Читать книгу Die Stadt in Ketten - ein neuer Liller Roman - Paul Oskar Höcker - Страница 5

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Die Fliegerabwehrbatterie bei Madeleine war neu aufgestellt. Theo West, der Fliegerleutnant, der kürzlich Staffelführer geworden war, kam auf einer Autofahrt vom Oberkommando der Armee dort vorbei, liess halten und machte dem Batterieführer seinen Besuch. „Ich hab’ sie bisher immer nur aus der Vogelschau gesehen,“ sagte er zu dem bayerischen Landsturmoberleutnant, „da drängt’s einen doch, ihr einmal so ganz gemütlich die Vorderflosse zu drücken, der aufmerksam-freundlichen Revolverkanone.“

Der fünfzigjährige Batterieführer war daheim Professor der Mathematik. Der Krieg hatte ihn wieder jung gemacht. Nachdem er in den ersten Monaten eine Feldbatterie im Bewegungskrieg geführt hatte, erschien ihm diese neue Tätigkeit wegen der Erprobung all der wissenschaftlichen Berechnungen besonders anregend. Weit vor der Stadt gelegen, einsam, ohne Anlehnung an die Gärten und Landhäuser der reichen Industrievorstadt, bot die Batteriestellung für einen Weltmenschen wenig; aber der weisshaarige Oberleutnant brauchte weder Geselligkeit noch Naturschönheit, noch Ablenkung, der Dienst und seine Mathematik füllten ihn vollkommen aus. Übrigens hatten sich’s seine Leute hier leidlich bequem gemacht. Ein erst im Rohbau fertiggestellter, grosszügig angelegter Landhausbau diente ihnen als Quartier. Aus verlassenen Häusern in der näheren und weiteren Nachbarschaft war allmählich alles herbeigeschafft worden, was dazu dienen konnte, den Winter erträglich zu machen. Mit einigem Stolz zeigte er dem jungen Flieger, dessen Name in der Armee schon so rühmlich bekannt war, die Anlage. Vom Batterieplatz hatte man kaum zweihundert Schritt bis zum „Kasino“, das in dem wohl als Musiksaal gedachten, baulich am weitesten vorgeschrittenen Erdgeschossraum des Landhauses eingerichtet war. Die kalkweissen Wände wiesen flott hingezeichnete Spottbilder auf.

„An Talenten ist kein Mangel in der Batterie,“ sagte der Bayer, „einer meiner Geschützführer ist Dekorationsmaler am Münchner Hoftheater, der Fernsprecher ist Redakteur vom ‚Simpel‘, der Schreiber ist einer von der Sternwarte, und der Zugführer — schauen S’, das ist der, den s’ da mit der Klampen abgemalt haben — der hat noch im vorigen Sommer in Bayreuth am ersten Pult mitgegeigt. Die einzige Entschuldigung für so viel Talent — hat unser Kronprinz neulich gesagt und hat gelacht — ist die, dass die Batterie auch gut schiessen kann. Wir sind doch hier seine Leibbatterie. Aber das obere Stockwerk müssen S’ sich noch anschauen, Herr Kamerad. Ich hab’ den Zugang vernageln lassen, weil’s schad drum wär’, wenn mein Kanoniervolk mit den tranigen Kommissstiefeln da herumtrampeln sollt’... Parkett, spiegelblank alles, und eingebaute Möbel, Kirschholz mit Thujaeinlage, geschliffene Kristallscheiben, echtes Material, ein ganz vornehmer Geschmack, muss man schon sagen.“

Der Flieger lachte. „In neuen Villen hier in Frankreich sonst eine Seltenheit. Mein Gott, was für elenden Kitsch hab’ ich hier schon auf Schlössern und in Grossstadthäusern gesehen! Was nicht Louis ist oder Empire — das ist rettungslos ödester Fabrikreinfall.“

„’s ist auch kein Eingeborener, der sich das Schloss hat dahersetzen wollen, sondern ein Zugereister. Scheint mir so eine Art internationaler Grossmogul. Auch englischer Einfluss dabei. Grossartige Badezimmeranlagen. So was kann man hier in Lille lange suchen. Auf zweihundert Häuser eine Badewanne — und da funktioniert todsicher der Badeofen nicht. Wenn ich den Mann von der Mairie recht verstanden hab’, ist’s ein Schwiegersohn von dem Kommerzienrat Kampff, wissen S’, dem Begründer der deutschen Kampff-Werke ... Landwirtschaftliche Maschinen und so ein Zeugs.“

Theo West, der sich nur mit geringer Aufmerksamkeit in dem halbfertigen Hause umgesehn hatte, blickte nun überrascht auf.

„Kampff — Kampff-Werke ... Ist seine Tochter etwa eine Frau Martin? Helene Martin?“

Der Professor zuckte die Achsel. „Vor einer Viertelstunde war ein halbes Schock Weiber hier. Ich hab’ grad geschlafen, mein Bursche hat mir’s erst hernach gesagt, er hat mich nicht wecken wollen. Ja, dabei sei auch die Besitzerin gewesen. Sie hätten sich einmal ein bissl im Haus umsehn mögen ... Mein Wachtmeister ist aber sehr scharf, der duldet so was nicht und hat sie abblitzen lassen. Ohne meine Einwilligung dürft’ kein Fremder die Stellung betreten. Da könnte ja sonstwer kommen und herumschnüffeln.“

„Ausgeschlossen, dass die Besitzerin dabei war,“ sagte der Flieger. „Die ist längst in Deutschland, die Frau Martin. Ich sprach noch gestern abend mit meinem Bruder über sie. Er hat sie seinerzeit kennengelernt. Ei, das sollte mich doch wundern ... Hat Ihr Wachtmeister sie wirklich selbst gesprochen?“

„Auf eine Zigarettenlänge müssen S’ jetzt eh’ schon ins Kasino eintreten, Herr Kamerad. Ein Kirsch gefällig? Es hat auch Cordial Médoc. Was, Alkoholgegner sind S’? Ja, ja, die Herren Flieger ... Ich lass’ den Niemayer ’rüberkommen, er kann ja mal Meldung erstatten.“

Während sie in den lustig ausgestatteten Kneipraum eintraten, berichtete Theo West, was ihm im Gedächtnis haften geblieben war. Frau Martin war bei der Beschiessung von Lille im vorigen Oktober in ihrem Wohnhaus am Boulevard de la Liberté verschüttet worden; sein Bruder, der die Pionierarbeiten leitete, hatte bei ihrer Befreiung mitgewirkt und sich hernach mit ihr angefreundet. Es hatte sich ergeben, dass sie Jugendfreunde waren: Frau Martins Onkel, der Organist Karl Maria Kampff in Wohlfahrtsweier bei Durlach, war der Musiklehrer der vier Gebrüder West in Gottesaue gewesen.

„Ich erinnere mich ganz deutlich, mein Bruder hatte sich noch ins Zeug gelegt dafür, dass die junge Frau den Reisepass nach Deutschland bekam. Sie hatte keine Mittel mehr — war ganz abgebrannt — ihr Mann in Paris ...“

„Da kommt Niemayer, der hat sie ja gesehn.“

Der Wachtmeister war der Meinung, dass die vier Frauenspersonen heute nachmittag bloss so aus Neugierde — vielleicht auch um die Batteriestellung auszukundschaften — sich hier hatten eindrängen wollen. „Man hat doch seine Menschenkenntnis,“ sagte er, überlegen schmunzelnd, „und von den vieren sah mir keine nach Schlossherrin aus. Ich hab’ ihnen gesagt, sie sollten in einer Stunde wiederkommen, wenn der Herr Batterieführer da sei, hab’ ich gesagt. Na, und da zogen s’ auch gleich weiter. Auf Roubaix zu sind sie. Bis jetzt haben s’ sich noch nicht wieder blicken lassen.“

„Das muss ich dem Hans erzählen!“ Theo West schüttelte ungläubig den Kopf. „Mein Bruder sagte noch gestern, soundso oft habe er den Versuch gemacht, irgendeine Nachricht über sie zu bekommen ... Freilich hält’s ja schwer, mit der Heimat in Verbindung zu bleiben, wenn einer so herumgewirbelt wird wie der.“

„Er ist Pionier? Hans West — warten S’ einmal, den hab’ ich auch schon kennengelernt. Wo ich mit meiner Batterie draussen gelegen hab’. Ja, ein Oberleutnant West war’s, der da an der Stellung mitgearbeitet hat. Grüssen S’ ihn doch, wann Sie ihn sehen!“

„Er ist heute auf dem Flugplatz. Endlich hat er einmal ein ruhigeres Pöstchen. Er soll in Lille den Hauptmann bei der Fortifikation vertreten, der erkrankt ist. Natürlich hofft er zum Frühjahr nach Russland zu kommen. Er will ja immer dabei sein, wenn wo was los ist ... Haben Sie schönsten Dank für die Führung, Herr Professor. Wenn ich morgen früh aufsteige, zu den Engländern hinüber, dann ist mir’s eine innige Beruhigung, die Batterie hier in so sicheren Händen zu wissen. Ich guck’ auch einmal herunter.“

„Ich kann nicht garantieren, dass ich Sie von hier unten aus erkenn’,“ meinte der Professor. „Also, wann ich nicht gleich hurra schrei’, dann dürfen S’ mir nicht gram sein.“

Sie lachten, mit Händedruck verabschiedeten sie sich, und Theo West bestieg sein Auto wieder.

Kaum eine halbe Stunde später hielt das eisengraue kleine Gefährt abermals vor der Batteriestellung. Diesmal entstieg ihm Theos Bruder, der Pionier.

Und zwischen dem Rohbau und dem gegen Sicht von oben durch Tannenreisig geschützten Wachtraum begegnete er den vier Damen aus Lille, die von dem Mathematik-Professor und seinem Wachtmeister soeben einem eingehenden Verhör unterzogen wurden.

Hans West kam bestürzt — erst noch unsicher, dann in wachsender Erregung — auf Helene zu. Beide Hände hielt er ihr hin. Sein Ton war herzlich, als er sie begrüsste. Und in starker Bewegung sah er sie an, fast erschüttert. Es war nicht mehr die junge schöne Frau. Sie trug die Merkmale des Leidens, des Entbehrens. Indem sie jetzt die Lider senkte — vielleicht aus Scheu vor den andern —, warfen ihre schweren, langen Wimpern noch tiefere Schatten in ihr blasses und schmales Gesicht.

„Frau Martin — Sie noch hier in Lille?! — Ja, warum haben Sie mir denn niemals Nachricht gegeben? ... Und wie geht es Ihnen jetzt? Gesundheitlich? Und wie haben Sie den langen grässlichen Winter hier überstanden? ... Das sind Bekannte von Ihnen? Wollen Sie mich vorstellen? ... Ist es wahr, das sollte hier Ihr Haus werden? ... Ich fasste es gar nicht, als mir mein Bruder sagte, Sie seien nicht in Deutschland ... Herr Professor, ja, denken Sie ...“

Die Unterhaltung des Wachtmeisters Niemayer mit den drei Begleiterinnen der jungen Frau war weniger lebhaft, auch weniger liebenswürdig abgelaufen. Frau Babin blieb sehr gemessen, fast hoheitsvoll. Sie hatte links Léonie, rechts Yvonne an den Arm genommen. Mit der Miene einer Fürstin blickte sie über den Wachtmeister hinweg, keine seiner Fragen beantwortete sie, bis endlich der Batterieführer, der noch von der stürmischen Begrüssung der jungen Villenbesitzerin durch den Bruder des Fliegers ganz verdutzt war, das Wort an sie richtete. Der Professor sprach ein grammatikalisch richtiges, aber sehr umständliches Französisch. Die drei Damen blickten einander fragend an, zum Zeichen, dass sie nicht verstanden; alle drei zogen die Augenbrauen hoch; sie sahen dadurch einander verblüffend ähnlich.

Es kam endlich so etwas wie eine Vorstellung zustande. Aber die drei Französinnen blieben Eis. Frau Babin setzte auch eine auffallend fremde Miene auf, als sie Helene vorschlug, sie würden einstweilen vorangehen.

Helene merkte gar nicht, dass Vorwurf aus dem Ton klang. Sie war viel zu stark bewegt von dem unvermuteten Wiedersehn. Nach ihrem Unfall bei der Beschiessung von Lille hatte sich Hans West in so herzlichfreundschaftlicher Weise ihrer angenommen. Er war für sie ein Stück der Heimat geworden, die sie durch ihre Ehe mit dem weltbürgerlichen Flüchtling verloren hatte.

„Ich konnte Ihnen ja keine Nachricht geben,“ sagte sie mit einem melancholischen Lächeln. „Die Herren auf dem Passamt hatten gewechselt. Keiner nahm sich meiner an. Und es hiess nur immer wieder: es sei allen Heeresangehörigen streng verboten, irgendwelche Nachrichten zu vermitteln. Da musst’ ich mich denn bescheiden.“

„Und Sie wohnen nun wieder bei Ihren Freunden? In der Inkermanstrasse? Oder am Boulevard Vauban?“

„Ach nein, nein. Ich hab’ sie seitdem nicht mehr gesehen.“

„Seitdem nicht mehr gesehen?“ Er zog die Stirn in Falten. „Aber wie haben Sie dann gelebt? Wovon? Wo? Wer hat Ihnen geholfen? Ist denn keiner, keiner dagewesen, der mir auch nur ein Wort hätte sagen können, einen kleinen Wink geben? ... Frau Martin, ich habe ja so oft den Versuch gemacht ... Auch in Magdeburg, auf den Kampffschen Werken, hat niemand etwas von Ihnen gewusst. Ich schrieb nach Mainz, nach Düsseldorf. Immer vergeblich. Sie seien in Paris, hiess es. Über die Schweiz habe Ihr Mann einmal den Versuch gemacht, mit seinen Frankfurter Verwandten in Beziehung zu kommen. Das war alles, was sie erfahren hatten. Ach, Sie müssen mir ja so viel, so viel erzählen ...“

Frau Babin hatte mit ihren beiden Töchtern inzwischen den Ausgang erreicht. Überflüssigerweise begleitete der Professor die Damen bis zum Tor. Es war ein stolzherablassender Blick, mit dem sie sich von dem Deutschen verabschiedeten.

Erst als Helene allein mit dem jungen Offizier war, entsann sie sich der seltsamen Art der drei. Einen Augenblick ward sie unsicher. Sie musste ihren Freundinnen doch wohl den Zusammenhang erklären ... Und dabei huschte ihr’s durch den Sinn, dass Frau Babin ihr auf dem Herweg gestanden hatte, dass sie kein Geld bei sich trug, und die Vorstellung ängstigte sie, die drei müssten den endlos langen Weg bis zum Tor und durch die ganze, grosse Stadt bis zum anderen Ende von Lille zu Fuss zurücklegen ... Aber Léonie oder Yvonne, so beruhigte sie sich, waren doch wohl sicher im Besitz der paar Sous ... Wie ausgewischt war dann gleich wieder diese kleine Sorge: Hans West hatte sie ins Haus geführt, und im Eingang zu dem Kasinoraum beugte er sich auf ihre Hand und küsste sie und sprach in so warmem, herzlichem Ton zu ihr.

„So glücklich bin ich, Frau Martin, so glücklich, dass ich Sie hab’ wiedersehn dürfen!“

Seit Monaten die ersten deutschen Worte. Ihr war ganz wunderlich zumute. Es kam ihr vor, als würde sie aus einer Gefangenenzelle freigelassen. Der einzige Umgang mit gebildeten Menschen, den sie seit einem Vierteljahr hatte, war der mit Frau Babin und deren Töchtern, allenfalls mit Challier oder Dubois, dem Bauunternehmer. Sie hatte sich in ihrer Verbannung schon ganz unters Pack gestossen geglaubt. Nun fühlte sie sich seelisch gestreichelt, da sie wieder ihre Muttersprache hören und sprechen durfte. Und es tat so wohl, wieder einmal einen lichten Raum mit weiss gedeckten Tischen, hellen Vorhängen und Blumen zu sehen.

Der Professor war stolz, dass das Kasino heute Damenbesuch aufzuweisen hatte. Er liess Kaffee besorgen. Das war doch einmal ein Erlebnis; er konnte seiner Frau schreiben, dass er die Besitzerin des Schlösschens hier in ihren eigenen Räumen empfangen hatte. Seine Frau würde natürlich eifersüchtig sein. Eine Französin! Wenn er nun gar schrieb, dass sie kaum dreiundzwanzig Jahre zählte, eine vollendet schöne Pariser Figur hatte und seidenweiche lange Wimpern ... Nein, das wollte er lieber doch nicht schreiben. Aber es war auch wieder nicht nötig, zu verraten, dass sie „eigentlich“ eine Deutsche war. Denn — wie er seine Frau kannte — verminderte das in ihren Augen das Prickelnde des Abenteuers ihres Mannes, auf das sie im Grunde doch stolz war.

In dem Augenblick, in dem der Bursche des Batterieführers das Kaffeegeschirr hereinbrachte, ging die Alarmklingel. Der Bursche, der gleichzeitig Munitionsträger war, stellte seine klirrende Last hastig hin — und kaum zwanzig Sekunden darauf machte der erste Schuss der Abwehrkanone das ganze Gebäude zittern.

Helene Martin fuhr die ersten paar Male wohl stark zusammen; aber rasch gewöhnte sich ihr Ohr an die Erschütterung. Es war ja so ein ganz absonderliches Erlebnis, eine Rückkehr in Kreise, die ihr schon so weltenfern erschienen waren. In der Gesellschaft der Franzosen, die so schwer unter der deutschen Herrschaft litten, hatte die dem Deutschen innewohnende Mischung von Taktgefühl, Schwäche, Mitleid, Verständnis und Gutmütigkeit sie immer wieder davon abgehalten, die Gerechtigkeit der Massnahmen ihrer ehemaligen Landsleute zu verteidigen, zu erklären. Ihr Schweigen zu den Anklagen war aber mehr und mehr als Billigung aufgefasst worden. Sie hatte die Gewaltherrschaft ja allerdings selbst so grausam einschneidend empfunden. Hier aber fühlte sie sich wieder einmal geborgen. Ja, das Bewusstsein, dass deutsche Geschütze es waren, die den am Himmel auftauchenden Feind vertrieben, war ihr eine gute Beruhigung. Sie blickte durch das Rundfenster — ach, hier hatte George nach einem Entwurf von Baily Scott einen lauschigen Blumenerker herzaubern wollen — und mit Spannung sah sie den zerberstenden weissen Schneeballen nach, die dicht bei der schwarzen Fliege in die blassrote Luft hineingesetzt wurden von der Abwehrbatterie des bayerischen Professors.

„Ein paar Wochen wird mein Kommando wohl dauern,“ sagte der Oberleutnant. „Jetzt freu’ ich mich darüber. Als es hiess, ich komme wieder zum Gouvernement, da wollte mir’s gar nicht passen. Was sollte ich in Lille? Aber nun bleibt mir doch die Genugtuung: ich kann ein bisschen für Sie sorgen. Sie haben mir doch Ihre Freundschaft erhalten, wie?“

Wie sie am Fenster stand, im vollen Lichte, hatte ihre Erscheinung etwas geradezu Rührendes. Auch das unmoderne, schon stark abgetragene Kleid wirkte da mit. Bei seiner Durchfahrt durch Brüssel hatte er die eleganten Belgierinnen in ihrer neuesten Frühjahrsmode auf den Boulevards gesehen: sie trugen kurze, flotte, weite Röcke. Helene ging noch in demselben dunkeln, knappgearbeiteten, schlichten Gewand, in dem er sie im Oktober getroffen hatte. Als der Flieger droben am blauen Himmel entschwunden war, wandte sie sich um. Die Hände, an denen sie schwarze Zwirnhandschuhe trug, verschränkte sie im Rücken, sich auf das Fensterbrett stützend.

„Ich bin ein müder, vergrämter Mensch geworden, lieber Freund,“ sagte sie, „und meine Wege sind jetzt so ganz, ganz andere, dass es für Sie kaum mehr irgendeine Verbindung zu Ihrer alten Jugendbekannten gibt. Ich habe mich auch gefreut, Sie wiederzusehen, herzlich gefreut; aber das Wiedersehen ist zugleich ein Lebewohlsagen.“

Er schüttelte den Kopf. „Ich suche Sie auf. So leicht werden Sie mich nicht los. Ich muss sehen, wie Sie leben.“

„Nein, das sollen Sie nicht. Ich will es nicht. Unter keinen Umständen.“

Ihr Ton machte ihn unruhig. „Hat Ihre Umgebung das Licht zu scheuen, Frau Martin? Wo leben Sie?“

Sie sah ihn starr und ernst an, fast streng. Dann stiess sie aus: „Im Elend. Irgendwo. Bei den Wällen.“

„Etwa — auf dem Fabrikhof?“ Er entsann sich der unheimlichen Gegend im Südosten der Stadt, wo die Beschiessung Hunderte von Häusern in Trümmerstätten verwandelt hatte. Da er ihr Schweigen für Zustimmung nehmen musste, fuhr er fort: „Aber das ist doch kein Aufenthalt für Sie! Um Gottes willen! Mit Ihren früheren Freunden haben Sie sich erzürnt? Warum? Ihr Deutschtum hat Sie auseinandergebracht. Aber wovon haben Sie gelebt?“

Sie wehrte sich innerlich noch. Doch dann sagte sie es ihm: „Ich habe Wäsche genäht. Für ein Geschäft. So — jetzt wissen Sie alles. Und es wird Ihnen daraus klar werden, dass ich bis zum Ende dieses grauenvollen Krieges in meiner Verbannung bleiben muss.“

„Nein, Frau Martin, den Grund sehe ich nicht ein.“

„Ich will keine Almosen. Ich muss jetzt abwarten, wie mein Mann sein Schicksal gestaltet hat. Das seine — und damit das meine.“

„Sie haben nichts mehr von ihm gehört?“

„Nichts mehr. Ich weiss nur, dass er im Oktober in Paris gewesen sein muss.“

„Sie wissen mehr, Frau Martin. In Ihren Augen steht ein so tiefer Schmerz ... Haben Sie doch Zutrauen zu mir!“

Helene seufzte. „Ich fürchte für ihn ...“

„Sie lieben ihn noch?“

Eine ganze Weile schwieg sie. Tränen waren ihr in die Augen getreten. Sie rannen einzeln über ihre Wangen. Sie hob die Hand nicht, um sie wegzuwischen. „Ich nehme an, dass ich wohl Nachricht von ihm hätte, wenn sie ihn wieder in ein Gefangenenlager gebracht hätten — etwa, weil sie die Naturalisation so kurz vor dem Krieg nicht anerkennen wollten.“ Immer zögernder sprach sie. „Aber weil ich keine Nachricht von ihm habe, so muss ich wohl glauben — oder fürchten ...“

„Sprechen Sie doch, Frau Martin! Was fürchten Sie?“

„Dass George ins französische Heer eingetreten ist, um — Schwierigkeiten auszuweichen.“

„O — das wäre!“ Mit grossen Augen sah er sie an. „Arme Frau!“

Der Professor kam von seinem Dienst zurück. Ein paar Schrapnelle hatten ausgezeichnet gelegen.

„Beim fünften Schuss waren wir auf fünfzig Meter heran, aber da bog er aus, der Schweinekerl ...“

Verlegen lachend unterbrach er sich.

„Verzeihung, man kommt so ganz in den rauhen Kriegston hinein, wenn man so lang ohne Damen ist. Aber das festliche Ereignis heut muss gebührend gewürdigt werden ... Jesses, nun hat das Kamel von Ordonnanz noch nicht einmal den Kaffee serviert? Ei, den soll ja gleich das heilige Gewitter ...“

Helene hatte ihr Taschentuch gezogen und ihre Augen getrocknet. Abwehrend dankte sie. Nein, es sei ihr unmöglich, länger zu bleiben. Sie müsse ihren Freundinnnen nach. Jetzt werde es auch schon dunkel und ihr Weg sei noch weit.

Der Batterieführer erhob noch lebhafteren Widerspruch als der Gast. Der erbot sich natürlich, sie zu begleiten; aber das schlug sie von vornherein aus. Man konnte ja nicht wissen, dass sie deutscher Abkunft war; den Französinnen aber, die sich hier an der Seite von deutschen Heeresangehörigen zeigten, denen erging es schlimm; der Hass sei ja unausrottbar.

„Aber es ist doch ausgeschlossen, Frau Martin,“ sagte Hans West mit erregter Stimme, „dass ich mich mit dieser kurzen Begegnung zufrieden gebe.“

„Wenn ich Sie nun bitte?“

„Sie müssen mir gestatten, dass ich Sie aufsuche.“

„Das schadet mir dann in dem Kreis, in dem ich nun einmal zu leben gezwungen bin.“

„Dann werden Sie diesen Kreis verlassen, Frau Martin. Glauben Sie denn, wir deutschen Barbaren werden nicht Mittel und Wege finden, um einer Landsmännin zu helfen?“

„Ich bin Ihre Landsmännin nicht mehr, lieber Freund. Ihre Behörde hat mir darum rundweg den Pass nach Deutschland verweigert. Ich muss mein Schicksal nun schon tragen.“ Sie reichte ihm die Hand. „Aber ich danke Ihnen für den guten Willen.“

„Frau Helene —!“

Sie duldete nicht, dass er sie vors Haus begleitete, gar dass er sie im Auto nach Hause fuhr, wie er ihr vorschlug.

Der Mathematiker war enttäuscht von dem kurzen Besuch. Und noch mehr davon, dass der junge Pionier sich nun auch nicht länger halten lassen wollte. Es hätte ihn doch interessiert, mehr zu hören über die Besitzerin seines „Schattohs“. Er gab dem Kameraden das Geleite bis ans Auto. Knatternd machte das kehrt und fuhr dann nach dem Flugplatz zurück.

Auf allen Teilen des breiten Boulevards herrschte noch starker Verkehr. Die Mitte gehörte dem Militär. Autos, Motorräder, Feldpostwagen, Proviantkolonnen — Staubwolken mit sich reissend, strebten sie nordwärts und südwärts. Überfüllt, noch auf den Trittbrettern besetzt von Feldgrauen, sausten die hellgelben Wagen der Strassenbahnen von Roubaix und Tourcoing vorbei. Auf den verschiedenen Fusswegen zog abgespanntes Sonntagsvolk vom Nachmittagsspaziergang mit müde trippelnden Kindern der Stadt zu ...

Helene fand erst auf der Grand’ Place eine Möglichkeit, mit einer der Strassenbahnen, die zu den jenseitigen Toren fuhren, mitzukommen. Alle Wagen waren überfüllt. Das Trüpplein ihrer Nachbarinnen hatte sie unterwegs nirgends mehr gesehen. Natürlich wollte sie sie noch aufsuchen, um ihnen Aufschluss über die Begegnung mit dem deutschen Offizier zu geben.

Aber das ward dann noch ein ängstlich-erregtes Warten vor dem Haus, in dem Frau Babin wohnte. Sie hatte das aus zwei Stuben und Küche bestehende Erdgeschoss des schmalen Torgebäudes der stillstehenden Brauerei in der Rue Trochu inne. Challier hatte ihnen die Wohnung verschafft. Niemand öffnete, als Helene klingelte. Kinder, die im Tordurchgang spielten, behaupteten, die Damen seien noch nicht heimgekehrt.

Im Dämmerlicht sah Helene die drei dann endlich ankommen. Es war ein jammervolles Bild. Yvonnes leidender Fuss versagte den Dienst. Sie ward von Mutter und Schwester halb gestützt, halb geschleppt.

Und Helenens Befürchtung traf zu: Sie hatten den ganzen Weg laufen müssen, weil sie das Fahrgeld nicht mehr besassen.

Eine unheimliche Stimmung herrschte in dem engen Raum. Leise stöhnend streckte sich Yvonne im Bett der Mutter. Sie besassen nur das eine. Die Töchter schliefen sonst auf einer Matratze, die sie abends aus dem Verschlag bei der Küche herauszogen. Die Lampe qualmte. Nur ein Rest Öl war noch da. Challier, den Léonie herbeigerufen hatte, brachte dann noch eine Kerze. Er ging schliesslich, um einen Arzt zu holen.

Helene fand keine Gelegenheit, mit einer von ihnen über ihre eigenen Angelegenheiten zu sprechen. Frau Babin hatte wieder ihre eisige Unnahbarkeit. Und Helene empfand wohl die stumme Anklage heraus: Ihr massen sie die Schuld daran bei, dass Yvonne über ihre Kräfte angestrengt worden war, denn sie hatten sich auf ihr Mitkommen verlassen.

Als der Arzt kam, schickte er die Damen aus dem engen Schlafzimmer. Während der Untersuchung, bei der man Yvonne manchmal in ihrem silberhellen Kinderton aufschluchzen hörte, trat Helene zu Frau Babin, an die sich Léonie eng anklammerte. Sie suchte nach der Rechten der schwergeprüften Frau. „So innig leid tut mir’s, Frau Babin,“ sagte sie.

Aber sie erschrak über sich selbst: sie hatte deutsch gesprochen.

In nervöser Abwehr löste Frau Babin ihre kalten Finger aus Helenens Hand. Und im Halbdunkel sah Helene unter den vier steifen, geraden, dunklen Brauen die vier wie im Hass sie anstarrenden Augen.

„Wir verstehen uns wohl nicht mehr,“ sagte Frau Babin tonlos.

Mutter und Tochter hatten die freie Hand zurückgezogen. Sie wollten keine Gemeinschaft mehr mit einer Frau, die die Freundin von einem dieser Hunnen war.

In tiefer, innerer Zerrissenheit trennte sich Helene endlich von ihnen. So inniges Mitleid mit Yvonne erfüllte sie — und ihrer Mutter und Schwester war sie kaum gram, weil sie ihren Stolz und ihre Anklage verstand ... Aber da regte sich nun wieder diese lang vergessene Sehnsucht in ihr ... Und es ward ihr so schmerzlich klar, dass sie kein Vaterland mehr besass, keine Heimat.

Die Stadt in Ketten - ein neuer Liller Roman

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