Читать книгу Das flammende Kätchen - Paul Oskar Höcker - Страница 4
ОглавлениеNoch verhängnisvoller war der Rat, den ihr bisheriger Brotherr ihr gegeben, für Katarina selbst.
Seiner Verwendung gelang es, ihr bei der weltberühmten Firma A. F. Dutton in Buckinghamshire Zutritt als Volontärin zu verschaffen. Dutton galt für einen der bedeutendsten Nelken-Spezialisten. Seine Saisonneuheiten waren seit Jahren auch auf dem Kontinent viel begehrt. Fräulein Katarina Lutz kannte die englische Firma dem Namen nach längst. Da auch das Haus Viktor H. Troilo neuerdings das Hauptgewicht auf die Nelkenzucht legte, glaubte sich Katarina besonders vom Glück begünstigt, als an sie das Schreiben mit dem Poststempel „Iver, Bucks“ eintraf, das in der den Engländern eigenen Knappheit ihr Mitteilung von ihrer Einstellung zum Mittwoch nach Ostern machte und ihre Pflichten als Volontärin klar bezeichnete.
Aber das Entsetzen, das ihr Entschluss in Wiesbaden hervorrief!
Frau Dora Troilo empfing Katarinas Brief mit den Mitteilungen über ihre Zukunftspläne, als ihr Stiefsohn sie schon verlassen hatte: Viktor musste sich am 1. April morgens 8 Uhr in Karlsruhe auf dem Kasernenhof der badischen Leibdragoner einfinden. An demselben Tage nahm Katarina von der tieferschütterten Geheimrätin Abschied, um nach ihrer Vaterstadt abzureisen und bis zum Dienstag nach Ostern als Gast im Hause ihrer künftigen Schwiegermama zu bleiben. Eine Antwort auf ihr Schreiben, worin sie ihren Entschluss ausführlich begründet hatte, war ihr vor ihrer Abfahrt von Berlin nicht zugegangen. Die ward ihr nun mündlich gleich nach ihrer Ankunft in Sonnenberg.
Es war kurz nach sieben Uhr früh, als der Zug in Wiesbaden einlief. Katarina fror, trotzdem die Sonne schon strahlend am Himmel stand. Sie war nach der langen Nachtfahrt in der dritten Wagenklasse wie gerädert. Das Badeleben hatte noch nicht begonnen: in den Anlagen, an denen ihr Droschken-Einspänner vorbeikam, herrschte kein Betrieb, an vielen Landhäusern waren sämtliche Rolläden herabgelassen.
Nördlich vom Sanatorium Dietenmühle fiel der Droschkengaul in Schritt. Hier ging es bergauf. Sobald die Strasse um den Amselberg herumbog, hatte man die ganze schöne Fernsicht vor sich, die Katarina von Kindheit an kannte und liebte. Ein schmales, sonniges Tal, waldige Höhenzüge schlossen es ab, in blauem Duft verschwimmend, im Vordergrund ein paar freundliche Dörfer, viele, viele obstreiche Gärten, in denen jetzt die Baumblüte begann, den Mittelpunkt bildete die Sonnenburg mit ihrem roten, alten Steinturm. Jenseits der Sonnenburger Strasse der Villenvorort Eigenheim mit den braunroten Ziegeldächern inmitten jungangepflanzten Laubwerks, und zwischen Sonnenberg und der Bingertstrasse das weite Troilosche Gartenland mit den grossen Treibhäusern und Frühbeeten, auf deren Glasdächern jetzt blendend die Morgensonne lag. Das neue, stattliche Herrschaftshaus, das die Witwe Troilo mitten in den Park gesetzt hatte, war von hier aus nicht zu sehen, aber die paar kleinen, einstöckigen Gebäude am Dietenmühler Weg, die den Grundstamm dieser Gärtnerkolonie gebildet hatten und in deren letztem, dem kleinsten, Katarina Lutz vor bald einundzwanzig Jahren zur Welt gekommen war. In dem kleinen Hause wohnten seit dem Tod von Katarinas Vater fremde Leute. Unter dem Pächter, der eine Milchwirtschaft betrieb, war leider alles sehr verwahrlost. Mit umflortem Blick sah Katarina hinüber. Es kostete sie jedesmal eine starke Ueberwindung, das Haus zu betreten. Der Pachtvertrag schloss mit dem Herbst des nächsten Jahres. Natürlich wollte sie ihn nicht erneuern. Es war auch anzunehmen, dass der Platz sehr bald für die Zwecke der Firma gebraucht würde. Viktor hatte schon davon gesprochen, wie seine Stiefmama und Onkel Rispeter, ihre rechte Hand, sich die Umwandlung dachten. Das junge Paar bekam eine kleine Villa an die westliche Grenze hingesetzt, und Katarinas Geburtshaus ward für einen neuen Teil des Versandgeschäftes ausgebaut, es sollte Lager- und Packräume abgeben.
Die Droschke fuhr durch das breite Gartentor auf das Troilosche Grundstück. Geradeaus lagen die Treibhäuser, links die grossen Felder mit den Frühbeeten, rechts das Wohnhaus mitten in einem Kranz von Edeltannen. Es waren schöne, kostbare Bäume, aber — auf dem wohlgepflegten Parkrasen zu ihren Füssen waren ein paar Gnomen und Rehe aus Steingut aufgestellt.
Noch nie war es Katarina so beschämend klar zum Bewusstsein gelangt: wie stillos diese ganze Neuschöpfung der Witwe Troilo doch im Grunde war. Ein künstlerisch empfindender Architekt war bei dem Entwurf des Herrschaftshauses nicht zu Rate gezogen worden, sondern ein biederer Maurerpolier hatte die unklaren Vorstellungen seiner Auftraggeberin von einem Rokokoschlösschen in grausame Wirklichkeit umgesetzt. Es war etwas Schauderhaftes herausgekommen. Die Ueberladenheit mit Stuck erinnerte Katarina an die wüstesten Greuel der Grunewaldkolonie. Noch schlimmer war’s drinnen. Frau Dora hatte sich von vielen ihr teuern Andenken der „Schmücke Dein Heim“-Zeit nicht zu trennen vermocht. Von der in der Diele aufgestellten bleigepressten Ritterrüstung an, in deren starren Fausthandschuhen die Visitenkartenschale ruhte, bis zu den Steinkrügen in komischer Mönchsgestalt, die auf dem Bordbrett im Speisesaal standen, fehlte kaum eine der unendlichen Verirrungen, die sich das zur Fabrikarbeit erstarrte Kunstgewerbe in den achtziger und neunziger Jahren hatte zuschulden kommen lassen. Und die Besitzerin all dieser Herrlichkeiten selbst fügte sich stilgerecht ein. Sie trug ein hochschnürendes Panzerkorsett, sämtliche Kleider knapp auf Taille gearbeitet, wodurch ihre Anlage zur Ueppigkeit, die verheimlicht werden sollte, besonders betont wurde, ihr dunkles Haar, ihre buschigen Augenbrauen waren gefärbt, sie trug viel Brillanten, auch gleich morgens nach dem Aufstehn.
Als Katarina gemeldet wurde, stand Frau Dora vor ihrem Toilettenspiegel. Sie hatte das Vorfahren der Droschke gehört. „Ich lass’ bitten!“ sagte sie lässig und steckte sich eine Haarnadel zurecht. Sie bemühte sich, hochdeutsch zu sprechen. Mit ihrem Vetter Rispeter und anderen Verwandten gab sie sich diese Mühe nicht. Wenn sie gemütlich wurde, sprach sie, wie ihr der Schnabel gewachsen war. Der Wiesbadener Einschlag war in ihrem Dialekt der stärkste, weil ihre Mutter aus der Kochbrunnenstadt stammte und weil sie als Kind, als Mädchen, hier lange Zeiten bei Verwandten zugebracht hatte.
„No, Du kommst ebe zum Frühstück zurecht, Kätche. Huch, wie verfrore siehst aus. Willst erst ablegen oder lieber gleich Kaffee trinken?“
Während sie sprach, verabfolgte sie dem Ankömmling links und rechts zwei schallende Küsse, die auf Katarinas Wangen deutliche Spuren des Drucks und der Lippenpomade zurückliessen.
Katarina bat, zunächst ablegen zu dürfen. Das flinke Hausmädchen hatte inzwischen ihr Handgepäck ins Fremdenzimmer gebracht, das im Giebel lag. Das Zimmer war blitzblank wie das ganze Haus. Es wurde hier unausgesetzt gescheuert. Frau Dora war die strengste und unerbittlichste Hausfrau, die man sich denken konnte. Sie genoss hier im Hause nicht weniger Respekt als drüben im Geschäft.
Als Katarina ins Speisezimmer kam — es war „altdeutsch“ mit Butzenscheibenfenstern und Muschelaufsätzen —, sass ihre Schwiegermama schon am Frühstückstisch, der in der Trinklaube gedeckt war. Auf dem Stuhle neben sich hatte sie ihre Bulldogge sitzen. Knurrend duldete das Tier das Näherkommen des Gastes. Frau Dora hatte ihm eine Serviette umgebunden und einen Teller Milch mit Brocken Weissbrot vorgesetzt. Schlappernd verzehrte Fricka, die Dogge, ihr Mahl, den grossen, nackten, menschenähnlichen Schädel immer wieder missgünstig dem Neuling zuwendend.
Katarina drehte sich jedesmal fast der Magen um, wenn sie im Hause ihrer Schwiegermama gezwungen war, auf diese Weise eine Mahlzeit mit dem über alle Beschreibung hässlichen Hund zu teilen. Frau Dora liebte ihre Fricka abgöttisch. Sie unterhielt sich mit der Dogge auch häufig, wenn sie allein war, und behauptete, das kluge Tier verstünde jedes Wort. Katarina schloss die Augen und tat einen tiefen Zug aus ihrer Tasse starkduftenden schwarzen Kaffees.
„Ohne Rahm? Ha, geh’, was ist das für eine neue Mod’. Ja, und jetzt sag’ bloss emal, Kätche, was für Sache sind denn das, wo Du Dir in den Kopf gesetzt hast? Nach England? Ins Herr Duttons? Als Volontär? Ha, neu, Du denkst doch nit, dass ich das duld’?“
Da waren sie gleich mitten im strittigen Thema drin. Frau Dora sprach jetzt fortgesetzt, sie liess den Gegner grundsätzlich nicht zu Worte kommen, aber sie ass auch fortgesetzt und fütterte zudem ihren Hund dabei. Eine Unmenge mürber Kipfel füllten den Brotkorb. Frau Dora ass sie ohne Butter — sie sprach sehr viel von ihren Massnahmen, um nicht dick zu werden, hatte aber schon längst eine durchaus ausreichende Fülle — einen Kipfel nach dem andern tauchte sie in ihren Milchkaffee, biss das eine Ende ab, tauchte den Rest nochmals ein und liess dann den Hund danach schnappen.
Immer wieder versuchte Katarina einen Einwand. Frau Dora hörte nicht. Sie sprach mit vollem Munde, grollend, ohne Absatz weiter. Wie sie so ass und zankte, hatte sie für Katarina eine nicht wegzustreitende Aehnlichkeit mit der gierig schnappenden und feindselig nach ihr glupschenden Bulldogge.
„Du wirst den Herre Engländern jetzt also ein Briefche schreiben, hörst, Kätche, dass Du Dir das anders überlegt hast, ich bitt’ mir’s aus, und kein Wort mehr höre will ich von dem Unsinn. — Da, nimm, allons, Fricka, mein Tierche. Ein gutes Viech bist. Ja, bist Du mein gutes Viech? Nein, ein Strolch bist. — Jetzt guck nur, wie lieb die Kröt’ wieder ist, das Mienespiel, wie auf dem Theater, nit? Ja, und dem Hausser gibst den Gepäckschein, dass er die grossen Sachen von der Bahn holt. Ist ausserdem noch Fracht, Kätche?“ Sie war aufgestanden und nahm dem Hund die Serviette ab. Er war darauf dressiert, ihr nun die Schnauze wie zum Kusse hinzuhalten, worauf sie ihm im Spass eine Ohrfeige verabreichte. Der Hund sprang zu Boden und an ihr empor, sie verliess die Trinklaube und führte rund um den grossen Speisetisch einen Tanz mit ihm auf. Er bellte, jaulte, lärmte, und sie amüsierte sich köstlich; so lange trieb sie das Spiel, bis sie ganz atemlos war.
Inzwischen war das Stubenmädchen eingetreten.
„Mina, sagen Sie dem Hausser, er müsst’ auf die Bahn, er sollt’ sich einmal ein bissche eilen. Geh’ her, Kätche, und geb’ der Mina gleich den Zettel. Hast ihn nit bei Dir? Ja, da liegt doch Dein Täschche, nit?“
Nun erst kam sie zu Wort — und nun musste grade das Stubenmädchen dabei sein, ein erschwerender Umstand, den Frau Dora ihrer Schwiegertochter nie verzieh.
„Es ist kein Gepäck mehr, Mama.“
„Ha, neu, wieso? Ich hab’ Dich doch mit dem Einspänner ankomme sehn. Da war doch bloss das ein Köfferche? Ha, und die anderen Sachen?“
„Die anderen Sachen — die sind schon in England, liebe Mama.“
„Ich denk’, ich soll hinschlagen und krieg’ die Kränk. In England? Ja, wie denkst Du Dir denn das?“
„Ich hab’ Dir doch alles geschrieben, Mama. Und Viktor hab’ ich’s ausführlich erklärt. Müssen wir denn jetzt gleich ... Ich meine, es wäre doch besser ...“
„Ach neu, ich bitt’ recht schön. Gelt, Du denkst, es kann mir vor der Mina nit gleichgültig sein, wie ich von meiner Schwiegertochter behandelt werd’? Sie bleiben, Mina. Davon ist jetzt keine Red’, dass Sie davonlaufen und das Geschirr jetzt liegen lassen. Allons. Es ist grad genug zu tun im Haus. Die Nachthemder mit den Spitzen müssen auch endlich gebügelt werden heut vormittag. Sie kommen rein zu gar nix mehr, Mina, so geht das nit weiter. Und im Zimmer vom jungen Herr, da liegt oben auf dem Bücherschrank der Staub fingerdick — kohlschwarz wird man, wenn man hinfasst — Sie denken, da fass’ ich nit hin, und der junge Herr auch nit — aber ich seh’ alles, Mina, alles. Und Du kannst Dich jetzt gleich einmal hinsetzen, Kätche, und ins Herr Duttons nach England schreiben: wenn das Gepäck ankommt, geht’s zurück. Oder wart’, wir telegraphiere gleich.“
„Liebe Mama, das ist unmöglich. Und zwecklos. Erstens ist das Gepäck natürlich nicht an die Firma adressiert, sondern an einen Spediteur — und zweitens werde ich den Leuten mein Wort halten.“
„Dein Wort. Dein Wort. So.“ Frau Dora Troilo war ganz ausser Atem. Ihr Busen wogte auf und nieder. Ihre dunklen Augen, die kleinen schwarzen Jetknöpfen glichen, rollten. Man sah das Weisse. Sie hatte nun wirklich etwas von ihrer Bulldogge: in der missgünstigen Art, in der sie das junge Ding musterte. „Ich denk’ als, Dein Wort hat der Viktor?“
„Aber Mama —“
„Mama hin, Mama her. Antwort will ich.“ In plötzlichem Jähzorn stampfte sie auf. „Stehn Sie nit so dreist da und lauschen, Mina, wenn Ihre Herrschaft ebbes zu besprechen hat.“ Der Hund, die Stimmung der Herrin erratend, fuhr bellend auf das Hausmädchen zu, das flink und erschrocken mit dem schwer beladenen Brett zur Tür eilte. „Und natürlich wieder so voll gepackt, dass es ein Wunder ist, wenn’s keine Scherben gibt. Aber das kostet ja nit das eigene Geld, die Frau Troilo hat’s ja. Schämen sollen Sie sich. Auf gar niemand ist heutzutag mehr Verlass. Ich kann Dir bloss raten, Kätche, bring’ mich nit in Wut. Also da ist gar keine Red’ davon, dass Du nach England fahren tust.“
„Ich — muss!“ Katarina hämmerte das Herz vor Angst. Aber sie nahm alle Kraft zusammen.
„Ich verbiet’ Dir’s! Ha, neu, das wär’ ja noch schöner. Junges Ding wird sich den Kuckuck nach einem richten. Gelt? Aber ich mach’ kurzen Prozess. Ich war bloss zu gutmütig zu Dir im Herbst. Das macht Dir jetzt Courage. Ich lass nit mit mir fackle. Du bleibst.“
„Mama, es tut mir leid, dass Du Dich so aufregst wegen der Sache. Aber ich kann da nicht zurück, will auch nicht. Es ist zum allgemeinen Wohle besser, wirklich, wenn ich die Zeit noch zum Lernen ausnutze, der Geheimrat hat das auch gesagt, ich möchte um keinen Preis so das ganze Jahr und noch länger hier herumsitzen, nichts tun ...“
„Anbinden kann ich Dich nit. Aber wenn Du gehst, Kätche, dann sind wir geschiedene Leut’. Ja. Glotz’ doch nit so hochmütig. Ich kann das nit vertragen. Also jetzt mach’ voran und entscheid’ Dich gefälligst.“
„Es ist keine Entscheidung weiter zu treffen, Mama. Ich reise am Dienstag nach Ostern ab.“
„Wenn nit schon früher!“ Frau Dora gab der Dogge, die beide Pfoten auf den Speisetisch gestützt hatte und schweifwedelnd sich umsah, mit offenem Maule, aus dem ihr das Wasser tropfte, einen ärgerlichen Stoss. „Runter von der Politur, Du Krott! — Ich setz’ mich jetzt gleich auf die Bahn und fahr’ nach Karlsruh’. Und ich will doch einmal sehn, ob der Viktor sich jetzt wieder an der Nas’ herumführen lasst.“
Katarina stand hilflos da, mit sich ringend. „Wie soll ich Dir’s erklären, Mama? Es ist doch wirklich keine Feindseligkeit von mir, auch kein Uebermut, nur das Gefühl: ich bin noch zu jung, um hier bloss als fünftes Rad am Wagen ...“
„Ha, natürlich, die Hauptperson möchtest Du schon sein. Kann ich mir denken. Sehr zart bist Du, Kätche, sehr zart. Ich gehör’ natürlich zum alten Eisen. Das passt Dir nit, dass ich noch da bin und noch was zu sagen hab’. Aber von Dir lass ich mich noch lang nit mundtot machen, mein Kindche. Und der Viktor hat doch auch noch ein Wörtche mitzusprechen, denk’ ich. Er wird Dir halt die Wahl stellen, mein Täubche. Verstehst? Entweder fügst Dich — oder wir lösen die Verlobung auf.“
Frau Dora hatte schon die Klinke in der Hand. Als sie sie jetzt niederdrückte, sprang die Dogge mit einem gewaltigen Satz gegen die Tür. Die flog auf. Bellend sprang das Tier um seine Herrin, die festen Schritts, im Vollgefühl ihrer Macht, durch die Anrichte nach der Küche schritt. Ihre Stimme schallte durchs ganze Haus; wenn sie nicht mit den Leuten zankte, so unterhielt sie sich mit dem Hund, mit dem sie immer noch etwas lauter sprach, als verstünde er sie dann besser.
Tief herabgestimmt verweilte Katarina noch eine Weile an derselben Stelle. Hundert ähnliche Auftritte fielen ihr ein, die sie hier im Hause mit Viktors Stiefmama gehabt hatte. Immer wieder hatte ihr Verlobter vermittelt, ihr versichert, Mama meine es ja gar nicht so schlimm, es sei nur ihre derbe Art ... Aber Katarina fühlte: diesmal gab es keine Brücke ...
Mit dem D-Zug am Mittag reiste Frau Dora nach Karlsruhe. Abends ward Katarina von dort telephonisch angerufen. Dringlich. Viktor machte ihr ernste Vorhaltungen, beschwor sie, mahnte, drohte. Dreimal musste das Gespräch, in das sich dann auch Frau Dora einmischte, verlängert werden. Katarina konnte am Apparat kaum stehen, so zitterten ihr die Knie. Ein wahres Grausen packte sie an bei der Vorstellung, dass sie nun ein volles Jahr Schulter an Schulter mit dieser Frau leben sollte, ihre grobe Stimme hören, ihr ewiges Zanken, ihr geschmackloses Gehabe mit dem Hund. Nein, nein, nein und tausendmal nein, sie fügte sich nicht. Und wenn Viktor sie lieb hatte, wenn er sie wirklich lieb hatte —!
„Ich käm’ ja ’nüber,“ sagte er, „aber ich krieg’ doch jetzt keinen Urlaub, Schatz! Wir Einjährigen müssen über Ostern in die Kasern’. Vierzehn Tag dort schlafen, denk’ nur. Es ist arg streng. Du musst doch ein Einsehn haben, Kätchen. Geh’, so alteriert Euch doch nicht. Und zu Pfingsten und im Sommer, da könnt’ ich doch als einmal zu Euch ’nüberspringen, Dich sehn und sprechen. Aber wenn Du in England bist — ja, daran denkst Du gar nicht?“
„Viktor, lieber, lieber Bub, geh’, sei doch dies einzige Mal mir zu Willen und stell’s der Mama im rechten Licht vor. Es ist besser für alle. Ich versprech’ Dir auch ...“
Wieder wurden sie vom Amt unterbrochen. Und jetzt rief Frau Dora scharf in den Fernsprecher: „Schluss!“
Am andern Morgen, kurz nach sechs Uhr, ward Katarina vom Pförtner herausgeklopft. Unter den in der Nacht angekommenen Depeschen, die soeben ans Geschäft eingeliefert worden waren, befand sich auch eine private, die an sie gerichtet war.
Sie liess sie sich durch den Türspalt reichen.
„Mama macht Einwilligung zur Heirat davon abhängig, dass Du in Wiesbaden bleibst. Bitte herzlich und dringend, schreibe Dutton ab. Viktor.“
Katarina packte ein Schüttelfrost an. Wie zerschlagen lag sie dann noch eine Stunde im Bett und sann und grübelte.
Das Bild ihres Verlobten war ihr so blass und fremd geworden. Liebte sie ihn denn noch? Und liebte er sie? Als Kinder waren sie einander sehr gut gewesen. Er hatte immer einen rührenden, ritterlichen Zug gehabt. Gegen rücksichtslose Sonnenberger Jungen hatte er sie oft geschützt. Aber sich selber hatte er niemals eine rechte Geltung zu verschaffen gewusst. Er war nicht energisch genug. Es kam hinzu, dass er nach dem Tod der Mutter von seinem Vater sehr verwöhnt worden war. Und die kinderlos gebliebene Stiefmama verzog ihn dann, den hübschen, zarten, eleganten jungen Menschen, erst recht. Katarina war manchmal geradezu eifersüchtig darauf gewesen, wie sie ihn umschmeichelte, hätschelte, liebkoste. Viktor hätte sich — ihrem Gefühl nach — von seiner Stiefmama schon lange nicht mehr so als Bub behandeln lassen dürfen. Seiner weichen, nach Zärtlichkeit verlangenden Anlage entsprach es freilich. So übte Frau Dora auch heute noch den bestimmenden Einfluss auf ihn aus. Sogar in einer Angelegenheit, in der doch lediglich sein Herz hätte sprechen müssen.
Sie richtete sich im Bett auf und zog die Photographie im Ständerrahmen, die auf ihrem Nachtschränkchen stand, näher an sich heran. Viktor sah rassig aus, auf dem Bilde sogar sehr forsch, und er war ein wirklich hübscher Mensch. Die gewisse Laschheit, die sie ihm schon öfters zum Vorwurf gemacht hatte, prägte sich in seinen Zügen nicht aus. Er hatte kluge Augen von einer selten tiefen Bläue, die Schläfen waren schmal, die Adern darin sichtbar. Sehr hübsch war seine ovale Schädelform, die dadurch besonders zum Ausdruck kam, dass die Kopfhaut durchschimmerte, weil er sein dunkelbraunes Haar mit der Maschine scheren liess. Er trug keinen Schnurrbart, ging immer glatt rasiert, d. h. sein Kinn und seine Wangen hatten meist schon gegen Abend wieder einen bläulichen Schimmer. Wenn er ernst war, wirkte sein Mund klein und unbedeutend. Aber wenn er einmal herzlich lachte — ach, wie herzlich konnte er lachen! — und wenn dabei seine breiten, weissen Zähne sichtbar wurden, dann bekam man erst einen Begriff von der unbändigen Lebenslust und Lebenskraft, die in ihm steckte. Warum er so selten aus sich herausging? Früher hatte sie geglaubt, er wollte durch seine Zurückhaltung nur den Gegensatz zu seiner aufgeregten, derben, überlauten Stiefmama betonen. Sie hielt seine Laschheit also immerhin für einen Ausdruck von Feinfühligkeit. Aber neuerdings urteilte sie anders. Wurde er in lebhaften Auseinandersetzungen, die sie mit Frau Dora hatte, von seiner Stiefmama zur Meinungsäusserung aufgerufen, so gab er stets dieser recht, niemals ihr, — doch heimlich blinzelte er ihr dabei zu, um sie zu versöhnen. Es hatte sie tief verstimmt. Nicht deshalb, weil sie Unrecht bekam, sondern weil seine Diplomatie ihr gar zu unfrei erschien. Ihr zukünftiger Mann sollte etwas von einem Helden haben. Und Viktor wich jeder Gelegenheit dazu vorsichtig aus.
Katarina hörte laut ihr Herz schlagen.
Er wird mich jetzt preisgeben, sagte sie sich.
Dass sie selber in diesem Falle sich fügen könnte, wie schon hundertmal, wie schon tausendmal zuvor, das erschien ihr ganz unmöglich. Sie wusste auch: wenn sie heute nachgegeben hätte — in acht Tagen oder in zwei, drei Wochen wäre es dann ja doch wieder zu einer Auseinandersetzung gekommen, die ihr das Bleiben unmöglich machte.
Wäre er hier gewesen, so hätte sie ihm gesagt: lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende!
„Ich reise noch heute. Bitte, holen Sie mir doch das Reichskursbuch herüber, Mina.“
Das Stubenmädchen machte grosse Augen, als Katarina ihr beim Morgenkaffee diesen Auftrag gab. „Um zwölf kommt die gnä’ Frau zurück. Sie hat’s ebe hertelephoniert.“
Der Begegnung und dem Abschied konnte Katarina also nicht mehr ausweichen.
Frau Dora kam an, lärmend, zankend, sprach zu gleicher Zell mit Hausser, dem Pförtner, mit dem Stubenmädchen, tobte mit dem Köter, nahm Katarina an den Arm, lief mit ihr durch ein paar Stuben und erzählte ihr eine Unmenge Einzelheiten aus dem Einjährigendienst, wobei sie sich über die staatliche Einrichtung der allgemeinen Militärpflicht begüterter junger Leute in den härtesten Anklagen erging.
So oft sie an der Speisezimmeruhr vorüberkam — das Zifferblatt stellte einen Teller mit zwölf Austernschalen dar —, nahm sich Katarina vor, zu reden. Frau Dora liess sie sobald nicht zu Worte kommen. Als sich Katarina dann endlich doch Gehör verschaffte, nach der Uhr zeigte und so ruhig und sachlich als möglich erklärte, dass bald ihr Zug gehe, denn sie wollte doch den Nachtdampfer von Vlissingen benutzen, blieb Frau Dora stehn und rollte die Augen, diese runden, kleinen, schwarzen Jetknöpfe, die so viel Weisses sehen liessen.
Und die Szene ward zum Tribunal.
Katarina ward durchgerüttelt und durchgeschüttelt, gesiebt, zerstampft, zerlesen, — und es blieb zum Schlusse nichts als ein armseliger Flederwisch übrig.
„Auf den Knien müsstest Du einem danken, Du knitze Krott, dass man Dich aus dem armseligen Häusche da drüben herausgeholt hat, und das ist jetzt Dein Dank. Damit nur ja alle Leut’ merken, wodrauf es Dir ankommt. Ha, gell, eine gute Partie machen, zu Geld kommen, die junge Herrin spielen. Und die, wo hier alles eingebracht hat, die kann sich sauer kochen lassen. Aber da bist arg letz, mein Täubche. Weisst Du das?“
„Ich weiss,“ sagte Katarina leise, schwer atmend. „Ihr hebt die Verlobung auf.“
„Ei freilich. Wenn Du diesmal nit parierst, dann hast verspielt. Also überleg’ Dir’s, Kätche. Zum letzten Mal. Und dann red’.“
Sie hob seufzend die Achsel. Ihre Augen begannen zu schwimmen.
Auch Frau Dora empfand etwas wie Rührung. Sie holte ihr Taschentuch aus der schwarzen Ledermappe und gebrauchte es mehrmals fanfarengleich. „So gut hat man’s mit Dir gemeint. Wie kann nur ein Mensch so verblendet sein. Und der arm’ Viktor. Du hast ebe kein Herz, Du.“
Katarina hielt ihre Stirn in beiden Händen. „Es wird mir schwerer, als Du denkst. Aber wenn der Viktor mich diesmal nicht versteht, dann würden wir ja doch nicht glücklich miteinander.“
„Hernehmen müsst’ man Dich, übers Knie legen und Dir fünfundzwanzig aufzünden, Du Krott. Dein Vater hätt’ das noch erleben sollen, was für ein Bock aus Dir geworden ist. Pfui, schämen solltest Du Dich. Und das Brillantarmband, wo Dir der Viktor zu Weihnachten geschenkt hat, kannst nur gleich dalassen, mein Täubche. Ich hab’s sowieso nur ungern geduldet.“
Hastig nickte Katarina. „Ich hol’s gleich!“ stiess sie aus und stolperte davon.
In aller Eile durchsuchte sie im Fremdenzimmer ihr Gepäck. Ausser dem Armband hatte sie noch den Ring und die beiden echten Schildpattkämme mit der goldenen Intarsienarbeit von Viktor geschenkt erhalten. Sie kramte so recht geschäftig, um nicht zur vollen Besinnung zu kommen. Fast atemlos brachte sie die Sachen dann an.
„Aber nicht wahr — bös’ braucht Ihr mir doch deshalb nicht zu sein?“ fragte sie unsicher.
„Nit bös? Wo Du einem den Schimpf antust?“
„Den tut Ihr doch mir an.“
„Ha, Du bräuchtest ja gar nit fort. Trotzdem Du arm wie eine Kirchenmaus bist, hab’ ich doch meine Zustimmung gegeben!“
Katarina senkte die Schultern. „Aber Du nimmst sie doch jetzt zurück.“
„Ei freilich. Und es wird glatte Rechnung gemacht, wenn Du Dich nit fügst.“
Ein paar Sekunden stand Katarina, mit sich kämpfend, da. „Ich hab’ — gar niemand — auf der ganzen Welt.“
„Nein, niemand. Niemand als uns. Guck, und die einzigen, wo Du hast, die willst jetzt so von Dir stossen.“
Katarina schluchzte. „Ich möcht’ — noch einmal möcht’ ich — mit dem Viktor — mich aussprechen.“
„Ach neu, Kätchen. Das will er selber nit. Und ich Hab ihm gesagt, wenn er zu Pfingsten auf Urlaub kommt und Du bist fort, dann verschaff’ ich ihm schon eine andere Partie. Ein hübsches Mädche. Und ein Mädche, wo Geld hat, verstehst.“
Nun überwand Katarina die letzte innere Weichheit. „Vielleicht — wird er mit der glücklicher.“
„Ich will’s hoffen, Kätche. Also Du gehst jetzt? Wirklich?“
„Ja.“ Katarina atmete tief auf. „Nur noch eins, weil Du das Geschäftliche berührt hast. Wie ist es mit dem Grundstück von Papa?“
„Mit was für einem Grundstück?“
„Das am Dietenmühler Weg mein’ ich.“
„Da fangen wir im Mai zu bauen an.“
„Ja, aber — es ist doch das meinige — das hat der Papa doch nur hergegeben, weil — weil ...“
Frau Dora lachte kurz auf. „Ja, ja, mein Täubche, Du wirst schon sehn, wie Du Dich in die Nesseln gesetzt hast. Dein Papa hat sich auch nit denken können, dass sein Töchterchen so unvernünftig sein wird.“
„Ja — ich bitte Dich — aber wenn die Verlobung aufgelöst wird, dann — dann muss ich doch auch das Gartengrundstück zurückbekommen, das brauch’ ich doch, wenn ich mich einmal selbständig machen will ...“
„Zurückbekommen? Du bist nit bei Trost, mein Täubche. Das war ein richtiger Verkauf. Im Grundbuch steh’ ich als die Besitzerin.“
„Aber Papa hat Dir’s doch nur abgelassen, weil er sich gesagt hat: es ist für uns, für Viktor und mich? Ich bitte Dich, Du kannst mir doch im Ernst das nicht nehmen wollen?“
„Nehmen? Was sagst? Ich — nehmen?! Ha, was ist denn in Dich gefahren? Für so ein Wort — da kann ich Dich ja belangen, weisst Du das? Eine Beleidigung ist das. Hat die Welt so etwas gesehn? Kommt das Mädchen daher, hat nix, ist nix, tut nix, und wird das grosse Wort führen.“ Sie schlug auf den Tisch. „Geh’ doch zum Rechtsanwalt und erkundig’ Dich gefälligst. Geschenke und Briefe sind zurückzugeben, wenn eine Verlobung aufgelöst wird. Das weiss ich jetzt besser als Du! Und der Viktor tät’ Dir gewiss gern alle Geschenke zurückgeben — aber er hat von Dir ja keine gekriegt ausser der Schreibmapp’ und dem Sofakissen. Das Grundstück war kein Geschenk, sondern ein Geschäft, und zwar zu einer Zeit, wo Dein Papa das Bargeld arg nötig gebraucht hat. Ich verbitt’ mir jede Anspielung. Ein nettes Früchtche hab’ ich mir da grossgezogen.“
Je aufgeregter sie wurde, desto mehr erstarrte alles in Katarina. Wachsbleich war sie, als sie endlich zu Worte kam, um Abschied zu nehmen.
Gewohnheitsgemäss küsste Frau Dora sie noch schallend aus beide Backen. „Also lass Dir’s gut gehn, mein Täubche, ich wünsch Dir das Beste, und es sollt’ mir leid tun, wenn Du’s dahin brächtest, dass man sich schliesslich noch vor dem Gericht herumzanken muss. Komm, Fricka, mein Tierche.“
Müde hob und senkte Katarina die Achseln.
Dann ging sie, wortlos, hilflos.
Zwölf Stunden später lag sie in jämmerlicher Verfassung in der Kajüte zweiter Klasse, mitten unter einem Dutzend anderer Frauen und Mädchen, die ebenso seekrank und heimwehkrank waren wie sie, an Bord des rollenden und stampfenden Kanalbootes, das sie durch die starke Nordwestdünung nach Harwich hinüberbrachte.