Wenn man zu viel seiner Seele an die Magie abgab und sie gänzlich aufgebraucht war, dann war man nur noch eine lebende Hülle, ohne irgendeinen Willen oder Sinn. Die mächtigsten Magier, wie meine Eltern, nutzten die Seelen von weiteren Elfen, um ihre Reserve zu erweitern. Doch um eine fremde Seele aufnehmen zu können, musste ein Körper zweiundzwanzig Jahre alt sein. Also würde auch ich es dieses Jahr lernen können. Die Theorie und den richtigen Spruch hatte mir meine Mutter allerdings schon vor einem Jahr beigebracht.
„Was hast du gesagt?“, fragte Faslyn und hustete.
„Nichts, hab mich nur verschluckt. Du scheinst eine Erkältung zu haben?“, fragte ich mit Schadenfreude in meiner Stimme. Es war die beste Idee gewesen, die lästigen Emotionen von Schuldgefühlen oder Empathie einfach auszulöschen. Früher hatte ich das Töten nicht so genossen, ich hatte es sogar verabscheut. Dafür war ich natürlich von meinem Vater verprügelt worden, denn ein Gewissen war eine Ausgeburt der Schwäche. Und eine schwache Herrscherin war eine nutzlose Herrscherin.
Faslyn hustete erneut, ich konnte mir förmlich vorstellen, wie sich seine Lunge langsam mit Wasser füllte und gleich kollabieren würde. Meine Mutter hatte mir diesen Spruch an einem ihrer lebendigen Toten gezeigt.
„Ich kann nicht atmen!“, röchelte Faslyn und ich konnte Todesangst in seinen Augen erkennen. Ich lächelte.
„Ja, das sieht schlecht aus für dich.“ Interessiert sah ich zu, wie der Verlobte von Julíetta zu Boden ging und nach einem letzten röchelnden Atemzug bewegungslos liegen blieb. Mit seiner knolligen Nase sah er auf jeden Fall nicht so gut aus wie mein kleiner Bruder, stellte ich fest, als ich sein angeschwollenes Gesicht betrachtete. Also konnte Julíetta von Glück reden, dass ich ihn beseitigt hatte.
„Bravo Cara“, sagte die raue Stimme meiner Mutter und ich spürte ihre Hand auf meiner Schulter. Ich lächelte.
„Du weißt, dass du seine Seele als deine erste zusätzliche Seele nutzten könntest?“, fragte sie, während sie sich neben mich hockte. An ihrem Tonfall erkannte ich, dass es keine Frage, sondern ein Befehl war. Ich nickte.
„Sprich, wenn du etwas möchtest“, sagte Helaina ungeduldig.
„Ja, Mutter. Ich will diese Seele nutzen, um meine Macht zu erweitern.“ Ein Lächeln umspielte ihre Lippen und sie zog eine kleine Glasphiole aus ihrem Ausschnitt. Darin waberte eine rote Flüssigkeit, Drachenblut.
„Es ist ganz frisch. Es sollte perfekt funktionieren. Du weißt, was zu tun ist, ich werde die Tür zum Balkon sperren“, erklärte meine Mutter und drückte mir die Phiole in die Hand. Sie zitterte leicht. Ich achtete nicht mehr auf meine Mutter, sondern konzentrierte mich allein auf das Seelenritual. Jede Sekunde zählte jetzt, sonst verblasste die Seele zu sehr und wäre nicht mehr zu gebrauchen.
„Garjena Vêsele“, flüsterte ich immer wieder, während ich das Blut in seinen Mund fließen ließ. Aufregung durchzuckte meinen Körper, denn jetzt gab ich mich endgültig der dunkeln Magie hin. Dieses Ritual hatte sich meine Mutter selbst ausgedacht und betitelte es als die Übergabe von sich an die Macht der Dunkelheit. Eine Gänsehaut bildete sich über meinen ganzen Körper, als ich dabei zuschaute, wie die Seele Faslyns Körper verließ. Sie war durchsichtig schimmernd, so wunderschön. Ich konnte erkennen, dass sie niemals für Magie genutzt worden war, also eine perfekte Seele. Ein Schaudern breitete sich über meinen Rücken aus, als die Seele sich ihren Weg in meinen Mund bahnte. Für einige Sekunden konnte ich nicht atmen, dann breitete sich ein Stechen in meiner Brust aus. Die Seele machte es sich neben meiner eigenen gemütlich und musste dafür einige Organe zur Seite schieben. Wie einen Wurm konnte ich sie in mir spüren, sie bahnte sich ihren Weg bis in die perfekte Position. Endlich hörte der Schmerz auf, doch jetzt wurde mir schwarz vor Augen. Davor hatte mich Helaina gewarnt, die Seele würde die Erinnerungen des Vorgängers manchmal wiederholen. Mit einem einfachen Spruch sollte ich diese abwenden können, aber ich war ehrlich gesagt zu neugierig. Was hatte dieser Elf erlebt, wie hatte er gelebt? Also ließ ich die Erinnerung zu.
Trotz der schweren Zeiten konnte er von sich behaupten, glücklich zu sein. Zufrieden blickte Faslyn über seine Felder, auf denen er Getreide, Mais und Roggen anbaute. Die Blütezeit hatte ihm eine reiche Ernte beschert und so konnte er für die Sonnenzeit vorsorgen. Durch den Verkauf des restlichen Essens waren auch die Steuern gesichert. Und das alles verdankte er der Schönheit, die neben ihm stand. Lächelnd drückte er ihre Hand und schaute zu ihr hinunter. Wie jeden Tag trug sie ein gelbes Kleid, mit welchem sie diese traurigen Zeiten etwas zum Leuchten bringen wollte.
„Also heute siehst du besonders bezaubernd aus, Liebste“, sagte er. Ihr Mund verzog sich zu einem breiten Lächeln, als sie zu ihm hochblickte. Ihre wunderschönen braunen Augen strahlten mit der Sonne um die Wette.
„Du willst mich doch nur so lange umgarnen, bis die Hochzeit stattgefunden hat und die ganze Farm dir gehört“, scherzte sie. Faslyn küsste ihr hellbraunes Haar und blickte ihr dann tief in die Augen: „Ich werde dich jeden Tag unseres Lebens umgarnen, denn du bist die wundervollste Frau, die ich je getroffen habe.“ Er beugte sich zu ihr runter und versuchte, seine ganze Liebe in diesen Kuss zu legen. Ihre weichen Lippen lösten ein angenehmes Kribbeln in seinem Körper aus und ihr wunderbarer Duft ließ sein Herz schneller schlagen. Auch wenn er das Glück hatte, in ihre reiche Familie einzuheiraten, so würde er mit ihr auch in dem ärmsten Viertel von Shuf wohnen. Er würde sie auch als arme Tempelmaus lieben, denn sie war der Sonnenschein in seinem Leben.
„Pass auf, dass du auf dem Schleim nicht ausrutschst, den du hier um dich sprühst“, lachte sie, nachdem sich ihre Lippen voneinander gelöst hatten, und sie schmiegte sich liebevoll an seine Brust.
„Wir haben übrigens eine Einladung von dem dunklen Fürsten erhalten, er veranstaltet ein Fest in seinem Schloss“, sagte sie dann, während sie beobachtete, wie die Sonne langsam hinter den Wipfeln der Bäume verschwand.
„Der Geburtstag der Prinzessin? Auf dieses Fest sind wir eingeladen? Ich habe als Kind immer das Feuerwerk betrachtet und mir gewünscht, auf so einer Feier dabei zu sein.“ Aufgeregt fuhr er sich durch die schulterlangen Haare, die er tagsüber immer zu einem Zopf gebunden hatte. Seine Versprochene löste sich aus der Umarmung und blickte ihn wieder an.
„Bitte mach dir keine falschen Hoffnungen. Diese Feste machen meist keinen Spaß für das Volk, sie sind nur zum Vergnügen der Fürsten und ihrer Kinder“, warnte sie eindringlich.
„Ach, Liebste. Sei doch nicht so ernst! Das wird ein Spaß“, lachte Faslyn und drückte ihr einen überschwänglichen Kuss auf den Mund.
Als hätte jemand den Ton ausgemacht, konnte ich zuerst die Sprache der beiden nicht mehr hören, dann auch das Zwitschern der Vögel und das Rauschen des Windes durch das Getreide. Wie in einer Wolke flog ich weiter und weiter, hoch in die Luft, bis ich die Erinnerung nur noch als winzigen hellen Punkt in der Dunkelheit erkennen konnte. Es erforderte einiges an Kraft, doch ich konnte meine Augen öffnen. Sollte ich jetzt nicht etwas fühlen? Ich wusste, dass ich früher vielleicht geweint hätte, doch ich merkte nur gähnende Leere in mir. Und ein wenig Neid, denn dieser Mann war so sehr geliebt worden. Eine Liebe, die ich wohl nie erleben würde. Als Prinzessin von Halvar kamen die Männer immer nur, um meinen Reichtum oder meinen Status zu bekommen, nie meinetwegen. Aber wie meine Mutter immer sagte: ‚Liebe ist Schwäche, Caraleya.‘ War ich ein Monster, weil ich den Befehlen meiner Eltern Folge leistete und ihre Weisheiten verinnerlichte? Ich seufzte und blickte auf den verunstalteten Faslyn hinunter. Morgen würde ich mit Bel vielleicht noch einmal darüber reden. Jetzt war schauspielern angesagt. Ich konzentrierte mich kurz, wartete, bis sich Tränen in meinen Augen gesammelt hatten und schrie dann wie am Spieß.
Sofort kamen die Gäste aus dem Saal gerannt, Julíetta allen voraus. Ihre braunen Augen weiteten sich und ohne auf ihr helles Kleid zu achten, welches jetzt von dem staubigen Boden beschmutzt wurde, fiel sie vor dem Toten auf die Knie.
„Was ist passiert?“, fragte sie durch einen Schleier der Tränen. Seinen leblosen Kopf hielt sie in den Händen, als würde sie ihn dadurch wieder zu sich holen können. Allerdings würde Faslyn seine braunen Augen nie wieder öffnen.
„Er ist einfach umgefallen, i- ich weiß nicht“, stammelte ich. Ich war wirklich eine gute Lügnerin.
Am nächsten Morgen wachte ich mit einem schlechten Gefühl auf, denn der Rest des Abends war nicht so schön verlaufen, wie ich ihn mir vorgestellt hatte. Bel war verschwunden und hatte sich nicht einmal für meine Beseitigung seiner Konkurrenz bedankt. Ich konnte sogar Ekel und Angst in seinen Augen erkennen, als er mich anschaute. Nur mein Vater und meine Mutter schienen stolz auf mich gewesen zu sein, doch das erfüllte mich nicht mit demselben Gefühl, wie es Bel konnte. Ich war komplett gefühlskalt gewesen und ich mochte diese Leere jeden Tag weniger. Die Augen von Bel gestern machten mir auch Angst. Sie hatten meine Fragen beantwortet: Ja, ich war zu einem Monster geworden und ich merkte es selbst nicht einmal. Aber konnte ich mir meine Gefühle wiederholen oder würde ich mich damit noch mehr kaputt machen?
Noch etwas verschlafen quälte ich mich aus dem Bett und zog mich für das Frühstück an.
Unten konnte ich schon die Stimmen meiner Eltern aus dem Essenssaal hören, die sich angeregt unterhielten und gerade, als ich die Tür aufmachen wollte, hörte ich Bel hinter mir.
„Tut mir leid wegen gestern! Ich weiß, du beschützt mich immer. Du hast es für mich getan und wenn du ihn nicht umgebracht hättest, wärst du ausgepeitscht worden“, sagte er leise, sodass unsere Eltern ihn nicht hören würden. Für ihn setzte ich ein Lächeln auf.
„Ist schon vergessen. Aber nur, wenn du heute Morgen mit mir kämpfst!“, grinste ich, während ich ihn fest umarmte. Seine schmale Statur in meinen Armen, das fühlte sich gut an. Bei ihm konnte ich das Licht in meiner sonst so dunklen Welt sehen. Am liebsten würde ich ihm erzählen, dass ich gestern mein erstes Seelenritual vollzogen hatte, doch ich brachte es nicht über mich, ihm so eine Last aufzubürden. Wollte nicht, dass er noch mehr Angst vor mir hatte. Also ließ ich den Mund geschlossen und genoss einfach den erdigen Duft seiner schwarzen Haare.
Nach einiger Zeit lösten wir uns voneinander und Belamys Augen schienen zu funkeln, als er die Kette an meinem Hals, sein Geschenk, erkannte. Um die Stimmung zu lockern, ging ich auf seinen Blick ein.
„Du hast mir doch die zwei besten Geschenke gemacht: Dich und diese wunderschöne Kette!“, sagte ich, was zwar sehr schnulzig klang, aber im Kern die Wahrheit war.
Belamy lächelte. Einen Augenblick später wurde sein Gesichtsausdruck jedoch wieder ernst und er flüsterte: „Wenn du irgendwann wieder die Alte sein möchtest, dann trink den Trank in dem Stein.“
Verwirrt schaute ich ihn an, doch er ging nur in den Frühstückssaal. Hatte er es etwa fertiggebracht, einen Trank zu brauen, um mir mein Mitgefühl wiederzugeben? Wollte ich es wiederhaben? Mit den Fingern strich ich über den Kallait und folgte ihm zu unseren Eltern.
Nachdem Bel und ich für etwa zwei Stunden - unter dem strengen Blick von Morthyr - zusammen gekämpft hatten, musste ich mir den Schweiß von der Stirn wischen.
Die Sonne stand schon hoch am Himmel und die Sonnenzeit war immer der heißeste Monat des Jahres. Sie begann zwar erst morgen, doch die Hitze ließ nicht auf sich warten. Die Bauern mussten ihre Felder bewässern oder gar nicht bestellen, denn auf Regen konnten sie erst wieder in neunzig Tagen hoffen, wenn langsam die Windzeit begann. Die Regenzeit, die darauf folgte, erfrischte alle Pflanzen und in der Blütezeit konnte das meiste Essen geerntet werden. Dieses Essen verwahrten wir in den Kammern des Berges, um die Sonnenzeit zu überstehen.
„Mach dein Bogenschießen“, raunzte Morthyr und holte mich so aus meinen Gedanken.
Ich hatte mit Bel auf einer Bank neben dem Übungsplatz gesessen und wir schauten uns gemeinsam an, wie die Soldaten kämpften, doch Morthyr mochte es gar nicht, uns bei einer Pause zu sehen.
Er holte meinen geliebten Bogen aus seiner Waffenkiste und fast schon übereifrig legte ich das Schwert zurück, denn Bodenschießen bedeutete gleichzeitig reiten und ich hatte mein Pferd schon seit zwei Tagen nicht mehr gesehen. Schnell nahm ich unserem Ausbilder den Bogen aus der Hand, sanft über das helle Holz streichend.
Den Köcher schwang ich über die Schulter und schnürte ihn fest, danach lief ich die steinernen Treppen hinunter zu den Pferdeställen. Dort erwarteten mich Nevith und die Freiheit. Ich ging an den vielen anderen Boxen vorbei zu meinem Rappen, welcher freudig wieherte, als er mich kommen sah. Mit seinen weichen Lippen schnappte er sich die Karotte von meiner flachen Hand und verteilte die Hälfte über das Stroh auf dem Boden. Lächelnd streifte ich Nevith sein Halfter über den großen Kopf und führte ihn zu den Toren des Stalls. Dort band ich ihn an einem Holzpfahl fest, um ihn putzen zu können. Obwohl der Stallmeister das wahrscheinlich schon erledigt hatte. Aber diese harmonischen Bewegungen mit der Bürste über sein Fell beruhigten mich. Danach sattelte ich den Rappen mit geübten Händen und legte ihm das richtige Zaumzeug an. Jetzt konnte ich mich endlich auf seinen Rücken schwingen. Ein Glücksgefühl durchströmte mich, als ich wieder im Sattel saß. Die Tore wurden von den Wächtern des Stalles für mich geöffnet und sofort schlug mir die Wärme von draußen entgegen.
„Na los, Nevith. Zeig, was du draufhast!“, rief ich fröhlich und drückte leicht mit meinen Hacken zu, um dem Rappen zu signalisieren, dass es losging. Das ließ sich Nevith nicht zweimal sagen und sofort preschte er los, auf die Wiese hinaus und zwischen den Feldern der Shufbauern hindurch. Diese östliche Seite des Palastes führte weg von den Bergen und würde ich hier rechts den Nixenfluss überqueren, würde ich in den Feenwald kommen. Doch die Feen waren gefährlich und viel machtvoller als wir Elfen und somit hatte es noch keiner geschafft, zu dem sagenumwobenen Orakel zu kommen, welches einem seine eigene Zukunft voraussagte. So oder so ähnlich lauteten die Gerüchte und die Geschichten in den Büchern.
Ich wusste nur von einem Elf, der die Reise auf sich genommen hatte und wieder zurückgekehrt war. Edor Shyr, der ältere Bruder meines Vaters. Glorícus sprach jedoch nie über seine Familie, auch seine kleine Schwester Iphigenia erwähnte er nicht, obwohl ich wusste, dass es sie gab. Ich hatte über sie und die anderen Mitglieder der Shyrfamilie in alten Geschichtsbüchern gelesen. Diese hatte ich allerdings zufällig entdeckt, als Bel und ich noch Kinder waren und im ganzen Schloss Verstecken spielten. Ich fand eine geheime Tür in der Bibliothek, die in einen weiteren Raum führte, der mit Bücherregalen gefüllt war. Voller Erstaunen war ich immer wiedergekommen und hatte alles gelesen, was ich finden konnte, doch irgendwann bekam meine Mutter Wind davon. Sie sperrte mich während der Regenzeit drei Tage in meinem Turm ein und ließ vorher das Glas entfernen, sodass ich jede Minute klitschnass war. Danach erklärte sie mir, dass ich diesen Teil der Bibliothek nie wieder betreten sollte, und ich leistete ihren Anweisungen folge. Ich wusste, dass in den Büchern noch mehr Geschichten darauf warteten, gelesen zu werden und dass ich auch über die Jahre sehr viel davon vergaß, was ich schon gelesen hatte, aber egal wie groß auch meine Neugier war, ich traute mich nie wieder, zu ihnen zu gehen.
Das Quietschen der Seile schreckte mich aus meinen Gedanken und ich holte schnell einen Pfeil aus meinem Köcher, um bereit für die Übung zu sein. Glorícus hatte hier draußen im Dunklerwald viele hölzerne Elfen aufstellen lassen, die alle mit Seilen verbunden waren. Wenn man vom Schloss aus hierher ritt, sprach Morthyr ein einfaches Wort und die Elfen fingen an, den Übenden anzugreifen.
Sie konnten sogar mit Speeren werfen und trafen bei meinem ersten Versuch meinen rechten Oberschenkel. Glorícus sagte mir, dass es mir eine Lehre sein sollte, um nicht noch einmal so unaufmerksam zu sein, und ich nahm mir diese Worte zu Herzen. Seitdem übte ich immer härter, um Anerkennung von meinem Vater zu bekommen.
Ich zielte auf das rote Herz eines Angreifers und schoss. Treffer. Nevith galoppierte immer weiter, sprang über kleine Büsche, wich umgekippten Elfen aus Pappe und den Laubbäumen aus und ich schoss alles ab, was sich bewegte. Bogenschießen war meine absolute Leidenschaft. Vielleicht lag das auch an diesem befreienden Gefühl, wenn ich dem Schloss den Rücken kehrte. Ich konnte hier draußen Stunden verbringen, ohne dass ich merkte, wie viel Zeit wirklich vergangen war.
Erst als die Sonne den Horizont berührte und ich das Narrigekreische hörte, war ich mir bewusst, dass ich den ganzen Nachmittag geübt hatte. Nevith wurde unruhig und ich musste schnell zum Schloss zurück, um nicht von den Raubtieren angegriffen zu werden. Die Narri lebten hier im Dunklerwald und besaßen eine sehr feine Nase. Tagsüber brauchte man sich über sie keine Sorgen machen, denn zu dieser Zeit hielten sie sich im nördlichen Teil des Waldes auf, aber jetzt waren sie hergekommen, um zu jagen.
Ich brauchte etwa eine Viertelstunde, um zur Stalltür zurückzukommen, und dort wartete auch schon meine Mutter auf mich. Die beiden Stallwächter mussten ihr nach dem Ende ihrer Schicht Bescheid gegeben haben, dass ich noch nicht zurückgekehrt war. Das würde Ärger geben. Mit eingezogenem Kopf stieg ich von Nevith ab.
„Was denkst du dir denn dabei, Caraleya? Du hättest von den Narri getötet werden können!“, schimpfte Helaina mit mir und nahm die Zügel meines verschwitzen Pferdes, um es in den Stall zu führen.
„Es tut mir leid, Mutter.“, murmelte ich und trottete hinter ihr her.
Das Knacken eines Zweiges ließ mich herumfahren und für einen kurzen Augenblick schaute ich in zwei helle, eisblaue Augen. Diese Augen gehörten zu einem riesigen, grauen Wolf. Er schaute nach oben und wie in Trance folgte ich seinem Blick: Der rote Blutmond schien auf uns herab und tauchte uns in ein gespenstisch rotes Licht. Auch der weiße Mond war da, jedoch viel kleiner, als der Blutmond. Meistens waren die beiden weit voneinander entfernt, doch alle neunzig Tage berührten sie sich, sodass sie zusammen aussahen wie eine Acht. Dann begann ein neuer Monat. Ich schaute wieder zu dem Wolf, doch er war verschwunden. Mit der rötlich schimmernden Dunkelheit, die uns jetzt umgab, verschmolzen.
„Caraleya! Wirst du wohl reinkommen!“, hörte ich die strikte Stimme meiner Mutter und mit einem letzten Blick auf die zwei Monde lief ich zu der Stalltür.
Plötzlich fuhr ein stechender Schmerz durch meinen Kiefer und ich fiel mit einem Schrei auf die Knie. Reflexartig fasste ich mit meinen Händen an meinen Mund und schrie erneut auf, als ich mir in die Hand pikte... mit meinen Zähnen.
„Cara, was ist los?“, fragte Helaina ängstlich und sprintete zu mir. Als sie sah, was mit meinem Mund geschah, weiteten sich ihre Augen und sie zog mich auf die Beine.
„Es passiert. Hast du heute etwa deinen Saft nicht getrunken? Dummes Mädchen!“ Ich versuchte zu antworten, doch mein Kiefer und meine Zähne schmerzten so sehr, dass ich nichts sagen konnte.
„Es passiert alles früher, als ich wollte. Komm schon rein jetzt!“
Was passiert mit mir, wollte ich fragen, doch es kam nur ein Nuscheln heraus.
Noch bevor ich jedoch die Stalltür berührt hatte, kam ein weiter Schmerz über mich. Dieses Mal umfasste er meinen ganzen Kopf, meine Augen schienen nach innen gezogen zu werden und meine Nase schien mehrmals zu brechen. Das Trommelfell meiner Ohren schien zu platzen und ich konnte nur noch eine schrille Glocke hören. Ich wusste nicht, ob ich schrie oder nicht. Alles, was ich wollte, war, dass der Schmerz aufhörte.
Dunkelheit.
Wohlige Stille umgab mich. Vorsichtig öffnete ich die Augen. Plötzlich hörte ich ein Knurren, und der Wolf, den ich eben gesehen hatte, sprang meiner Mutter an die Gurgel, während sie mich mit sich in das Schloss zerren wollte. Sie ließ meine Hand los und zog einen Dolch aus Feenglas aus der ledernen Tasche, welche an ihrem Bein befestigt war. Ich besaß auch so einen Dolch, doch er lag vollkommen nutzlos in meinem Schlafzimmer. Ein unwohles Gefühl durchströmte mich, als ich meine Mutter kämpfen sah. Hilflosigkeit. Meinen Bogen hatte ich an Neviths Sattel festgemacht und mein Feuer konnte ich nicht nutzen ohne meine eigene Mutter zu verletzen.
„He. Mitkommen!“ drang eine energische Stimme an mein Ohr. Ich fühlte, wie ich gerüttelt wurde und jemand zog mich weg von den Kämpfenden.
Meine Augen gewöhnten sich jetzt an die Schwärze der Nacht und auf einmal wurde alles heller. Ich konnte zwar keine Farben erkennen, dennoch sah ich alles in verschiedenen Grautönen. Ich erkannte das Schloss, wie es hoch über mir aufragte, und den Kopf eines Mädchens, welches wie ein verschrecktes Reh umherschaute.
„Wer bist du?“, brachte ich mit kratziger Stimme hervor und sie schaute mich an. Ein leichter Schauer lief mir über den Rücken, als ich ihre gelben Augen sah, die in der Dunkelheit fast leuchteten, und die das Einzige waren, was ich in Farbe sehen konnte.
„Ich bin Sam, und wir müssen hier verschwinden!“, knurrte sie und reichte mir eine Hand, um mir hoch zu helfen. Zögerlich ergriff ich sie und zog mich auf die Beine. Ich hatte gedacht, dass mein Kopf noch brummen würde, doch ich fühlte mich besser denn je.
„Wir müssen schnellstens hier weg! Am besten bringe ich dich nach Líam“, murmelte die Schwarzhaarige und zog mich mit sich in Richtung der Berge.
„Stopp! Meine Mutter wird gerade angegriffen!“, protestierte ich und zog sie mit einem Ruck wieder zurück zu mir. Überrascht stellte ich fest, dass ich stärker geworden war.
„Ich erkläre dir alles, wenn du mitkommst“, sagte Sam.
Das jedoch war das Letzte, was ich jetzt vorhatte. Schnell drehte ich mich zu meiner Mutter um, die noch mit dem Wolf zu kämpfen schien, und lief los, um ihr zur Hilfe zu eilen.
„Du machst es einem nicht einfach“, knurrte das Mädchen mit den gelben Augen hinter mir. Ich beachtete sie nicht, denn mit meinem Feuer war ich bestens gegen sie gewappnet.
Damit, dass plötzlich ein Pfeil aus der Richtung des Schlosses neben mir einschlug, hatte ich nicht gerechnet.
„Ich bin eine von euch, ihr Hohlochsen!“, rief ich den Wachen der Schlossmauer zu, die mich auf die Distanz eh nicht hören würden.
„Bist du das? Deine Augen glühen nämlich ganz schön gelb in der Dunkelheit. Und deine Fangzähne sprechen auch für sich“, meinte das wilde Mädchen grinsend.
Da ich jetzt auf einmal so gut sehen konnte und auch diesen unerklärlichen Schmerz gefühlt hatte, lief ich schnell zu dem Nixenfluss, um mich selbst sehen zu können. Der Fluss entsprang aus einer Quelle nahe dem Schloss und bahnte sich seinen Weg bis zu einem See, in dem die Namensgeber des Flusses hausten.
Als ich mein Spiegelbild sah, schreckte ich zurück. Angst durchflutete meinen Körper, ein Gefühl, welches ich eigentlich lange weggesperrt hatte. Mein Spiegelbild sah überhaupt nicht aus wie ich! Meine Augen sahen tierisch aus und meine Zähne hatten sich zu Fangzähnen verwandelt. Wenn ich mich nicht ganz täuschte, war auch meine Nase breiter geworden und erinnerte jetzt an die eines Wolfes.
„Was passiert hier?“, fragte ich geschockt und wich nur knapp einem weiteren Pfeil der Wachen aus. Spielte mir mein Gehirn einen Streich, war ich vielleicht vom Pferd gefallen und träumte das alles?
„Ein Teil von dir ist eine Wölfin, merkst du das nicht?“
Wieder blickte ich in den Fluss, nur um mich zu vergewissern, dass ich mich eben nicht getäuscht hatte. Nein, ich sah immer noch aus wie eine Kreuzung aus Wolf und Elfe. Wenn das die Wahrheit war, dann musste ich von den Wölfen abstammen! Mein Verstand musste nicht schwer arbeiten um zu verstehen, was das bedeutete. Meine Mutter war Glorícus fremdgegangen und das ausgerechnet mit einem Biest. Deswegen musste ich am neunzigsten Tag jeden Monats unbedingt drinnen bleiben und diesen Trank trinken. Es war wohl doch kein Trank gewesen, um meine Magie zu stärken, sondern einer, um diese Verwandlung zu verhindern. Ärger stieg in meine Brust und Trotz mischte sich dazu. Wie konnte meine Mutter es wagen, dieses Geheimnis so lange für sich zu behalten? Wie konnte sie es wagen, ihren Gatten zu betrügen? Ich würde ihr nicht die Genugtuung gönnen und wieder zurück in ihren Schoß rennen. Nein, ich würde dem wilden Mädchen folgen.
Ich rannte mit der Fremden zwischen den Farmhäusern der Bauern hindurch, gejagt von den Soldaten meines eigenen Vaters. Betrogen von meiner eigenen Mutter. Vielleicht hatte ich es noch nicht ganz verstanden und ich würde es morgen bereuen, doch in diesem Moment fühlte es sich einfach richtig an. Ein kleiner Teil in mir sagte mir, dass ich zu diesem Mädchen gehörte. Etwas erwachte langsam in mir, rekelte sich ungeduldig im Schein der Monde und zog mich zu der Wilden hin.