Читать книгу Der Selbstmörder - Paul Blumenreich - Страница 6
ОглавлениеWar er tot? –
O, wenn Armin dieser Frage hätte entrinnen können, wenn er wüßte, ob jener tot! – Und doch, war es nicht sündhaft, seinen Tod zu wünschen? – Und wiederum, sein, Armins ganzes Lebensglück beruhte darauf, daß jener nicht mehr unter den Lebenden weilte. Aber in streng christlichen Grundsätzen erzogen, sträubte sich sein Gewissen, den Tod des anderen zu wünschen.
Armins Blick versuchte vergeblich, das finstere Dunkel dieses Geheimnisses zu durchdringen. Einen Augenblick fiel ein Lichtstrahl, als man einen Diebstahl zu bemerken glaubte; aber das war jemand anders gewesen, jenes blonde Mädchen an der Kasse, welches er eigentlich noch nicht gesehen und an deren Schicksal er kein Interesse nahm, denn er sah nur Josepha. Das Mädchen mit dem schönen, blassen Gesicht, den dunklen Augen, dem jungfräulich keuschen und doch hingebenden Wesen hatte seine ganze Seele gefangen genommen.
Jener Augenblick, da sie, wenn auch durch einen Irrtum, an seiner Brust lag, war entscheidend gewesen für seine ganze Existenz. Eine überirdische Seligkeit, ein Fortgerissenwerden, eine glühende Hingebung, wie er sie bisher nicht kannte, ein einziger Wunsch, eine einzige lodernde Flamme erfüllte ihn: Josepha nahe zu sein.
Am Morgen nach jenem Abende, da er Josepha gesehen, hatte er sich zu dem großen Gange gerüstet. Nie sonst in seinem Leben hatte er Aehnliches gewagt: Die Erbschaft eines Mannes anzutreten, der vielleicht nicht tot war, seiner Braut sich zu nähern, ihre Liebe zu begehren. Aber er konnte nicht anders, denn er mußte in Josephas Nähe bleiben, er mußte tun, was sie wünschte: und so suchte er seinen schwarzen Anzug, seine Papiere hervor, und machte sich auf den Weg zu Hilmar.
Es war ihm elend zu Mute, und doch war er voll überseliger Hoffnungen für die Zukunft; er zitterte und bebte – und doch, er stand vor dem Hause, wo sie wohnte, vor dem Hause ihrer Eltern. Welch' beglückende Vorstellung!
Herr Hilmar nahm ihn für nichts als einen Stellensucher. Er fand sein Erscheinen durchaus natürlich; der Unfall war von den Zeitungen gemeldet, auch wohl in den beteiligten Kreisen bekannt geworden: Vielleicht schmeichelte es ihm sogar, daß man sich, noch bevor er jemanden suchte, an ihn wandte.
Auf die korrekt vorgetragene Bewerbung Armins antwortete er:
»Sie kommen eigentlich zu früh. Noch habe ich keine offizielle Nachricht von dem Tode meines Neffen, noch hoffen wir. Vielleicht hat nur ein Zufall ihn verhindert, zurückzukehren.«
»Selbstverständlich würde ich zurücktreten,« beeilte sich Armin zu versichern, »wenn Ihr Herr Neffe wiederkäme. Ich würde es mit Freuden tun, wenn ich sähe, daß ein schweres Unglück von einer ehrenwerten Familie abgewendet wird.«
Das war freilich eine Phrase, aber sie gefiel dem alten Herrn.
»Ich könnte Ihnen allerdings,« entschied er, »für heute keinen dauernden Vertrag anbieten; wollen Sie es mit einer Probe versuchen und auf die Eventualität, auf welche ich noch immer hoffe, gefaßt sein, so steht dem nichts im Wege. Mir fehlt eine tüchtige Arbeitskraft, ich bin jetzt ganz gebrochen, die Bücher sind in Unordnung geraten, und da harrt Ihrer ein großes Stück Arbeit. Wie ich aber aus Ihren Papieren ersehe, kann in an Ihnen ein solches wohl zumuten. Also meinetwegen!«
Armin erklärte sich mit Vergnügen zu jedem Versuche bereit; mit einigen Worten war die Gehaltsfrage erledigt handelte es sich doch für Armin um nichts als einen Anfang – und Armin Bode wurde engagiert. Morgen früh sollte er in die Stellung des Verschollenen eintreten.
Es war, als träumte er. Nicht seine kühnsten Träume hatten ihm so schnelle Erfüllung seiner Wünsche vorgespiegelt. Nicht nur eine Stellung war gefunden, nein, auch Josepha lächelte ihm zu.
Da trat sie eben in das Comptoir, und ihr Blick begegnete verständnisinnig dem seinen. Sie frug ohne Worte, ob der Vater einverstanden, und er zwinkerte mit den Augen: Ja! – und in diesem Augenblicke schwanden alle seine Bedenken.
Aber schon in der nächsten Minute kamen sie wieder. Weshalb log er? – Josepha war freilich ängstlich, ihren Eltern zu verraten, daß sie abends mit einem Fremden zusammengetroffen. Aber es war doch zu einem guten Zwecke geschehen.
In ihrer Abwesenheit nahm er sich vor, dem Vater die Sache zu erklären. Warum tat er es nicht? – Weil er dadurch die Basis zu seiner Existenz im Hause zerstört hätte. Man hätte dem Verschwundenen von neuem nachgeforscht, auf neuer Grundlage. Auch Josepha wußte ja nicht die ganze Wahrheit. In der ersten Aufregung hatte er ihr verschwiegen, daß er noch einmal umgekehrt war, und den Schwerverwundeten nicht mehr gefunden hatte.
Josepha zweifelte nicht daran, daß er tot war. Es waren seine letzten Worte gewesen, die Armin ihr hinterbrachte, und weil sie diese für die letzten hielt, waren sie ihr heilig wie ein Schicksal. Karl selbst hatte sie an den Mann gewiesen, den sie zu lieben bereit und im Begriffe war. Ihrem zur Romantik geneigten Sinn war er wie ein Bote aus einer andern Welt erschienen. Allerdings, auch sie hatte den Eltern nicht gesagt, daß Karl sich erschossen. Es sollte erst Armin festen Fuß im Hause fassen, dann würden sie die traurige Gewißheit leichter tragen.
So hatten sie sich fast ohne Worte verständigt und bauten eine unbestimmte, aber deutliche Hoffnung auf Liebesglück auf das dunkle Geheimnis, das Karls Verschwinden verhüllte.
Josepha tat es mit ruhiger Seele, nur daß sie Karl warm und innig beklagte, aber ihr Gewissen war rein, sie hatte nichts getan, um ihn in den Tod zu treiben; im Gegenteil, ihr sanfter Einfluß hatte ihn zu einer geregelten Lebensweise vermocht. Wenn er ihr entglitten war in das undurchdringliche Dunkel des Todes, so war es, weil er ihr gar nicht so ganz gehört hatte. Es war noch etwas in seinem Leben, worauf sie keinen Einfluß besaß, und dieses unbekannte Etwas entriß ihn ihr. Sie fühlte nur noch die Pflicht, ihn zu betrauern, aber sie war ergeben in das Schicksal, das sie um ihn betrogen.
Er war tot; ohne Zweifel war er als nicht rekognoszierter Selbstmörder irgendwo begraben worden. Aber auch das war noch gut zu machen, man würde ihm auch noch sein anständiges Familiengrab sichern können, dem armen, einst so heiteren, lebenslustigen Karl.
Josepha flüsterte jetzt dem Vater etwas zu, und dieser wandte sich wieder an den jungen Mann.
»Sie sind ja, wie ich höre, ganz fremd hier; vielleicht beliebt es Ihnen, heute mit uns zu speisen und meine Familie kennen zu lernen. Bei mir herrscht noch ein altfränkisches, patriarchalisches Verhältnis; ich mag mich in die neue Zeit nicht finden, in welcher Herr und Diener einander fremd geworden sind.«
Armin Bode nahm vor Freude errötend an. Zwar der alte Hilmar sagte sich, es sei zu viel Entgegenkommen; aber Josepha hatte den Wunsch geäußert, und er legte sich gar nicht Rechenschaft ab, warum dies geschehen. Das arme Mädchen brauchte eben Zerstreuung.
So erschien Armin Bode also wieder zu Tisch; wieder musterhaft gekleidet, doch anders als Karl. Denn dieser war immer gerne Großstädter gewesen, Armin sah man den wohlhabenden Provinzler deutlich an. Er kontrastierte in seiner Erscheinung wirkungsvoll mit Josepha, sie gaben gleich auf den ersten Blick ein sogenanntes passendes Paar. Josepha war eine sehr schlanke Brünette mit schönem, blassem, ruhigem Gesicht, mit sanftem, schüchternem Wesen, überaus zärtlich gegen ihre Eltern, eine rechte Schlingpflanzennatur. In Herrengesellschaft war sie scheu und dafür wenig empfänglich, daher hatte sie sich so leicht von ihren Eltern bewegen lassen, sich mit Karl zu verloben, weil ihr Herz noch so ganz unberührt war. Wer er hatte sie doch erschreckt mit seinem ungleichen, excentrischen Wesen, seinen Ausfällen gegen Welt und Menschen, seinen fortwährend wechselnden Stimmungen. Armin Bode dagegen verstand es sofort, ihr Vertrauen zu gewinnen, so abenteuerlich ihre Bekanntschaft auch geschlossen war. Er hatte den Typus des deutschen Landwehrmanns: groß, stark, blondbärtig, mit treuherzigen blauen Augen, mit sonorer Stimme, ruhig, würdevoll, gemessen, voll Ehrfurcht gegen Damen, loyal gegen seinesgleichen, und im ersten Augenblicke, da sie seine Stimme gehört, glaubte sie ihm, glaubte mit jener instinktiven Eingebung, welche meist der Anfang der Liebe ist. In den Schauern, welche ihr das geheimnisvolle Verschwinden Karls verursachte, in der dumpfen Trauer ihrer gegenwärtigen Existenz, verlieh ihr das Erscheinen Armins Trost und Zuversicht.
Das Mädchen hatte gedeckt wie gewöhnlich. Die drei anderen nahmen ihre gewohnten Plätze ein, ohne weiter nachzudenken, und so kam Armin, ohne es zu wissen, auf den Platz, welchen bis dahin Karl eingenommen hatte.
Als er nun hier saß, sahen die andern einander unwillkürlich an; Karls Platz war besetzt. Aber Armin vermied es, von dem Verschollenen zu sprechen. Er stellte Fragen über das Geschäft und die Beziehungen der Firma, soweit ihm solche Fragen zustanden; leise wagte er es auch, von den Gewohnheiten der Familie zu sprechen.
Aber sie waren alle ernst gestimmt, und bei der Suppe – es gab vortreffliche Mocturtle – rief Frau Hilmar:
»Es war Karls Lieblingssuppe!«
Eine tiefe Stille trat in dem kleinen Kreise ein, dann sagte Armin:
»Vielleicht ist sie es noch, wird es immer sein.«
Josepha senkte den Blick. Sie nahm nur eine wohlgemeinte, freundliche Lüge an und ging nicht darauf ein.
Alle Speisen waren gleich vortrefflich. So sehr aber Armin bemüht war, das Gespräch abzulenken, er konnte Frau Hilmar nicht abbringen von ihren Erinnerungen. Bei jedem Gange erzählte sie etwas von Karl. Bald sagte sie:
»Es ist noch nicht vierzehn Tage her, daß mich Karl um Rebhuhn gebeten« – bald wiederum, als Armin sich Kompott auftat, bemerkte sie:
»Karl mochte kein Kompott zum Braten; er pflegte es später zu essen.«
Und Armin, der mit Appetit sich zu Tische gesetzt hatte und schließlich ja mit Freuden gekommen war, konnte kaum mehr essen. Er sah das blasse Gesicht des Verschollenen an dem Tische mit überwältigender Deutlichkeit, wie seine Mienen sich verzerrten, seine Augen sich verdrehten, wie er ächzte, wie er mühselig die Worte hauchte, – mit erschreckender Deutlichkeit stand das alles vor ihm. Bisweilen spiegelte ihm seine gehetzte Phantasie vor, daß er, Armin, der Mörder sei; er hätte doch bei ihm bleiben, sich überzeugen sollen, ob er tot, ob nicht nur eine Ohnmacht ihn angewandelt hatte.
»Nach Tische spielten sie immer vierhändig,« sagte Frau Hilmar.
»Ich spiele auch,« antwortete der Gast schwer atmend. »Wenn das Fräulein befehlen?«
»Ach, das ist schön!« rief Josepha aus. »So wollen wir spielen; Mama fehlt es immer. Sie schlief nach Tische darüber ein.«
Natürlich waren nur die Noten zur Hand, welche die jungen Leute damals gespielt hatten. Nun saßen sie zusammen am Klavier. Er fand sich wundervoll in ihre Weise, spielte vom Blatt, fügte sich ihr mit gutem Verständnis.
Frau Hilmar sah mit großen Augen drein. Sollte das ein Wink des Himmels sein, der ihnen diesen jungen Mann schickte? – Oder war es nicht Sünde, daß man ihn aufnahm, während man noch gar nicht wußte, ob Karl tot war oder nicht? – Sie liebte die Musik, freute sich der schönen Klänge, aber ihr Herz preßte sich zusammen, sie konnte heute nicht einduseln. –
Vier Wochen waren vergangen; noch immer keine Kunde von Karl, keine Spur, kein Lebenszeichen. Jeden Tag sah man spannungsvoll in die Zeitungen und in die eingelaufene Post, frug auch einmal bei der Polizei nach, aber Karl war spurlos verschollen.
Indessen war die Probezeit für Armin abgelaufen, der Quartalsbeginn stand vor der Tür, es war der normale Zeitpunkt für einen festen Kontrakt. Noch immer empfand der alte Hilmar etwas wie Verlegenheit. Sein pedantisches Gewissen sträubte sich dagegen. Sein Neffe konnte doch noch leben, wer wußte es? – Noch immer war er nicht amtlich tot erklärt, ja es war noch nicht einmal ein darauf hinzielender Antrag möglich geworden, weil ja jeder Anhalt, jede Spur fehlte. Andererseits gefiel ihm der junge Mann, denn Armin verstand sein Geschäft. Vielleicht war er nicht so vielseitig begabt wie Karl, aber er war stetiger, fleißiger, verläßlicher. Ueberraschend schnell hatte er sich in alles gefunden, war stets mit ganzer Seele der Arbeit hingegeben; mit einer Art von Spürsinn hatte er die Tätigkeit seines Vorgängers erfaßt, es war, als wäre er unter der Leitung Hilmars groß geworden, sozusagen Geist von seinem Geiste. Vor allem war Armin Bode, was Karl niemals gewesen, die Pünktlichkeit selbst. Ruhig erschien er, mit bescheidenem Gruß, und setzte sich an die Arbeit. Man hätte aus seiner gemessenen Haltung schließen können, daß ihm diese Arbeit sehr gleichgiltig; aber bei jedem Anlaß verriet er, wie sehr er innerlich bei der Sache war; ja, er sorgte und dachte an Stelle des Chefs, und dieser konnte nicht umhin auszurufen:
»Nein, wenn man solchen Buchhalter hat, so ist es leicht, Chef zu sein.«
Armin Bode errötete vor Vergnügen.
»Ich stehe ja ganz allein in der Welt und habe kein Ziel als Ihre Zufriedenheit.«
Es schien wirklich, daß er die Wahrheit sprach. Die Großstadt schien keine Verlockungen zu haben für den jungen Mann, und die Alten sagten sich:
»Wir haben einen Treffer gemacht.«
Und Josepha durfte behaupten:
»Er ist ein Ideal,« ohne daß die Eltern widersprachen.
Warum Armin Bode so ganz blind war für die Reize der Großstadt? – Es ahnte niemand, was der wahre Grund. Es war die Erinnerung an den Sterbenden, die ihm unaufhörlich vorschwebte.