Читать книгу Kartoffelsalat und Würstchen - Meine Lebensgeschichte - Buch I - Paul Gojny - Страница 6
Kapitel 2 - Kindheit und Schulzeit im Emsland
ОглавлениеDer Flüchtlingstransport ging zunächst über Zwickau, dann weiter über Leipzig und von dort mit Zwischenstopps und Umsteigen über Halle und Magdeburg endlich in den Westen nach Braunschweig. Dort wurde ein neuer Transport mit dem Ziel Emsland zusammengestellt.
Im Emsland angekommen, wurden wir zwangsweise auf einem Bauernhof in einem Dorf namens Brümsel untergebracht. Hier musste ich leider das Gegenteil von dem, was wir bei den gütigen Meindls erfahren hatten, erleben. Offensichtlich waren wir bei der Familie Vogt, so hießen die Bauern, nicht willkommen. Wir wurden von ihnen mit schlimmen Schimpfwörtern wie Flüchtlingspack bedacht. Mutter und Großmutter mussten sich allerhand üble Beschimpfungen und niederträchtige Boshaftigkeiten gefallen lassen. Wir hatten alles verloren, unser Vater war verschollen und nun mussten wir uns von Menschen, denen es offensichtlich viel besser ging als uns, auf das Übelste beschimpfen und verunglimpfen lassen. Hier lernte ich zum ersten Mal Menschen kennen, die wirklich boshaft und niederträchtig waren.
Später habe ich dann eine gewisse Nachsicht und auch ein gewisses Verständnis für diese Menschen aufbringen können. Ich habe nämlich erst später erfahren, dass dieser schreckliche Krieg auch der Familie Vogt zwei ihrer Söhne genommen hatte. Sie waren an der Ostfront gefallen. Frau Vogt war nur noch ihr jüngster Sohn geblieben, der zu unserer Zeit gerade mal siebzehn Jahre alt war. Ihr Mann war schon vor Kriegsbeginn gestorben. So musste Frau Vogt ihren großen Hof allein mit ihrem siebzehnjährigen Sohn Bernhard bewirtschaften.
Unsere Großmutter und Mutter wurden aber mit all diesen Widerwertigkeiten recht gut fertig. Das lag wohl daran, dass sie schlauer als unsere Peiniger waren. Oft drehten sie den Spieß um und ließen diese dann sehr schlecht aussehen. Als die Vogts das langsam kapierten, ließen die Gemeinheiten allmählich nach.
Es entstand eine etwas entspanntere Atmosphäre. Ganz offensichtlich hatte sich ihr Sohn Bernhard in unsere älteste Schwester Brigitte, die damals dreizehn und für ihr Alter recht gut entwickelt und auch sonst sehr hübsch anzusehen war, verliebt.
In dieser aufgelockerten Atmosphäre machte meine Oma Frau Vogt das Angebot, ihr mit meiner Mutter und den drei älteren Geschwistern bei der anstehenden Ernte zu helfen. Überrascht, ja beinahe dankbar, nahm Frau Vogt Omas gutgemeintes Angebot an. Fortan halfen Oma, Mama und, soweit die Schule ihnen dazu Zeit ließ, auch meine drei älteren Geschwister bei der Ernte und auch bei allen anderen anfallenden Arbeiten auf dem Hof. Bezahlt wurde in Naturalien. Es gab dafür Milch, Eier und Kartoffeln. Da ab sofort auch der verwilderte Gemüsegarten, für den Frau Vogt selber gar keine Zeit mehr hatte, in den Bereich meiner Oma und unserer Mutter fiel, gab es hier und da auch frisches Gemüse. Davon profitierten auch die Vogts.
Langsam entwickelte sich nun zwischen den beiden Familien ein recht entspanntes, ja man kann sagen, freundschaftliches Verhältnis. Kurz vor Weihnachten kam Frau Vogt zu uns in unsere Behausung herauf. Sie war vorher noch nie bei uns oben gewesen. Zum einen, weil sie uns nicht mochte und zum anderen, weil in den beiden Räumen ihre gefallenen Söhne gelebt hatten. Beinahe zaghaft klopfte es an unserer Tür. Es war der Raum, der uns als Küche, Wohnzimmer und Oma und Mama auch als Schlafraum diente.
Mama und Oma sahen sich überrascht an. Hatte uns doch in all den Monaten, in denen wir in diesen Räumen, man kann ruhig sagen, hausten, niemand aufgesucht. Wer sollte es denn nun sein? Beinahe gleichzeitig riefen Oma und Mama: ,,Herein.“
Langsam und zögerlich öffnete sich die Tür. Vor uns stand, wohl zu unserer aller Überraschung, Frau Vogt mit ihrem Sohn Bernhard. Mit leiser fast zitternder Stimme sagte sie: „Liebe Frau Babatz, liebe Frau Gojny. Zunächst möchten wir uns, das heißt, mein Sohn und ich, für unser dummes und feindseliges Verhalten Ihnen gegenüber entschuldigen. Wenn auch fast ein Jahr zu spät, möchte ich Sie mit Ihren Kindern bei uns auf dem Hof willkommen heißen. Ich weiß, dass Sie auch viel durchgemacht haben müssen und deshalb ist das, was wir Ihnen anfangs geboten haben, umso verwerflicher. Also, bitte ich Sie hiermit noch einmal von ganzem Herzen um Verzeihung. Ab sofort werden wir Sie mit allem, was wir haben und möglich machen können, unterstützen, so wie Sie uns bei der Ernte und auch sonst auf dem Hof in den letzten Wochen unterstützt haben.“
Lange und vor allem sprachlos schauten wir die beiden in der Tür Stehenden an. Frau Vogt beugte sich zu ihrem rechten Bein herunter und ergriff den Henkel eines großen Kartoffelkorbs. ,,Damit Sie sehen, dass ich es auch ernst meine, habe ich Ihnen für das bevorstehende Weihnachtsfest ein paar essbare Sachen, alle von unserem Hof, eingepackt.“ Dann zog sie das über Köstlichkeiten ausgebreitete Leinentuch zur Seite und zum Vorschein kam eine große, fette Weihnachtsgans. Daneben lag ein großes Stück Räucherschinken. Weiter unten befanden sich diverse Gläser mit Hausmacherwurst. Außerdem gab es auch Eier, Milch und Butter. Kurz, alles, was man sich nach so einer Zeit des Hungerns nur erträumen konnte.
Frau Vogt sagte: „Wenn Sie mir auch weiterhin so auf dem Hof helfen wie bisher, ist für Sie ab sofort die Zeit des Hungerns vorbei. Ich habe zurzeit zwar auch kein Geld, womit ich Sie entlohnen könnte, aber zu essen haben wir auf dem Hof genug, so dass Sie alle satt werden können.“
Oma fand zuerst die Sprache wieder. Sie ging auf Frau Vogt zu, reichte ihr die Hand, sah ihr dabei fest in die Augen und sagte: „Liebe Frau Vogt, wir haben Ihnen schon vor einer ganzen Weile verziehen und zwar als wir erfuhren, dass Ihre beiden Söhne an der Ostfront gefallen sind. So ein Schicksalsschlag verbittert! Lassen Sie uns doch gemeinsam in die Zukunft blicken. Wir werden Ihnen auch weiterhin auf Ihrem Hof helfen, so gut wir es können.“
Dann zeigte sie auf den Korb und fuhr fort: ,,Und dafür danke ich Ihnen, auch im Namen der Kinder ganz, ganz herzlich. Aber bitte kommen Sie doch herein. Außer einem ,,Muckefug“ kann ich Ihnen leider nichts anbieten.“
Frau Vogt lehnte dankend mit den Worten ab: ,,Ein anderes Mal gern, ich muss aber jetzt in den Stall und die Kühe melken.“
Sohn Bernhard, der die ganze Zeit ein wenig verlegen neben seiner Mutter stand, hob plötzlich den Kopf, schaute zu meiner Schwester Brigitte rüber, die direkt neben mir stand und fragte sie: ,,Willst du nicht einmal mit mir auf dem Traktor mitfahren?“ Dabei stieg ihm eine leichte Röte in sein hübsches Jungengesicht.
Meine Schwester wurde sehr verlegen, antwortete jedoch mit fester Stimme: ,,Wenn du mich mal gern mitnehmen würdest“, und an Mama gerichtet, „und wenn ich darf, dann würde ich gerne mal mit dir mitfahren.“
„Oh, das ist prima!“, sagte Bernhard. Erleichtert setzte er sich seine Mütze wieder auf, drehte auf dem Absatz um und lief seiner Mutter nach, welche die schmale Holztreppe hinunterging.
Mit diesen Erlebnissen ging an diesem Tage wieder ein Kapitel unserer Flucht zu Ende, aus dem ich in meinem späteren Leben einen Schluss gezogen habe: Miteinander geht es immer besser als gegeneinander!
In einem Nachbarort von Brümsel namens Messingen wurde ich eingeschult. Die Schule dort war baulich völlig intakt geblieben, jedoch fehlte es an qualifizierten Lehrern. So kam es vor, dass ich so manches Mal wegen einer einzigen Unterrichtsstunde in die Schule des Nachbarorts laufen musste. Immerhin war die Schule von dem Vogt‘schen Hof fünf Kilometer entfernt. Das hieß, ich musste täglich zehn Kilometer laufen und das allein durch Wald und Flur. Im Winter musste ich oft schon morgens in finsterer Nacht los. Oft, wenn in dem langen Waldabschnitt am Wegesrand im Gebüsch etwas knackte, habe ich mich furchtbar erschreckt. Vor Angst bin ich dann den Rest des Weges bis ans Waldende gerannt. Es gab aber auch schöne Erlebnisse. Oft konnte ich auf dem Weg in die Schule Eichhörnchen beobachten oder es lief mir ein Fuchs über den Weg. Hasen und Wildkaninchen flitzten oft zwischen den Bäumen und auf den Wiesen hin- und her.
Einmal kam ich im Wald um eine Wegbiegung, als ich plötzlich direkt vor mir eine kleine Herde Rehe sah. Es waren vier ausgewachsene Tiere und zwei kleine Kitze mit lauter Punkten am ganzen Körper. Offensichtlich nahmen sie von mir überhaupt keinerlei Notiz. Ich war von dem Anblick so fasziniert, dass ich mich neben der Straße auf den Bauch legte, um die Tiere zu beobachten. Wie lange ich die Rehe beobachtet habe, weiß ich nicht, es muss aber eine ganze Weile gewesen sein. Ich konnte mich einfach an diesen schönen Tieren nicht sattsehen. Als ich mich endlich von den schönen Tieren losgerissen hatte, um den Weg zur Schule zu beenden, musste eine ganze Weile vergangen sein, denn als ich bei der Schule in Messingen ankam, war meine Unterrichtsstunde schon vorüber und meine Klassenkameraden kamen mir auf dem Schulhof entgegen.
Die Schule machte mir keine großen Probleme. Wenn Oma Zeit hatte, beaufsichtigte sie mich bei den Schulaufgaben. Natürlich war der Lernfortschritt durch die einstündige Unterrichtszeit sehr langsam. Es gab eben nicht genügend Lehrer. Die meisten von ihnen waren im Krieg gefallen. Mitunter fiel meine Unterrichtsstunde so, dass ich mit meinen älteren Geschwistern zusammen zur Schule gehen konnte. Ich erinnere mich aber, dass mir dieses keinen Spaß machte. Auf dem Weg zur Schule wurde ich andauernd von den Älteren gehänselt, insbesondere von den Zwillingen Hans und Heinrich. Heute glaube ich noch fest daran, dass damals schon der Grundstein für unsere ein Leben lang andauernden Streitigkeiten gelegt wurde.
Wenn wir uns zum Beispiel der Stelle näherten, wo immer die Rehe grasten, machten die beiden immer vorher schon so viel Lärm, dass sie dadurch die Tiere vertrieben. Die beiden hatten nämlich mitbekommen, dass ich mich an dem Anblick dieser schönen Tiere erfreute. Aber auch sonst taten sie alles, um mir den gemeinsamen Schulweg mit ihnen zu vermiesen.
Irgendwann wurde ich von Oma mit in die Feldarbeit einbezogen. Mit ihr sammelte ich Kornähren. Darunter war Folgendes zu verstehen: Wenn der Mähdrescher, der damals noch nicht so gut und sauber arbeitete, das Kornfeld abgeerntet hatte, blieben immer noch viele Ähren auf dem Feld liegen. Diese mussten dann mit der Hand abgesammelt werden. Nie werde ich vergessen, wie die Stoppeln dann in die Fußsohlen piksten. Das eine Paar Schuhe, das jeder von uns besaß, durfte natürlich nicht zu einer solchen Arbeit getragen werden.
Insgesamt aber ging es uns bei den Vogts seit dem besagten Tag vor Weihnachten erheblich besser. Frau Vogt war bemüht, alle ihre Versprechen einzuhalten. Ebenso erfüllten wir Omas abgegebenes Gegenversprechen.
Einmal bekamen wir sogar in Brümsel von einem Verwandten Besuch. Es war der Bruder unserer Oma und mein Patenonkel aus Berlin-Moabit, Paul Gratzer. Er war katholischer Pastor in einer Kirche mit Namen St. Laurentius in Berlin.
Onkel Paul hatte unseren Aufenthaltsort über das Rote Kreuz herausgefunden, was nach seinen Angaben sehr schwierig war. Aber noch schwieriger war seine Reise von Berlin ins Emsland. Diese Reise hatte mehrere Tage gedauert, in denen er weder geschlafen noch etwas Ordentliches gegessen hatte. Dank unseres neuen Abkommens mit unserer gastgebenden Bäuerin, Frau Vogt, konnte sich mein Patenonkel Paul bei uns seit langer Zeit mal wieder richtig satt essen. Als Frau Vogt dann noch erfuhr, dass Onkel Paul katholischer Priester war, bekam er von Frau Vogt sogar eine eigene Schlafkammer, wohl deshalb, weil sie, wie fast alle Emsländer, katholisch war.
Nach einigen Tagen Aufenthalt bei uns in Brümsel, half sogar Onkel Paul mit, den Hof zu bewirtschaften. Ich erinnere mich noch, wie Onkel Paul mit mir und meiner kleinen Schwester Rita Eicheln und Bucheckern aufsammelte, welche Frau Vogt dann dem Futter ihrer Schweine beimengen konnte.
Onkel Paul half auch einige Male in der katholischen Kirche in Messingen aus. Dadurch und wohl auch wegen seiner einfühlsamen Predigten, die er dabei immer hielt, war er bald in der Gemeinde bekannt und beliebt. Das hatte zur Folge, dass sich unser Verhältnis zu den Vogts noch weiter verbesserte.
Ein Vorfall prägte sich besonders ein: Wir saßen an einem Sonntag nach dem Mittagessen noch zusammen am Tisch, als Oma plötzlich aufsprang, zu einem der Betten ging, unter die Matratze griff und einen in Leinentücher gewickelten Gegenstand hervor holte. Alle schauten gebannt auf das Lappenpaket. Fast feierlich legte Oma das Paket auf den Küchentisch, nahm dann die Leinentücher langsam und bedächtig auseinander, schaute dabei ihrem Bruder Paul in die Augen und sagte: „Schau mal her, Paul, was ich bis hierher gerettet habe. Unser Familiensilber!“
Als der letzte Leinenlappen an die Seite gelegt war, kam ein schon von allen Seiten sehr abgewetzter flacher Lederkasten zum Vorschein. Oma öffnete den Deckel und wir sahen ein komplettes Silberbesteck für sechs Personen. Oma untermalte die Bedeutung des Besteckes mit den Worten: ,,Das ist das Einzige, was ich von unseren Wertsachen mitnehmen konnte. Alle anderen Wertgegenstände habe ich noch schnell, bevor wir vor den Russen abgehauen sind, im Garten unter dem großen Kirschbaum vergraben.“ Dann fügte sie noch hinzu: ,,Hoffentlich ist noch alles da, wenn wir wieder nach Hause kommen!“
Onkel Paul war offensichtlich sehr überrascht, nahm einen Löffel aus dem Besteckkasten, hielt diesen etwas hoch, so dass alle, die am Tisch saßen, ihn auch sehen konnten. Dann zeigte er mit dem rechten Zeigefinger auf das Löffelende, also auf den Löffelgriff, und da waren in altdeutscher Schrift klar und deutlich die Initialen „PG“ zu lesen, welche in das Silber eingraviert waren. Dann sah er von einem zum anderen und sagte mit würdevoller Stimme: ,,Ihr Lieben, dieses sehr wertvolle Silberbesteck habe ich vor nunmehr annähernd dreißig Jahren von meinen lieben Großeltern - Gott habe sie selig - zu meiner Priesterweihe geschenkt bekommen. Da mein Großvater, wie ich, auch Paul Gratzer hieß, hat er wohl die Buchstaben „PG“ in alle Besteckteile eingravieren lassen. Ihr seht also, dass dieses Besteck schon sehr lange in unserem Familienbesitz ist. Da es aber keinen weiteren männlichen Namensträger mit dem Namen Gratzer mehr gibt, habe ich mich schon vor sechs Jahren entschlossen, dieses Besteck meinem Patenkind, unserem Paulchen, anlässlich seiner Taufe zu schenken.“ Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu, und dabei sah er mich fest an: ,,Paulusch, du bist mein Patenkind und die Initialen ,,PG“ passen auch zu dir und deshalb sollst du, wenn du einmal groß bist, mein Silber bekommen. Halte es in Ehren und gib es bitte, wenn die Zeit dafür reif ist, an einen würdigen Nachfolger weiter.“
Zu Oma und Mama gewandt, sagte er: „Und ihr beide seht bitte zu, dass mein Patenkind Paul das Besteck auch zu gegebener Zeit erhält.“ Oma und Mama nickten Onkel Paul zu: ,,Natürlich wird unser Paulusch das Silber bekommen, wenn ich auch zugeben muss, dass ich auf der Flucht und auch besonders in Klingenthal daran gedacht habe, es gegen etwas Essbares einzutauschen.“
Zu Onkel Paul gewandt, sagte Oma: ,,Das musst du mir unbedingt verzeihen, wir haben doch so gehungert!“ Onkel Paul stand auf, ging um den Tisch, legte seine Arme um Oma, die auch aufgestanden war und sagte: ,,Liebste Schwester, natürlich verzeihe ich dir. Wenn ich mit den Kindern auf der Flucht und in einer solchen Notlage gewesen wäre, hätte ich auch alles verscherbelt, um an etwas Essbares zu kommen. Du hast aber trotz alledem allen Versuchungen widerstanden. Das Familiensilber ist noch da, dafür gebührt dir mein besonderer Dank und unser Paulusch wird es dir eines Tages auch noch danken.“
Nach einer weiteren kurzen Pause sagte Onkel Paul: ,,Kinder, lasst uns doch zusammen ein „Vater unser“ beten. Zum einen dafür, dass wir alle die Flucht einigermaßen gesund und vor allem lebendig überstanden haben, und zum anderen dafür, dass euer Vater bald wieder gesund zu euch zurückkehren möge.“
Da wir uns mit den Vogts mittlerweile wirklich gut verstanden, konnte man unser Leben auf dem Hof beinahe als normal bezeichnen. Ich glaube sogar, dass durch unsere Anwesenheit der Schmerz, den Frau Vogt durch den Verlust ihrer beiden Söhne täglich zu erleiden hatte, irgendwie erträglicher wurde. Immer häufiger bat sie uns Kinder in ihre Küche. Dann konnte ich auch beobachten, dass sie öfter mal wieder lachte, was sie in der Anfangszeit nie tat.
Onkel Paul blieb, nach meiner Erinnerung, etwa zwei bis drei Monate bei uns. Irgendwann bekam er ein Telegramm aus Berlin. Hals über Kopf packte er seinen Koffer und nach einem tränenreichen Abschied war er wieder verschwunden. Wir sollten ihn nicht mehr wiedersehen. Wie ich später von meiner Großmutter erfuhr, ist er nach etwa einem Jahr in Ostberlin an einem Herzversagen gestorben. Ich habe diesen gütigen älteren Herrn, der damals so um die sechzig Jahre war, niemals vergessen!
Eines Tages fuhr unten auf dem Hof ein englischer Militär-Jeep vor. Ein Offizier stieg aus und ging ins Haus zu Frau Vogt. Dort erkundigte er sich nach der Familie Gojny, insbesondere nach unserem Vater, Gerhard Gojny. Frau Vogt brachte den Engländer zu uns in unsere Unterkunft. In fließendem Deutsch fragte er unsere Mutter nach unserem Vater. Mutter wusste mit dieser Frage zunächst gar nichts anzufangen.
Stammelnd fragte sie den Offizier: ,,Was, was ist, was ist mit meinem Mann? Haben Sie etwas von ihm gehört? Er ist doch noch vermisst. Er lebt doch noch, nicht wahr?“
Der Engländer, der unter seinem linken Arm ein blankpoliertes Stöckchen mit Griff hielt, ging nun einen Schritt auf unsere Mutter zu. Beruhigend legte er seine rechte Hand auf Mutters Schulter: ,,Bitte beruhigen Sie sich doch, Madame. Ich bin gekommen, um einiges zu klären. Möglicherweise kann ich Ihnen auch helfen. Dazu muss ich Ihnen erst einmal einige Fragen stellen, die Sie mir bitte beantworten sollten.“
,,Ja, natürlich!“, antwortete Mama. „Ich hatte nur solch eine Angst, dass Sie mir meinen Mann betreffend eine schlimme Nachricht überbringen würden.“
,,Aber nein, ganz im Gegenteil. Ich glaube, ich kann Ihnen helfen. Also, war Ihr Mann an der deutsch-polnischen Grenze Zollbeamter beziehungsweise Zolloffizier?“
,,Ja!“, sagte meine Mutter. „Das war er. Mein Mann war Zolloberinspektor und Leiter des Zollgrenzkommissariats in Groß Wartenberg an der deutsch-polnischen Grenze. Drei Tage vor unserer Flucht aus Niederschlesien ist er morgens mit seinem Diensthund zum Dienst gefahren und nicht wiedergekommen. Seitdem gilt er als vermisst. Ich habe auch seitdem nichts mehr von ihm gehört. Aber ich weiß sicher, dass er noch lebt. Das spüre ich.“
„Ok, Madame“, sagte der Offizier. „Dann lassen Sie mich zunächst einmal erklären, warum ich hier bin. Niedersachsen, das heißt, auch diese Gegend hier entlang der holländischen Grenze, steht unter unserem britischen Kommando. Meine Dienststelle, die hier eine funktionierende Verwaltung, also auch eine Zollverwaltung aufbauen soll, hat mich zu Ihnen geschickt, um mich nach Ihrem Mann zu erkundigen. Wir brauchen dringend jeden Zollbeamten, um die deutsch-niederländische Grenze zu bewachen. Wir hatten die Information, dass Ihr Mann wieder bei Ihnen, das heißt, bei seiner Familie sei. Es tut mir sehr leid, dass dem nicht so ist.“ Dann ließ er seinen Blick durch unsere Notunterkunft schweifen und fügte hinzu: „Dass er hier bei Ihnen und den sechs Kindern dringend gebraucht wird, ist unschwer zu erkennen.“ Mitleidig schaute er von einem zum anderen. Dann salutierte er kurz vor unserer Mutter, machte auf dem Absatz kehrt und ging in Richtung Tür.
Ehe er sie aber erreichte, drehte er sich noch einmal um und sagte zu den beiden Frauen: „Wir haben in Rühlertwist, ein kleiner Ort bei Meppen, direkt an der Grenze, einige Zollhäuser. Mal sehen, ob da nicht für Sie eine geeignete, größere Wohnung frei ist. So können Sie unmöglich mit den vielen Kindern weiter hausen. Wenn dann Ihr Mann nach Hause kommt, ist er nicht nur gleich bei Ihnen, sondern auch gleich auf seiner Dienststelle, wo wir ihn ohnehin eingeplant haben. Mal sehen, was sich da machen lässt. Sie hören auf alle Fälle bald wieder von mir.“
Dann nahm er noch einmal kurz seine Hand an die Mütze und verließ endgültig den Raum. Vom Fenster aus konnte ich noch beobachten, wie er unten im Hof in einen dunkelgrünen Jeep stieg und in Richtung Straße davon fuhr.
Eine ganze Weile herrschte tiefes Schweigen im Raum. Meine Großmutter fand zuerst ihre Sprache wieder: ,,Lenchen“, die stand noch wie erstarrt auf demselben Fleck, ,,hast du eigentlich mitbekommen, was der Engländer gesagt hat? Die wollen erfahren haben, dass Gerhard wieder da ist. Also lebt er. Du hattest immer Recht, er lebt und wird sicher bald bei uns sein.“
Mutter fiel Oma um den Hals. Vor Freude fingen die beiden an zu weinen. Als auch Mama die Sprache wiederfand, sagte sie: ,,Kinder, habt ihr gehört? Unser Papa wird bald wieder bei uns sein. Er lebt, er lebt! Dieser englische Offizier hat es gesagt! Er sah mir nicht so aus, als wenn er uns nur trösten wollte, warum auch? Die brauchen Papa wirklich, sonst wäre er doch nicht extra von Meppen hierhergekommen. Aber was sollen wir jetzt nur machen, wo können wir mehr in Erfahrung bringen?“
„Sachte, sachte, mein Kind, jetzt nur nicht durchdrehen“, antwortete Großmutter. „Was wir jetzt vor allem brauchen, ist Geduld und einen klaren Kopf. Er wird wiederkommen, er wird sein Versprechen halten. Genauso wie damals in Leipzig die Amerikaner ihr Versprechen gehalten haben. Die Situation ist doch in etwa die Gleiche. Wir brauchten damals wie heute Hilfe. Die Versprechen kamen damals wie heute freiwillig und, wie ich glaube, von Herzen. Also wird auch dieser englische Gentleman sein Versprechen einlösen. Lenchen, hab noch etwas Geduld, es wird alles gut.“
Allerdings wurde die Geduld unserer Mutter noch auf eine sehr harte Probe gestellt. Es sollten Wochen vergehen, bis wir wieder von dem englischen Offizier hörten.
Als Mutter und Großmutter schon gar nicht mehr an den Engländer glaubten, die Hoffnung schon geschwunden war, dass er sich noch einmal melden würde, geschah das Unfassbare. Ich war gerade aus der Schule kommend von der Straße auf den Hof abgebogen, da fuhr direkt hinter mir ein Jeep in die Hofeinfahrt. Als er langsam an mir vorbei fuhr, erkannte ich sofort den englischen Offizier, auf den Mama nun schon wochenlang sehnsüchtig wartete. Wieder freundlich lachend und mit der Hand winkend, fuhr er an mir vorüber. Ich rannte, so schnell ich konnte, hinter dem Jeep her. Als ich bei diesem ankam, war der Engländer schon ausgestiegen und im Haus verschwunden. Der Fahrer war im Wagen sitzen geblieben. Ich lief an dem Auto und dem Fahrer vorbei hinter dem Offizier her. Unbedingt wollte ich hören, was dieser an Neuigkeiten von unserem Vater hatte.
Ich kam keinen Moment zu früh. Auf den letzten Stufen angekommen, hörte ich ihn schon sagen: ,,Madam, zunächst möchte ich mich entschuldigen, dass ich so lange nichts von mir hören ließ. Widrige Umstände haben das verhindert. Zunächst hatte man mich zur Berichterstattung nach England beordert. Dort habe ich auch gleich eine wichtige Familienangelegenheit, die keinen Aufschub duldete, erledigen können. Das Ganze hat aber mehr Zeit in Anspruch genommen, als ich vorher eingeplant hatte. Zurück auf meinem Kommando in Meppen, musste ich zunächst meinen Chef vertreten, der plötzlich erkrankt war. Erst seit etwa zehn Tagen kann ich mich wieder meiner eigentlichen Aufgabe widmen, die da lautet: Wiederaufbau einer Zollbehörde an der deutsch-niederländischen Grenze.
Noch bevor ich zu der besagten Berichterstattung nach England abgeflogen bin, habe ich meinem Adjutanten zwei Aufträge erteilt, welche er während meiner Abwesenheit erledigt hat. Und so glaube ich, dass ich einige gute Neuigkeiten für Sie und Ihre Familie habe.“
Er fuhr mit seiner Berichterstattung fort: „Mein Adjutant fand mit Hilfe des Roten Kreuzes, der neuen deutschen Regierung, der Stäbe der Alliierten und wen er sonst noch so befragt hat, heraus, dass Ihr Mann tatsächlich noch lebt. Er ist von den Russen, wo er lange in Gefangenschaft war, entlassen worden. Wo er sich jetzt aufhält, wissen wir nicht. Wahrscheinlich sucht er irgendwo im Osten nach Ihnen. Woher soll er auch wissen, dass Sie sich mit den Kindern bis hierher allein durchgeschlagen haben.“
Leise hatte ich hinter dem englischen Offizier das Zimmer betreten, so dass ich direkt hinter ihm stand. Außer ihm und Mama war niemand im Zimmer. Als der Offizier das Zimmer betrat, war Mutter aufgestanden. Sie stand hinter einem Küchenstuhl, an dessen Lehne sie sich festhielt, wohl schon in Erwartung, gleich etwas zu hören, dass sie umhauen könnte.
Tatsächlich fing sie plötzlich an zu schwanken. Sie wurde kreideweiß im Gesicht. Gleichzeitig fing sie an zu stammeln: ,,Gerhard lebt, mein Gott, Gerhard lebt! Ich habe es ja immer gewusst, er kommt zu uns zurück!“
Der Engländer, der natürlich mitbekommen hatte, dass Mutter einem Zusammenbruch nahe war, war mit einem Satz bei ihr, legte einen Arm um sie und ließ sie behutsam auf dem Stuhl, an dessen Lehne sie sich vorher festgehalten hatte, Platz nehmen. Dann drehte er sich zu mir um und sagte: ,,Bringe deiner Mutter schnell ein Glas Wasser.“
Ich warf meinen Schulranzen auf den Fußboden, rannte zum Spülstein, füllte ein Glas mit Wasser und gab es Mutter. Als sie es zum Mund führen wollte, zitterte sie so stark, dass das Wasser aus dem Glas rausspritzte. Wieder half ihr der englische Offizier. Er nahm Mutter das Glas aus der Hand und führte es behutsam an ihre Lippen.
Beruhigend sprach er auf sie ein: ,,Es ist alles gut, beruhigen Sie sich. Ich weiß, was Sie alles durchgemacht haben, aber jetzt wird alles gut. Ihr Mann wird Sie sicher bald finden und bei Ihnen sein. Wir suchen auch schon nach ihm, weil wir ihn brauchen. Wenn er kommt, muss er sich dringend bei uns melden.“
Langsam beruhigte sich Mama. Sie schaute den Offizier noch einmal an und fragte ihn dann mit gefasster Stimme: ,,Ist da kein Irrtum möglich, mein Mann lebt und befindet sich bereits wieder in Deutschland?“
Der Soldat entgegnete: „Ja, Madam, das sind unsere Informationen. Ich bin mir sicher, dass sie stimmen.“ Der Engländer, der immer noch das Wasserglas in der Hand hielt, schaute Mutter noch einmal direkt ins Gesicht und fügte hinzu: ,,Und ich persönlich wünsche Ihnen das von ganzem Herzen.“
Dann trat er wieder drei Schritte zurück, richtete sich kerzengerade auf und fuhr seine unterbrochene Rede mit den für uns so wichtigen Nachrichten fort:
„Mein Adjutant hatte noch einen Auftrag von mir bekommen. Er sollte sich in den Zollhäusern in Rühlertwist nach einer vernünftigen Wohnung für Sie umsehen. Auch diese Aufgabe hat er zu meiner vollsten Zufriedenheit gelöst. Er ist fündig geworden.“
Weiterführend erklärte er: „Mein Adjutant ist nach Rühlertwist gefahren und hat festgestellt, dass dort zwei Wohnungen für noch zu findende Zollbeamte frei sind, eine größere und eine kleinere. Die größere Wohnung hat er sofort für Sie und Ihre Familie reserviert. Sie sehen, dass auch wir darauf vertrauen, dass Ihr Mann bald wieder hier bei Ihnen sein wird. Dann haben auch wir den von uns dort gewünschten Leiter des Zollgrenzkommissariats Rühlertwist.“
Meine Mutter hatte sich soweit wieder gefasst. Sie ging zwei Schritte auf den Gentleman zu. Am liebsten hätte sie ihn wohl in den Arm genommen, beherrschte sich aber in letzter Sekunde, blieb vor ihm stehen und sagte: ,,Entschuldigen Sie bitte, dass ich eben die Beherrschung verloren habe. Das alles ist etwas viel für mich. Zuerst bringen Sie mir die unglaubliche Nachricht, dass mein Mann tatsächlich noch lebt, ja, dass er schon in Deutschland ist und nach uns sucht. Schon das hat mich umgehauen. Nun setzen Sie noch einen oben drauf und sagen, dass Sie für uns eine richtige Wohnung zur Verfügung haben, in der für uns alle Platz ist. Entschuldigung. Das ist alles zu viel für mich.“
Plötzlich legte sie beide Hände vor ihr Gesicht und sagte wohl mehr zu sich selbst: ,,Mein Gott, was mache ich jetzt nur, was mache ich bloß?“ Sie nahm die Hände wieder runter und sah den Engländer wieder an: ,,Entschuldigung, Sie sind der, welcher mir nach so langer Zeit so gute Nachrichten überbracht hat und ich habe Ihnen noch nicht einmal angeboten sich zu setzen, geschweige denn etwas zu trinken. Aber außer einem Glas Milch habe ich auch nichts.“
Der Engländer nahm die Hand ein wenig hoch und sagte zu Mutter: ,,Madam, diesmal habe ich auch daran gedacht. Ich habe Ihnen - wie sagt man auf Deutsch - einen Fresskorb mitgebracht. Darin finden Sie auch guten Tee und Bohnenkaffee.“
Dann drehte er sich zu mir, lachte mich an und sagte: ,,Boy, kannst du zu meinem Fahrer runterlaufen und ihm sagen, dass er den Korb mit den Lebensmitteln hochbringen soll?“
Ohne ihm zu antworten, drehte ich mich um und rannte die Treppe runter, so schnell ich konnte. Unten angekommen, hätte ich beinahe meine Großmutter und meine Schwester Brigitte, die gerade von der Feldarbeit nach Hause kamen, umgerannt. Als ich schon an ihnen vorbei war, drehte ich mich zu ihnen um und im Rückwärtslauf rief ich ihnen zu: ,,Da oben ist der Engländer. Er hat gesagt, dass Papa lebt! Wir bekommen eine große Wohnung und einen Fresskorb hat er auch mitgebracht. Den hol‘ ich jetzt rauf.“
Oma hatte sich mir zugewandt und sagte: ,,Junge, was erzählst du denn da? Was ist los? Wer lebt? Was für eine Wohnung und was sollst du raufholen?“
Ohne eine Antwort abzuwarten, rannte sie nun ihrerseits die Treppe hinauf, gefolgt von Brigitte. Ich meinerseits ging aus dem Haus und auf den Jeep zu. Als ich bei diesem angekommen war, ging die Tür auf und ein anderer Soldat stieg aus. In seiner rechten Hand hielt er unübersehbar einen großen Korb. Diesen hielt er mir entgegen: ,,Here, boy, that‘s for you.“
Ich konnte zwar kein Wort Englisch, aber das hatte ich doch verstanden. Ich warf einen Blick in den Korb. Was ich da zu sehen bekam, hatte ich schon ewig nicht gesehen. Der Korb, und es war ein großer, war randvoll mit frischem Brot, Schinken, diversen Sorten Wurst, Butter und Keksen gefüllt. Obenauf lagen Päckchen mit Tee und Kaffee. Eins war mir sofort klar: Der Korb war für mich zu groß und zu schwer. Der Soldat sagte: „Come on, boy, we do it together.”
Auch wenn ich ihn nicht verstanden habe, wusste ich doch, was er meinte. Ich fasste an die freie Seite des Korbbügels und versuchte, den Korb mit anzuheben. Und ab ging‘s nach oben. Vor der Treppe stoppte der Soldat und ließ mich vorgehen. So gingen wir die Treppe hinauf in unsere Unterkunft. Als ich den Raum mit dem anderen Soldaten betrat, nahm der Offizier (später erfuhr ich, dass er ein Kapitän der englischen Airforce war) gerade mit meiner Mutter am Tisch Platz. Oma hantierte am Küchenherd herum. Der Fahrer des Jeeps salutierte kurz vor dem Kapitän und stellte den schweren Korb auf den Tisch. Meine Mutter und Großmutter schauten in den Korb. Was sie da sahen, verschlug ihnen offensichtlich die Sprache. Mutter schlug beide Hände vor das Gesicht: ,,Mein Gott, was haben Sie für feine Sachen für uns mitgebracht? Das ist ja alles gar nicht zu fassen und warum tun Sie das alles für uns? Sie kennen uns doch gar nicht!“
Der Engländer schaute Mutter an und sagte: ,,Madam, ich weiß, wann Hilfe Not tut und wann ich jemandem eine Freude bereiten kann. Und Sie und Ihre Kinder brauchen dringend Hilfe und vor allem brauchen Sie dringend eine größere Wohnung, damit Sie hier aus dieser Behausung herauskommen. Aber es gibt für mich noch einen Grund, Ihnen zu helfen. Im zivilen Leben bin ich, wie Ihr Mann auch, Zollbeamter. Deshalb hat man mich ja auch beauftragt, an der deutsch-niederländischen Grenze eine neue Zollbehörde aufzubauen, zu der hoffentlich sehr bald auch Ihr noch vermisster Ehemann gehören wird. Das ist auch der Grund, warum ich Ihnen helfen möchte und ich mich irgendwie mit Ihnen verbunden fühle.“
Oma, die offensichtlich aufmerksam zugehört und in der Zwischenzeit am Herd das Wasser zum Kochen gebracht hatte, meldete sich nun das erste Mal zu Wort: ,,Sir, ich kann Ihre Güte und Zuneigung uns gegenüber auch noch nicht richtig begreifen, aber wie dem auch sei, Sie werden Ihre Gründe dafür haben. Das sollte uns erst einmal genügen. Auf alle Fälle danke ich Ihnen im Namen der ganzen Familie. So etwas Feines haben wir schon lange nicht mehr gesehen und schon gar nicht gegessen.“
Sie fragte darauf: „Darf ich ein Päckchen Kaffee öffnen?“ Dabei griff sie schon nach dem Kaffee. Mit einem kleinen spitzen Messer öffnete sie es und gab ein paar Teelöffel Kaffeebohnen in eine alte, viereckige und hölzerne Kaffeemühle. Dann klemmte sie die Mühle zwischen die Knie und drehte beinahe andächtig an der Kurbel. Alle sahen ihr dabei zu.
Der Fahrer des Kapitäns war vor dem Tisch stehen geblieben. Mutter bat ihn, doch Platz zu nehmen, woraufhin er seinen Vorgesetzten fragend ansah. Als dieser fast unmerklich mit dem Kopf nickte, nahm er Platz.
Oma war derweil mit dem Kaffeemahlen fertig geworden. Fast feierlich zog sie nun die kleine hölzerne Schublade aus der Mühle und schüttete den gemahlenen Bohnenkaffee in eine alte, schon sehr abgestoßene, emaillierte Blechkanne. Dann nahm sie die alte Wasserkanne vom Herd, in der das Wasser kochte und goss dieses über den gemahlenen Bohnenkaffee. Einen Moment später füllte sich der ganze Raum mit einem wunderbaren Kaffeearoma. Dieser Duft war so angenehm intensiv. Noch Jahre später, ja mitunter noch heute, denke ich automatisch an diese Szene, wenn ich unverhofft irgendwo frischen Kaffeeduft einatme!
Die alte Kaffeemühle sowie die Kaffeekanne und auch die zusammengewürfelten Kaffeetassen stammten aus den „Schätzen“ der Frau Meindl in Klingenthal. Diese hatte uns vor der Abreise noch einen alten großen Koffer gebracht. Oma hatte dann alles, was Frau Meindl uns geschenkt hatte, in den Koffer gepackt und mitgenommen. Großmutter schenkte zunächst den beiden Soldaten, dann Mutter und zum Schluss sich selber Kaffee ein. Brigitte und ich bekamen ein Glas Milch.
Der Küchenherd strahlte eine angenehme Wärme aus. Ab und zu knisterte auch das Feuerholz. Vermischt mit dem so wunderbaren Kaffeeduft, ergab das alles zusammen eine fast gemütliche Atmosphäre. Alle genossen ihren Kaffee und schwiegen, bis Oma in diese Stille hinein sagte: ,,Wenn Sie wüssten, wie lange wir schon keinen Bohnenkaffee mehr getrunken haben. Deshalb genießen wir jetzt auch jeden Schluck. Darf ich denn auch das Päckchen mit den Butterkeksen aufmachen?“, fragte sie und griff auch schon danach. Der Kapitän nickte und antwortete sogleich: ,,Natürlich, Madam, dafür habe ich das alles ja mitgebracht.“ Er griff selber in das geöffnete Päckchen, nahm vier Kekse heraus und mit einem freundlichen Lachen wandte er sich meiner Schwester und mir zu und gab jedem von uns zwei Kekse in die Hand.
Ich überlegte nicht lange, vergaß auch zunächst Danke zu sagen und steckte beide Kekse auf einmal in den Mund. Die Butterkekse hatten einen wunderbaren Geschmack. Niemals zuvor hatte ich so einen lieblichen Geschmack auf der Zunge.
Wohl einer plötzlichen Eingebung folgend, sprang ich den englischen Offizier an, legte beide Arme um ihn und drückte ihn so fest ich konnte. Dabei sagte ich immer wieder laut: ,,Danke, danke.“ Dann trat ich einen Schritt zurück und fragte ihn: „Und du bringst uns wirklich unseren Papa zurück?“
Offensichtlich war der Käpten ob meines überraschenden Gefühlsausbruches ein wenig verlegen. Doch er hatte sich schnell wieder gefangen und fragte mich nach meinem Namen. Artig antwortete ich ihm: „Ich heiße Paul.“
„Oh, das ist beautiful, mein kleiner Sohn heißt auch Paul. Er ist aber erst zwei Jahre alt. Come to me, boy.“ Dann zog er mich an sich und drückte mich ganz fest und sagte: ,,Und nun zu deiner Frage. Ich glaube tatsächlich daran, dass dein Vater noch lebt und dass er bald bei euch sein wird. Wenn alles gut geht, wird er wohl in den nächsten Tagen bei uns oder hier bei euch aufkreuzen.“ Dann ließ er mich wieder los und wandte sich Mama zu: „Weil ich daran auch wirklich glaube, können wir, das heißt, wenn Sie wollen, schon den Umzug nach Rühlertwist vorbereiten und durchführen. Damit kommen Sie hier schon mal aus der Enge heraus.“
„Natürlich wollen wir das, aber wir haben doch nichts! Keine Möbel, keine Betten, nicht mal Bettwäsche. Alles, was hier drinnen ist, gehört der Familie Vogt. Geld haben wir natürlich auch nicht, so dass wir uns auch nichts kaufen können“, hörte ich meine Mutter antworten.
„Damit habe ich gerechnet“, sagte der Engländer. „Mein Adjutant hat deshalb, auf meine Anweisung hin, schon einiges organisiert und zusammentragen lassen. Soviel ich jetzt weiß, steht in der in Frage kommenden Wohnung schon eine alte, aber noch intakte Küche. Sogar Töpfe, Schüsseln und Pfannen sind schon vorhanden. Die letzten Bewohner haben das alles stehen gelassen. Aus alten militärischen Beständen, die sowieso im Moment niemand braucht, hat er Betten, Matratzen und jede Menge Decken nebst Bezügen organisiert. Auch hat er schon einige Schränke aufgetrieben. Sie sehen also, wir waren nicht untätig, sondern haben Ihren Umzug nach Rühlertwist vorbereitet. Wenn Sie wollen, können Sie nächste Woche umziehen.“
Mutter war wohl sprachlos. Oma fragte: ,,Und was ist mit einer Schule für die Kinder?“
„Die gibt es dort, wenn auch nur zwei Lehrer und zwei Klassenräume. Aber besser als nichts und mit der Zeit wird das sicher auch wieder besser. Wir arbeiten daran. Also, wann soll ich Ihnen den Militärlaster schicken?“, fragte er.
Mutter fand dann doch noch die Sprache wieder und fragte: ,,Von was sollen wir denn dort leben? Hier leben wir von der Feldarbeit und von dem, was uns Frau Vogt dafür gibt.“
„Das ist allerdings ein Problem, aber nur so lange Ihr Mann noch nicht da ist. Wenn er seinen Dienst wieder antritt, bekommt er natürlich auch wieder ein Gehalt, von dem Sie dann alle leben können. Bis dahin werden wir, das heißt die englische Militärverwaltung, Sie irgendwie über Wasser halten. Meppen ist gerade mal ein paar Kilometer von Rühlertwist entfernt. Eventuell können Sie sogar bei uns einen bezahlten Job bekommen. Für so starke Frauen, die Sie nun mal sind, werden wir sicher etwas finden. Also, gehen wir es an“, erklärte der Captain.
Oma hatte wohl einen Augenblick nachgedacht und meldete sich nun ihrerseits zu Wort: „Meine Tochter und ich, wir danken Ihnen von ganzem Herzen, aber bitte geben Sie uns eine Woche länger Zeit. Wir müssen die Kinder von der Schule abmelden, wir müssen auch Frau Vogt auf unseren baldigen Auszug vorbereiten. Auch wenn sie uns mit ihrem Sohn anfangs nicht gerade freundlich behandelt hat, haben wir doch in den letzten Monaten ein recht herzliches Verhältnis zu ihr aufbauen können. So konnten wir hier auf dem Hof immerhin so viel verdienen, dass wir davon leben konnten. Da sie auch schwere persönliche Schicksalsschläge durch diesen schrecklichen Krieg hinnehmen musste, müssen wir ihr Zeit geben, sich auf unseren Auszug vorzubereiten. Ich glaube nämlich, dass sie uns, besonders die Kinder, mittlerweile ins Herz geschlossen hat, so dass unser plötzlicher Auszug sie sicher hart treffen wird. Also, bitte, heute in vierzehn Tagen wäre uns recht. Was halten Sie von dem Vorschlag?“
Der Captain holte ein Notizbuch aus seiner linken Brusttasche, blätterte einen Moment darin herum, überlegte kurz und sagte: ,,O.K., Madam, also, heute in vierzehn Tagen, am Freitag, den 15. Mai vormittags um zehn Uhr werden wir, das heißt, mein Fahrer und ein anderer Soldat, mit einem LKW hier sein, um Sie mit Ihren Habseligkeiten abzuholen.“ Nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: ,,Groß braucht er ja nicht zu sein, denn die Möbel bleiben ja wohl hier.“
Dann stand er auf, gab Mutter und Oma die Hand, grüßte kurz militärisch und mit den Worten ,,Wir sehen uns in Rühlertwist!“ und verließ unsere Unterkunft. Sein Fahrer war mit seinem Vorgesetzten aufgestanden und ging direkt hinter ihm die Treppe runter. Unten stiegen sie dann in den Jeep und fuhren davon.
Als die Soldaten weg waren, sprang Mutter plötzlich auf, rannte um den Tisch, dabei hätte sie mich fast umgerannt, nahm unsere Oma in den Arm, küsste sie auf die Wangen und rief immer wieder: ,,Kinder, habt ihr das gehört? Papa lebt und er wird bald wieder bei uns sein. Ich habe es ja gewusst und auch immer gesagt, Papa lebt und er kommt wieder. Jetzt habt ihr es selber gehört und eine große Wohnung bekommen wir auch, jetzt wird alles gut. Ihr werdet es sehen.“
Mutter war ganz offensichtlich außer sich vor lauter Freude. Oma freute sich natürlich auch über diese außerordentlich guten Nachrichten. Deshalb behielt sie auch Mama in ihren Armen. Beide führten so etwas wie einen Freudentanz auf. Niemals zuvor hatte ich Mutter und Großmutter so glücklich und ausgelassen gesehen. Bis heute sehe ich dieses Bild von Freude und Glück noch genau vor mir!
In den folgenden Tagen hatten die beiden Frauen viel zu tun. Sie meldeten uns bei der Gemeinde und bei der Schule in Messingen ab. Dann mussten sie Kartons, Säcke und andere Behältnisse, in denen unsere Habseligkeiten für den Umzug verstaut werden mussten, besorgen.
Ja, und dann mussten sie ja noch Frau Vogt die Umzugs- bzw. die Auszugsnachricht überbringen. Ich glaube heute noch, dass dieses den beiden Frauen sehr schwer gefallen sein ist.
Mehrere Tage schoben sie diesen Termin vor sich her. Aber eines Tages sagte Oma entschlossen zu Mama: ,,Lenchen komm, wir gehen jetzt runter zu Frau Vogt und sagen ihr, dass wir nächste Woche Freitag ausziehen. Die wird Augen machen. Hoffentlich verkraftet sie das!“
Mutter sagte: ,,Das ist schon eigenartig, zunächst haben die beiden, Mutter und Sohn, uns ja richtig mies empfangen und auch sehr, sehr schlecht behandelt und regelrecht schikaniert. Aber durch dein kluges und besonnenes Verhalten hat sich das Blatt dann langsam aber sicher zum Guten gewendet. Ich glaube sogar, dass sie uns, insbesondere die Kinder, recht gern hat. Aber wir dürfen auch nicht vergessen, dass diese arme Frau im Krieg ihren Mann und ihren ältesten Sohn verloren hat und dass sie plötzlich mit ihrem Sohn, der selber noch ein halbes Kind war, vor dieser riesigen Aufgabe stand, den großen Hof allein führen zu müssen. Das hat sie zunächst verhärmt und ihr Herz versteinert.
Ich glaube schon, dass wir im letzten Jahr für sie eine große Hilfe waren. Deswegen hat sie sich auch redlich bemüht, alles wieder gut zu machen, denn dadurch konnten wir doch einigermaßen problemlos und sicher das letzte Jahr überleben. Dafür müssen wir Frau Vogt immer dankbar sein. Die Frage ist nun, wie bringen wir ihr unser Vorhaben so schonend wie möglich bei? Komm, Mutter, lass uns zu ihr runtergehen.“
Ich hatte den beiden Frauen schweigend zugehört. Nun meldete ich mich mit der Frage zu Wort: ,,Darf ich mitkommen?“ Oma schaute Mutter kurz an und sagte: ,,Warum nicht? Komm mit, Paulchen.“
Nun aber wollte meine Schwester Brigitte auch mit. ,,Gut“, sagte Mama. „Dann müssen wir aber den kleinen Gerhard auch mitnehmen.“ Sie ging in unser zweites Zimmer und kam einen Augenblick später mit unserem kleinen Bruder Gerhard auf dem Arm wieder heraus. Sie hielt ihn aber gleich meiner Schwester unter die Nase. Dabei sagte sie: ,,Riech mal! Wir müssen ihn aber zunächst wickeln.“ Oma legte schnell eine Decke auf den Küchentisch, holte dann eine frisch gewaschene Windel aus der Abseite. Nur wenige Augenblicke später war unser kleiner Bruder wieder frisch gewickelt.
Nun ging es ohne weitere Verzögerung nach unten zu Frau Vogt. Oma klopfte erst sehr leise an die Küchentür. Als sich niemand meldete, wiederholte sie das Klopfen, aber diesmal merklich lauter. Wir hörten Frau Vogt rufen: ,,Kommt doch rein, die Tür ist offen!“
Oma öffnete die Tür und betrat die Küche, gefolgt von Mutter mit dem Kleinen auf dem Arm. Danach betraten Brigitte und ich die Küche. Frau Vogt saß gegenüber der Tür am großen hölzernen Küchentisch auf der Eckbank. Vor ihr stand ein Butterfass. Offensichtlich hatte sie gerade gebuttert.
„Kommt und setzt euch zu mir an den Tisch. Ich bin schon gespannt, was ihr auf dem Herzen habt? Wie ihr seht, habe ich gerade gebuttert. Auch habe ich vorhin ein frisch gebackenes Landbrot aus dem Ofen geholt“, berichtete sie.
,,Oh!“, sagte Oma. „Das passt aber gut. Diesmal habe ich etwas für Sie mitgebracht. Einen frischen gemahlenen Bohnenkaffee, den uns die Engländer geschenkt haben. Ich nehme an, dass auch Sie schon lange keinen echten Bohnenkaffee mehr getrunken haben, also lassen Sie uns den aufbrühen. Es gibt auch etwas zu feiern. Aber das soll Ihnen meine Tochter selber erzählen.“
„Was haben Sie da? Echten Bohnenkaffee? Den habe ich wirklich schon eine Ewigkeit nicht mehr getrunken. Der kommt bestimmt aus Holland. Die haben da drüben noch oder wieder welchen. Die Kanne finden Sie da drüben im Küchenschrank und das kochende Wasser steht auf dem Herd. Ich mache uns derweil ein paar Scheiben Brot mit frisch gestampfter Butter“, kündigte sie an.
Während Oma den Kaffee aufgoss und Frau Vogt die Butterbrote schmierte, holte Mama die Kaffeetassen aus dem Wandschrank. Als alle am Tisch Platz genommen hatten und mit Butterbrot und Kaffee, wir Kinder mit frischer Milch, versorgt waren, fragte Frau Vogt: ,,Was gibt es denn nun zu feiern? Sie haben mich richtig neugierig gemacht. Hängt das auch mit dem Besuch der englischen Soldaten zusammen? Die waren doch schon vor einigen Wochen bei Ihnen. Mein Sohn und ich, wir haben uns schon gefragt, was die wohl von Ihnen wollen?“
Oma nickte Mutter aufmunternd zu: ,,Ja, also...“, fing Mama etwas zögerlich an. „Die Engländer haben mir letztens schon Hoffnung gemacht, dass mein Mann wahrscheinlich noch lebt. Sie wollten wissen, ob er schon hier bei uns sei. Mein Mann ist von Beruf Zollbeamter. Nach Aussagen des englischen Offiziers, der uns besucht hat, brauchen ihn die Engländer zum Aufbau einer neuen Zollverwaltung an der deutsch-niederländischen Grenze. Heute war er wieder da. Er hat uns bestätigt, dass mein Mann tatsächlich am Leben ist. Allerdings hält er sich wohl noch im Osten Deutschlands auf und sucht dort nach uns. Woher soll er auch wissen, wo wir nach der Flucht vor den Russen gelandet sind. Der englische Captain glaubt aber, dass er uns doch sehr bald über das Rote Kreuz ausfindig machen wird. Sie sehen, liebe Frau Vogt, für uns gibt es wirklich etwas zu feiern!“
Frau Vogt hatte die ganze Zeit still dagesessen und zugehört. Plötzlich liefen ihr die Tränen nur so runter. Sie ergriff Mutters Hand, drückte diese ganz fest und sagte: „Ich gratuliere Ihnen von ganzem Herzen und hoffe wirklich, dass Ihr Mann Sie findet und recht bald wieder bei Ihnen ist.“
Plötzlich stockte sie, schlug sich beide Hände vor das Gesicht und fing laut an zu weinen. Mutter hatte wohl sofort verstanden, warum Frau Vogt so fürchterlich weinte. Sie nahm sie nun ihrerseits in den Arm und strich ihr liebevoll übers Haar.
Dann hörte ich sie sagen: „Ich wünschte, ich könnte Ihnen auch so eine wundervolle Nachricht überbringen, liebe Frau Vogt. Aber leider kann ich das nicht. Auch wenn Sie unserer aller Mitgefühle sicher sein können, wird Ihnen das nicht helfen. Aber ich hoffe sehr und bete zu Gott, dass auch Sie bald mit diesem unendlichen Schmerz fertig werden und dass auch für Sie und Ihren Sohn bessere Zeiten kommen mögen.“
Frau Vogt trocknete sich mit der Küchenschürze die Tränen aus den Augen, sah Mutter an und sagte: „Liebe Frau Gojny, ich gönne Ihnen Ihr wieder heimkommendes Glück von ganzem Herzen. Nur man fragt sich halt immer wieder, warum musste ausgerechnet mir das alles passieren? Warum musste ausgerechnet mein Mann an der Ostfront fallen? Und warum dann auch noch mein ältester Sohn Leo? Glauben Sie mir, hätte ich nicht noch meinen jüngsten Sohn, der mich noch braucht, dann hätte ich schon längst mit allem Schluss gemacht! Bitte verzeihen Sie mir meinen Gefühlsausbruch.“ Nach einer Weile fügte sie hinzu: ,,Lassen Sie uns nun mit diesem wunderbar duftenden Kaffee auf die baldige Heimkehr Ihres Mannes anstoßen.“
Alle nahmen jetzt ihre Tasse und stießen mit dem Kaffee an. Frau Vogt sagte: ,,Auf eine glückliche Heimkehr Ihres Mannes.“ ,,Danke!“, sagte Mama. Nun sah Mama unsere Oma hilfesuchend an. Eigentlich waren wir ja zu Frau Vogt runtergegangen, um sie von unserem baldigen Auszug zu unterrichten.
Nachdem das Gespräch nun aber eine solche Wendung genommen hatte, war es für Mama besonders schwer, dieses Vorhaben umzusetzen. Sie räusperte sich, legte ihre rechte Hand auf die Schulter von Frau Vogt und sie anschauend sagte sie: ,,Liebe Frau Vogt, da gibt es noch etwas, was wir Ihnen sagen müssen.“
Frau Vogt schaute nun ihrerseits unsere Mutter an. Nachdem Oma ihr aufmunternd zugenickt hatte, sagte Mama: ,,Dass mein Mann zurückkommt, ist die eine gute Nachricht, die uns die Engländer überbracht haben. Da sie aber mit Sicherheit davon ausgehen, dass mein Mann in den nächsten Tagen, aus dem Osten kommend, hier aufkreuzen wird und sie ihn sofort bei der Zollbehörde in Rühlertwist einstellen wollen, haben sie uns dort eine große Dienstwohnung zur Verfügung gestellt, in die wir sofort einziehen können.“
Danach entstand eine eigenartige Stille. In diese Stille hinein fragte Brigitte: ,,Darf ich wohl noch ein Glas Milch?“ ,,Natürlich“, sagte Frau Vogt und goss meiner Schwester das Milchglas wieder voll. Als sie die Milchkanne wieder absetzte, sagte sie: ,,Heißt das, dass Sie uns verlassen werden? Wann?“
Wieder entstand eine Gesprächspause, wieder sah Mutter Oma hilfesuchend an, woraufhin Oma das Wort ergriff: ,,Ja, liebe Frau Vogt. Es fällt uns ja selber schwer. Wir werden nächste Woche Freitag nach Rühlertwist in die große Dienstwohnung umziehen.“ Nach einer kurzen Pause fuhr sie dann fort: ,,Vielleicht ist es auch gut, dass hier auf Ihrem Hof und bei Ihnen wieder Ruhe einkehrt. Wir wissen natürlich selbst, dass wir hier mit den sechs mehr oder weniger kleinen Kindern eine große Unruhe reingebracht haben.“
Überrascht sah Frau Vogt Oma an: ,,Das stimmt so nicht. In der Anfangszeit haben mein Sohn und ich uns Ihnen gegenüber nicht richtig und schon gar nicht gut verhalten. Das tut mir heute noch aufrichtig leid. Aber nach unserer damaligen Aussprache war das vorbei. Ich fing an, Sie und vor allem auch Ihre Kinder zu mögen. Sie haben mir dann auch bei der vielen Arbeit auf dem Hof geholfen. Dafür werde ich Ihnen immer dankbar sein und ich habe dann versucht, Ihnen zu helfen. Und nun, wo ich Sie aufrichtig gern habe, gehen Sie so plötzlich wieder weg. Sie können mir glauben, das tut richtig weh.“
Sie legte beide Hände vors Gesicht und begann wieder zu weinen. Dieses Mal ließen Oma und Mama sie gewähren. Als sie wieder aufschaute, hatte sie sich offensichtlich gefasst. Mit festem Blick schaute sie nun die beiden Frauen an: ,,Ich kann Sie ja verstehen, dass Sie so schnell wie möglich da oben aus den zwei kleinen Zimmern raus wollen. Das da oben ist natürlich keine dauerhafte Bleibe für Sie, schon gar nicht, wenn jetzt Ihr Mann noch dazu kommt. Aber für mich ist das wie ein Schock, es geht mir alles zu schnell. Natürlich muss und werde ich damit, wie schon vorher mit vielen anderen Dingen, fertig werden. Aber es ist hart für mich! Ich bitte Sie um Verständnis.“
Nach einer Weile fügte sie noch hinzu: ,,Hoffentlich werde ich Ihren Mann noch kennenlernen. Denn wer eine solch prächtige Familie hat, muss doch auch ein guter Mensch sein.“
Mutter schaute Großmutter überrascht an. Keiner von beiden hatte wohl mit einem derartigen Gefühlsausbruch und mit solchen warmen Worten gerechnet. Es entstand eine fast peinliche Stille. Oma schüttete noch einmal Kaffee nach. Als sie die Kaffeekanne abgesetzt hatte, hielt sie Frau Vogt ihre rechte Hand hin und sagte: ,,Liebe Frau Vogt, natürlich war es zu Anfang für uns alle nicht leicht, aber wir haben uns zusammengerauft, weil wir erkannt haben, dass es miteinander besser geht als gegeneinander. Dadurch ist letztendlich für uns alle etwas Gutes herausgekommen. Wir hatten eine Bleibe und etwas zu essen, und Sie und Ihr Sohn hatten Hilfe bei der schweren Arbeit auf Ihrem Hof. Das Wichtigste und Schönste dabei aber ist, dass wir Freunde geworden sind.“
Dann nahm Großmutter Frau Vogt in den Arm, drückte sie und sagte zu ihr: ,,Auf alle Fälle danken wir Ihnen für alles, was Sie für uns getan haben. Wenn wir können, werden wir Sie sicher besuchen. Sollten Sie Hilfe bei der nächsten Ernte brauchen, kommen wir, um Ihnen zu helfen.“
Das Gespräch wurde nun merklich lockerer. Frau Vogt stand plötzlich auf, ging in die Kammer nebenan und kam nach ganz kurzer Zeit wieder an den Tisch. In der einen Hand hielt sie drei kleine Gläser und in der anderen hatte sie eine halbvolle Flasche Korn. Sie stellte sie vor Mutter, Großmutter und auf ihren Platz ein Glas. Mit den Worten: ,,Der ist gut, den hat mein Bruder selbst gebrannt.“
Sie nahm dann ihr Glas in die Hand und stieß mit Mama und Oma an: ,,Auch wenn es mir schwerfällt, auch ich bedanke mich bei Ihnen und wünsche Ihnen, Ihrem Mann und Ihren Kindern für die Zukunft alles erdenklich Gute! Prost!“
Auch dieses Erlebnis, in der Küche von Frau Vogt, ist mir bis heute in Erinnerung geblieben, insbesondere der Satz: „Miteinander geht es besser als gegeneinander“.
Wieder ging ein Kapitel unserer Flucht aus dem Osten zu Ende. Die Zeit in Brümsel war, trotz des schweren Anfangs, doch eine schöne Zeit geworden. Irgendwie fühlte ich mich dort gut aufgehoben. Immerhin wurde ich dort eingeschult, auch wenn die Schule durch den nur täglich einstündigen Unterricht nicht gerade optimal war, machte ich doch hier meine ersten Schul- und Lernerfahrungen.
Durch die kleinen Arbeiten, die ich täglich auf dem Hof zu verrichten hatte und die ich im Übrigen sehr gerne erbrachte, lernte ich schon sehr früh, wie man richtig mit Tieren umzugehen hatte, da Frau Vogt sie sehr umsichtig und liebevoll pflegte.
Für die drei Frauen wurde es noch ein lustiger Abend. Meine ältere Schwester und ich wurden irgendwann nach oben geschickt. Oma trug Brigitte vorher noch auf, allen anderen Kindern zum Abendbrot einen Teller Steckrübensuppe aufzutischen. Als meine Schwester und ich die Küche verließen, rief Oma noch hinter uns her: ,,Die Suppe steht auf dem Küchenherd.“
Damit enden meine Erinnerungen an den Ort Brümsel, bis dann am Freitag darauf der englische Militärlaster auf den Hof fuhr.
Die letzten Tage waren durch das Warten auf die Heimkehr unseres Vaters gekennzeichnet - doch er kam nicht!
Am Donnerstag, also am Vortag unseres geplanten Umzugs, fuhr plötzlich ein englisches Motorrad auf unseren Hof. Der Motorradfahrer stieg von seinem Rad und kam direkt zu uns nach oben. Gott sei Dank war Oma da, denn der Soldat sprach nur Englisch, welches nur Oma konnte. Er überbrachte uns eine kurze Nachricht, salutierte kurz und zackig und war auch sofort wieder verschwunden.
Als er wieder gegangen war, übersetzte Oma meiner Mutter die Nachricht: ,,Captain Johns lässt uns grüßen. Er habe Kontakt zu Gerhard, der noch im Osten sei. Er sei nun aber auf dem Weg in den Westen nach Meppen. Der Militärlaster würde morgen um elf Uhr kommen und wir sollen uns für den Umzug bereithalten.“
Am nächsten Vormittag, Punkt elf Uhr, fuhr der Militärlaster auf den Hof. Die wenigen Sachen, die wir hatten, waren von den beiden Soldaten schnell von oben heruntergeschafft und auf dem Laster verstaut. Einer der Soldaten war übrigens der Fahrer von Captain Johns. Dieser wandte sich dann an Großmutter und sagte ihr, dass wir noch etwas warten müssten. Captain Johns würde noch einen Jeep schicken, mit dem wir dann mitfahren könnten. Die älteren Kinder sollten aber auf dem Laster mitfahren. Oma entschied sofort: ,,Brigitte, Hans, Heinrich und Paul fahren mit dem Laster. Mama, Rita, der kleine Gerhard und ich fahren dann mit dem Jeep.“
Bis der Jeep kam, mussten wir also noch eine kleine Weile warten. Am liebsten wäre ich schon in das Führerhaus gestiegen. Als ich gerade den Fahrer des Lasters fragen wollte, ging die Außentür von Frau Vogts Küche auf. Frau Vogt kam mit einem großen Tablett belegter Brote heraus. Direkt hinter ihr kam ihr Sohn Bernhard, der in den Händen je eine Kanne hielt.
Beide gingen auf den schweren Eichentisch zu, der unter der großen Buche direkt vor dem Haus stand. Dort breitete sie eine Tischdecke, die sie unter dem Tablett in der Hand gehalten hatte, aus. Während Bernhard die Kannen auf den Tisch stellte, lief Frau Vogt schnell ins Haus zurück, um Tassen und Milchbecher zu holen. Im nächsten Moment war sie aber schon wieder da, stellte alles auf den Tisch und schenkte Kaffee und Milch für alle ein.
Als Oma und Mama von oben herunterkamen, wo sie die zwei Räume noch ein letztes Mal durchgewischt hatten, um ja alles sauber zu hinterlassen, war der Tisch gedeckt und der Kaffee eingeschenkt. Als die beiden Frauen aus der Haustür kamen, blieben sie überrascht stehen.
„Mein Gott, Frau Vogt, was haben Sie sich da noch für Arbeit gemacht? Das wäre doch wirklich nicht nötig gewesen. Und vor allem, wir können das doch nun gar nicht mehr gutmachen“, erklärte Großmutter.
„Nun hören Sie aber bloß auf! Man muss nicht für alles, was man aus Freundlichkeit macht, gleich eine Gegenleistung erwarten. Das hier tue ich für das, was Sie schon lange durch Ihre fortwährende Hilfe hier auf dem Hof für mich erbracht haben“, sagte Frau Vogt.
Alle nahmen nun ihre Tasse und tranken. Dabei wurden dann auch die wunderbar schmeckenden Wurst- und Schinkenbrote verzehrt. Eine richtig fröhliche Stimmung wollte dennoch nicht aufkommen. Der bevorstehende Abschied verhinderte dieses wohl. Nur die Soldaten scherzten untereinander ein wenig rum.
Plötzlich drehte sich Frau Vogt um und ging auf die Haustür zu. Im Umdrehen sagte sie: ,,Ach, ich habe da ja noch etwas vergessen.“ Schon war sie im Haus verschwunden. Wieder heraus kam sie mit einem großen Kartoffelkorb in der Hand. Für alle war unschwer zu erkennen: Dieser Korb war bis an den Rand voll mit Lebensmitteln, alle vom Hof.
Mit den Worten: ,,Hier, liebe Frau Gojny, das wird für die ersten Tage in Ihrem neuen Heim reichen und wenn nicht, dann kommen Sie einfach alle wieder zurück.“ Sie drehte sich zu Oma und fügte noch hinzu: ,,Und Sie fragen jetzt bitte nicht, was Sie dafür tun müssen! Ach ja, eines können Sie doch tun! Sie müssen mir versprechen, dass Sie mir den Korb wiederbringen und mich so häufig besuchen kommen, wie Sie können. Das gilt für euch alle. Wenn es geht, bringt mal euren Papa mit.“
Dann drückte sie uns alle noch einmal an sich, beginnend mit Oma, Mama und dann uns Kinder. Dabei liefen ihr wieder Tränen aus den Augen. Als ich an der Reihe war, flüsterte sie mir ins Ohr: ,,Du, Paulchen, solltest eigentlich mal Bauer werden, denn du kannst ja jetzt schon ganz außergewöhnlich gut mit Tieren umgehen. Das hat mir auch Bernhard bestätigt.“ Vor lauter Verlegenheit antwortete ich ihr: „Ja, Frau Vogt, das mach ich.“
Bernhard, der direkt neben Brigitte stand, fragte diese: ,,Und du? Kommst du mich denn auch mal besuchen?“ Dabei wurde er ganz rot im Gesicht. Als Gitte ihm dann leise antwortete: ,,Wenn du es denn gern möchtest und ich irgendwie kommen kann, dann komme ich.“ Blitzschnell beugte er sich nun zu Brigitte hinunter, drückte sie kurz an sich und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Dann ließ er sie genauso schnell wieder los und rannte davon. So bekam meine ältere Schwester Brigitte ihren ersten Kuss.
Frau Vogt, aber auch alle anderen, schauten Bernhard verdutzt hinterher. ,,Aha!“, sagte Frau Vogt. „Der junge Mann ist verliebt.“
In diesem Moment bog der Jeep von Captain Johns von der Straße auf den Hof ein. Langsam kam er auf uns zu und blieb direkt neben dem Laster stehen. Die Seitentür ging auf und aus dem Wagen stieg Captain Johns selbst aus. Nachdem er die drei Frauen per Händedruck begrüßt hatte, wandte er sich unserer Mutter zu.
„Madam, ich habe in Erfahrung bringen können, dass Ihr Mann nun wirklich auf dem Weg hierher in den Westen ist, und zwar nach Meppen. Gleich, auf der Fahrt nach Rühlertwist, werde ich Ihnen mehr Informationen geben. Deshalb bin ich im Übrigen auch selber gekommen. Wie sieht es aus? Können wir los?“ Woraufhin der Fahrer des Captain seinem Vorgesetzten kurz meldete: ,,Yes, Sir, es ist alles klar zur Abfahrt.“
Da ich unbedingt im Führerhaus des Lasters sitzen wollte, wartete ich nicht lange, sondern kletterte ohne weitere Anweisung in das offenstehende Fahrerhaus. Der Fahrer des Lasters, welcher sonst Fahrer des Captains war, und der andere Soldat halfen nun Brigitte und meinen Brüdern Hans und Heinrich auf die Ladefläche. Der Captain befahl aber, dass Brigitte vorne im Fahrerhaus sitzen sollte, dafür aber der andere Soldat aus Sicherheitsgründen hinten Platz nehmen musste. Als Brigitte auch vorne Platz genommen hatte, konnte es losgehen.
Oma und Mutter stiegen dann in den Jeep zu dem Engländer. Mutter saß vorne neben dem Captain, während Oma mit der kleinen Rita und Brüderchen Gerhard hinten Platz nahmen. Nachdem sich der Jeep in Bewegung gesetzt hatte, fuhr auch der Laster an. Als ich noch einmal nach rechts zur Seite blickte, sah ich Frau Vogt - sie weinte!
Brümsel, dieser Abschnitt lag nun hinter uns.
Was würde uns die Zukunft bringen? Vor allem, wann würde Papa wieder zu uns zurückkommen? Ich kann mich erinnern, dass ich mich mit diesem Thema immer öfter beschäftigte. Wahrscheinlich, weil ich in den letzten eineinhalb Jahren, in denen wir in Brümsel gelebt hatten, auch älter und vor allem verständiger geworden bin. Ich wollte nun endlich auch einen Papa haben wie andere Kinder, die ich in der Schule kennengelernt hatte.
Ganz gespannt war ich nun auf unsere große Wohnung, die uns dieser nette englische Captain versprochen hatte. Der Wagen war an der Straße angekommen und bog nach rechts in Richtung Meppen ab. Der Fahrer des Lasters sprach mich auf der Fahrt öfters an. Da ich ihn nicht verstand, lachte ich ihn immer nur freundlich an und zuckte mit den Schultern.
Woraufhin er mir immer mit der rechten Hand über den Kopf streichelte und sagte ,,It’s O.K., boy“, was ich natürlich auch nicht verstand. Da er aber dabei immer freundlich lachte, war das wohl so in Ordnung.
Die Fahrt ging über schmale und sehr holprige Kopfsteinpflasterstraßen, weshalb wir nur sehr langsam vorankamen. Mehr als vierzig bis fünfzig Kilometer pro Stunde waren da nicht drin. Wir fuhren zunächst über Lingen und dann nach Meppen. Von dort waren es noch etwa zehn Kilometer. Die Landschaft war sehr flach. Große ausgedehnte Wälder wechselten sich mit großen Moorflächen ab und auf beiden Seiten der Straße standen viele Bauernhäuser. Der Jeep mit dem Captain, in dem Oma, Mama, Rita und der kleine Gerhard saßen, fuhr immer vor uns her.
Etwa fünfzehn Minuten hinter Meppen ging plötzlich das rechte Blinklicht des Jeeps an und der Jeep bog rechts ab. Er fuhr über eine schmale Brücke. Der Fahrer unseres Lastwagens stoppte und sprang mit einem Satz auf die Straße, ging mit ein paar Schritten auf die Brücke zu und nahm diese in Augenschein. Nachdem er einen prüfenden Blick unter die Brücke geworfen hatte, kam er wieder ins Fahrerhaus zurück und setzte sich wieder hinters Lenkrad.
„O.K.“, sagte er und gab Gas. Mit lautem Motorgebrumm setzte sich der Laster wieder in Bewegung. Vorsichtig fuhr er über die Brücke.
Auf der rechten Seite, gleich längs zum Graben, stand ein rotes Backsteingebäude. Es war ein Zweifamilienhaus. Davor standen seitlich des Grabens, also parallel zur Straße, drei in voller Blüte stehende Sanddornbäume. Diese habe ich deshalb in Erinnerung behalten, weil sie so wunderbar blühten und einen intensiven Blütenduft ausströmten, der selbst noch im Führerhaus unseres Lasters deutlich wahrzunehmen war.
An diesem Haus vorbei, fuhren wir auf einen Hof. In der Mitte des Hofes stand eine große Doppelgarage mit einem Satteldach. Auch an dieser Garage ging es vorbei, einen schmalen Weg entlang. Links von uns stand ein verrosteter Maschendrahtzaun. Dahinter war nur Buschwerk, bestehend aus Birken, Buchen, Kiefern und Brombeergestrüpp. Rechts von uns verlief eine Buchenhecke, die etwa zweihundert Meter lang war. Diese Hecke endete direkt an einem Klinkerbau, der dem Haus vorne an der Straße wie ein Ei dem anderen glich. Der Jeep fuhr um die Hausecke herum, während der LKW davor stehen bleiben musste.
Der Fahrer stellte den Motor ab, stieg aus, ging um das Fahrzeug herum, machte meine Tür auf und hob mich aus dem Laster. Hinten hatte derweil der andere Soldat die Heckklappe heruntergelassen und hob meine beiden Brüder Hans und Heinrich vom Laster. Da ich wusste, dass die beiden auch gerne vorne im Fahrerhaus gesessen hätten, ich ihnen aber zuvorgekommen war, indem ich einfach ins Fahrerhaus geklettert war, machte ich mich lieber davon. Die beiden hatten mich nämlich schon öfter aus viel nichtigeren Gründen gepiesackt. Also lief ich schnell zu Großmutter und Mutter, die gerade mit Hilfe des Captains aus dem Jeep stiegen.
Der Captain stellte den Frauen das Haus, oder besser gesagt, die gesamte Anlage mit den beiden Häusern vor: ,,Sie haben ja gesehen, da vorne an der Straße steht das gleiche Haus wie dieses hier. Es ist wie dies ein Zweifamilienhaus mit zwei separaten Eingängen. Das Haus dort vorn ist schon bewohnt. Dort wohnen zwei Zollbeamte mit ihren Familien. Mit denen werde ich Sie später noch bekannt machen. Dieses Haus steht noch leer, hier werden Sie jetzt einziehen. Für die andere Hälfte werden gerade Büromöbel besorgt, denn hier wird das neue Zollkommissariat Rühlertwist entstehen, das von Ihrem Mann geleitet werden soll.“
Dann griff er in seine Hosentasche und holte einen Haustürschlüssel hervor. „Hier, liebe Frau Gojny, das ist der Schlüssel zu Ihrer neuen Wohnung.“ Mit den Worten: ,,Viel Glück und alles Gute für Sie und Ihre Familie!“, übergab er Mutter den Schlüssel. Wir Kinder hatten uns derweil um die Erwachsenen versammelt. ,,Nun los!“, sagte Oma. „Gehen wir hinein und schauen, was uns der Gentleman hier für ein neues Zuhause zugedacht hat.“
Mutter ging auf die Haustür zu, in der rechten Hand den Schlüssel und auf dem linken Arm den kleinen Gerhard. Der Captain blieb vor der Tür stehen und ließ uns alle vorbei ins Haus gehen. Zunächst kamen wir in eine geräumige Diele. Von der Diele aus betrat man ein großes Wohnzimmer, die Küche und ein Badezimmer. Alle Räume waren groß, hell und freundlich. Von der Diele führte eine Holztreppe ins Obergeschoss. Oben befanden sich noch ein Badezimmer, ein großes Schlafzimmer und drei kleinere Räume.
Während Oma und Mama, zu denen sich nun auch der Captain begeben hatte, langsam und bedächtig, beinahe genießerisch, von einem Raum zum anderen gingen, erstürmten wir Kinder geradezu unser neues Zuhause. Was mir damals sofort auffiel: In jedem der Räume standen Möbel. Aus Erzählungen weiß ich, dass es ein Gemisch aus zivilen und militärischen Einrichtungsgegenständen war. In den oberen Schlafräumen standen ausschließlich Militärbetten. Als Schränke dienten Militärspinte. An den Decken hingen an heraushängenden Kabeln nur einfache Birnenfassungen, in denen aber elektrische Birnen steckten. Auf diese Art und Weise gab es auch in jedem Raum Licht.
Als die drei Erwachsenen die oberen Räume besichtigt hatten, kamen sie langsam wieder die Treppe herunter. „Sagen Sie, Captain“, hörte ich Oma ihre Frage beginnen, „wie sind Sie denn nur an die Möbel gekommen?“
„Ja, da müssen Sie schon meinen Adjutanten First Lieutenant Bird fragen, der hat das alles hier aufgetrieben. Sicher wird Ihnen zu einem kompletten Haushalt noch vieles fehlen, aber zunächst werden Sie zurechtkommen.“
Dann ging der Captain zur Eingangstür und gab den draußen wartenden Soldaten den Befehl, die auf dem LKW liegenden Sachen und Habseligkeiten hereinzubringen. Oma hatte den Korb mit den ,,Fressalien“ von Frau Vogt schon in der Küche auf den alten, aber sehr großen Tisch gestellt. Der Captain, der die ganze Zeit eine braune lederne Aktentasche unter dem Arm mit sich getragen hatte, machte diese nun auf und holte aus ihr zwei große Päckchen Kaffee hervor, die er neben den ,,Fresskorb“ stellte. Dann griff er in die Hosentasche, holte ein Feuerzeug hervor, ging auf den Küchenherd zu, öffnete die Tür und zündete mit dem Feuerzeug die schon im Ofen liegende Holzwolle mit dem darauf liegenden Holz an. Der Captain ergriff wieder das Wort: ,,Wäre doch gelacht, wenn wir an einem für Sie so bedeutsamen Tag nicht wenigstens eine gute Tasse Kaffee trinken würden.“
Mutter hatte derweil die Türen des alten Küchenschranks aufgemacht und suchte nach einem Wasserkessel, den sie auch gleich fand. Als sie sah, dass der Küchenschrank voll mit Küchen- und Haushaltsgegenständen war, drehte sie sich dem Captain zu und sagte: ,,Nun bin ich doch sehr überrascht. Wie haben Sie das nur gemacht? Wo haben Sie das alles aufgetrieben? Und warum um Himmels willen machen Sie das alles nur für uns?“
Der englische Offizier wandte sich Mutter zu, sah sie mit einem Lächeln an und sagte ganz ruhig: ,,Madam, das hat alles mein Adjutant zusammengetragen. Sicher werden Sie ihn auch bald kennenlernen. Er freut sich schon darauf. Warum ich das alles mache, habe ich Ihnen schon bei meinem ersten Besuch in Brümsel gesagt. Ich wiederhole es aber gerne noch einmal. Wir wollen und brauchen Ihren Ehemann hier zum Aufbau der neuen Zollbehörde. Unser Nachrichtendienst hat herausgefunden, dass er noch lebt und sich nach der russischen Gefangenschaft bereits wieder in Deutschland befindet. Es gibt aber noch einen wesentlichen Grund, warum wir gerade Ihren Mann wollen. Nach den uns vorliegenden Informationen wurde Ihr Mann von den ,,Nazis“ immer wieder bedrängt, in die Nazi-Partei einzutreten. Er hat sich aber immer geweigert, diesen Schritt zu tun!“
Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: ,,Und deshalb, liebe Frau Gojny, wollen wir Ihren Mann hier haben und deshalb tue ich, tun wir das alles für Sie.“ Dann sagte er noch: „Außerdem bin ich Christ und helfe aus Nächstenliebe Menschen, die dringend Hilfe bedürfen. Hoffen wir also, dass er bald kommt, dann ist uns beiden geholfen. Sie haben dann Ihren Ehemann zurück, und wir haben einen zuverlässigen Zollamtsvorsteher, der vor allem kein „Nazi“ war. Ich werde gleich morgen bei unserem Nachrichtendienst nachfragen, wo er denn abgeblieben ist. Nach unseren letzten Informationen hätte er schon längst bei uns oder bei Ihnen sein müssen.“
Mama erwiderte: ,,Wie froh und dankbar wir für Ihre Hilfe sind, habe ich Ihnen schon wiederholt gesagt. Aber die Nachricht, dass mein Mann noch lebt, macht mich mehr als glücklich. Hoffentlich schafft er es, uns ausfindig zu machen und sich dann bis zu uns durchzuschlagen.“
„Ich hoffe, dass ich morgen mehr weiß“, antwortete der Captain.
Oma hatte derweil den Kaffee in die Tassen gegossen und aus den mitgegebenen Schätzen der Frau Vogt für uns Kinder ein Leberwurstbrot gefertigt. Die beiden Soldaten hatten in der Zwischenzeit unsere Habseligkeiten vom Lastwagen in die Diele befördert.
Der Captain wandte sich noch einmal den beiden Frauen zu: ,,Richten Sie sich so gut Sie können heimisch ein. Es wird, wie es aussieht, wohl für längere Zeit Ihr neues Zuhause sein.“
Mit Blick auf den Korb von Frau Vogt fügte er noch hinzu: ,,Zu essen haben Sie ja noch fürs Erste. Morgen, so gegen zehn, komme ich wieder. Dann besprechen wir alles Notwendige, wie es so weitergehen soll und ich werde Sie mit den Nachbarn bekannt machen.“
Zu uns Kindern gewandt, sagte er: ,,Und ihr könnt schon mal anfangen, euer neues Zuhause zu erkunden. Drinnen und draußen gibt es viel Platz. Fühlt euch wie zu Hause, außer euch wohnt hier niemand.“
Dann salutierte er kurz und ging durch die Tür ins Freie. Die beiden Soldaten folgten ihm. Draußen hörten wir dann die Motoren der beiden Fahrzeuge anspringen und sie davon fahren.
Oma übernahm wieder das Kommando: ,,Los, fasst alle mit an! Wir richten uns jetzt, wie es der Captain gesagt hat, heimisch ein.“
Oben wurden die vier Zimmer wie folgt eingeteilt: Das größte Zimmer wurde von Oma und Mutter bezogen. Die beiden Zwillinge bekamen eines der drei kleinen Zimmer. Das zweite bezogen meine jüngere Schwester Rita und ich. In das letzte zog unsere älteste Schwester Brigitte. Hier sollte aber im Falle der Heimkehr unseres Vaters die Oma mit einziehen.
Nach Anweisung von Oma wurden dann unter Mitwirken von uns vier älteren Kindern die Klamotten schnell auf die Schlafräume verteilt. Während Mutter und Großmutter sich anschließend der Einrichtung der Küche widmeten, gingen wir Älteren nach draußen, um den Hof und Garten zu erkunden.