Читать книгу Kartoffelsalat und Würstchen - Meine Lebensgeschichte - Buch I - Paul Gojny - Страница 5

Kapitel 1 - Flucht aus Schlesien

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Am 7. März 1940 wurde ich an einem strahlenden Sonntagmorgen um 10.32 Uhr in Groß Wartenberg, Niederschlesien, geboren. Laut Aussage meiner Mutter Helene wog ich bei meiner Geburt zehneinhalb Pfund. Da ich ihr viertes Kind war, erhielt sie dafür von den damaligen NS-Machthabern das Mutterkreuz in Gold. Zudem war ich, nach Mutters Aussage, das schwerste Baby des Jahres.

Obwohl sie nie etwas mit den Nationalsozialisten zu tun haben wollte, war sie doch irgendwie stolz auf diese Auszeichnung. Aufgrund dieser Auszeichnung und meines außerordentlichen Geburtsgewichtes, war ich schon bei meiner Geburt etwas Besonderes. Mein Vater, Gerhard Gojny, war Zollbeamter und verrichtete an der nahe gelegenen polnischen Grenze seinen Dienst. Bei meiner Geburt hatte ich bereits drei Geschwister. Es waren dies meine älteste Schwester Brigitte, geb. 1935, und meine Brüder Hans und Heinrich, geb. 1937, die als Zwillinge auf die Welt kamen. Nach mir kamen dann noch meine Schwester Rita und unser jüngster Bruder Gerhard zur Welt.

Von meinen ersten vier Kindheitsjahren ist mir nichts Besonderes in Erinnerung geblieben. Ich wuchs wohlbehütet zusammen mit meiner Mutter, meiner Großmutter (mütterlicherseits), meinen drei älteren Geschwistern und meiner jüngeren Schwester in der Dienstwohnung meines Vaters auf. Es war ein alleinstehendes Zollhaus, direkt an der deutsch-polnischen Grenze. Hinter dem Haus befand sich ein großer Hundezwinger mit einem großen Schäferhund darin. Es war Vaters Diensthund Harras. Neben der Hundeanlage gab es noch ein Gebäude, in dem Geflügel gehalten wurde. Vornehmlich Hühner, aber auch Enten und Gänse waren dort untergebracht. An eine kleine Episode kann ich mich noch entsinnen: Als ich gerade Laufen gelernt hatte, bin ich meiner Mutter gerne ausgebüchst und so sperrte sie mich eines Tages in den Laufstall zu frisch ausgebrüteten Entenküken. Heute weiß ich natürlich nicht mehr, wie oder warum ich es tat. Als meine Mutter mich aus dem Laufstall herausholte, waren alle Entenküken tot und ich war gerade dabei, sie sauber übereinander zu stapeln. Nach Omas Erzählungen bekam ich von Mutter dafür kräftig den Hintern versohlt. Für jedes Wort, das sie dabei sprach, gab es einen Klaps auf den Allerwertesten. Es waren derer sechs, denn sie sprach den Satz: „Man quält und tötet keine Tiere!“

Sonntagmorgens herrschte bei uns immer große Aufregung. Nachdem sich die Eltern und Oma ordentlich angekleidet hatten, wurden auch wir Kinder hübsch angezogen. Es folgte der gemeinsame Sonntagsgottesdienst in der römisch-katholischen Kirche. Wie fast alle Schlesier, waren auch wir katholisch. Wir saßen jedes Mal vorn in der ersten Reihe, und es war immer sehr laut und sehr kalt. Das Kirchengebäude war innen wie außen aus roten Klinkersteinen gemauert. Diese Tatsache alleine verstärkte auf mich den Eindruck der Kälte. Dieser Eindruck ist so intensiv in meinem Gedächtnis hängen geblieben, dass ich bis zum heutigen Tag keine Klinkergebäude mag.

Eines frühen Morgens wurde ich durch furchtbare Geräusche und Erschütterungen wach. Alle paar Minuten erschütterte das ganze Haus und zwar so fest, dass die Bilder an der Wand hin- und herschaukelten. Dann knallte es wieder so laut, dass ich vor lauter Angst anfing zu heulen. Als meine Großmutter in unser Kinderzimmer kam, um mich sofort in den Arm zu nehmen, zitterte ich bereits am ganzen Körper. Sie versuchte mich zu beruhigen, indem sie mich an sich drückte, streichelte und küsste. Sie sagte: „Ich muss dich jetzt schnell anziehen, die Russen stehen schon vor Groß Wartenberg und wir müssen ganz schnell hier weg!“ Weil wir nur das mitnahmen, was wir am Körper tragen konnten, zog Oma mir viel mehr Kleidung als üblich an. Während Oma mich ankleidete, hatte ich Gelegenheit, einen Blick aus dem Fenster zu werfen. Da es mittlerweile hell geworden war, konnte ich sehen, wie meine Mutter ein großes Paket in ein wohl vorher gegrabenes Erdloch warf und dieses dann zuschaufelte. Später erfuhr ich, dass sie all unsere Familienkostbarkeiten, wie Schmuck, teures Porzellan, wertvolle Bilder, Vasen usw. in einen Kasten, den sie wohl vorher mit Wachspapier und Gummimatten ausgelegt hatte, zusammengepackt hatte, um diese Kostbarkeiten vor den Russen zu verstecken. Dies tat sie in der Hoffnung, diese sehr bald wieder ausgraben zu können, um sie wieder in Besitz zu nehmen. Natürlich ist dies bis zum heutigen Tage nicht geschehen.

Als Mutter die Schaufel wieder in die Garage gestellt hatte, kam sie ins Haus zurück und rief aufgeregt: „Los schnell, wir müssen weg!“

Oma verfrachtete uns auf unsere beiden Fahrzeuge, einen Bollerwagen und einen Kinderwagen. Die vier Großen kamen auf den Bollerwagen, vorne saßen die Zwillinge Hans und Heinrich, hinten saß meine große Schwester Brigitte und ich wurde neben sie gesetzt. In den Kinderwagen kam meine kleine Schwester Rita. Dann ging es los. Die Flucht vor den Russen begann.

Wir hatten gerade das Gartentor erreicht, da hörte ich ein lautes Zischen, das plötzlich mit einem unerhört lauten Knall endete. Die Erde bebte. Dreck, Steine und vieles mehr flogen durch die Luft. Links von uns sah ich eine riesige Feuerwand zum Himmel aufsteigen. Brigitte, die links neben mir saß, schrie laut auf. Sie war von einem Gegenstand getroffen worden. Ihr Mantel und die darunter gezogene Jacke waren zerrissen. Sie blieb jedoch, bis auf einen blauen Fleck am linken Oberarm, unverletzt. Hier schon hätte die Flucht tragisch enden können. Wir hatten einen außergewöhnlich wachsamen Schutzengel, der schützend seine Hand über uns hielt. Ohne diesen hätten wir alle die Flucht und auch die folgenden schweren Jahre nicht überstanden.

Aber was war geschehen? Etwa zweihundert Meter entfernt von unserem Wohnhaus stand ein großes Bauerngehöft. Wie ich später erfuhr, war dieses der Gutshof der Familie von Wartenberg. Der Gutshof, genau gesagt das Hauptgebäude, war von einer schweren Granate getroffen worden. Die Seite, die von unserem Haus sichtbar war, stürzte unter furchtbarem Getöse zusammen. Wir waren also viel zu spät aufgebrochen.

Erstens hatten die Russen die deutschen „Verteidigungslinien“ viel schneller durchbrochen als erwartet wurde, und zweitens hatte meine Mutter immer noch gehofft, dass mein Vater nach Hause kommen würde, um mit uns gemeinsam die Flucht anzutreten. Während Mutter noch auf ihn wartete, war Vater am selben Tage während der Ausübung seines Dienstes als Zöllner bereits in russische Gefangenschaft geraten. Was wir alle nicht ahnen konnten, war die Tatsache, dass wir unseren Vater erst viele Jahre später wiedersehen sollten.

Mutter und Großmutter waren nun wohl auch in Panik geraten, denn sie begannen, mit uns im Schlepp zu rennen. Oma zog den Bollerwagen mit der rechten Hand, also links der Deichsel, während unsere Mutter mit der linken Hand rechts der Deichsel zog. Gleichzeitig schob sie mit der rechten Hand den Kinderwagen, in dem meine jüngere Schwester Rita saß. Sie rannten mit uns so schnell Richtung Bahnhof, wie es unter den gegebenen Umständen möglich war.

Endlich kamen wir am Bahnhof an. Dort stand ein sehr langer Zug. Das Problem war, dass dieser Zug schon über und übervoll mit Flüchtlingen war. Unglaubliche Szenen spielten sich auf dem Bahnsteig ab. Vor den Türen eines jeden Wagens hatten sich mehr oder weniger große Menschentrauben gebildet. Jeder kämpfte gegen jeden, um noch einen Platz in einem der Eisenbahnwagen zu ergattern. Es herrschte ein großes Durcheinander und es war unglaublich laut. Schreie, Kommandos, Trillerpfeifen und immer wieder lautes Einschlagen von Granaten und Bomben. Manchmal zitterte der ganze Bahnsteig. Vor lauter Angst hatte ich mich eng an meine ältere Schwester Brigitte gepresst. Dabei merkte ich, dass auch sie am ganzen Körper zitterte. Meine beiden Brüder Hans und Heinrich, die vor uns saßen, hatten ebenfalls angefangen zu schreien. Nur von meiner kleinen Schwester Rita hörte und sah ich nichts. Sie hatte sich wohl in ihrem Kinderwagen unter ihrer Bettdecke verkrochen. Großmutter und Mutter zogen uns im Laufschritt von Wagen zu Wagen, aber an jeder Tür hörten wir: „Der Wagen ist voll.“ In der Zwischenzeit hatten wir fast den gesamten Zug von hinten nach vorn abgeschritten, besser ausgedrückt, „abgerannt“. Mutter hatte wohl auch keine Hoffnung mehr, mit diesem Zug mitzukommen. Als sie sich einmal zu uns umdrehte, sah ich, dass auch sie weinte. Als wir fast am vorderen Ende des Zuges angekommen waren, es muss der vorletzte oder der letzte Wagen vor der Lok gewesen sein, wurde plötzlich direkt neben uns eine Zugtür aufgestoßen. In der Tür stand ein uniformierter Mann und rief sehr laut den Namen meiner Mutter: „Lene!“ Meine Mutter blieb wie angewurzelt stehen, wandte sich dem Soldaten zu und rief: „Hans?“ Der Soldat drehte sich sofort wieder um und sagte ins Wageninnere gerichtet: „Da draußen ist eine Mutter mit fünf Kindern, die müssen noch mit“, und im Befehlston weiter, „helft den Frauen und Kindern reinzukommen.“

Sofort sprangen ein paar hilfsbereite Soldaten aus dem Abteil, packten zuerst den Kinderwagen, dann den Leiterwagen, auf dem ich mich mit meinen Geschwistern befand und im Handumdrehen standen wir auf der Plattform des Abteils, also innerhalb des Eisenbahnwagens. Zwei Soldaten zogen dann noch unsere Mutter und Großmutter durch die Tür. Keine Sekunde zu früh, denn im selben Augenblick, setzte sich der Zug in Bewegung. Der Soldat Hans war neben der Tür stehen geblieben. Nachdem meine Mutter von den Soldaten durch die Tür in den Zug gehoben worden war und sich beide gegenüberstanden, fiel Mutter diesem Hans um den Hals. Als der Soldat nun auch meine Mutter in die Arme nahm, sah ich, dass sein linker Arm verbunden war und sich in einer Armschlinge unter dem Uniformmantel befand.

Meine Mutter fand wohl zuerst ihre Sprache wieder. Ich hörte sie sagen: „Mein Gott, Hans, dich schickt der Himmel! Wo kommst du denn her und was tust du hier?“ Hans drückte Mutter noch einmal mit seinem rechten Arm an sich, ehe er antwortete: „Lenchen, das ist eine lange Geschichte, die ich dir später erzählen werde. Aber zunächst bin ich froh, dass ich euch helfen konnte, noch mit diesem Zug mitzukommen, denn dieser Zug ist mit Sicherheit der allerletzte, der noch Richtung Westen herauskommt. Die Russen stehen bereits vor den Toren der Stadt, die sie sicherlich heute noch einnehmen werden. Dann werden sie gleich weiter nach Breslau ziehen, um auch diese Stadt schnellstmöglich einzunehmen, was ihnen auch gelingen wird, denn wir haben ihnen ja fast nichts mehr entgegenzustellen.“ Letzteres hatte er Mutter mit gesenkter Stimme gesagt und hatte sich dabei ängstlich umgeschaut, wohl aus Angst vor den auch jetzt noch allgegenwärtigen NS-Spitzeln. Etwas lauter sagte er dann: „Wenn wir gleich in Breslau einfahren werden, bleibt um Himmels willen bloß in diesem Zug und fahrt so weit es irgendwie geht in Richtung Westen. Ich selber werde in Breslau aussteigen. Ich bin abkommandiert mit zu helfen, um in Breslau einen Verteidigungsring aufzubauen. Der Führer hat befohlen: „Breslau wird gehalten, koste es was es wolle!“

Dann senkte er wieder seine Stimme und flüsterte meiner Mutter ins Ohr: „Wie das gehen soll, hat dieser Volli..... aber nicht gesagt. Sieh dich doch bloß einmal um. Mit mir sind hier nur Verwundete, Greise und halbe Kinder in diesem Zug. Mit diesem Haufen sollen wir Breslau verteidigen! Hier wird nur noch unnötig Blut vergossen. Welch ein Wahnsinn, wie der ganze Krieg von Anfang an ein Wahnsinn war!“

Dann fragte er: „Wo ist eigentlich dein Mann Gerhard abgeblieben? Ist er etwa gefallen? Wann hast du ihn das letzte Mal gesehen oder von ihm gehört?“ Mutter antwortete: „Gerhard ging am Montagmorgen, also vor drei Tagen, mit seinem Hund zum Dienst. Er ist dann nicht mehr nach Hause gekommen. Ich habe auch nichts mehr von ihm gehört. Ich hoffe und bete zu Gott, dass ihm nichts passiert ist. Dies ist auch der Grund, warum wir hier nicht eher vor den Russen abgehauen sind. Ich habe halt bis heute Morgen gehofft, dass Gerhard zurückkommt und uns bei der Flucht hilft.“

Während Mutter Hans dies mitteilte, liefen ihr die Tränen heftig über das Gesicht. Hans hatte unterdessen mit seinem gesunden Arm ein Taschentuch aus seiner Hosentasche geholt und trocknete meiner Mutter liebevoll die Tränen von den Wangen. Mutter nahm daraufhin seine rechte Hand, drückte sie an ihre Lippen und küsste sie. Danach sagte sie: „Hans, ohne deine Hilfe wären wir sicher hier nicht mehr rausgekommen. Dir und dem Himmel sei Dank!“ Weiter sagte sie: „Pass bitte auf dich auf, denn wenn dieser ganze Schlamassel vorbei ist, möchten Gerhard und ich dich gesund und munter wiedersehen – wo und wann auch immer.“

Während sich unsere Mutter mit Hans unterhielt, hatte meine Großmutter alle Hände voll zu tun, meine Geschwister und mich ruhig zu stellen. Weiß der Himmel, wie sie das schaffte. Vielleicht war es auch das leichte Schaukeln des Zuges. Auf alle Fälle hatten wir Kinder aufgehört zu weinen. Im Übrigen war es in unserem Abteil ohnehin sehr ruhig geworden. Alle lauschten wohl auf den nächsten Einschlag. Diese Einschläge waren unserem Zug, während er noch in Groß Wartenberg auf dem Bahnsteig stand, gefährlich nahe gekommen. Nun aber hatte der Zug Fahrt aufgenommen und tatsächlich wurden diese furchtbaren Einschlaggeräusche, dieses ohrenbetäubende Krachen und Wummern leiser und blieben mit zunehmender Geschwindigkeit unseres Zuges hinter uns zurück.

Das wirkte wohl nicht nur auf uns Kinder beruhigend, sondern auch auf alle anderen in unserem Abteil, in welchem ausschließlich Soldaten waren, zumindest steckten die Männer alle in Uniform. Wäre das nicht so gewesen, hätten wir, das heißt, meine Mutter und Großmutter mit uns fünf Kindern, niemals einen Platz in dem Abteil bekommen. Natürlich hat die Befehlsgewalt von Hans das möglich gemacht. Wie ich viel später erfuhr, war Hans ein entfernter Verwandter und Freund meines Vaters. Beide hatten zusammen die Schule besucht und zusammen ein paar Semester Jura studiert. Mein Vater wurde aber von seinen Eltern zu Gunsten seines jüngeren Bruders, unserem Onkel Hubert, nach dem vierten Semester wieder von der Universität geholt. Meine Großeltern konnten wohl nicht beiden Söhnen zugleich das Studium bezahlen. Da sie sich von Onkel Hubert aufgrund seines besseren Abiturs mehr erhofften, musste mein Vater die Universität verlassen. Ein Umstand, den mein Vater sein Leben lang nicht vergessen konnte und den er auch bis zu seinem Tod nie richtig verarbeitet hatte. Er fühlte sich durch diese Begebenheit vom Leben betrogen. Onkel Hubert hat aber sein Studium, aufgrund eines allzu flotten Studentenlebens, nie abgeschlossen und ist dann nach dem Krieg Lehrer geworden. Mein Vater ist, nach dem abgebrochenen Jurastudium, zur Zollbehörde gegangen und wurde Zolloberinspektor. Irgendwann wurde er an die deutsch-polnische Grenze nach Groß Wartenberg versetzt, wo er Zollgrenzkommissar wurde.

Als solcher und bei der Ausübung seines Dienstes, ist er dann von den Russen in Kriegsgefangenschaft genommen worden. Gemäß seinen viel späteren Erzählungen hatte sich das folgendermaßen zugetragen: Dicht neben ihm war eine schwere Granate eingeschlagen. Die Druckwelle warf ihn samt seines schweren Motorrades mit Seitenwagen, in dem sein Diensthund Harras saß, um. Er wurde dann von den aufgewühlten Erdmassen verschüttet und hatte zudem wohl die Besinnung verloren. Als er das Bewusstsein wieder erlangte, befand er sich schon auf einem russischen Militärlastwagen in die russische Kriegsgefangenschaft. Er hatte keinerlei Erinnerungen mehr, wer ihn gefunden und ausgebuddelt hatte und ihm wahrscheinlich das Leben gerettet hatte.

Am wahrscheinlichsten ist es, dass er von den in Groß Wartenberg einmarschierenden Russen gefunden worden war. Sie hatten ihn dann wohl erstversorgt und sofort in Kriegsgefangenschaft genommen. Dass das der Beginn eines achtjährigen Martyriums, sprich Kriegsgefangenschaft, war, konnte er zu dem Zeitpunkt sicher nicht ahnen. Gott sei es gedankt, hatten die Russen ihm aber sehr wahrscheinlich das Leben gerettet.

Es sollten vierzig Jahre vergehen, bis er mir diese schrecklichen Erlebnisse und vieles andere, was er in Sibirien während seiner Gefangenschaft erlebt hatte, erzählen konnte.

Onkel Hans hatte sein Studium beendet und ging direkt danach als Offiziersanwärter zum Militär. Genauer gesagt, ging er zur Luftwaffe. Sicher war er als junger Mann auch irgendwie von dem damaligen NS-System, wie so viele andere auch, begeistert gewesen. Er wollte unbedingt fliegen. Das war nach Lage der Dinge nur beim Militär möglich.

Nach seiner Ausbildung zum Kampfpiloten wurde er ziemlich früh mit seiner Einheit an die Ostfront verlegt. Hier wurde er aufgrund seiner großen fliegerischen und kämpferischen Erfolge sehr schnell Stabsoffizier und Kommandeur einer Kampfeinheit. Bei einem der letzten Einsätze, über oder um Stalingrad, wurde er abgeschossen. Hans konnte seine stark qualmende „Mühle“ gerade noch hinter die deutsche Frontlinie zurückbringen, ehe er auf einem Sturzacker eine Bruchlandung hinlegte. Wie er viele Jahre später erzählte, hat er nie erfahren, wer ihn gefunden und aus dem Wrack seiner Maschine befreit hat. Als er aus der Ohnmacht erwachte, lag er in einem Notlazarett, das sich aber auf polnischem Gebiet befand. Wie er dahin gekommen war, wusste er nicht. Hier wurden seine zahlreichen Verletzungen, die Gott sei es gedankt, alle, bis auf den mehrfachen Armbruch, nicht sehr schwer waren, behandelt. In diesem Feldlazarett erhielt Major Hans Kukla auch den Marschbefehl, sich sofort nach Breslau zu begeben, um die schlesische Hauptstadt zu verteidigen.

Mein Vater hatte meine Mutter, zusammen mit seinem Freund und entfernten Verwandten Hans, in Oberschlesien auf einem Postball kennengelernt. Beide Großväter waren Postbeamte. Hans und mein Vater Gerhard hatten sich wohl beide gleichermaßen in die damals noch junge und bildhübsche Helene (Lenchen) Babatz verliebt. Mein Vater muss wohl das Rennen gemacht haben, denn er hat Lenchen geheiratet und mit ihr sechs Kinder bekommen. Zur damaligen Zeit in Schlesien nichts Besonderes. Meine Mutter war also bei Antritt der Flucht aus dem Osten hochschwanger und gebar noch während der Flucht meinen jüngsten Bruder Gerhard in Klingenthal in Sachsen. Von da an waren wir also sechs Geschwister.

Während unser Zug langsam der schlesischen Hauptstadt Breslau entgegenrollte, unterhielt sich meine Mutter weiterhin sehr angeregt, jedoch im Flüsterton.

Alle Kinder waren wohl eingeschlafen, als plötzlich eine laute Männerstimme ertönte: „Wir laufen in wenigen Minuten in Breslau ein. Der Zug wird aber etwa einen Kilometer über den Bahnhof hinaus fahren. Es besteht die Gefahr, dass auch der Breslauer Bahnhof schon unter Beschuss steht. Sobald der Zug hält, steigen alle Soldaten aus, die Zivilisten bleiben im Zug. Dieser Zug fährt sofort weiter in Richtung Westen, zunächst bis Dresden.“ Nach einer sehr kleinen Pause fügte die Stimme noch hinzu: „Heil Hitler.“

Als der Lautsprecher verstummte, hörte ich, wie Hans meiner Mutter mit gesenkter Stimme sagte: „Das Letzte hätte der Affe sich sparen können!“ Er hatte es zwar leise gesagt, jedoch nicht leise genug, denn plötzlich drehte sich ein älterer Soldat, der hinter Hans saß, um und sagte: „Herr Major, das können Sie ruhig lauter sagen, hier drinnen ist sowieso keiner mehr, der an den Führer glaubt oder gar an den Endsieg.“

Nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: „Wir haben viel zu lange die Schnauze gehalten und dafür sind Tausende von uns verreckt. Was wir jetzt tun sollen, ist genau so ein Wahnsinn: Mit bloßen Händen, mit Verwundeten, halben Kindern und Greisen sollen wir nun Breslau verteidigen!“ Und wie zur Bestätigung, hielt er seinen linken Arm hoch. An diesem fehlte die ganze Hand! Onkel Hans hatte sich zwischenzeitlich dem Soldaten zugewandt: „Um Himmels willen, Hauptfeldwebel!“, raunte er ihn an. „Auch wenn Sie Recht haben, halten Sie die Schnauze. Oder wollen Sie in den letzten Tagen von diesen unverbesserlichen Idioten noch umgebracht werden?“

Dabei zeigte er mit seinem Kopf in Richtung eines jüngeren Offiziers, der in der vorderen Hälfte des Abteils stand und seine Lauscher schon weit ausgefahren hatte.

Der Hauptfeldwebel sah den Major irgendwie dankbar an und sagte: „Danke, Herr Major. Sie haben ja Recht. Es lohnt sich nicht, jetzt noch für dieses braune Pack zu sterben, aber es tut gut zu wissen, dass man mit seiner Meinung nicht allein da steht.“

Onkel Hans nickte nur mit dem Kopf. Daraufhin war dieser sehr kurze, aber sehr interessante Gedankenaustausch beendet. Hans wandte sich wieder meiner Mutter zu: „Lenchen, ich, wir müssen gleich hier aussteigen. Ihr bleibt in dem Zug und fahrt so weit ihr irgendwie könnt nach Westen. Die Russen werden sich bestimmt von uns nicht aufhalten lassen. Wenn dieser ganze Schlamassel vorbei ist und wir ihn überleben, werden wir uns bestimmt wiedersehen.“

Während er zu meiner Mutter sprach, rollte der Zug durch den Breslauer Bahnhof. Der größte Teil des Zuges musste das Bahnhofsgebäude schon wieder verlassen haben, als plötzlich wieder dieses furchtbare pfeifende und zischende Geräusch zu hören war. Aus der Erfahrung des heutigen Morgens wusste ich, dass gleich ein ohrenbetäubender Knall folgen würde. Schutzsuchend drückte ich mich an meine große Schwester Brigitte und gleichzeitig zog ich mir die auf unseren Beinen liegende Decke über den Kopf. Doch geholfen hat es nicht. Das Explosionsgeräusch, das jetzt folgte, war so schrecklich, dass ich es für mein Leben nicht mehr vergessen sollte. Die Wucht der Explosion war so gewaltig, dass die Erde bebte. Der ganze Zug oder besser gesagt, das was von ihm übrig war, wurde hin- und hergeschaukelt. Ich hatte Angst, dass der Zug umstürzen würde. Dann war es für einen kurzen Moment still. Hans hatte meine Mutter an sich gerissen und sich mit ihr über den Kinderwagen, in dem meine kleine Schwester Rita lag, geworfen. Unsere Großmutter hatte sich, wohl um auch uns zu schützen, über uns, das heißt, über den Bollerwagen, geworfen. Dann begann ein furchtbares Durcheinander. Von draußen drangen furchtbare Schreie in unser Abteil. Kommandostimmen, Trillerpfeifen, lautes Sirenengeheul, ein Krachen und Bersten vermischte sich zu einem unbeschreiblichen Geräuschszenario. Dann fingen meine Geschwister und ich wie auf Kommando an, furchtbar zu schreien. Vergeblich versuchten Großmutter und Mutter uns zu beruhigen. Ich glaube, es war wohl Onkel Hans, der von allen Abteilinsassen als erster die Fassung wieder gewann. Er sprang auf und brüllte ins Abteil: „Alle Soldaten sofort raus hier! Verteilt euch entlang des Bahndamms, damit wir nicht alle auf einmal im Falle eines erneuten Einschlags erwischt werden.“ Dann drückte er Mutter und Großmutter an seine Brust, streichelte uns Kindern über den Kopf und wandte sich noch einmal kurz meiner Mutter zu und sagte: „Viel Glück und behüte euch Gott.“

Ich glaubte, Tränen in seinen Augen zu sehen. Dann stieg er über unseren Bollerwagen hinweg, ging in Richtung Tür und sprang hinaus. Ein paar Minuten später tauchte er noch einmal mit seinem Kopf in der Tür wieder auf und rief ins Abteil: „Lenchen, dieser Zug ist von einer schweren Bombe getroffen worden, das hintere Drittel ist komplett zerstört, es gibt viele Verletzte und Tote. Auch der Bahndamm und das Gleis sind zerstört worden, aber der vordere Teil des Zuges wird gleich weiterfahren.“ Und dann: „Macht's gut!“

Onkel Hans, den ich eigentlich an diesem Morgen das erste Mal richtig wahrgenommen hatte, verschwand irgendwo dort draußen in dem Chaos. Es vergingen Jahre, bis wir ihn wiedersehen sollten. Aber wir haben ihn wiedergesehen!

Mit einem plötzlichen Ruck setzte sich der Zug, nun ein ganzes Stück kürzer, wieder in Bewegung. Jetzt, wo alle Soldaten ausgestiegen waren, war es merkwürdig still in unserem Abteil. Das hatte zur Folge, dass ich Mutter und Großmutter weinen hören konnte, während wir Kinder uns wieder beruhigt hatten.

Haben wir an unserem ersten Fluchttag nur mehrfach großes Glück gehabt oder besaßen wir außergewöhnliche Schutzengel? Wir waren ja nicht nur bei den äußerst gefährlichen, nahen Bomben- und Granateinschlägen unverletzt und mit dem Leben davon gekommen, sondern hatten doch tatsächlich den allerletzten Zug, der Niederschlesien verlassen konnte, erwischt. Immer wieder hörte ich Mutter mit weinender Stimme fragen: „Wo ist Gerhard, was ist mit ihm nur passiert? Hoffentlich ist er noch am Leben!“ Er war noch am Leben und wir sollten ihn auch wiedersehen! Unser Zug rollte weiter gen Westen.

Wie lange unsere Flucht vor den Russen eigentlich dauerte, weiß ich nicht mehr zu sagen. Der Zug stoppte mehrmals, nur um dann wieder anzufahren und erneut stehen zu bleiben. Immer wieder schlugen in der Nähe des Zuges Bomben oder Granaten ein, ohne ihn aber noch einmal zu treffen. Noch heute spüre ich die Kälte, die in diesem Zug herrschte. Alle Augenblicke beugte sich entweder unsere Mutter oder unsere Großmutter über uns, um uns mit einer der über uns ausgebreiteten Decken einzupacken und uns so vor der grimmigen Kälte zu schützen. Einmal fiel dabei meiner Mutter eine Träne aus ihrem Auge. Diese traf mein Gesicht, und weil diese Träne so kalt war, hatte ich mich so sehr erschrocken, dass auch ich zu weinen begann.

Wenn der Zug anhielt, und das war sehr oft, ging immer ein lautes Gebrüll los, das sich wie Kommandos anhörte. Oft stand der Zug auch mehrere Stunden irgendwo auf freier Strecke. Dann hörte man die Waggontüren auf- und zuschlagen und zwar so laut, dass es mich immer mit einem furchtbaren Schrecken aus dem Schlaf riss. Jedes Mal streichelte mir dann entweder Mutter oder Oma liebevoll über den Kopf, so dass ich wieder einschlief, um mit dem nächsten Krachen wieder aufgeschreckt zu werden. Irgendwann bekamen wir alle Hunger. Meine Oma fasste unter die Matratze des Kinderwagens und holte dort irgendwo Brot hervor. Sie schnitt mit einem Brotmesser, das sie ebenfalls aus dem Kinderwagen hervorholte, ein paar Scheiben ab, teilte diese und gab jedem von uns eine halbe Scheibe. Wie lange das Brot reichte, weiß ich heute nicht mehr. Ich kann mich nur noch daran erinnern, dass wir auf der Flucht in den Westen unter ganz großem Hunger gelitten haben. Auch diese Tatsache hat mich für mein Leben geprägt. Bis zum heutigen Tage konnte und kann ich keine brauchbaren Lebensmittel wegwerfen.

Irgendwann wurde das furchterregende Grollen und Donnern, das wir vom Beginn unserer Flucht schon kannten, wieder lauter. Sofort spürte ich, wie in unserem Abteil, das sich bei den vielen Stopps längst wieder aufgefüllt hatte, Panik ausbrach. Meine Geschwister und ich fingen lauthals an zu schreien. Als dieses entsetzliche Grollen, Donnern und Pfeifen schier unerträglich schien, warfen sich Mutter und Großmutter wieder über uns Kinder, um uns mit ihren Körpern zu schützen. Diesmal lag Mutter mit ihrem Gesicht direkt über meinem Kopf und so hörte ich sie beten: „Lieber Gott, hilf uns bitte, lass uns das alles hier und später gesund überstehen und bringe uns möglichst bald in Sicherheit.“ Der liebe Gott muss Mutters Stoßgebet erhört haben, denn schlagartig hörte dieses unbeschreibliche Getöse auf. Es folgte eine beinahe beängstigende Stille. In diese Stille hinein hörte ich Mutter sagen: „Lieber Gott, ich danke dir.“ Eine Begebenheit, die für mein späteres Leben sehr wichtig war und mich prägte. So verankerte sich in mir ein unerschütterliches Gottvertrauen, das ich mir mein ganzes Leben erhalten habe. Ohne dieses hätte ich mein späteres Leben niemals so aufbauen können, wie ich es getan habe. Alle Risiken, alle Gefahren, alle Krankheiten hätte ich ohne Gottes Hilfe niemals überstanden.

Mit einem kräftigen Ruck setzte sich unser Zug wieder in Bewegung. Wie lange wir in diesem Zug verweilten, weiß ich heute nicht mehr zu sagen. Waren es Stunden, Tage oder gar Wochen? Irgendwann wurde ich wieder einmal aus dem Schlaf gerissen. Mit lauter Stimme, wenn auch krächzend und stotternd, meldete sich wieder einmal der Zuglautsprecher: „Vor uns liegt jetzt Dresden, es liegt bereits unter Beschuss. Wir haben aber noch freie Fahrt. Wir werden daher versuchen, noch durchzukommen.“

Plötzlich zuckten grelle Blitze durch die Nacht. Sofort fing ich wieder lauthals an zu heulen. Wohl deshalb nahm mich meine Oma aus dem Bollerwagen. Als ich dann auf Omas Knien saß, konnte ich aus dem Fenster schauen. Die Bilder, die ich dann zu sehen bekam, haben sich für immer in mein Gehirn eingebrannt. Soweit das Auge reichte, sah ich nur brennende Häuser. Immer wieder schien es mir, als fiele das Feuer vom Himmel. Dieses Inferno wurde von starken Explosionen unterbrochen. Alles in allem ein nicht zu beschreibendes, furchtbares Szenario. Als es endlich wieder ruhig wurde, nahm ich wahr, dass auch meine Geschwister lautstark heulten. Oma und Mutter bemühten sich, uns wieder zu beruhigen, obwohl sie selber am ganzen Körper zitterten.

Das Brot, das Oma im Kinderwagen mitgenommen hatte, war irgendwann aufgegessen. Die Versuche meiner Mutter, uns etwas Essbares zu besorgen, hatten wohl nur sehr geringen Erfolg. Als der Hunger fast unerträglich schien, stoppte der Zug wieder einmal. Ob nun das Stoppen des Zuges, das plötzlich laut einsetzende Stimmengewirr oder der plärrende Zuglautsprecher es waren, was mich aus dem Schlaf riss, ich weiß es nicht. Wahrscheinlich war es alles zusammen. Aber an das, was die Lautsprecherstimme sagte, erinnere ich mich noch sehr genau: „Wir haben soeben erfahren, dass die Strecke vor uns frei ist und nicht unter Beschuss liegt. Wir werden daher versuchen, noch heute Leipzig zu erreichen.“

Ich war ja damals noch ein ziemlich kleiner Steppke, aber dennoch glaube ich, mich daran erinnern zu können, dass in unserem Abteil so etwas wie Erleichterung aufkam, insbesondere nach der nächsten Lautsprecheransage: „Wie wir eben in Erfahrung gebracht haben, sind von Westen her die Amerikaner in Leipzig eingerückt.“

Was nun zu einer schlagartig besseren Stimmung in unserem Abteil führte, kann ich nicht sagen. War es das langsame Abebben des furchtbaren Bombardements auf unseren Zug von Breslau bis Leipzig, welches alle in unserem Abteil trotz wahnsinniger Angst und Schrecken und trotz des starken Hungers unversehrt überstanden hatten oder die Nachricht, dass die Amerikaner in Leipzig einmarschiert waren? Die Erleichterung, die durch unseren Zug ging, war für mich deutlich fühlbar.

Die Fahrt mit diesem Zug zwischen Dresden und Leipzig dauerte noch einige Stunden. Aufgrund der Tatsache, dass mich Oma wieder auf ihren Schoß genommen hatte, konnte ich wieder aus dem Fenster schauen. Immer wieder tauchten brennende Gebäude oder gar ganze Ortschaften auf, die lichterloh brannten. Auf einmal fuhr der Zug so dicht an einem brennenden Gehöft vorbei, dass der beißende Rauch in unser Abteil eindringen konnte. Dieser Rauch stank so bestialisch, dass alle Menschen in unserem Abteil anfingen, zu würgen und zu husten. Eine Bombe hatte die Stallungen getroffen, die daraufhin in Flammen aufgingen, mitsamt den darin befindlichen Tieren. Da aber die Fenster unseres Zuges durch die Bomben zum Teil zerbrochen waren, zog der Qualm recht schnell wieder ab.

Ohne weitere mit Schrecken behaftete Ereignisse erreichten wir dann Leipzig. Als der Zug zum Stehen kam, war es in unserem Abteil merkwürdig still. Niemand riss die Türen auf, niemand sprang auf den Bahnsteig und alle blieben auf ihren Plätzen.

Die Anspannung und Entbehrungen der letzten Tage (oder waren es gar Wochen?) waren so groß, dass sich keiner der Geflohenen bewegen konnte oder mochte. Aber selbst wenn sie es gemocht oder gekonnt hätten, wohin sollte man? Wohin sollten Mutter und Großmutter mit uns fünf Kindern gehen?

In dieser allgemeinen Stille hörte ich plötzlich die Stimme meiner Mutter: “Oma, Kinder, wir leben noch und sind alle unversehrt, es wird schon irgendwie weitergehen. Der liebe Gott hat uns bis hierher gebracht, er wird uns sicher auch weiter helfen.“

Dann war es wieder still. Niemand bewegte sich. Plötzlich wurden die Türen von außen aufgerissen. Eine laute Stimme ertönte, aber nicht die aus dem krächzenden Lautsprecher: „Alle Zuginsassen steigen hier aus. Der Zug endet hier.“

Die Zuginsassen schauten sich ratlos an, auch unsere Mutter und Großmutter. Aussteigen ja, aber wohin dann? Wieder war es Mutter, die zuerst ihre schnelle Handlungsfähigkeit unter Beweis stellte, indem sie sagte: „Komm, Mutter, lass uns aussteigen. Wie es die Leute gesagt haben, die werden schon wissen, warum wir hier raus sollen.“ Dann stand sie auf, schnappte nach dem Kinderwagen, in dem meine jüngere Schwester Rita saß, schob ihn in Richtung Zugtür, griff dann mit der rechten Hand nach der Deichsel des Bollerwagens, in dem wir vier Älteren saßen und zog auch diesen hinter sich her in Richtung Tür. Oma hatte sich ebenfalls von ihrem Sitz hochgerappelt und schob nun den Wagen von hinten an. So erreichten wir sogar als die Ersten die offenstehende Türe. Mutter stieg als erste Person aus dem Zug, der, wie sich später herausstellen sollte, der letzte Zug war, der aus Niederschlesien herausgekommen war. Genau genommen war es ja nur ein halber Zug. Die hintere Hälfte war in Breslau wegen des Bombentreffers stehen geblieben!

Mit vereinten Kräften hoben die beiden Frauen zunächst den Kinderwagen mit Rita auf den Bahnsteig. Dann wollten sie auf die gleiche Weise den Leiterwagen mit uns vier älteren Geschwistern aus dem Zug heben. Das Vorhaben klappte aber wegen des zu großen Gewichtes nicht. Kurz entschlossen schnappte Oma sich einen nach dem anderen von uns und reichte uns Kinder Mutter, die auf dem Bahnsteig stand, hinunter. Zuletzt wurde der Bollerwagen runter gereicht.

Als wir alle auf dem Bahnsteig standen, auf dem ein reger Personenverkehr herrschte, wurde mir plötzlich um die Beine herum und darüber sehr kalt. Der Grund dafür war, dass wir Kinder uns wohl mehrfach in die Hosen gemacht hatten. Ob aus Angst oder aus anderen Gründen, war letztlich egal. Irgendwann hatten Oma und Mutter für uns keine Windeln oder Unterwäsche mehr, um diese zu wechseln. So hatten wir tagelang in nassen Klamotten ausharren müssen. Seltsam, niemand von uns hatte das so richtig mitbekommen. Zu groß war die Angst bei den Bombardierungen des Zuges, zu groß war wohl auch die Müdigkeit, so dass keiner von uns Kindern dieses wahrgenommen hatte. Als Oma die Decken von uns Kindern nahm, um uns Mutter, die ja schon auf dem Bahnsteig stand, herunter zu reichen, fiel mir jedoch ein beißender Geruch auf, den ich vorher niemals so wahrgenommen hatte. Dieser ekelerregende Geruch hat sich so in mein Hirn gebrannt, dass ich mich bis zum heutigen Tag vor unsauberen, nach Urin stinkenden Toiletten so ekele, dass ich mich im extremsten Fall übergeben muss.

Egal ob stinkend und nass: Oma schnappte sich einen nach dem anderen und platzierte uns wieder in dem Bollerwagen. Anschließend legte sie die klammen Decken wieder über uns. Wie ein verlorener Haufen standen wir nun in Leipzig auf dem Bahnsteig. Weder Mutter noch Oma wussten, wie es weitergehen sollte. Hinzu kam nun noch, dass wir Kinder, wieder einer nach dem anderen, anfingen zu heulen. Wir hatten ja tagelang nichts Vernünftiges mehr gegessen. Kein Wunder, dass sich der Hunger nun schlagartig wieder meldete. So mussten wir wohl, wie wir da so standen, einen ziemlich Mitleid erregenden Eindruck gemacht haben. Vier vor Hunger weinende Kinder auf einem Bollerwagen, ein fünftes in einem Kinderwagen. Daneben eine ältere und eine jüngere Frau, die auch noch hochschwanger war, was nicht zu übersehen war. Alles in allem eine schlimme Situation! So sind wir dann auch zwei Soldaten aufgefallen. Soldaten, die aber so ganz anders aussahen als Onkel Hans und seine Kameraden, die uns zu Beginn unserer Flucht in Groß Wartenberg in den Zug geholfen hatten und die uns in Breslau nach dem furchtbaren Bombenschlag wieder verließen, um Breslau zu verteidigen.

Die Soldaten, die jetzt auf uns zukamen, waren sehr groß und stattlich. Einer von beiden hatte eine sehr dunkle Hautfarbe. Es war der erste dunkelhäutige Mensch, den ich in meinem jungen Leben sah. Ich nehme an, dass die Soldaten durch unser von Hunger und Angst erfülltes Heulen auf uns aufmerksam geworden waren. Sie trugen weißes Koppelzeug und weiße Gamaschen. Sie steuerten direkt auf uns zu. Bei uns angekommen, blieben sie stehen, tippten kurz mit Zeige- und Mittelfinger an ihren weißen Stahlhelm, auf dem ein großes M und ein großes P geschrieben standen. Wie ich irgendwann später erfuhr, standen diese beiden großen Buchstaben für Militär-Polizei. Der weiße Soldat musterte zunächst unsere Großmutter und unsere Mutter, während der Dunkelhäutige uns Kinder näher in Augenschein nahm. Sie schauten uns so eine ganze Weile an, dabei wanderte ihr Blick von Einem zum Anderen. Was sie da sahen, war panische Angst, Hunger und Elend, gepaart mit absoluter Ratlosigkeit. Es muss Mitleid gewesen sein, was sie zu ihrer nachfolgenden Tat veranlasste. Fast gleichzeitig fassten sie in ihre Parkataschen. Als ihre Hände wieder zum Vorschein kamen, hatten sie in jeder Hand ein paar Tafeln Schokolade. Mit den Worten, die der Dunkelhäutige sprach: „Here, Mam, it’s for you and your children“, legten sie die Schokolade auf die Decken unseres Bollerwagens. Nachdem sich bei Mutter und Großmutter die Sprachlosigkeit etwas gelegt hatte, fand Großmutter, die eine hochgebildete Frau war und sowohl die russische, polnische als auch die englische Sprache sicher beherrschte, die Sprache wieder. Sie ging mit zwei, drei schnellen Schritten um unsere „Fluchtfahrzeuge“ herum, ergriff von jedem der Soldaten eine Hand, drückte diese an sich und sagte immer wieder: „Thank you, thank you, thank you.“

Die Soldaten waren nicht auf den Gefühlsausbruch meiner Großmutter gefasst. Sie reagierten jedoch überaus freundlich, was durch ein freundliches Lächeln zum Ausdruck kam. Durch das Lachen wurden die beiden Zahnreihen des dunkelhäutigen Soldaten sichtbar. Sie leuchteten so hell, so dass sie mir wie zwei Perlenketten auf einem schwarzen Samttuch erschienen. Nach Erzählungen meiner Mutter hat mir der dunkelhäutige Soldat so gut gefallen, dass ich ihn aus vollem Herzen angestrahlt habe, woraufhin er sich zu mir herunterbeugte und mir über den Kopf streichelte. Gleichzeitig fasste er mit der linken Hand wieder in die Parkatasche, holte dort einen dicken Schokoriegel hervor und drückte mir diesen in die Hand. Obwohl ich noch sehr, sehr jung war, habe ich damals auf dem Bahnsteig in Leipzig begriffen, dass sich Freundlichkeit immer bezahlt macht und wenn es nur ein freundliches Lachen ist! Der andere Soldat hatte sich zwischenzeitlich meiner Mutter zugewandt, wohl auch, weil er gesehen hatte, dass sie hochschwanger war. Mit einem Blick auf ihren Bauch fragte er sie: „Madam, you need help. If you want I can help you.“ Blitzartig drehte sich Oma, die ja wusste, dass Mutter kein Englisch sprach, den beiden zu und antwortete für Mutter: „Yes, Sir, please help us.“ Der Amerikaner antwortete: „Yes. I will.“

Ab hier werde ich die Gespräche, die damals zwischen unserer Großmutter und den amerikanischen Soldaten geführt wurden, in deutscher Sprache wiedergeben.

Zunächst wandte er sich seinem Kameraden zu und sagte ihm etwas, was ich natürlich nicht verstehen konnte, dann drehte er sich abrupt um und lief eiligen Schrittes davon. Der zurückgebliebene dunkelhäutige Militärpolizist wandte sich noch einmal meiner Mutter zu, sah sie irgendwie mitleidig an und sagte: „Halten Sie noch ein wenig durch, dann kommt für Sie und Ihre Familie Hilfe. Bleiben Sie aber bitte hier stehen, damit George euch auch wiederfindet.“

Dann schaute er noch einmal zu uns Kindern herunter, streichelte mir erneut über die Haare, drehte sich um und verschwand in der Menge, die sich mittlerweile auf dem Bahnsteig gebildet hatte. Mutter schaute Großmutter mit großen verwunderten Augen an. Was war das jetzt? Habe ich geträumt? Holen die wirklich Hilfe? Und ist das wirklich Schokolade, die da auf den Decken des Bollerwagens liegt? Aber auch Oma konnte wohl nicht glauben, was in den letzten Minuten geschehen war. Ihr Gesicht drückte Verwunderung, Ratlosigkeit, aber auch Freude aus.

Lange hatte dieser eigenartige Schockzustand nicht angehalten, denn zu groß war der Hunger. Für meine Mutter bestand Handlungsbedarf, zumal meine ältere Schwester Brigitte, die von allen nur „Gitte“ gerufen wurde, anfing, die Tafel Schokolade, die ihr am nächsten lag, auszupacken. Mutter nahm ihr diese aus der Hand mit den Worten: „Langsam, Mädel, erstens ist die Schokolade für alle da und zweitens müssen wir diese sorgfältig einteilen, denn keiner weiß, wann wir wieder etwas Essbares bekommen werden!“ Fast andächtig begann sie nun die Schokolade auszupacken, jedes Kind bekam einen Riegel. Zum Schluss bekamen auch Oma und sie selber ein Stück. „Lenchen!“, meldete Oma sich zu Wort. „Die Kinder sind total ausgehungert, mach doch bitte noch eine Tafel auf, damit sie wenigstens wieder ein bisschen zu Kräften kommen.“ Mutter folgte willig Omas Bitte. Sie öffnete eine weitere Tafel Schokolade und verteilte sie wie die erste Tafel. Dabei sagte sie: „Die anderen beiden werden wir aber auf alle Fälle noch aufheben. Wir wissen ja nicht, wann wir wieder etwas zu essen bekommen.“

Nach einer Weile des Schweigens sagte Oma: „Was nun? Sollen wir hier wirklich stehen bleiben und auf die Soldaten warten? Kommen sie wirklich wieder, um uns zu helfen? Und wenn ja, wie?“ „Ich kann mir auch nicht vorstellen, wie uns Soldaten in unserer Situation hier helfen könnten“, hörte ich Mutter sagen. „Andererseits haben sie uns Schokolade geschenkt. Warum?“

„Weil wir ihnen leidtun. Deshalb glaube ich, dass sie wiederkommen werden, um uns weiter zu helfen. Warten wir doch noch eine Weile ab, ehe wir uns nach anderer Hilfe umsehen“, sagte Oma bestimmt. „Was sollen wir denn sonst auch machen oder sollen wir uns mal nach dem Roten Kreuz oder der Bahnhofsmission umsehen?“ Während Mama dies fragte, sah sie sich gleichzeitig hilfesuchend um. Sie konnte aber weder jemanden vom Roten Kreuz noch von der Bahnhofsmission entdecken. Mutlosigkeit machte sich langsam auf den Gesichtern meiner Mutter und unserer Großmutter breit. Hinzu kam, dass beide Frauen völlig erschöpft waren. Hatten sie doch seit Beginn der Flucht aus Groß Wartenberg nicht mehr richtig oder gar nicht geschlafen. Dann waren da ja noch die vielen Flieger- und Bombenangriffe und die damit verbundene Angst um unser Leben. Letztlich auch die Angst um unseren Vater. All das war wohl einfach zu viel für unsere Mutter, eine hochschwangeren Frau, deren Kräfte jetzt plötzlich zusammenbrachen.

Großmutter, die noch dabei war, nach dem Roten Kreuz, der Bahnhofsmission oder nach den amerikanischen Soldaten Ausschau zu halten, drehte sich blitzartig zu uns um. Sie schaute über mich hinweg und sah auf der anderen Seite des Bollerwagens unsere bewusstlose Mutter auf dem Bahnsteig liegen. Mit zwei, drei Schritten war sie bei Mutter, kniete neben ihr nieder, nahm ihren Kopf in den Arm und sagte: „Lenchen, Lenchen, was ist los, was ist mit dir?“ Gleichzeitig gab sie Mutter zwei, drei leichte Schläge auf die Wangen.

Ich hatte mich an der Seitenwand des Bollerwagens hochgezogen. So konnte ich über den Rand des Wagens das Geschehen um Mutter beobachten. Plötzlich flackerten ihre Augen und ich hörte sie sagen: „Was ist mit mir? Warum liege ich hier? Was ist mit den Kindern?“ Dann hörte ich ein leises Wimmern. Wieder hörte ich Oma fragen: „Lenchen, um Himmels willen, was ist los mit dir?“

Während sie Mutter diese Frage erneut stellte, hielt sie ihren Kopf in ihrem Arm und streichelte unserer Mutter immer wieder mit der rechten Hand über die Wange. Als ich einen Blick in Omas Augen werfen konnte, sah ich in ihnen eine Mischung aus Angst, Ratlosigkeit und blankem Entsetzen.

Oma muss es wohl schon gewusst oder zumindest geahnt haben, was einen Augenblick später zur Gewissheit wurde! Mutter schlug die Augen wieder auf, sah Großmutter mit geweiteten Augen an und sagte, für die Situation, in der sie sich befand, ganz ruhig: „Mama, ich brauche jetzt dringend Hilfe, denn ich glaube, es geht los, das Baby kommt!“ Nach einem Augenblick starren Entsetzens hörte ich Großmutter sagen: „Allmächtiger im Himmel, wenn es dich gibt, dann hilf uns jetzt bitte!“

Oma hatte diesen frommen Wunsch (oder war es ein Gebet?) kaum ausgesprochen, da hörte ich ganz in unserer Nähe eine Trillerpfeife. Die Menschenmenge, die sich in kürzester Zeit um uns herum gebildet hatte, öffnete sich plötzlich und vor uns standen die beiden Militärpolizisten, welche uns die Schokolade geschenkt hatten und Hilfe holen wollten. Sie waren tatsächlich, wie versprochen, wiedergekommen. Nicht nur das, sie hatten auch Hilfe mitgebracht. Bei ihnen waren vier weitere Soldaten. Diese hatten zwar nicht so schöne weiße Helme auf ihren Köpfen, dafür trugen sie aber alle auf dem linken Oberarm eine weiße Armbinde, auf der sich ein großes rotes Kreuz befand. Zwei von ihnen trugen eine Art Paket bei sich, das sie neben meiner Mutter zu einer Liege auseinanderklappten. Die anderen beiden fassten meiner Mutter vorsichtig unter die Arme und Beine und legten sie auf die Trage.

Ich war sicher noch zu klein, um alle Vorgänge, die sich damals um uns abspielten, zu verstehen, aber eines habe ich doch mitbekommen. Es hatte wieder jemand, diesmal war es meine Großmutter, den lieben Gott um Hilfe angerufen und prompt hatte er diese geschickt.

Bis heute kann ich mir nicht erklären, warum uns die amerikanischen Soldaten damals auf dem Leipziger Bahnhof in dieser wundervollen Art und Weise geholfen haben. Diese Hilfe war aber noch nicht zu Ende. Sie wurde, Gott sei es gedankt, noch eine ganze Weile fortgeführt.

Zwei der Soldaten hoben die Trage, auf der unsere Mutter lag, an und setzten sich in Richtung Bahnhofsausgang in Bewegung. Ein anderer legte einen Arm um meine Großmutter, um sie zu stützen. Mit dem weiteren Soldaten half er ihr, den Kinderwagen zu schieben, in dem meine jüngere Schwester Rita saß. Zwei weitere schnappten sich die Deichsel unseres Bollerwagens und los ging's.

Als ich viel später selber Soldat war, habe ich mir oft vorgestellt, wie unsere Karawane wohl ausgesehen hat. Kaum vorstellbar!

Mit schnellen Schritten ging es nun in Richtung Bahnhofsausgang. Der dunkelhäutige, freundliche Soldat ging vorne weg. Er sorgte mit freundlicher und bestimmender Stimme dafür, dass unser kleiner, seltsamer Zug überall problemlos durchkam. Willig und diszipliniert gingen die Menschen auseinander und ließen uns durch, so als ob sie wussten, in welcher Notlage wir, aber besonders unsere Mutter, sich befand.

So erreichten wir dann sehr schnell den Bahnhofsausgang. Vor dem Bahnhof herrschte ein dichtes Menschengedränge. Direkt vor dem Portal standen zwei große Militär-Mannschaftswagen, auf deren jeweiligen Seiten ein großes rotes Kreuz auf weißem Grund unübersehbar angebracht war. Unser kleiner, von dem dunkelhäutigen Soldaten angeführte Zug steuerte direkt auf das erste der beiden Fahrzeuge zu. Als wir uns diesem bis auf wenige Schritte genähert hatten, sprangen aus dem Führerhaus zwei weitere Soldaten, gingen um ihr Fahrzeug herum und klappten die Ladeklappe herunter. Einer von ihnen sprang auf die Ladefläche. In der Zwischenzeit waren wir an dem Fahrzeug angekommen. Der dunkelhäutige Soldat, der offensichtlich der Vorgesetzte der Gruppe war, drehte sich um und gab einige Anweisungen. Innerhalb weniger Minuten waren wir alle auf dem Sanitätskraftwagen.

Direkt hinter dem Fahrerhaus stand der Kinderwagen mit meiner kleinen Schwester Rita. Daneben standen wir, das heißt, meine ältere Schwester Brigitte, meine beiden Zwillingsbrüder Hans und Heinrich und ich. Meine Großmutter setzte sich neben Rita und hielt mit beiden Händen den Kinderwagen fest. Unserer Oma gegenüber, also neben den Bollerwagen, setzten sich zwei Soldaten, die unseren Bollerwagen festhielten. Hinter uns auf der Ladefläche wurde Mama von den beiden Sanitätssoldaten auf ihrer Trage liegend abgestellt.

Als Letzter sprang der dunkelhäutige Corporal auf die Ladefläche, kniete sich neben Mutter nieder, strich ihr mit der Hand über den Kopf und sagte, natürlich auf Englisch: „Mam, halten Sie noch etwas durch. Wir bringen Sie jetzt in ein Hospital, dort bekommen Sie die Hilfe, die Sie jetzt in Ihrer Situation dringend benötigen. Ihre Familie bringen wir ebenfalls an einen sicheren Ort. Das Rote Kreuz ist bereits verständigt, es wird sich um Sie kümmern. Es steht unter unserem Kommando und wird durch unsere Sanitätssoldaten und unsere Ärzte verstärkt. Also, machen Sie sich keine Sorgen. Alles wird gut.“

Mutter, die immer noch leise stöhnte, was ich jetzt erst wieder wahrnahm, ergriff nun die Hand des Soldaten, drückt diese mit beiden Händen gegen ihre Wange und sagte immer wieder „Danke, danke, danke!“ Der Soldat antwortete nur: „Ist schon in Ordnung, Mam.“ Dann setzte er sich zu seinen Kameraden auf die Bank.

Unser Fahrzeug setzte sich in Bewegung. Wohl wegen der totalen Erschöpfung, aber auch wegen des jetzt einsetzenden Schaukelns unseres Fahrzeuges, fiel ich, wie auch meine Geschwister, in einen tiefen Schlaf. Bevor ich aber einschlief, hörte ich Großmutter zu dem Corporal sagen: „Der liebe Gott möge Ihnen das alles vergelten, was Sie für uns getan haben.“

Wie lange ich nun geschlafen habe oder wie lange wir auf dem „Sanka“ (Sanitäts-Lastkraftwagen) zugebracht haben, kann ich beim besten Willen nicht mehr sagen. Von Großmutter habe ich später einmal erfahren, dass wir wohl noch mehrere Stunden auf dem Laster zugebracht haben. Allerdings sagte sie, hätte es auch mehrere Stopps gegeben. Einmal hätte ein amerikanischer Arzt nach Mutter gesehen. Die Wehen hatten wohl wieder nachgelassen, so dass er entschied, dass wir bis nach Klingenthal in Sachsen weiterfahren sollten. Dort sollte es noch ein intaktes Krankenhaus mit einer Entbindungsstation geben.

Einmal stoppte unser Fahrzeug, die Ladeklappe wurde heruntergelassen und ein Soldat stellte einen kleinen Kübel mit heißer Schokolade nebst Becher auf die Ladefläche. Einer der Soldaten zog diese zu sich, ergriff die im Kübel hängende Kelle und befüllte einen Becher nach dem anderen mit der heißen Schokolade und gab, angefangen mit Rita, jedem von uns einen Becher Schokolade. Der Corporal kniete sich wieder neben meiner Mutter nieder, hob ihren Kopf etwas an und flößte ihr so die Schokolade ein. Nie mehr werde ich den wundervollen Geschmack von heißer Schokolade vergessen! Den Corporal hörte ich noch sagen: „In einer halben Stunde sind wir da, dann kann Ihr Baby kommen!“

An die nächsten Stunden kann ich mich nicht mehr genau erinnern. Allerdings ist mir noch ein Halt in Erinnerung geblieben. Es war der, bei dem unsere Mutter von zwei Sanitätern aus unserem „Sanka“ geholt wurde. Der dunkelhäutige Soldat verabschiedete sich von unserer Mutter mit den Worten: „Ich wünsche Ihnen und Ihrem Baby das Allerbeste.“

Wir Kinder waren bei diesem Stopp wach geworden. Da wir nicht wussten, was mit unserer Mutter geschah und wohin man sie brachte, fingen wir alle wie auf Kommando an zu heulen. Großmutter schaffte es aber irgendwie, uns wieder zu beruhigen. Zu Oma gewandt sagte der Corporal noch: „Merken Sie sich bitte den Namen des Krankenhauses. Es ist das Elisabeth-Stift. Über das Rote Kreuz werden Sie Kontakt mit Ihrer Tochter halten.“

Dann sah er noch einmal jeden von uns kurz an und wandte sich dann meiner Großmutter zu: „Ich muss hier aussteigen, weil ich hier gebraucht werde. Mam, ich wünsche Ihnen, Ihrer Tochter und den Enkelkindern viel Glück und ich hoffe, ich konnte Ihnen mit meinen Jungs helfen.“ Dann drehte er sich um und sprang mit einem Satz von unserem Fahrzeug. Das Letzte, was ich von ihm sah, war sein weißer Helm. Großmutter wollte ihm noch einmal danken, aber es war zu spät. Er war schon weg.

Wir hatten damals gar nicht mitbekommen, dass ein Rotkreuzhelfer in das Fahrerhaus zugestiegen war, der uns zu einer Adresse brachte. Diese Adresse sollte für die nächsten Monate unsere vorläufige Bleibe werden. Sie lautete: Klingenthal in Sachsen, Auf der Hut 14. Hier in Klingenthal kam dann auch mein jüngster Bruder Gerhard zur Welt. Die amerikanischen Soldaten brachten uns mit ihrem Fahrzeug zu dieser Adresse, halfen Oma und uns Kindern noch vom Fahrzeug und brachten uns auf Weisung des Rotkreuzhelfers in unsere neue Unterkunft. Danach verabschiedeten sie sich und wir waren allein.

Diese Erlebnisse und Eindrücke, die mit der Flucht aus Schlesien zusammenhängen, haben mich für mein ganzes Leben geprägt haben. Das unerschütterliche Gottvertrauen meiner Mutter und Großmutter und die unglaubliche Hilfsbereitschaft der US-Soldaten haben sich damals für immer in meine Seele gebrannt. Ohne diese Ereignisse und Erlebnisse auf unserer Flucht wäre ich wahrscheinlich ein ganz anderer Mensch geworden!

Die Flucht aus dem Osten ging noch weiter, jedoch hatten wir mit dem Erreichen Klingenthals den gefährlichsten Teil hinter uns gebracht.

Unsere neue Bleibe bestand aus einem großen Raum, in dem sich ein großer Holztisch mit sechs Stühlen befand. An der einen Wand standen zwei Schränke und an der gegenüberliegenden Wand vier Betten, auf welchen jeweils eine Matratze und eine Decke lagen. Aus zwei großen Fenstern konnte man über die ganze Stadt Klingenthal sehen. Demnach stand das Haus, in dem wir uns befanden, auf einer Anhöhe. Das Haus selbst war wohl mal ein ehemaliges Wohnhaus gewesen, das aber von den Eigentümern, bevor wir es als Notunterkunft benutzten, als Lagerhaus genutzt wurde. Von diesem Wohnraum gelangte man über einen kleinen Flur in eine Toilette. In der Toilette befanden sich ein Waschbecken, ein Toilettenbecken und eine Badewanne. Vor der Wanne stand ein großer Wasserboiler, der mit Holz beheizt werden musste. Das Schönste aber war, dass vor beiden Öfen, im Zimmer wie auch im Bad, ein großer Haufen Feuerholz lag, ja sogar an Streichhölzer hatte jemand gedacht.

Oma nahm nun einen nach dem anderen von uns Kindern aus dem Bollerwagen bzw. aus dem Kinderwagen und setzte uns auf die Betten. Die Zudecken legte sie über die Stühle. Im ganzen Wohnraum machte sich dieser unangenehme Uringeruch breit. Von uns Kindern war doch in den letzten Tagen keiner mehr auf einer Toilette gewesen. Deshalb dieser bestialische Gestank! Oma deckte uns dann mit den bereitliegenden Decken zu, woraufhin wir sofort vor Erschöpfung einschliefen. Brigitte hörte ich noch sagen: „Ich habe Hunger.“

Ohne auch nur einen Augenblick zu zaudern, machte sich Oma dann daran, das Feuer im Badezimmer unter dem Boiler anzumachen, was ihr auch ohne Probleme gelang. Dann zündete sie das Feuer im Ofen unseres großen Wohnraumes an. Nach wenigen Minuten wurde es in unserem Wohnraum warm. Oma nahm die Stühle mit den zwei Bettdecken, die uns Kindern auf der gesamten Flucht als Zudecke gedient hatten und schob diese dicht vor den Ofen zum Trocknen. Dann ließ sie sich auf einen der Stühle fallen, legte ihren Kopf auf die Arme und schlief augenblicklich ein.

Wie lange wir so in völliger Erschöpfung zugebracht haben, wusste später keiner mehr. Es müssen aber mehrere Stunden gewesen sein, denn als wir durch ein lautes Klopfen aus dem Schlaf gerissen wurden, war es draußen bereits stockdunkel. Großmutter muss das Klopfen wohl zuerst gehört haben, denn als ich wach wurde, war sie schon unterwegs zur Eingangstür. Ich sah, wie sie diese öffnete. Herein kamen zwei Frauen. Die Eine war wohl so alt wie meine Großmutter, die Andere etwa so alt wie unsere Mutter. Beide machten, soweit ich das damals beurteilen konnte, einen sehr gepflegten Eindruck.

Wie sich später herausstellen sollte, handelte es sich tatsächlich um Mutter und Tochter. Höflich fragten sie, ob sie hereinkommen dürften. Oma gab die Tür frei und bat die beiden Damen Platz zunehmen, in dem sie auf die Stühle am Tisch wies. Die jüngere der beiden hatte eine große Milchkanne in der Hand, die sie mit den folgenden Worten übergab: „Hier haben wir Ihnen und den Kindern etwas Warmes zum Essen mitgebracht. Sie haben ja wohl schon längere Zeit nichts Richtiges mehr zu essen bekommen. Es ist eine Hühnersuppe mit Reis. Wir konnten in der Kürze der Zeit nichts anderes mehr kochen. Morgen bringen wir Ihnen und den Kindern mehr.“

Die ältere der beiden rollte dann ein großes Handtuch auf dem Tisch aus. In der Mitte des Handtuchs lagen fünf Löffel. Dann stand sie auf und ging zu einem der beiden Fenster und öffnete dieses ganz weit. Oma sagte: „Entschuldigen Sie bitte den Gestank hier drinnen. Aber wir hatten in den letzten Tagen nirgendwo eine Gelegenheit, die Kinder auf die Toilette zu bringen. Entsprechend riecht es nun auch. Im Grunde genommen sind wir gerade noch der Hölle entronnen. Erst die Flucht aus Groß Wartenberg, das schon unter Granat- und Bombenbeschuss stand, dann der gewaltige Bombeneinschlag auf dem Breslauer Bahnhof, der unseren Zug in zwei Teile riss, mit den vielen Toten. Als wenn das nicht schon genug war, was wir zu ertragen hatten, mussten wir auch noch den großen Bombenangriff auf Dresden miterleben. Es war die Hölle! Glück hatten wir dann auf dem Leipziger Bahnhof, wo uns amerikanische Soldaten aufgriffen und uns unglaublich geholfen haben. Mit Hilfe des Roten Kreuzes brachten sie uns hierher. Und nun treffen wir hier auf Sie, die uns auch noch etwas zu essen mitbringen. Herzlichen Dank dafür. Wenn ich nun noch wüsste, wie es meiner Tochter geht, die wir auf dem Weg hierher mit Hilfe des Roten Kreuzes und der US-Soldaten in ein „Elisabeth-Stift“ eingeliefert haben, wäre ich beruhigt. Bei Beginn der Flucht war sie schon im neunten Monat schwanger. In Leipzig auf dem Bahnsteig ging es dann los. Sie hat aber dann noch bis hierher durchgehalten.“ Nach einer

kurzen Pause sagte sie dann noch: „Von meinem Schwiegersohn haben wir auch schon lange nichts mehr gehört, hoffentlich lebt er noch.“

Nach einer weiteren Pause sagte sie: „Nun habe ich Ihnen im Grunde genommen alles erzählt, was uns in der letzten Zeit so passiert ist und Sie haben geduldig zugehört. Aber nun möchte ich doch von Ihnen wissen, wer Sie sind und warum Sie uns helfen?“ Letzteres sagte sie mit einem Blick auf die Milchkanne. „Im Übrigen, ich vergaß, mich vorzustellen. Mein Name ist Clara Babatz und das hier sind meine Enkelkinder Brigitte, Hans, Heinrich, Paul und Rita. Ihr Familienname ist Gojny.“ Letzteres sagte sie, indem sie gleichzeitig mit der rechten Hand auf jeden von uns zeigte. Wir waren jedoch längst wieder eingeschlafen.

Die ältere der beiden Damen sah Oma lange in die Augen. Dann sagte sie mit ruhiger, aber irgendwie sympathischer Stimme: „Mein Gott, was haben Sie und Ihre Familie in den letzten Tagen alles durchmachen müssen. Aber nun sind Sie erst einmal hier und wir, das heißt, meine Tochter und ich, heißen Sie herzlich willkommen. Wir werden Ihnen, soweit wir es können, auch weiterhin helfen. Aber zunächst einmal essen Sie die Hühnersuppe und dann baden Sie die Kinder. Meine Tochter und ich gehen schnell noch einmal nach Haus. Wir wohnen nur ein paar Häuser weiter. Auf unserem Boden finden wir sicher für Ihre Kinder und auch für Sie etwas Frisches zum Anziehen. Wir haben selber ein paar Enkelkinder, die mittlerweile aus den Sachen herausgewachsen sind.“

Sie drehte sich um und ging auf die Tür zu. Aber nach zwei, drei Schritten blieb sie stehen, drehte sich noch einmal zu Oma um und sagte: „Ach ja, ich wollte Ihnen ja noch erzählen, wie wir von Ihnen erfuhren und wie wir Ihre Ankunft hier vorbereitet haben und vor allem, wer wir sind. Also, heute Morgen kam jemand vom Roten Kreuz zu uns und fragte, ob wir eine Familie mit mehreren Kindern aufnehmen können. Wie viele und über die Zusammensetzung der Familie konnte man uns aber nichts sagen. Da wir unser, also dieses Haus, unser früheres Gästehaus frei stehen hatten, sagten wir sofort zu. Anderenfalls hätte man uns ja sowieso jemanden zwangsweise zugewiesen. Wie dem auch sei, wir sind dann heute Morgen hier rübergegangen und haben alles, so wie Sie es jetzt vorgefunden haben, zurechtgerückt und selber sauber gemacht. Reinigungspersonal haben wir schon lange nicht mehr. Eine Luxuswohnung ist das zwar nicht, aber zunächst haben Sie ein Dach über dem Kopf und können schlafen. Alles Weitere wird sich finden. Im Übrigen, mein Name ist Else Meindl und das ist mein Tochter Elfriede Laubig. Ihr Mann ist vor nunmehr zehn Monaten an die Ostfront abkommandiert worden. Nach etwa vier Wochen erreichte meine Tochter noch ein Feldpostbrief, danach haben wir nichts mehr von ihm gehört. Ob er noch lebt, wissen wir nicht. Übrigens, hatten Sie nicht vorhin gesagt, dass Ihre Tochter in das hiesige Elisabeth-Stift zur Entbindung eingeliefert worden ist?“

„Ja, so heißt das Krankenhaus, in das meine Tochter mit starken Wehen eingeliefert worden ist. Das muss etwa vor sechs Stunden gewesen sein, bevor uns das Rote Kreuz und die amerikanischen Soldaten hier abgesetzt haben. Seitdem habe ich von meiner Tochter nichts mehr gehört“, antwortete Großmutter.

„Wenn Sie mir den Namen Ihrer Tochter sagen würden, werde ich mich nach ihr erkundigen“, bot sie an. Dann fügte sie hinzu: „Es ist nämlich so, dass ich noch einen Schwiegersohn habe, der auch Arzt ist. Er arbeitet im Elisabeth-Stift.“ Großmutter antwortete: „Meine Tochter heißt Helene Gojny.“ Ehe nun Frau Meindl mit ihrer Tochter das Zimmer verließ, fragte sie noch: „Vor der Tür steht ein Bollerwagen. Dürfen wir den mitnehmen, um Ihnen die versprochenen Sachen zu holen?“ „Ja, natürlich, ich nehme nur schnell die nasse stinkige Matratze da heraus“, kündigte Großmutter an. Oma ging zur Tür, öffnete diese und ging gemeinsam mit den beiden Damen vor die Tür. Einen Augenblick später kam sie wieder herein. Unter ihrem rechten Arm trug sie ein Päckchen. Der Inhalt des Päckchens war in ein Handtuch eingewickelt und mit einer dünnen Schnur zugebunden. Sie legte es mit den Worten ab: „Das habe ich denen nicht dagelassen, das nicht.“ Dann nahm sie das Päckchen wieder in die Hand, sah sich kurz um, ging auf eines der Betten zu, nahm die Matratze hoch und stopfte es darunter.

Viel später habe ich erfahren, dass in diesem Päckchen ein altes silbernes, sehr wertvolles Essbesteck versteckt war, welches Oma doch tatsächlich unter der Matratze, auf der wir Kinder während der ganzen Flucht aus Niederschlesien gelegen hatten, versteckt hatte.

Als die beiden Frauen gegangen waren, ging Oma ins Bad. Dort stellte sie fest, dass das Badewasser im Boiler warm genug geworden war. Sie legte dann noch ein Stück Holz nach und begann, uns, einen nach dem anderen, zu baden. Sie begann mit Rita. Dann war ich dran. Nach dem Bad wurden wir in Ermangelung eines Schlafanzuges splitternackt in eine der bereitliegenden Decken gewickelt und zu zweit in eines der Betten gelegt. Ich kam zu Rita. Als mich Oma zu ihr ins Bett legte, schlief Rita schon tief und fest. Auch ich muss sofort eingeschlafen sein, denn ich habe überhaupt nicht mehr mitbekommen, wie Oma meine älteren Geschwister ins Bad holte oder sich selber in die Badewanne gelegt hatte.

Wie lange wir am nächsten Morgen geschlafen haben, weiß ich nicht. War es doch die erste Nacht, in der wir mit einem warmen Essen im Bauch und frisch gebadet in einem warmen Zimmer schlafen konnten. Für unsere damalige Situation ein unglaubliches Glück und eine komfortable Situation. Das war wohl auch der Grund, weshalb wir an diesem Tag sehr lange geschlafen haben.

Wir wurden durch ein lautes Klopfen an der Tür geweckt. Oma sprang sofort aus ihrem Bett und ging zur Tür. Nach zwei Schritten bemerkte sie, dass sie nackt war, machte eine Kehrtwendung und ging auf den Ofen zu, um den sie alle Stühle gestellt hatte. Auf diese hatte sie unsere frisch gewaschenen Klamotten, die wir am Leib getragen hatten, zum Trocknen gelegt. Diese muss sie wohl noch in der Nacht in der Badewanne alle durchgewaschen haben.

Schnell schlüpfte sie in ihre bereits getrocknete Unterwäsche, dann stülpte sie ihr Kleid über den Kopf, fuhr sich mit beiden Händen noch schnell einige Male durch die Haare und ging zu Tür. Ehe sie den Schlüssel zum Öffnen drehte, rief sie: „Wer ist da?“ Sofort kam die Antwort: „Wir sind‘s, Frau Meindl mit Tochter.“ Oma drehte den Schlüssel herum und öffnete die Tür. Im nächsten Moment standen die beiden Frauen von gestern in unserem Schlaf-Wohnraum. Beide trugen auf ihren Armen, bis unters Kinn, einen Stapel mit Kleidungsstücken. Diesen legten sie auf dem Tisch ab. Dann gingen sie noch einmal hinaus. Einen Moment später kamen sie wieder herein, genauso bepackt wie beim ersten Mal. Aber sie gingen noch einmal hinaus. Nun kam die jüngere der beiden zuerst wieder herein. Beinahe fröhlich sagte sie: „Kinder, wir haben euch wieder etwas zu essen mitgebracht. Hoffentlich mögt ihr Haferschleimsuppe?“ Dann stellte sie die Milchkanne auf den warmen Ofen.

Einen Moment später kam auch Frau Meindl wieder herein. Auch dieses Mal hatte sie wieder einen Stapel Textilien auf dem Arm. Mit diesem ging sie direkt auf Oma zu und sagte: „Hier, das ist für Sie. Da wir in etwa die gleiche Figur und Größe haben, müssten Ihnen die Sachen auch passen. Es ist alles gebrauchtes Zeug, das ich aufgehoben habe. Und da ich sowieso nichts wegwerfen kann, und das gilt nicht nur für meine Sachen, sondern eigentlich für alles, bin ich froh, Ihnen mit diesen alten, aber noch guten Sachen helfen zu können. Draußen haben wir auch noch einige Gebrauchsgegenstände, die wir Ihnen noch reinholen werden.“

Sich meiner Oma direkt zuwendend, sagte sie: „Bitte helfen Sie uns, die Sachen, welche noch draußen im Wagen sind, hereinzuholen. Dann sollten wir die Kinder anziehen und ihnen was zu essen geben. Wenn alle satt sind, können wir zu mir gehen, um zu sehen, was mit Ihrer Tochter ist und ob das Baby schon da ist. Seit heute Morgen funktioniert mein Telefon wieder. Ich habe gleich in Erfahrung bringen können, dass Ihre Tochter tatsächlich im Elisabeth-Stift liegt und dass es ihr unter den gegebenen Umständen gut geht. Aber während ich mit dem Krankenhaus telefonierte, wurde die Verbindung plötzlich unterbrochen. So kann ich Ihnen leider nicht sagen, was mit dem Baby ist. Mein Schwiegersohn will sich aber, sobald er mit den Operationen fertig ist, persönlich um Ihre Tochter kümmern. Er hat es mir fest versprochen! Kommen Sie, wir holen jetzt die anderen Sachen rein.“

Oma ging mit Frau Meindl vor die Tür. Kurze Zeit später kamen sie mit einem großen Karton wieder herein. Sie stellten den Karton auf den Fußboden. Dann begann Frau Meindl, den Karton auszupacken. Hervor kam so ziemlich alles, was man in einem Haushalt braucht. Von Kochtöpfen über Geschirr bis hin zu Klopapier. Die jüngere der beiden Frauen wickelte Rita aus ihrer Decke. Sie redete beruhigend auf sie ein, suchte dann aus dem Stapel ein paar passende Sachen heraus und zog ihr diese an. Wir älteren wurden von Oma aufgefordert, auch aufzustehen und uns anzuziehen. Dabei halfen uns Oma wie auch die beiden Frauen, die mir gar nicht mehr so fremd vorkamen. Als für alle die passenden Sachen gefunden waren, zogen wir uns selber an. Dann forderte uns Oma auf, am Tisch Platz zu nehmen. Vorher hatte sie die übrig gebliebenen Sachen vom Tisch genommen und auf eines der Betten gelegt.

Die jüngere der beiden Frauen, also Frau Laubig, nahm nun die Tassen, aus denen wir gestern die Hühnersuppe gegessen hatten, vom Tisch, stellte sie auf den Ofen neben die Milchkanne und füllte diese mit einer mitgebrachten Suppenkelle mit der Haferschleimsuppe. Als alle Tassen gefüllt waren, gab sie jedem von uns eine Tasse. Wir Kinder tranken die Suppe direkt aus der Tasse. Oma suchte sich einen Löffel aus dem Karton und löffelte diese. Die beiden Damen hatten sich derweilen auf eines der Betten gesetzt und schauten uns schweigend zu.

Oma saß den beiden direkt gegenüber und ihr Blick wanderte von einer zur anderen. Es war still im Raum geworden. Ab und zu hörte man ein schmatzendes Geräusch, das von einem von uns Kindern kam und nebenbei knisterte das Holz im Ofen. Diesen hatte Oma wohl schon am Morgen angeheizt. Die Atmosphäre war als durchaus gemütlich zu bezeichnen, zu welcher die Wärme des Ofens erheblich beitrug.

In diese Stille hinein hörte ich Oma fragen: „Liebe Frau Meindl, liebe Frau Laubig, warum tun Sie das alles für uns? Sie haben selber die allergrößten Sorgen um Ihren Mann und Schwiegersohn, wissen nicht, ob dieser noch lebt. Möglicherweise haben Sie noch viel mehr Kummer und Sorgen. Ich wünschte, ich könnte nur einen Teil davon wieder gutmachen. Da das aber sehr unwahrscheinlich ist, bitte ich den lieben Gott, er möge Ihnen das alles vergelten. Vor allem möge er Ihnen, liebe Frau Laubig, Ihren Mann recht bald gesund wiederbringen.“

„Schon gut, schon gut“, sagte Frau Meindl. „Wir haben uns gestern nur einen Moment in Ihre Lage versetzt. Da wussten wir, was wir zu tun hatten. Eine Großmutter mit fünf kleinen Kindern, die zusammen mit ihrer hochschwangeren Tochter auf der Flucht vor den Russen durch die Hölle gegangen ist. Da braucht man nicht viel Fantasie, um zu wissen, dass da Hilfe von Nöten ist. Außerdem lenkt uns beide das ein wenig von unseren eigenen Sorgen ab. Aber nun genug davon. Jetzt müssen wir uns dringend um Ihre Tochter und den eventuellen Nachwuchs kümmern. Ich schlage vor, dass meine Tochter hier bleibt und auf ihre Enkelkinder aufpasst.“ Sie überlegte kurz und fuhr dann fort: „Sie und ich gehen derweil zu uns rüber und versuchen zunächst über das Telefon zu erfahren, wie es Ihrer Tochter geht und ob das Baby schon da ist. Auf alle Fälle werden wir dann, so oder so, ins Krankenhaus gehen, um nach ihr zu sehen. Sollte es irgendwelche Probleme geben, wird uns mein Schwiegersohn sicher weiterhelfen. Da fällt mir gerade ein, Ihre Tochter hat ja nichts für das Baby zum Anziehen. Deshalb müssen wir noch schnell ein paar Babysachen von meinem Boden holen. Sicher finden wir da von meinen drei Enkelkindern noch genügend, um den neuen Erdenbürger einzukleiden. Kommen Sie, wir müssen jetzt gehen.“

Oma stand auf und wandte sich uns Kindern zu: „Bitte seid artig und gehorcht Frau Laubig. Ihr seid hier in Sicherheit. Ich muss mich nun um eure Mama kümmern. Hoffentlich ist mit ihr alles in Ordnung!“ Danach verließen die beiden alten Damen das Haus.

Es war so gegen Mittag und es sollte Abend werden, bevor sie wiederkamen. In der Zwischenzeit beschäftigte uns Frau Laubig. Soweit ich das noch in Erinnerung habe, tat sie das mit sehr viel Einfühlungsvermögen. Beginnend mit meiner Schwester Brigitte, wandte sie sich jedem einzelnen von uns zu, indem sie uns nach unseren Namen fragte. Wie alt wir sind? Was für Spiele wir am liebsten hätten? Ihr kam es wohl darauf an, das Eis zwischen uns und ihr zu brechen, was ihr hervorragend gelang. Dann las sie aus einem mitgebrachten Märchenbuch vor, wobei ich einschlief. Ich wurde erst wieder wach, als es in unserem Raum wieder lauter wurde.

Als ich die Augen wieder öffnete, kamen Oma und Frau Meindl gerade durch die Tür. Irgendwie hatte ich sofort das Gefühl, dass mit Mama alles gut gegangen war. Auch wenn Oma sehr müde aussah, leuchteten ihre Augen. Für mich ein untrügliches Zeichen, dass es Mama gut ging. Und tatsächlich, als beide Frauen Platz genommen hatten, ergriff Oma als erste das Wort: „Kinder, eurer Mama geht es gut! Sie hat euch heute Morgen so gegen acht Uhr ein Brüderchen geboren. Beiden geht es den äußerst schwierigen Umständen entsprechend gut. Ich soll euch alle von eurer Mama ganz liebe Grüße ausrichten. In ein paar Tagen ist sie mit dem Baby wieder bei uns. Die liebe Frau Meindl hat für das Baby viele schöne Sachen gefunden und eurer Mama mitgenommen, unter anderem zwei schöne und warme Nachthemden. Natürlich hatte sie sich seit unserer gestrigen Trennung große Sorgen um uns gemacht. Umso glücklicher ist sie, zu wissen, dass wir hier bei Frau Meindl so gut untergekommen sind und dass die beiden Damen uns so unglaublich helfen.“ Plötzlich stand sie auf, ging um den Tisch, nahm die Hand von Frau Laubig und drückte diese ganz fest und sehr lange. Danach ging sie auf Frau Meindl zu, die von ihrem Stuhl aufgestanden war, nahm sie spontan in die Arme und drückte diese ganz fest an ihre Brust. Weinend sagte sie immer wieder: „Danke, danke, danke. Was wäre wohl ohne Ihre Hilfe und Zuneigung aus uns geworden?“

Sanft löste sich Frau Meindl von meiner Großmutter, hob dann ihre beiden Hände abwehrend hoch und sagte: „Lassen Sie es gut sein. Außerdem haben wir morgen noch einiges zu tun, um Sie wirklich über Wasser zu halten. Vor allem müssen wir uns morgen um Ihre Verpflegung kümmern. Ich habe gehört, im Gemeindeamt soll es Lebensmittelmarken geben. Darum müssen wir uns kümmern. Für heute reicht hoffentlich noch der Rest der Hühnersuppe von gestern und die vom Morgen.“ Zu ihrer Tochter gewandt, sagte sie: „Komm, wir gehen jetzt nach Hause, ich muss mich nun etwas ausruhen. Der Tag war doch anstrengender, als ich dachte und morgen werden wir es auch nicht einfach haben.“ Dann hakte sie sich bei ihrer Tochter ein und mit einem freundlichen „Gute Nacht. Wir sehen uns morgen!“ gingen die beiden Damen nach Hause.

Oma machte sich sofort daran, die Reste der Suppen zu verteilen. Als sie damit fertig war und wir alle gesättigt waren, spülte sie die Tassen ab. Dann setzte sie sich an den Tisch. Mehr zu sich selbst, hörte ich sie sagen: „Lieber Gott, ich danke dir, dass du uns geholfen hast, diese furchtbaren Tage der Flucht unbeschadet zu überstehen. Ich danke dir auch, dass du Lenchen geholfen hast, in dieser Lage ein gesundes Kind zur Welt zu bringen. Bitte hilf auch Gerhard, dass er wieder gesund zu uns zurückkommt.“ Nach einer kleinen Pause fügte sie hinzu: „Der weiß ja nicht einmal, wo wir abgeblieben sind und wo er uns suchen soll. Der liebe Gott wird ihm aber sicher helfen.“

Nach einer weiteren kleinen Pause wandte sie sich wieder uns Kindern zu: „Kinder, hört mir mal einen Moment zu!“ Sofort hörten die drei älteren Geschwister auf zu zanken. Diese hatten wegen eines von Frau Meindl mitgebrachten, völlig abgegriffenem Teddybären angefangen zu streiten. Es war das einzige Spielzeug, das wir zur Verfügung hatten und das wollten eben alle haben.

„Also, hört mal zu! Ihr habt eben mitbekommen, dass Mama euch heute Morgen noch ein kleines Brüderchen geschenkt hat. Sie lässt euch fragen, wie das Brüderchen heißen soll“, teilte Großmutter uns mit. Oma sah von einem zum anderen. Aber keiner von uns gab ihr eine Antwort.

„Was haltet ihr davon, wenn wir es auf den Namen eures Vaters taufen? Denn wenn euer Papa nicht wieder aus diesem unseligen Krieg heimkommt, dann haben wir wenigstens seinen Namen bei uns in der Familie erhalten“, schlug sie vor. Alle von uns waren sofort damit einverstanden.

Nach einer Weile hörte ich Brigitte fragen: „Omi, Papa kommt doch wieder?“

„Aber natürlich kommt euer Papa wieder. Der liebe Gott wird ihm sicher helfen, wie er auch uns geholfen hat, hierher zu kommen“, beruhigte sie meine Schwester.

Also stand fest, unser neues Geschwisterchen würde Gerhard heißen!

Nun mussten wir uns für die kommende Nacht fertig machen. Ehe Oma das Licht ausmachte, natürlich war es eine Petroleumlampe, sagte sie noch: „Betet zum lieben Gott, dass er uns und eurer Mama auch weiterhin hilft und dass euer Papa bald wiederkommt. Gute Nacht, Kinder. Schlaft gut.“

Nach einer ruhigen Nacht wurde ich erst wach, als Oma mich mit den Worten weckte: „Paulusch, auch du musst jetzt aufstehen. Wir wollen alle zusammen Mama und das kleine Brüderchen besuchen. Also, marsch ins Bad. Gleich werden auch Frau Meindl und Frau Laubig kommen und dann müssen wir alle angezogen sein. Wenn wir Glück haben, bringen sie wieder etwas für uns zum Essen mit. Die Suppen sind nun aber wirklich alle.“

Meine Geschwister waren alle schon angezogen und gewaschen. Also ging ich ins Bad, putzte mir mit der einzigen Zahnbürste, die es gab, meine Zähne, natürlich ohne Zahnpaste.

Als ich in den Wohnraum zurückkam, saßen unsere beiden Wohltäterinnen schon am Tisch. Oma hatte ein Brot in der linken Hand, mit der sie es ganz fest gegen ihre Brust drückte. In der rechten Hand hatte sie ein Messer, mit dem sie eine Scheibe Brot nach der anderen abschnitt. Jeder von uns bekam eine Scheibe. Margarine, Butter, Marmelade oder gar Wurst gab es natürlich nicht. Woher denn auch? Oma fragte die beiden Frauen: „Möchten Sie auch eine Scheibe?“ Zu meiner Verwunderung sagte die ältere der beiden: „Ja, gerne, denn wir haben heute Morgen auch noch nichts gegessen. Das hier ist unser letztes Brot!“ Oma setzte das Messer ab: „Was? Und das geben Sie uns?“

„Natürlich. Die Kinder brauchen doch zuerst etwas zu essen. Wir werden hoffentlich später Lebensmittelmarken und dann auch Lebensmittel bekommen. Auf dem Weg ins Krankenhaus zu Ihrer Tochter kommen wir am Gemeindeamt und an einigen Geschäften vorbei. Ich hoffe sehr, dass wir beides bekommen werden. Sicher ist das allerdings nicht. Wir sollten auf jeden Fall alle Kinder mitnehmen. Unseren Erfahrungen nach werden Kinder und Alte etwas bevorzugt“, antwortete Frau Meindl. Als alle ihre trockene Scheibe Brot gegessen hatten, sagte Oma: „Dann mal los, Kinder!“

Die Kleidungsstücke, die Oma am ersten Abend im warmen Badewasser durchgewaschen hatte, waren in der Zwischenzeit am warmen Ofen trocken geworden. So konnten wir unsere Mäntel und Pullover wieder anziehen. Danach verließen wir alle unseren Wohnraum. Oma, die als letzte den Raum verließ, fragte Frau Meindl: „Nehmen wir den Kinderwagen oder den Bollerwagen mit?“ Frau Meindl überlegte kurz und entschied dann: „Wir sollten nur den Bollerwagen mitnehmen, dann können wir die Kinder ja je nach Müdigkeit hineinsetzen.“ Von uns Kindern wollte aber, bis auf unsere kleinere Schwester Rita, niemand hinein. Dann zog unsere kleine Karawane los. Vorne weg Frau Meindl und unsere Oma. Die beiden zogen auch den Bollerwagen. Frau Laubig hatte Rita noch schnell eine Decke umgelegt. Sie ging mit uns anderen an der Hand, auf jeder Seite zwei, hinter dem Bollerwagen her. Zum ersten Mal konnten wir nun unsere neue Umgebung in Augenschein nehmen. Wir gingen zunächst, aus dem Haus kommend, links, dann die etwas abschüssige Straße, die „Auf der Hut“ hieß, in Richtung Stadt hinunter. Rechts und links der Straße standen in schönen gepflegten Gärten Einfamilienhäuser.

„Hier“, sagte Frau Meindl, „das da ist unser Haus und zeigte auf ein großes, sehr schönes Haus rechts der Straße. Bis vor einigen Jahren wohnten auch noch mein Mann und unsere vier Söhne hier. Mein Mann starb vor drei Jahren an einer Kriegsverletzung, die er sich im Afrikafeldzug zugezogen hatte. Zwei meiner Söhne sind an der Ostfront gefallen, der dritte ist noch vermisst. Von ihm haben wir schon seit einem Jahr, wie auch von meinem Schwiegersohn, kein Lebenszeichen mehr erhalten. Mir ist nur noch mein jüngster Sohn, der jetzt hier im Elisabeth-Stift als Arzt tätig ist, geblieben. Natürlich auch noch meine liebe Tochter, deren Mann, wie gesagt, aber auch seit einem Jahr vermisst wird.“

Während sie das alles erzählte, waren wir vor dem Haus stehen geblieben. Dann spielte sich eine Szene ab, die ich nie vergessen sollte.

Oma hatte die Deichsel des Bollerwagens losgelassen, drehte sich zu Frau Meindl und nahm diese fest in ihre Arme. Mit Tränen in den Augen sagte sie: „Mein Gott, was haben Sie alles durchgemacht. Sie haben den Mann und zwei Ihrer Söhne für immer in diesem unseligen Krieg verloren. Der dritte Sohn und der Schwiegersohn sind noch vermisst. Welch ein Leidensweg!“ Oma drückte Frau Meindl immer wieder an sich, die nun auch zu weinen angefangen hatte.

„Ich hoffe nur“, sagte Oma, „dass diese Halunken, die uns dies Alles durch diesen unnützen und unseligen Krieg eingebrockt haben, eines Tages zur Rechenschaft gezogen werden. Dafür werde ich beten.“ Noch einmal drückte sie Frau Meindl ganz fest an sich. Und mit sehr leiser Stimme sagte sie: „Und Sie, liebe Frau Meindl, müssen für dieses unendliche Leid, das Ihnen zugeführt worden ist, entschädigt und belohnt werden. Auch dafür werde ich beten.“

Frau Laubig hatte uns Kinder losgelassen, ging zu den beiden älteren Frauen, legte ihre Arme um diese und sagte zu ihrer Mutter: „Mutter, du hast ja auch noch mich und ich werde dich nie allein lassen, das verspreche ich dir.“ Dann gab sie ihrer Mutter ein Taschentuch, mit dem sich diese die Augen trocknete. Diese sagte: „Das weiß ich doch, mein Kind. Nur weil du und Fritz mir noch geblieben seid, will ich noch leben!“

Oma wandte sich nun uns zu und mit Blick auf die älteren von uns sagte sie: „Kinder, wir haben in den letzten Tagen und Wochen viel Schlimmes erlebt und durchgemacht. Die Flucht, die schrecklichen Bombenangriffe, dabei immer Hunger und Durst, der eiskalte Zug, keine Möglichkeit, um auf die Toilette zu gehen, dann der Vater vermisst, eure Mama im Krankenhaus, nichts, was wir einmal hatten und besaßen, ist uns geblieben, aber dennoch, all das ist nicht im Entferntesten vergleichbar mit dem, was die arme Frau Meindl durchgemacht hat. Deshalb merkt euch bitte: Auch wenn es einem im Leben mal so richtig dreckig geht, so gibt es doch Menschen, denen es noch viel schlechter geht. An denen muss man sich dann wieder aufrichten.“

Frau Laubig hatte uns Kinder derweil wieder an die Hand genommen und mit einem fast befehlendem Unterton in der Stimme sagte sie: „Genug jetzt mit der Gefühlsduselei. Nun müssen wir uns aber um die Lebenden kümmern, um Ihre Tochter im Krankenhaus und natürlich um das Baby. Danach sollten wir zusehen, dass wir an Lebensmittelmarken und dann an Lebensmittel kommen. Ich habe heute Morgen schon ein paar Babysachen zusammengesucht und in einer Tasche in die Flurgarderobe gestellt. Wartet einen Moment hier, ich laufe schnell ins Haus und hole die Sachen.“

Schon rannte sie los und verschwand kurz darauf im Haus. Nach einem kurzen Moment ging die Tür wieder auf und Frau Laubig kam mit einer prall gefüllten Tasche in der Hand wieder aus dem Haus. Wieder bei uns angelangt, sagte sie: „Alles gute, wenn auch gebrauchte Babywäsche. Alles aufgehoben von meinen Nichten und Neffen.“ Sie wandte sich Oma zu: „Wissen Sie, das haben Sie meiner lieben Mutter zu verdanken. Sie hat das alles, auch das, was wir Ihnen vorgestern zum Anziehen gebracht haben, trotz so manches Widerstandes in der Familie, aufgehoben. Sie kann einfach nichts, was irgendwie noch brauchbar ist, wegwerfen!“

Mir selbst sollte es im späteren Leben nicht anders ergehen. Bis zum heutigen Tage kann ich nichts wegwerfen, was noch irgendwie verwertbar ist. Meine Familie hat mich deshalb schon so manches Mal verspottet. Aber unzählige Male habe ich mir und auch anderen damit helfen können, wie damals Frau Meindl uns in dieser misslichen Situation mit alten, aber noch brauchbaren Sachen geholfen hat.

„Nun aber los!“, hörte ich Frau Laubig zu uns Kindern gewandt sagen. „Eure Mama und euer Brüderchen warten sicher schon lange auf euren Besuch.“

Unsere kleine Kolonne setzte sich wieder in Bewegung. Nach etwa einer halben Stunde standen wir vor einem alten roten Backsteingebäude. Wieder so ein Gebäude, das ich bis zum heutigen Tage wegen seiner ausstrahlenden Kälte nicht mag. Frau Meindl führte uns auf einen freien Platz rechts neben den Haupteingang und sagte: „Hier bleibt ihr bitte einen Moment stehen. Ich gehe schnell hinein und erkundige mich, wo wir eure Mutter und euer Brüderchen finden können.“

Dann eilte sie die fünf, sechs Treppen hinauf und verschwand in dem Haupteingang. Nach etwa zehn Minuten, die mir wie eine Ewigkeit vorkamen, kam sie wieder. Schon auf der Treppe rief sie uns zu: „Eure Mutter liegt hier im ersten Stock, allerdings irgendwo auf dem Flur. Wir können sie besuchen, hat mir die Schwester an der Rezeption gesagt. Meinen Sohn Fritz habe ich soeben zufällig in der Eingangshalle getroffen. Er will sich gleich darum kümmern, dass Frau Gojny noch heute in ein Krankenzimmer kommt.“

„Na dann mal los!“, sagte Frau Laubig. „Was machen wir aber mit dem Bollerwagen?“, fragte Oma. „Da ich annehme, dass ihr alle zu eurer Mama möchtet und auch das kleine Brüderchen sehen wollt, müssen wir den Wagen wohl oder übel hier stehen lassen. Da hier an der Wand auch einige unbeaufsichtigte Fahrräder stehen, gehe ich mal davon aus, dass uns keiner den Bollerwagen klaut“, sagte Frau Meindl.

Oma schob den Wagen so dicht wie nur möglich in die Ecke zwischen der Treppe und der Wand. Dann gingen wir alle gemeinsam die Treppe hinauf. Als wir durch die Eingangstür in die Empfangshalle kamen, schlug uns ein ganz eigenartiger, übler Geruch entgegen. Mir wurde sofort übel, was ich mir aber nicht anmerken ließ.

Erst einige Jahre später, als ich meine Mutter in Minden im Krankenhaus besuchte, wo sie wegen einer Unterleibserkrankung lag, habe ich erfahren, was das für ein übel erregender Gestank war, der mich damals im Elisabeth-Stift beinahe zum Erbrechen gebracht hatte. Es war der Geruch von Äther! Dieses Zeug wurde damals als Narkosemittel eingesetzt.

Da wir in den ersten Stock mussten, ging Frau Meindl direkt auf die breite Treppe, die gegenüber der Eingangstür lag, zu. Es handelte sich um eine alte, ausgelatschte Holztreppe, die bei jedem Tritt lautstark knarrte. Als wir oben ankamen, wusste Frau Meindl nicht, ob sie nach rechts oder links gehen sollte. Frau Meindl fragte eine Krankenschwester, die zufällig in einem blutverschmierten Kittel vorbeikam, nach unserer Mutter, der Frau Gojny.

„Oh ja, die kenne ich. Sie liegt bei uns auf der Entbindungsstation. Eine tapfere Frau, die heute Morgen einen kleinen gesunden Jungen zur Welt gebracht hat. Kommen Sie, ich bringe Sie zu ihr.“

Dann ging es von der Treppe aus gesehen links den Flur entlang. Am Ende des Flures angekommen, blieb Schwester Erika, so hieß die Schwester, wie wir später erfuhren, überrascht stehen und sagte: „Nanu, wo ist sie denn? Sie stand doch vor etwa einer Stunde noch hier.“ Nachdem sie die Frau, die offensichtlich nun auf dem Platz stand, auf dem vorher das Bett meiner Mutter gestanden hatte, noch einmal genauer ansah, sagte sie: „Kommen Sie mit, wir fragen im Schwesternzimmer nach.“

Schon setzte sich unsere kleine Kolonne wieder in Bewegung. Sie bestand nunmehr aus drei Frauen und fünf Kindern. Wieder ging es den langen Flur in umgekehrter Richtung entlang, vorbei an vielen Betten, in denen teilweise schlafende, aber in manchen auch vor Schmerzen laut stöhnende Frauen lagen. Über alldem lag dieser furchtbare Krankenhausgeruch! Am liebsten wäre ich weggelaufen!

Als wir vor dem Schwesternzimmer ankamen, kam gerade eine andere Schwester heraus. Schwester Erika fragte diese: „Oberschwester, können Sie mir sagen, wo Frau Gojny mit ihrem Baby abgeblieben ist?“

„Frau Gojny? Ach ja, die liegt jetzt in der alten ausgeräumten Besen- und Gerätekammer“, antwortete diese.

„Wo liegt sie?“, fragte Schwester Erika entsetzt.

„Sie haben richtig gehört. Vor etwa einer knappen halben Stunde war Oberarzt Meindl von der „Chirurgischen“ mit unserem Chefarzt hier. Nachdem sie festgestellt hatten, dass selbst mit dem allerbesten Willen kein Platz mehr für Frau Gojny in einem der Krankenzimmer war, hat der Chef angeordnet, die Gerätekammer zu räumen. Die Gerätschaften stehen jetzt hier im Schwesternzimmer. Frau Gojny und ihr Baby liegen nun im Geräteraum. Nicht gerade luxuriös, aber auf alle Fälle besser als auf dem Flur!“, entgegnete die Oberschwester.

Frau Meindl streckte der Oberschwester ihre Hand entgegen: „Gestatten Sie mir, dass ich mich vorstelle. Ich bin Frau Meindl, die Mutter von Oberarzt Dr. Meindl.“

Die Oberschwester ergriff nun die angebotene Hand. „Ich bin die Oberschwester Hildegard. Kommen Sie bitte mit, ich bringe Sie zu Frau Gojny.“

Oma bedankte sich bei Schwester Erika und ging dann der Oberschwester nach. Die war derweilen schon vor einer Tür, in etwa der Mitte des Ganges, stehen geblieben. Ehe die Oberschwester die Tür öffnete, drehte sie sich noch einmal um und fragte: „Frau Meindl, gehören die Kinder alle zu Frau Gojny?“ Ehe Frau Meindl antworten konnte, sagte Oma: „Entschuldigung, ich habe mich Ihnen noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Clara Babatz, ich bin die Mutter von Frau Gojny und die fünf hier sind alles ihre Kinder. Der heute Morgen hier geborene Junge ist ihr sechstes Kind.“ Dann fragte sie noch: „Ist denn alles glatt gegangen?“

„Oh ja, Mutter und Kind sind wohl auf. Frau Gojny ist eine tapfere und starke Frau. Wir hatten bei der Entbindung überhaupt keine Probleme mit ihr. Nur, wir haben für das Baby überhaupt nichts anzuziehen“, antwortete Oberschwester Hildegard.

Frau Laubig, die schon die ganze Zeit die Tasche mit der Babywäsche getragen hatte, hob diese etwas an und sagte: „Hier, Oberschwester, hier haben wir alles, was Sie für das Baby brauchen.“

„Großartig!“, sagte die Oberschwester. „Dann mal los, gehen wir rein.“ Vorsichtig öffnete sie die Tür. Dann bat sie zunächst Oma und dann uns Kinder herein. Wir betraten einen schmalen, dunklen Raum. Das Bett stand mit dem Kopfende direkt unter einem schmalen, aber hohen Fenster. Zwischen Wand und Bett war gerade noch so viel Platz, dass der Nachttisch neben dem Bett stehen konnte.

Oma ging zuerst zu unserer Mama, fasste sie an den Schultern, gab ihr einen Kuss auf die Stirn und drückte das Gesicht unserer Mutter an ihre Brust. Dann fingen beide an zu weinen. In der Kammer war es ganz still. Mutter fand zuerst ihre Fassung wieder. Sie richtete sich etwas auf, so dass sie über das Fußende ihres Bettes blicken konnte und so uns Kinder sah, zumal meine kleine Schwester Rita und ich direkt hinter Oma an der Seite des Bettes standen.

„Mutter, Kinder, was bin ich froh, euch alle hier gesund und munter zu sehen. Ich kann es noch gar nicht fassen. Kommt alle her, lasst euch drücken und seht euch euer Brüderchen an“, forderte Mutter uns auf. Oma hob dann die kleine Rita auf die Bettkante. Mutter gab ihr einen Kuss auf die Wange, dann hielt sie ihr das Baby entgegen. Rita streichelte es über das Köpfchen. Das Baby merkte von alldem gar nichts, es schlief tief und fest. Dann durfte einer nach dem anderen von uns Kindern Mama und das Brüderchen begrüßen. Oma stand derweil ganz oben am Kopfende des Bettes und streichelte unserer Mutter unentwegt über den Kopf. Als unsere älteste Schwester Brigitte als letzte von uns Kindern dran war, fragte Mama: „Kinder, wie soll nun euer neues Brüderchen heißen?“ Wie aus einem Mund schallte es durch den kleinen Raum „Gerhard!“

Mutter, die über diese Einigkeit sehr verwundert war, konnte ja nicht wissen, dass wir kurz vorher darüber abgestimmt hatten. Auf alle Fälle war sie hoch erfreut darüber, dass wir alle in seltener Einmütigkeit den Namen unseres vermissten Vaters unserem kleinen neuen Brüderchen übertragen wollten. Ob nun vor Freude über die Einmütigkeit bei der Namensgebung oder aus Angst um unseren Vater, von dem wir ja nicht einmal wussten, ob er überhaupt noch lebte, kullerten Mama Tränen über ihr sehr blasses Gesicht.

„Ich bin ja so froh, dass wir die Flucht überlebt haben, dass wir alle zusammen geblieben sind und dass die Entbindung auf so wunderbare Weise ein so gutes Ende genommen hat“, verkündigte sie. Sie nahm ein Stück Zellstoff vom Nachttisch und wischte sich die Tränen aus ihren Augen. Dann hob sie ihren Kopf, blickte über uns Kinder hinweg, sah zunächst Frau Meindl und dann der jüngeren Frau Laubig in die Augen: „Und Sie sind also die neuen Schutzengel meiner Familie?“

Frau Meindl sah Mutter mit festem Blick an und fragte ihrerseits: „Wenn Sie so wollen ja, aber woher wissen Sie das?“

„Oh, das hat mir vor einer knappen Stunde ein sehr netter und sympathischer Arzt hier erzählt. Sein Name ist Dr. Meindl. Er sagte, dass ich mir um meine Familie keine Sorgen machen soll und dass ihr vorerst in dem Gästehaus seiner Familie untergekommen seid. Seine Mutter und seine Schwester würden sich um euch kümmern. Dann sagte er weiter, dass er auf Bitten seiner Mutter hier sei und er veranlasst habe, dass ich jetzt hier in dieser, zugegebenermaßen engen und düsteren, Kammer untergekommen sei. Aber dass ich hier mit meinem Baby alleine wäre, ohne Gestank und ohne den Lärm, der da draußen auf den Gängen überall vorherrscht. Er hatte leider nicht viel Zeit. Ehe ich mich richtig bei ihm bedanken konnte, war er auch schon wieder weg. In der Tür sagte er noch, dass er morgen wieder nach mir sehen würde“, gab Mutter seine Worte wieder.

Frau Meindl und Frau Laubig, die die ganze Zeit über an der Tür stehen geblieben waren und schweigend und ergriffen die ganze Begrüßung mit angesehen hatten, kamen nun auch nach vorne ans Bett meiner Mutter, die ihnen sehr lange und sehr herzlich die Hand schüttelte. Frau Laubig legte die Tasche mit den Babysachen auf Mutters Bett und sagte: „Hier, liebe Frau Gojny, statt Blumen, die man sowieso nirgends bekommen kann, von meiner Mutter und mir, verbunden mit den herzlichsten Glückwünschen, die erste Babyausstattung. Es sind alles gebrauchte, aber noch recht gut erhaltene Stücke von unseren Nichten und Neffen. Mutter konnte sich nie davon trennen. Jetzt wissen wir warum und wofür.“

Mama ergriff noch einmal die Hand von Frau Laubig, presste diese an ihre Lippen und schluchzend sagt sie: „Vergelte es Ihnen der liebe Gott.“

Dann öffnete sie mit der rechten Hand die Tasche. Obenauf lag eine kleine blaue Mütze, die sie sofort unserem kleinen Brüderchen Gerhard aufsetzte. Später zog sie ihn dann ganz an. In der Zwischenzeit war unser kleiner Bruder wach geworden. Lautstark fing er an zu weinen. Mama öffnete ihr Nachthemd und legte das Baby an ihre Brust. Alle Anwesenden sahen ergriffen dabei zu und selbst wir Kinder waren sehr still geworden.

In diese Stille hinein hörte ich Frau Meindl sagen: „Ihr Lieben, ich will ja nicht stören und euch schon gar nicht auseinander reißen, aber wir müssen uns dringend um die Lebensmittelkarten kümmern, ohne die wir nichts zu essen bekommen können.“

„Natürlich, Sie haben Recht!“, sagte Oma. Zu unserer Mutter gewandt sagte sie: „Lenchen, du hast gehört, wir müssen jetzt los. Aber ich komme heute noch einmal wieder. Dann können wir über alles Weitere reden. Den Weg kenne ich ja nun. Die Oberschwester will ich ohnehin noch fragen, wann du und das Baby zu uns dürfen. Also, Lenchen, bis heute Nachmittag. Wann, weiß ich natürlich nicht so genau, aber kommen werde ich ganz gewiss.“

Dann verabschiedeten sich Frau Laubig und Frau Meindl und nacheinander wir Kinder. Mama gab jedem von uns noch einen dicken Kuss auf die Stirn. Ich weiß noch heute, wie schwer es uns gefallen war, wieder voneinander Abschied nehmen zu müssen. Als ich noch einmal zurückschaute, sah ich, dass auch Mama wieder Tränen in den Augen hatte. Nacheinander verließen wir Mamas Kammer. Frau Meindl vorne weg und zum Schluss Oma. Auf dem Flur nahm ich wieder diesen unglaublichen Gestank von Äther war. Sofort wurde mir wieder übel.

Auf dem Flur stoppte Frau Meindl wieder vor dem Stationszimmer, wo die Oberschwester auch tatsächlich anwesend war. Oma fragte sie: „Entschuldigen Sie, Schwester, kann ich schon erfahren, wann meine Tochter und ihr Baby zu uns dürfen?“

Die Schwester schaute zu Oma auf und antwortete mit freundlicher Stimme: „Wenn keinerlei Komplikationen mehr auftreten, denke ich, wird sie morgen vom Chef entlassen werden. Da sie hier bei uns völlig ausgehungert und sehr schwach eingeliefert wurde, müssten Sie versuchen, ihrer Tochter eine nahrungsreiche Kost zu besorgen. Ach ja, ein Transportmittel brauchen Sie auch noch. Ihre Tochter ist keinesfalls in der Lage, den Weg nach Hause zu Fuß zu gehen.“

Ehe Oma antworten konnte, sagte Frau Meindl: „Es wird sicherlich nicht einfach, aber mit Gottes Hilfe werden wir beides beschaffen. Kommen Sie, Frau Babatz. Genau deswegen müssen wir jetzt dringend los.“

Nun verließen wir wieder das Krankenhaus auf dem Wege, auf dem wir gekommen waren. Vor der Treppe stand tatsächlich noch unser Bollerwagen. Ohne lange zu fragen, setzte Oma Rita und mich hinein. Die älteren wollten auch gar nicht da rein. Zu groß war noch die Abneigung. Die vielen Tage und Nächte in dem nach Urin stinkenden Bollerwagen hatten gerade bei den älteren von uns eine große Abneigung gegen diesen entstehen lassen. Oma übernahm wieder mit Frau Meindl die Deichsel. An die freie Hand nahmen sie Brigitte. Hinter dem Wagen ging wieder Frau Laubig, an jeder Hand einen der Zwillinge. So ging es der Stadt entgegen.

An dieser Stelle möchte ich die Geschichte unserer Flucht aus dem Osten abkürzen. Durch das gute Ansehen, das die Familie Meindl genoss, bekamen wir tatsächlich sehr schnell unsere Lebensmittelmarken. Und in den ersten Wochen, solange die Amerikaner noch im Osten waren, gab es auch einigermaßen nahrhafte Lebensmittel. Ein „US-Sanka“ brachte unsere Mutter und unser kleines Brüderchen am nächsten Tag nach Hause.

Aber all das sollte sich schlagartig zum Negativen verändern. Die Amerikaner verließen in Folge des Alliierten-Abkommens, das zwischen den Siegermächten Amerika, Russland, England und Frankreich abgeschlossen worden war, die ostdeutschen Gebiete. Nun rückten vom Osten die Russen nach. Das überaus menschliche Verhalten der US-Soldaten wurde gegen das brutale und teilweise unmenschliche Verhalten vieler russischer Soldaten mit vielen Vergewaltigungen und anderen, schwerwiegenden Vergehen gegen die Menschlichkeit eingetauscht.

Erst viel später habe ich mit Bestürzung zur Kenntnis nehmen müssen, dass auch unsere Armee in den späteren Ostblockstaaten - und nicht nur da - sich ebenfalls vieler Verbrechen schuldig gemacht hat.

Nachdem sich also die amerikanische Armee aus dem Osten Deutschlands zurückzog und die Russen den Osten besetzten und unsere Lage dadurch immer schlimmer wurde, beschlossen unsere Mutter und unsere Großmutter in den Westen zu ziehen. Wie sich später herausstellen sollte, war das eine kluge Entscheidung!

In Klingenthal wurde es unter der russischen Besatzung immer schlechter. Es gab nicht mehr genügend zu essen, ob mit oder ohne Lebensmittelmarken. Es gab einfach nichts! Frau Meindl und Frau Laubig taten alles in ihrer Macht stehende, um uns zu helfen, vor allem aber, um uns Lebensmittel zu besorgen.

In dieser Zeit haben wir sehr gehungert. Ich kann mich noch daran erinnern, wie wir loszogen, um auf den umliegenden Wiesen und Feldern Brennnesseln zu sammeln. Daraus kochte unsere Oma eine Art Spinat. Er schmeckte furchtbar, aber er machte satt. Aus Sauerampfer stellte sie Essig her. Aus Kaffeegrund, genannt Muckefug, gemischt mit einem Löffel Mehl, backte sie uns Kuchen. Stundenlang verschwanden wir in den umliegenden Wäldern, um Pilze oder Reisig zu sammeln. Letzteres wurde dann, wenn möglich, gegen etwas Essbares umgetauscht.

Auch die Kleidung wurde langsam zum Problem. Ich erinnere mich, wie Frau Meindl, die uns bis zum Schluss geholfen hat, eines Tages eine alte Singer-Nähmaschine brachte. Aus einer alten schweren Übergardine nähte Mama einen Wintermantel für Brigitte.

Das Schlimmste aber war dieser entsetzliche Hunger! Aus dieser Zeit weiß ich, dass jemand, der noch nie richtig Hunger gelitten hat, auch nicht weiß, wie gut eine trockene Scheibe Brot schmecken kann! Wenn wir mal ein Brot auftreiben konnten, wurde es so eingeteilt, dass es mehrere Tage reichte. Dieser damals erlittene unglaubliche Hunger macht es mir bis heute unmöglich, noch brauchbare Lebensmittel einfach wegzuwerfen.

Diese mehr als schlechten Lebensbedingungen waren es wohl, die Oma und Mama dazu bewegt haben, weiter in den Westen zu ziehen. Frau Meindl, ihr Sohn und ihre Tochter beschlossen in ihrem Haus, also zu Hause im Osten zu bleiben. Wir dagegen, die ohnehin schon alles verloren hatten, zogen, oder sollte man besser sagen, flohen weiter in den Westen.

Beide Familien hatten bis dahin nichts von den vermissten Angehörigen gehört. Meine Mutter hörte ich aber immer wieder sagen: „Ich weiß es genau. Papa lebt, er wird wiederkommen!“

Worauf Oma regelmäßig hinzufügte: „Man darf die Hoffnung nie aufgeben!“ Und, wenn dann eines von uns Kindern in ihrer Nähe stand, streichelte sie ihm liebevoll über den Kopf und fügte hinzu: „Ihr bekommt euren Papa zurück, dafür wird der liebe Gott schon sorgen.“

In Klingenthal wurde irgendwann ein Transport mit geflohenen Schlesiern zusammengestellt, der uns weiter in Richtung Westen bringen sollte. Das Ganze wurde vom Roten Kreuz organisiert. Wieder waren es die überaus guten Beziehungen der Frau Meindl, diesmal zum Roten Kreuz, die uns halfen, an diesem Transport teilnehmen zu können.

Sie brachte uns alle gemeinsam zum Bahnhof. Nach etwa einem Jahr waren wir also wieder mit dem Bollerwagen und Kinderwagen in Richtung Westen unterwegs. Nur, dass wir nun im Kinderwagen ein Kleinkind mehr zu transportieren hatten, unseren kleinen Bruder Gerhard.

Außerdem schleppten Mutter und Großmutter je eine große Reisetasche mit sich. Eine dritte, kleinere wurde abwechselnd von den älteren Geschwistern Brigitte, Hans und Heinrich getragen, alles Kleidungsstücke, die uns die Familie Meindl aus ihren Beständen abgetreten hatte. In einer dieser Taschen befanden sich zwei große Graubrote, die Frau Meindl für uns als Reiseproviant aufgetrieben hat.

Ich erinnere mich noch, dass der Weg zum Bahnhof sehr schweigsam zurückgelegt wurde. Annähernd ein Jahr hatten wir zusammen verbracht. Es war sicher ein sehr schweres Jahr für alle Beteiligten. Es war sicher auch das Jahr, in dem wir den allerschlimmsten Hunger erleiden mussten. Ganz sicher ist auch, dass wir ohne die aufopfernden Fürsorge und Nächstenliebe der Familie Meindl nicht überlebt hätten! All das gemeinsam Erlebte und der gemeinsame Überlebenskampf hatten uns zusammengeschweißt. Wir waren Freunde geworden!

Am Bahnhof stand schon der Zug. Ein Rotkreuzhelfer brachte uns zu einem Waggon in der Mitte des Zuges. Nun hieß es Abschied nehmen. Oma und Frau Meindl, längst Duzfreunde geworden, fielen sich zuerst in die Arme, genau wie Mama und Frau Laubig. Als die Verabschiedung der Erwachsenen beendet war, verabschiedeten sich die beiden Frauen von uns Kindern. Diese waren für uns längst zu richtigen Tanten geworden. Ein Abschied, den wir nie vergessen sollten. Die Gefühlsausbrüche waren so stark, auch für uns Kinder, besonders aber auch für mich.

Als wir dann alle mit Hilfe des Roten Kreuzes in einem Abteil Platz genommen hatten und die Meindls auf dem Bahnsteig stehen blieben, zwei Frauen mit gütigen Gesichtern, aus deren Augen Tränen kullerten, war mir so, als würde ich liebe Verwandte für immer verlieren. Kein Wunder also, dass auch wir Kinder weinten. Der Zug setzte sich mit lauten, zischenden Geräuschen in Bewegung. Die beiden Frauen sollten wir niemals wiedersehen. Aber sie sind in meinem späteren Leben der Inbegriff für Nächstenliebe geblieben!

Die unorganisierte Flucht aus dem Osten war also hier zu Ende. Von nun an ging es, mehr oder weniger, organisiert weiter.

Wenn ich auch damals noch nicht alles so richtig einordnen, einschätzen oder gar verstehen konnte, ist doch einiges von dem, was damals um uns und mit uns passiert ist, unauslöschlich in mir hängen geblieben. Oft habe ich in meinem späteren Leben über das damals Erlebte nachgedacht und meine Schlüsse daraus gezogen. Nichts hat mich so geprägt wie die damalige Flucht aus unserer Heimat. Insbesondere waren es die damals handelnden Personen, die mich geprägt haben. Sie haben mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute noch bin, mit meinem ganzen Handeln und Denken.

Deshalb habe ich versucht, alles so genau, wie es mir nach so langer Zeit noch möglich war, niederzuschreiben. Mag sein, dass mir die eine oder andere Szene nach nunmehr annähernd siebzig Jahren nicht mehr so ganz richtig in Erinnerung haften geblieben ist. Deshalb bitte ich an dieser Stelle eventuell noch lebende Zeitzeugen um Nachsicht.

Eines kann ich mit Bestimmtheit sagen: Es waren in erster Linie Frauen, die mich durch ihr vorbildliches Verhalten geprägt haben. So starke Frauen wie meine Großmutter, meine Mutter, Frau Meindl und ihre Tochter Frau Laubig!

Kartoffelsalat und Würstchen - Meine Lebensgeschichte - Buch I

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