Читать книгу Die Stadt in Ketten - ein neuer Liller Roman - Paul Oskar Höcker - Страница 7
ОглавлениеDie ersten paar Tage sass Helene in dem zugigen Vorraum des grossen Bankhauses, das jetzt für die deutsche Kommandantur eingerichtet war. An den Schaltern drängten sich die Feldgrauen und die Liller und Lillerinnen. Hier bekamen die Unteroffiziere und Mannschaften, die sich auf dem Durchmarsch befanden, ihre Quartierzettel, hier die Offiziere, dort war ein Schalter eingerichtet für Heeresangehörige mit längerem Kommando, da gab es eine Wechselstelle für Liller Stadtscheine, das Notgeld, eine Auskunftsstelle, Meldestellen, Prüfungsstellen für Beitreibungsscheine. Es war ein ewiges Hin und Her. Der Hauptmann, der vorübergehend das Einquartierungswesen in Gemeinschaft mit der Mairie zu verwalten hatte, musste dem grössten Sturm standhalten; an ihn gelangten tausend Wünsche, Bitten und Beschwerden. Der Fernsprecher schwieg nie. Immer wieder kam der Hauptmann aus seinem engen Geschäftszimmer in den noch engeren Glaskasten des Lichthofs, um mit dem Unteroffizier, dem Schreiber, der Ordonnanz zu verhandeln und der Dolmetscherin seine Entscheidung zu diktieren.
Schliesslich erschien es ihm bequemer, ihr einen Platz in seinem Arbeitszimmer anweisen zu lassen. Und nach abermals ein paar Tagen merkte er heraus, dass er es mit einer gebildeten Frau zu tun hatte. Im Drang der Geschäfte hatte er sich um die Lillerin, die da mit der Mairie vermitteln sollte, nicht weiter gekümmert. Einer der Adjutanten klärte ihn nun auf: soweit er selbst über sie von Oberleutnant West unterrichtet worden war, der sich für ihre Anstellung eingesetzt hatte.
Ihre Tätigkeit bestand hauptsächlich darin, Schriftstücke zu übersetzen und die Liller zu empfangen, die der Einquartierungskommission ihre Schmerzen mündlich vortragen wollten. Bei solchen Empfängen ging ihr rasch der krasse Gegensatz zwischen den Deutschen und den Franzosen auf. Mit unendlichem Wortschwall überschütteten die Einheimischen die Empfangsdame, verschwendeten Höflichkeitsworte in kleiner und kleinster Münze, begannen zunächst von allen möglichen Dingen zu reden, die mit der Sache gar nicht zusammenhingen, und kamen immer erst auf Umwegen auf den Zweck ihres Besuches zurück. Ganz anders der Hauptmann: klipp und klar, in wenig Worten, wollte er unterrichtet sein. Und seine Entscheidung fiel ebenso kurz und fest und unumstösslich. Höflichkeitsumschweife gab es bei ihm nicht. „Sie müssen sich noch mehr der militärisch kurzen Ausdrucksweise befleissigen, Frau Martin, wir haben hier keine Zeit, mit den Leuten ein grosses Theater aufzuführen.“ Unter den unzähligen Lillern und Lillerinnen, mit denen sie im Verlauf ihres Dienstes in Berührung kam, befanden sich nur wenige, die ihr persönlich bekannt waren. Einmal schickte die hübsche, kleine Frau Gal ihre Karte herein. Das war die junge Gattin eines Universitätslehrers, der im Felde stand. Sie hatte früher von einem Vetter Laroches, dem jungen Arzt Broussart, öfter von ihr gehört. Er schwärmte für ihr tizianblondes Haar. Seitdem sie Strohwitwe war, hatte sich die Freundschaft der beiden noch vertieft. Broussart, dessen ärztliche Tätigkeit nur gering war, sass fast den ganzen Tag bei ihr. Sie malte und musizierte, und Broussart galt für einen Schöngeist. Helene hatte die vielseitige kleine Frau vor dem Kriege nur selten gesehen, seit der Mobilmachung überhaupt nicht mehr. Aber nun kam sie mit ausgebreiteten Armen auf sie zu, umarmte sie, küsste sie links und rechts auf die Wange und war von einer bezaubernden Herzlichkeit. Mit inniger Teilnahme erkundigte sie sich nach dem Unfall, den Frau Martin bei der Beschiessung von Lille erlitten hatte; von Broussart wusste sie, dass sie damals unter den Trümmern des Hauses verschüttet worden war. In ihrer aufgeregten Art klang es, als ob ihr soeben selbst das grösste Unglück widerfahren sei. Der Hauptmann trat daher in die Tür und musterte sie mit einem kurzen Blick.
Endlich kam Frau Gal auf den Zweck ihres Besuchs zu sprechen. Man habe in ihrem Hause drei Offiziere mit ihren Burschen einquartiert, die Herren kämen abends um Elf oder Zwölf nach Hause, unterhielten sich dann noch, und schon um sechs Uhr früh stellten sich auf der Treppe die Burschen aus den Mansarden ein und wichsten die Stiefel ihrer Herren. Das ertrügen ihre Nerven nicht, die sowieso schon unter dem ewigen Geschiesse litten; sie könne weder malen noch singen noch Klavier spielen, wenn sie keine Nachtruhe mehr fände.
Der Hauptmann lachte dröhnend, als ihm Frau Martin den Inhalt des so dramatisch geführten Gespräches wiedergab. „Wenn es hier Nerven zu schonen gibt, dann sind mir die der deutschen Herren unbedingt die wichtigeren,“ sagte er. „Und mir schwant: die unglückliche Einquartierung leidet mehr unter der jungen Hausherrin. Heiliger Brahma, war das ein Wasserfall!“ Das Gesuch ward natürlich abgelehnt. „Und künftighin, Frau Martin, wenn die Leute mit gar zu dummen Anliegen kommen: kurzerhand rausschmeissen. Fertig.“
Helene musste anerkennen, dass der Hauptmann in vielen anderen Fällen eine gerechte Rücksicht walten liess. Wohnungen, in denen alte Leute, Kranke, kinderreiche Familien lebten, blieben von Einquartierung frei. Viele Häuser waren verschlossen, die Besitzer entflohen. Auch sie waren zunächst noch nicht belegt worden. Bis dem Hauptmann hinterbracht wurde — von Franzosen, die sich darüber ärgerten, dass es ihren Nachbarn besser gehn sollte als ihnen —, dass zahlreiche Besitzer ihre Häuser zugemacht hatten und zu Bekannten gezogen waren. Die Mairie wurde sofort benachrichtigt, im Umsehen meldeten sich darauf die Besitzer, käseweiss vor Angst, und der Hauptmann sorgte dafür, dass sie von nun an häufig in die Lage kamen, Gastfreundschaft üben zu müssen. Fortgesetzt wechselten jetzt die Truppen an der Front und in der Etappe. Nachdem man die paar Wintermonate hindurch von grösseren Kampfhandlungen hier in Flandern gar nichts mehr gehört hatte, schien mit dem Eintritt der besseren Jahreszeit da und dort ein grosser Schlag geplant zu sein. Der häufige Truppendurchzug liesse darauf schliessen, meinte Laroche.
Das war für Helene immer das peinlich-unsichere Gefühl im Verkehr mit Laroche: dass er in seiner lebhaften Art sie über hundert Dinge ausfragte, die zu ihrem Dienst gehörten, und dass sie nie wusste, wie weit sie in ihren Antworten gehn durfte — und welchen Gebrauch er davon machen würde.
Die Begegnung mit der kleinen Frau Gal hatte sie schnell wieder vergessen, aber Dr. Broussart passte sie einmal, als sie vom Dienst kam, an der Sperre der kleinen Strasse ab, in der sich der Eingang der Kommandantur befand. Er begleitete sie auf ihrem Weg durch die mächtigen Torbogen der Mairie bis zum Republikplatz. Der grösste Teil dieses Viertels war im vorigen Herbst in Trümmer geschossen worden. In der einsinkenden Dämmerung sah sich das Bild der Ruinen mit den verkohlten Bäumen, die in den vernichteten Gärtchen standen, ganz gespenstisch an.
„Ist es Ihnen nicht ängstlich, abends hier allein zu gehen?“ fragte er die junge Frau.
„Man begegnet fast keiner Menschenseele. Ab und zu einem biederen Landsturmmann. Die tun mir nichts.“
„Und Sie fürchten auch nicht, dass Einwohner ein Attentat auf Sie ausüben könnten, weil Sie in deutsche Dienste getreten sind?“
Sie zuckte die Achsel. „Ich helfe ihnen doch — versuche zu erklären und zu vermitteln, um beiden Teilen gerecht zu werden.“
„Gerecht. Hm. Frau Gal fand, Sie hätten sich ihrer Angelegenheit ruhig etwas wärmer annehmen können. Der Kapitän hat den Antrag rundweg abgeschlagen?“
„Rundweg. Und hat stürmisch dabei gelacht. Wenn Frau Gal während des Krieges weder zum Malen noch zum Musizieren käme, so wäre das weiter nicht tragisch zu nehmen.“
Verstimmt ging er neben ihr weiter. „Sie haben eben doch keine Ahnung von Kultur, die Deutschen. Trinken, schlafen, Blechmusik machen, das füllt ihr Leben hier in der Etappe aus.“
„Ich habe es in anderem Lichte gesehen, Broussart. Ich habe hier Männer kennengelernt, die die höchste Achtung verdienen.“
„Hüten Sie sich, Frau Martin, sich von den Boches einfangen zu lassen.“
„Einfangen?“
„Ihr Mann ist französischer Soldat. Die Lillerinnen, die sich während des Krieges mit Deutschen einlassen, kommen auf die schwarze Liste. Sie ist — leider — schon sehr gross. Aber die Vernichtung all der gebrandmarkten Frauen — in gesellschaftlicher, moralischer und wirtschaftlicher Hinsicht — ist unabwendbar.“
Er sagte es in fast drohendem Ton. Sie blickte ihn ernst und würdig an. „Ich verwehre es Ihnen, Broussart, in mein Leben und mein Leiden Einblick zu nehmen. Das trage ich ganz allein. Und Rechenschaft lege ich niemand ab als nur mir selbst.“
Eine Weile blieb es wieder still zwischen ihnen. Dann begann er allerlei von den freiwilligen Helferinnen im Militärhospital zu erzählen und von neuem steigerte sich dabei seine Erregung. Am schlimmsten habe es Frau Manon Dedonker getrieben. Die stehe jetzt auf der schwarzen Liste obenan.
Helene blieb gelassen. „Es hat eine Zeit gegeben, wo mir Manon wirklich nahestand. Wir waren in Dinant die besten Freundinnen. Wir zwei und Geneviève. Aber Manons Wege sind in andere Richtung gegangen.“
„Ja, wahrhaftig, wählerisch war sie nicht. Seitdem ihr Mann in deutscher Kriegsgefangenschaft steckt, ist sie nun schon in dritter Hand.“
„Ach, Broussart, warum erzählen Sie mir das alles? Sie ahnen nicht, wie es mich quält.“
„Glauben Sie, mich begeistert es? Sie hätten unsere hübschen Liller Pflänzchen bei der Krankenpflege mit erleben sollen. Bei den armen Piou-Pious wollten sie nicht bleiben. Und das Getue und Gekichere immer. Auch Frau Manon ist ja nur deswegen zum Roten Kreuz gekommen, weil sie Bekanntschaften machen wollte. Da ist ein kleiner Erbprinz aus ... Weiss der Teufel, woher, man kann doch nicht all die Hunnenstaaten behalten ... Ja, und an den hat sie sich herangemacht, es war schamlos. Die anderen Schwestern, die eifersüchtig waren, haben es angezeigt, und die Folge ist nun, dass alle französischen Schwestern entlassen worden sind.“ Er lachte kurz und trocken auf. „Die Krankenpflege hat darunter ja nicht gelitten, aber es ist beschämend für die Liller Damenwelt. Wo bleibt die Treue, die unsere Kämpfer von ihren Frauen verlangen können!“
Nun konnte Helene doch nicht länger stumm zuhören. „Wie urteilt Frau Gal darüber?“
„Frau Gal?“ Er war stehngeblieben. Gross sah er sie an. „Frau Gal ist Patriotin. Sie würde sich doch nie mit einem Boche abgeben? Wo ihr Mann irgendwo im Elsass für das Vaterland kämpft.“
„Und — Sie selbst, Broussart, der Sie der glühendste Patriot sind, verehren Sie Frau Gal vielleicht nicht doch leidenschaftlicher, als es ihrem Mann dort irgendwo im Elsass lieb sein würde, wenn er’s wüsste?“
Er wich mit seinem Blick aus und ging weiter. „Es handelt sich darum, dass es in Lille leider so viele Damen bester Kreise gibt, die in ihrem Kriegs-Strohwitwentum vergessen, was sie Frankreich schuldig sind.“
„Und sich — ihrer Frauenwürde.“
Ihre Stimme klang herb und stolz. Er wusste zunächst nichts zu erwidern.
Als sie in der Rue Inkerman an Laroches Haus ankamen, sagte er achselzuckend: „Man ist Patriot. Natürlich. Aber doch kein Philister.“
An diesem Abend war es Helene fast unerträglich, Laroche mit anhören zu müssen. Er brachte wieder aus dem Café Boulevard allerlei aufregende Nachrichten. Die deutsche Soldatenzeitung, die jetzt im Hause des „Echo du Nord“ gedruckt wurde, hatte soeben Sonderblätter an allen Ecken der Stadt anschlagen lassen: von einem grossen deutschen Sieg über die Russen. Laroches Zuträger freilich waren genau darüber unterrichtet, dass diese Nachrichten erlogen seien und dass die Befreiung von Lille bestimmt zu Ostern zu erwarten sei. Der Geschützdonner, den man in den letzten Tagen wieder so nervenaufpeitschend scharf gehört habe, bedeute den Anfang eines neuen französischen und englischen Siegeslaufes: die Deutschen hätten ihre Linien hier in ganz Flandern bereits um zwei Kilometer zurückverlegen müssen. Ein Erfolg der weittragenden neuen Hundertzwanzig-Millimeter-Geschütze. Das Verhältnis bei den letzten Kämpfen im Stellungskrieg sei glänzend: ein toter Franzose auf zehn tote Deutsche.
„Wie ist die Stimmung der Leute in der Kommandantur?“ fragte er Helene. „Lassen sie sich die Enttäuschung anmerken, oder heucheln sie noch immer ihr altes Siegesbewusstsein?“
„Was soll ich darauf erwidern, lieber Freund?“ sagte Helene matt. „Gewiss, sie sehnen sich alle danach, heimzukommen. Aber zuvor — wollen sie siegen.“
Sie speisten nun immer zu dritt. Frau Laroche ass schon um sechs Uhr mit den Kindern und ging dann in ihr Schlafzimmer. Ihre Vorbereitungen zur Nacht, vor allem das Haarfärben, erforderten lange Zeit. Sie fühlte sich am behaglichsten in der Nachtjacke. Wenn die Erschütterungen des Kanonendonners zu stark wurden, stopfte sie sich dicke Wattepfropfen in die Ohren und legte sich frühzeitig ins Bett. Sie war zufrieden, wenn ihr Mann, bevor er schlafen ging, ihr väterlich Gutenacht sagte. Gern fühlte sie sich wegen ihrer Kränklichkeit und Schwächlichkeit als Kind behandelt und gehätschelt. Auf die älteste Tochter, die sie in allem vertrat, konnte sie sich ja blindlings verlassen. Die Anwesenheit von Helene beruhigte sie auch darüber, dass ihr Mann in geistiger Hinsicht irgend etwas entbehrte. Mit ihr konnte er politisieren — was ihr selber so furchtbar langweilig war — und die Schwärmerei für Helene war nun doch einmal sein Johannistrieb. Es war ihr so alles ganz bequem.
Hans West, der immer einmal auf ein paar Minuten sein Auto halten liess und bei Helene vorsprach — in der Inkermanstrasse oder in der Kommandantur — hielt es für geraten, dass sie die Beziehungen zu ihrem französischen Umgang abbrach. Vielleicht fände sie bei den deutschen Schwestern Anschluss. Er hatte ihr versprochen, mit dem Obergeneralarzt des Gouvernements oder einem der Delegierten Rücksprache zu nehmen. Heute empfand sie’s wieder einmal recht quälend, dass sie zwischen den Nationen stand. Von beiden Seiten ward ihr selbst das beschränkte Vertrauen nur wie ein Almosen.
Als sie am andern Morgen das Badezimmer verliess, lief ihr die stupsnasige Berthe in den Weg. Atemlos kam die vom Erdgeschoss heraufgestürmt und brachte die Botschaft: im Musikzimmer wartete der deutsche Offizier auf sie, vor dem Hause ratterte sein Kraftwagen, und er hatte den ganzen Arm voller Blumen, und Benjamin sagte, er wagte sich nicht hinaus, zur Schule, weil sie in der Nachbarschaft aus allen Fenstern heraussähen, die Tür beobachteten und ihn hernach fragten, was das Militär bei ihnen wollte.
Sie trat bei Geneviève ein, die noch an ihrem Putztisch sass; Berthe folgte, die Nachricht wiederholend.
Geneviève schob den Vorhang ein wenig zur Seite. Ja, richtig, überall standen sie wieder auf der Lauer. „Sie haben jetzt so gar keine Abwechslung, die armen Tierchen,“ sagte sie mitleidig, „da ist es für sie natürlich ein Ereignis und ein Gesprächsstoff, wenn irgendwo ein Auto vorfährt. Die Maschine des Herrn West macht aber auch wirklich einen unverhältnismässig starken Lärm.“
Berthe nickte strahlend. „Weil sie kein Benzin mehr haben, sagt Benjamin. Der weiss es von Antoine Bergerat.“
Helene horchte auf. „War Antoine hier?“ fragte sie Geneviève.
„Er hat sich seine Unterstützung geholt. Und ich hab’ ihn ein paar Schlösser nachsehen lassen, um ihm etwas zu verdienen zu geben.“
„Aber wenn er nun dabei einem Deutschen in die Arme liefe —!“
Lächelnd meinte Geneviève, indem sie ihren Kammkasten zuklappte: „Hier fühlt er sich sicher. Du bist ja unser Aushängeschild für die Deutschen. Nicht?“
Helene erwiderte nicht. Nein, diese ewigen Unaufrichtigkeiten waren nicht mehr zu ertragen. Ernstgestimmt verfügte sie sich ins Erdgeschoss.
„Nur Guten Morgen wollt’ ich Ihnen sagen,“ begrüsste sie der Pionier in dem feierlichen Empfangssalon, in dem die zahlreichen Polstersessel immer mit einem Leinwandbezug versehen waren und ebensowenig zum Verweilen einluden wie der niegeheizte Marmorkamin mit der unaufgezogenen Standuhr, den blumenleeren Vasen und den kerzenlosen Prunkleuchtern. Er hatte die Blumen von dem Marmortisch unter dem mächtigen venezianischen Spiegel wieder aufgenommen. „Ein paar Frühlingsboten aus Frelinghien. Ich war die Nacht draussen an der Front. Consentius hatte mich eingeladen. Denken Sie: zwischen den Batterien haben sie da Gemüse und Blumen gepflanzt. Die Osterglocken und Schneeglöckchen sind die erste Ernte. Ich wollte noch abends zurück, aber das Feuer war zu stark. Und eben, wie ich in mein Quartier komme, liegt ein Telegramm da: ich hab’ den zweiten Stern. Das musst’ ich Ihnen doch gleich melden, nicht?“
„Hauptmann sind Sie geworden?“ Sie streckte ihm beide Hände entgegen. „Ja, ist das nicht abenteuerlich früh? So jung an Jahren?“
Er lachte. „Es war für mich höchste Zeit, sonst wäre mir am Ende Theo, der Frechdachs, noch zuvorgekommen. Diese Flieger haben ja ein Geschwindtempo, dass man fast atemlos wird.“
Platz nehmen wollte er nicht, es lag noch zu viel Arbeit für den Vormittag vor ihm. Aber mit seiner frischen Art brachte er ihr in den paar Minuten doch wieder so viel Lebensmut ...
„Und ein Unterkommen hab’ ich für Sie auch schon aufgestöbert. Der Obergeneralarzt hat mich an die Bahnhofskommandantur gewiesen. Die deutschen Städte errichten überall im besetzten Gebiet Verpflegungsstätten. Voraussichtlich trifft in den nächsten Tagen eine kleine Abordnung aus Frankfurt hier ein: Zivilärzte mit Schwestern vom Vaterländischen Hilfsverein, Pflegerinnen und Wirtschaftspersonal. Dort finden Sie gewiss netten Anschluss. Es sind gebildete deutsche Frauen dabei. Sobald ich Näheres weiss, melde ich mich wieder. Vom Sieg in Russland haben Sie gehört?“
Sie atmete tief auf. „Die Nachricht ist wirklich wahr?“
„Amtlicher Bericht.“
Die wundervolle Sicherheit und Selbstverständlichkeit, mit der jeder Deutsche der amtlichen Darstellung Glauben schenkte, machte ihr doch immer wieder Eindruck. „Und wann wird das Morden enden?“ fragte sie. „Hat es denn einen Sinn, dass hochentwickelte Völker sich so zerfleischen?“
„Wir haben ja den Krieg nicht gewollt.“ Er nahm seine Mütze wieder auf. „Solange Sie noch hier bei den Franzosen sind, können Sie’s ihnen nicht oft und eindringlich genug predigen: Frankreich besorgt nur Englands Geschäfte.“ Lachend brach er ab. „Aber ich war nicht gekommen, um Politik zu machen — nur um Ihnen recht herzlich Guten Morgen zu sagen.“
Hin und her riss es sie; in ihrem Dienst bei der Kommandantur dieses sichere, gelassene Siegesbewusstsein, diese Ordnung, diese fast philiströse Genauigkeit, diese strenge Aufsicht über alle Heeresangehörigen, die hier denselben peinlich beobachteten Gesetzen und Regeln unterworfen waren wie in irgendeiner kleinen deutschen Garnison — und bei den Franzosen dieser in alter Heftigkeit weiterwuchernde, fast hysterische Hass. Helene wich schon jedem Gespräch mit Laroche über die allgemeine Lage ängstlich aus. Bei den gemeinsamen Mahlzeiten entstanden dadurch oft Lücken in der Unterhaltung. Wenn nicht der Kern in Laroche so achtungswert gewesen wäre, hätte sie die Gastfreundschaft auch nicht einen Tag länger in Anspruch nehmen wollen. Ungeduldig wartete sie auf nähere Nachricht von Hans West über die neue Verpflegungsstätte auf dem Nordbahnhof.
In einen seltsamen Gewissenskampf geriet sie da einmal auf dem Amt, als sie Zeuge einer kurzen Verhandlung zwischen einem vorübergehend hier einquartierten höheren Kommandeur und dem Leiter der Quartierkommission ward. Sie war in dem kleinen Geschäftszimmer mit Übersetzungsarbeiten beschäftigt, als dem Hauptmann der Brigadier gemeldet wurde. Der General wollte nicht erst eintreten, war sehr beeilt, die kurze Unterredung spielte sich zwischen Tür und Angel ab. Helene hörte dabei aber die Nummer des Hauses am Boulevard Vauban nennen, das Manon Dedonker bewohnte. Unwillkürlich hob sie den Kopf von der Arbeit auf.
„... Bitte, bitte, keine Umstände, mein lieber Herr Hauptmann, ich weiss, Sie haben hier kein leichtes Arbeiten. Ich wollte auch keine Beschwerde anbringen. Nein, alles über Erwarten gut. Famoser Stall, luftig und sauber, meine Gäule tadellos untergekommen. Und der Unteroffizier und die Burschen wie in einem Schweizer Hotel.“
„Und Exzellenz selbst?“
„Vorzüglich. Badezimmer, elektrisches Licht, Schlemmerbett, alles da. Meine Herren können auch nicht klagen. Aber hören Sie mal, was ist das für eine Person, der da unser Palazzo gehört?“
Der Hauptmann hatte in die Kartothek gegriffen. „Das ist eine Frau Dedonker. Ihr Mann ist Belgier. Direktor einer Zuckerfabrik, jetzt kriegsgefangen in Deutschland. Sie ist die Tochter eines gewissen Herrn Ducat. Léon Ducat: Notar, masslos reicher Herr, Stütze der Stadt Er soll aber bei Beginn der Belagerung nach Paris und mit der französischen Regierung auch gleich noch weiter nach Bordeaux geflohen sein.“
„Also um das junge Frauchen handelt sich’s. Ich bin kein Moralfatzke, bewahr’ mich der Himmel. Aber es liegt hier doch der Kommandanturbefehl vor, dass die Bevölkerung mit Zapfenstreich die Strasse räumt, nicht wahr? Na, aber die junge Hausfrau sucht abends, wie ich höre, eine Bar auf und kommt erst morgens wieder heim. Hören Sie, das passt mir nicht. Hernach gibt’s womöglich noch Gequassel darüber. Anzapfungen. Ich will wegen der kurzen Zeit, die wir noch hier in Ruhe liegen, nicht das Quartier wechseln. So wichtig ist die ganze Geschichte ja überhaupt nicht. Aber lassen Sie der Dame doch mal einen leisen Wink geben, dass sie’s einem in ihrem Hause nicht unmöglich machen soll! Schon der Burschen halber.“
„Zu Befehl, Exzellenz.“
„Um Gottes willen, mein lieber Herr Hauptmann, das soll kein Befehl sein. Bloss nahelegen wollt’ ich Ihnen die Sache. Ich kam eben hier vorbei — sonst hätt’ ich mir’s überhaupt verkniffen. Denn wenn unsereiner, der über Sechzig ist, moralische Anwandlungen kriegt, dann ist’s besser, er macht sich damit nicht allzu mausig.“ Er lachte und ging.
Helene ward gleich darauf ins Geschäftszimmer gerufen, wo der als Maschinenschreiber tätige Landsturmgefreite sass. Sie bekam den Auftrag, eine Anzahl Briefe zu übersetzen. Während der Hauptmann die Mappe durchblätterte, um ihr die Schriftstücke zu bezeichnen, diktierte er dem Soldaten eine kurze Meldung an die Militärpolizei: „Nach hier eingelaufener Anzeige verstösst die Quartierinhaberin Frau Dedonker, geb. Ducat, Boulevard Vauban, gegen Kommandanturbefehl vom Fünften vorigen Monats betreffend Zapfenstreich. Zeuge hat in Erfahrung gebracht, dass die qu. Dedonker nächtlicherweile in Bars verkehrt. Gelegentliche Hausrevision erscheint geboten.“
Als Helene an diesem Abend heimkam, war sie so still und gedrückt, dass es Geneviève und deren Vater auffallen musste. Sie drangen beide in sie ihr Herz auszuschütten. Sie kämpfte lange mit sich. Erst als sie mit Geneviève allein war, enthüllte sie ihr, was der Zufall ihr da verraten hatte. „Sich vorzustellen, dass man einmal so innig befreundet war, sich liebgehabt hat, und jetzt solch ein tiefer Fall —!“
Geneviève hatte die Brauen zusammengezogen. Ein paar Sekunden überlegte sie. Dann sah sie nach der Uhr. „Ich gehe zu ihr. Wir haben uns ja lange nicht mehr gesprochen. Aber den Triumph gönne ich den Boches nicht. Ich werde sie warnen.“