Читать книгу Semiramis. Ein Märchen für Könige - Paul Althof - Страница 4
Tafel II. Der Strom.
ОглавлениеSeit Tagesanbruch war auf dem Euphrat Lärm und Getriebe. Die Rufe der Flossführer, die Schläge auf die Schultern der Rudersklaven, das Verladen der Krieger und Waffen, das Scheuen und Stampfen der pferde und Maultiere erfüllten die Luft mit einer spannenden Unruhe. Belnadin fühlte dieselbe wie etwas Fremdes, das von ihm Besitz nahm. Den Weihegruss an die aufgehende Sonne sprach er, ohne dem Sinn der Worte bewusst zu folgen. Unfreiwillig aus seiner Bahn gerissen, fand er noch kein festes Ziel für seine Gedanken. Unfreiwillig? Das war gestern. Lag denn nur eine Nacht zwischen gestern und heute? Woher kam diese fast freudige Ungeduld? Seine ruhende Kraft verlangte nach Kämpfen, seine furchtlose Jugend sehnte sich nach Gefahren.
Als er das grob gewebte Kleid des Kriegers auf dem blossen Leib fühlte, wusste er, dass es keine Rückkehr gab zu den einsamen Höhen des Priestertums.
Er wurde vor Allabana, den Oberfeldherrn, geführt. Mit ihm noch viele, die ihm fortan Genossen sein sollten. Sehnige Jünglinge, mit kalten, lauernden Augen, stiernackige Männer, Kriegsgefangene, deren schwere, langsame Schritte widerwillig dem Anruf gehorchten, geduckte Sklaven, die Fanghunden glichen, Stumpfsinnige, Abenteuerlustige und Hoffnungslose.
An Allabanas Seite sass ein hochschulteriger, feister Jüngling, faft noch Knabe, der königlichen Schmuck trug. Mit einer langen Stachelpeitsche klatschte er denjenigen ins Gesicht, die ihm nicht gefielen. Zweimal hatte er nach Belnadin gezielt, zweimal hatte er, von dessen Blick getroffen, den Arm sinken lassen.
„Ninyas, der Sohn der Semiramis.“
Belnadin hörte es murmeln. Es verursachte ihm Qual, zu erfahren, dass dieses missgebildete Geschöpf ein Sohn der Königin sei.
Da erscholl die harte Stimme des Feldherrn: „Wo ist der Priester Inlils, der sich Belnadin nennt? Er soll vortreten.“
„Ich bin es,“ sprach der Jüngling.
„Woher stammst du? Bis nun hast du es verschwiegen. Ich nehme keinen in das Heer auf, der nicht seine Abkunft nennt.“
„Ich komme aus Niffer.“
„Beugt man sich dort nicht vor dem Feldherrn?“
„Ich hoffe, Seite an Seite mit dir zu kämpfen, Allabana.“
„Vielleicht irrst du. Zwar hat die Königin befohlen, dass du auf dem Floss Allabanas fahren mögest, doch ich werde dir einen Platz unter den Rudersklaven zuweisen.“
Das Antlitz Belnadins zuckte nicht. Er ging mit den Sklaven. Sein Platz war der dritte steuerbords. Als er das schwere Ruder in Händen hielt, das er nun tagelang führen sollte, war er plötzlich versucht, der Königin seine Zurücksetzung, die ihrem Willen nicht entsprungen war, zu klagen. Doch im nächsten Augenblick schämte er sich dieser Schwäche.
Mit einem goldenen Mantel angetan, stand Semiramis auf der obersten Stufe der Treppe, die vom königlichen Palast zum Euphrat hinabführte, und glich mehr einem weithinleuchtenden Götterbilde, als einem lebendigen Weibe.
Belnadin sah sie heute mit einem seltsamen Gefühl von Bewunderung und Schmerz. Er sah sie mit einem Blick, der jeder Bewegung ihres Hauptes, jeder Falte ihrer Kleidung folgte. Aber die Königin sah ihn nicht. Sie vermutete ihn nicht unter den Sklaven.
Das Floss setzte sich in Bewegung. Belnadin schaute noch immer empor. Ihre Augen schienen etwas zu suchen. Er umspannte fest das Ruder und biss die Zähne zusammen. Die Fahrt ging rasch stromabwärts. Auf der Stadtmauer standen weinende Frauen und spielende Kinder, die den Fortziehenden Grüsse nachsandten. Durch hochragende Tore, die mit den Bildwerken von Drachen und heiligen Stieren geschmückt waren, zogen Prozessionen, und aus den Opferhäusern stieg Rauch zum Himmel auf.
Als die ungeheure Stadt mit ihren Tempeltürmen im Morgennebel verschwunden war, breiteten sich zu beiden Seiten des Stromes üppige Saatenfelder aus und Wiesen, auf denen die Hochflut noch Tümpel zurückgelassen hatte, und deren Frühlingsblumenfülle in der Buntheit des Regenbogens leuchtete. Wohlgepflegte Rinder- und Schafherden grasten auf umfriedeten Weideplätzen. Vor einsamen Hütten sassen Fischer und flochten Körbe. Aus dem Uferröhricht flatterten Wildenten und Kraniche auf. Dann ging die Fahrt an reichen Fruchtgärten vorüber, die mit Dattelpalmen, Walnuss- und rotblühenden Granatbäumen bepflanzt waren, an freundlichen Geländen, wo der Weinstock grünte und sich zu Lauben rankte.
Die ganze weite Ebene strotzte von Kraft. Es war das Land, in welchem der unbestellte Acker geahndet wurde und das unfruchtbare Weib als verächtlich galt. Das Land unerschöpflichen Lebens, das Land der Liebesgöttin Istar.
Mehrere Doppelstunden weit von Babel mündete ein Kanal in den Euphrat und brachte fremdes Leben mit. Brot- und Fischverkäufer in runden, schwimmenden Weidenkörben priesen ihre Ware und drängten sich an die kriegerischen Fahrzeuge heran. Es gelang ihnen bald, ihren Vorrat abzusetzen, denn die Sklaven erhielten ihre Nahrung bloss des Abends und diejenigen, die einen Sparpfennig hatten, kauften sich eine karge Mahlzeit. Auch Belnadin litt Hunger und warf dem Händler ein Silberstück zu, das einzige, welches er besass. Es fiel ins Wasser. Der Händler zog die angebotenen Früchte zurück und die Fahrt ging weiter.
Der Vordermann, ein junger, brauner Sklave, reichte Belnadin ein Brot über die Schulter.
„Ich danke dir,“ sagte Belnadin, „ich kann bis zum Abend warten.“
„Aber mir würde das Brot bitter schmecken, wenn ich dich hungern sähe, Herr.“
„Warum nennst du mich Herr!“
„Weil dir kein Sklavenmal eingebrannt ist, und du vornehm aussiehst. Ich heisse Suggagu und bin der Sohn eines Freien und einer Sklavin. Meine Mutter ist Lamazani, die Dienerin der Semiramis. So iss doch, Herr!“
„Wir wollen teilen, Suggagu und Freunde sein. Wie alt bist du?“
„Ich bin geboren im Todesjahre des Königs Ninos, im ersten Jahre der Alleinherrschaft unserer Königin.“
„Du bist jung und schon so stark.“
„Ich bin die schwere Arbeit gewohnt, aber deine Hände bluten schon. Es ist nicht gerecht, dass du Sklavenarbeit verrichtest. Musst du denn für eine Schuld büssen?“
Ich wollte den Göttern gleich sein, darum muss ich das Brot des Sklaven essen, dachte Belnadin, aber er schwieg.
„Vergib,“ sagte Suggagu verlegen, „wenn ich eine vorwitzige Frage getan habe.“
„Ich will dir antworten. Ich hatte das Leben am unrichtigen Ende angefangen, das muss ich sühnen.“
„Ich verstehe dich nicht.“
„Gib acht: kann ein Baum blühen, bevor er Wurzeln schlägt? Kann er Früchte tragen, bevor er Zweige ausbreitet?“
„Jetzt erfasse ich’s. Du willst sagen: kann ein Mensch glücklich sein, bevor er gelitten hat?“
„Du bist klug,“ sprach Belnadin betroffen.
„Ich lerne von dir und möchte gern mehr lernen.“
„Was könnte ich dich lehren?“
„Das zu sehen, was hinter den Dingen steht.“
„Meinst du, ich könne das?“
„Deine Augen, Herr, sehen mehr als Menschenaugen. Fast schaudert mich vor dir.“
„Sage das nicht, Suggagu,“ flüsterte Belnadin heftig, „ich bin ein Mensch und muss ein Mensch sein, wie die anderen.“
„Aber du hast wohl ein hohes Ziel. Jeder von uns hat eines. Ich will frei werden. Kein Sklave mehr sein. Einen Garten und ein Feld will ich haben, Kühe, Esel, Ziegen und Zicklein. Du hast andere Wünsche.“
Belnadin lächelte: „Du bist klug, Suggagu, klüger als ich, der seine Wünsche nicht kennt.“
„So weisst du nicht, was Sehnsucht ist?“
„Sehnsucht ist ein kleiner, singender Vogel, der im Aether vorauseilt, und wir schwerfälligen Flösser folgen ihm mühselig nach.“
Da wies Suggagu hastig auf das Zelt des Feldherrn. Allabana war herausgetreten und hielt Musterung. Er stand dort, bleich, ernst und hager, seine grossen, traurigen Augen fielen auf Belnadin.
„Belpriester, kannst du Zeichen deuten, aus einer Schale mit Oel, oder die Zukunft aus einem Kristall lesen?“
„Ich habe die Künste der Barûpriester nie geübt.“
„Keine Ausflüchte. Sie sagen, du sähest Künftiges. Siehst du mich einziehen in Eridu, der Stadt Eas?“
„Sende mich als Kundschafter voraus nach Bit-Imki, dann werde ich dir sagen, ob du Eridu erreichen kannst.“
„Das ist wahrhaftig eine geringe Weisheit,“ sagte Allabana und ging vorüber.
Er gab den Befehl, in einer teichartigen Biegung des Flusses zu nächtigen, wo die Strömung sanfter wurde.
Die Zugtiere wurden ans Land gebracht, grosse Feuer am Ufer angezündet und Fische gebraten.
Fern von den anderen sass Belnadin unter einer Weide und wusch seine wunden Hände. Eine wohlige Müdigkeit war in seinen Gliedern. Wieder war es Suggagu, der ihm Nahrung brachte. Dann schleppte der junge Sklave Pfähle herbei und spannte Linnen darüber.
„Ich möchte dir dienen, Herr, auch wenn ich frei werde,“ sagte er. „Was befiehlst du weiter?“
„Nichts, Suggagu. Oder doch etwas. Du sprachst von deiner Mutter Lamazani, die im Palaste wohnt. Setze dich zu mir und erzähle mir von der Königin Semiramis.“