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für Anne Galbur, geb. Wolff

1938 - 2018

für die Hundelady, die vor meinem Fenster ihren Hund Gassi führt 2017 - 2018

„Herzen stehen am Anfang des Weges des Blutes“, sagte die etwa 30jährige Frau. „Menschen und überhaupt alle Menschen denken wie der Kopf. Und für den Kopf ist das Blut einfach da. So sehen sie es mit der Liebe. Es ist da oder nicht da. Aber man sollte so denken, wie Herzen denken. Sie pumpen und sehen, es kommt schon dort an, wo es ankommen soll. Und zwar: überall. Denke, wie ein Herz, liebe und es wird ankommen: überall, wo der Weg frei ist. Meine Großmutter hatte einen Schlaganfall, das ist eine Venen-verengung im Gehirn. Dadurch kommt die Liebe nicht mehr überall hin. Du verstehst“, sie lächelte. „Diese Welt ist ein wandelnder Schlaganfall.“ Sie lachte. „Denke wie ein Herz, befehle der Liebe nicht, wo sie hin soll. Sie wird überall hinkommen, wo Menschen frei sind, es zu empfangen. Zwinge sie nicht, „Ich liebe dich“ ist das am meisten missbrauchte Druckmittel der Welt – ist so. Es unterstellt eine Erwartung. Wie „Verzeih mir“ ein Druck aufbaut, dass man verzeiht. Doch Verzeihen geht nicht auf Druck. Pumpe wahre uneigennützige Liebe rein – und das Organ wird funktionieren. Zu viele Menschen denken wie ein Organ, denken: Hilfe, kommt denn auch jetzt, und noch morgen genug Blut zu mir? Zu viele Menschen denken wie ein Organ. Denke du aber wie ein Herz, das ist schwer zu lernen, aber es ist der einzige Weg, um glücklich zu werden. Freue dich, dass du es bist, der den Laden am Laufen hält - und pumpe. Und manchmal, ja manchmal, kommt so etwas wie Dank. Aber mache dich nicht abhängig vom Dank, das ist schon wieder wie ein Organ denken. Schwer, sehr schwer. Aber machbar.“

So, jetzt bin ich schon mitten drin. Aber angefangen hatte es anders.

„Dieses Herz bringt mich noch um!“ stieß sie frustriert wie zu sich und rieb die rot erfrorenen Hände vorsichtig gegeneinander. „Jemand hat mich in sein Herz gelassen. Und heute habe ich die pure Eiseskälte erlebt.“ Ich sah sie ungläubig an.

Es war endlich warm geworden, am 5. März 2018, deutlich über 5 Grad Plus waren es. Sie jedoch kam mit warmer Wollmütze und einem warmen Wollmantel in die Bar herein und bibberte, als wäre sie direkt aus Nordsibirien gekommen. Sie bestellte mit heller Stimme – die mir sehr gefiel - einen sehr heißen Kaffee. Noch eine Viertelstunde später hatte sie Ohrenwärmer an, rieb sich immer wieder die Nase, immer mit der linken Hand, sagte zu mir, sie leide an der rechten Hand an Erfrierungen.

„Ich habe Angst!“ stieß sie hervor, an mich gerichtet.

„Es ist immer schwer einzuschätzen“, warf ich ein. „Kann man ein im Grunde gutes Herz retten? Oder sollte man sich selbst vergeben, weil man es nicht kann? Weil man für die Aufgabe nicht gut genug war.“ Ich wollte einen guten Einstieg finden und gab mich freundlich. Sie hatte wache große Augen, mag ich. Sie hatte einen Körper, genau in der Mitte von etwas Sport und etwas Rundungen. Wenn das Oberstübchen noch passte – wunderbar.

„Mir sind dort drei Finger erfroren, ich hatte dort den Handschuh noch nicht an.“ Sie zog ihn aus, die drei Finger Mittelfinger, Ringfinger und der kleine Finger hatten blaurote Farbe und sie hatten auch schon Blasen geworfen. „Die interessante Frage im Leben ist nicht die, ob etwas möglich ist oder nicht“, sagte sie. „Sondern die weitaus bessere und wichtigere Frage ist die, hast du alles gegeben? Ich wette, wenn du eine Umfrage machst unter 10.000 Leuten, die etwas nicht geschafft haben, dann werden 9980 davon zugeben, dass sie nicht alles gegeben haben. Man hat immer was Wichtigeres zu tun und anderes BlaBla. Erst, wenn du alles gibst, wirst du feststellen, ob da noch mehr geht oder nicht. Ich denke, viele, die was auch immer geschafft haben, haben erst wenig gegeben und hatten Misserfolg. Normal. Aber die Erfolgreichen haben dann MEHR gegeben, immer mehr sich gesteigert bis – ja, bis dann das Unmögliche doch möglich wurde. Und wir sollten uns dahin steigern, alles zu geben. Denn erst, wenn du alles gegeben hast, hast du inneren Frieden: - es ging eben nicht. Erst DANN!“

Ich war verdutzt. Was versuchte diese Frau schönzureden?

Ich musste nachhaken: „Was hat man Ihnen angetan?“, fragte ich. „Wer war das?“

„Sagte ich schon, das Herz...“

„Aber Sie müssen damit zum Arzt. Es darf nicht absterben. Sonst kriegst du eine Sepsis, Blutvergiftung. Die ist tödlich!“

„Nein“, sie winkte nonchalant ab. „Au! Das tut weh. Das Herz kann auch wieder heilen… Es wird geheilt werden, sobald ich wieder im Herzen bin. Da drin gibt es jemanden… Man muss schon etwas Einsatz bringen, wenn man in ein Herz hinein gelassen wird… Besonders als Frau. Männer sind so: ich verstehe die Struktur, Rest wird schon passen, eine Frau muss es sich erglauben, erweisen, halt erarbeiten. Das ist so weil Frauen mehr emotionales Wissen haben, und mehr Wissen führt zu mehr Zweifeln.“ Sie machte eine Pause. „Er hat beim Sex eine Kette nachgezeichnet, eine Art Perlenkette. Das ist, wenn ein Mann in einer Linie auf eher kürzerer Strecke ganz viele Küsse gibt, sie quasi in einer Linie gibt. Eher nicht abweichen, man will ja nicht die ganze Fläche küssen. Eine längere Kette von einzelnen Küssen. Am Hals, am Bauch, an den Oberschenkeln, nicht die ganzen Oberschenkel lang. Aber ein Stück. Am Oberschenkel hat er sogar zärtlich reingebissen. Aber am Hals, ich habe mitgezählt, 6 Küsse – der Hammer!“

Oh Gott! Meine Alarmglocken schrillten, nein, brüllten auf 182! Ich habe schon zu oft Frauen erlebt, die sich einen Beziehungsalptraum schönreden. Hatte es einen schönen Anfang gegeben – vom Mann inszeniert, er hat ihr nach dem Mund geredet – und danach, was war danach gekommen? Ich musste mehr herausfinden. Sie würde sich verraten, sie würde Hinweise auf den Mann – den Täter – geben. Es war besser, sie reden zu lassen, ihr zuzuhören. Und wenn ich ihr vielleicht helfen könnte, das wäre ein extrem guter Einstieg! Sie erzählte mir eines der verrücktesten Geschichten, die ich je gehört habe. Unglaubliches erzählte sie. Und ich bin immer noch auf der Suche nach dem Bruch in ihrer Logik – hilft mir da jemand?

Der sonnig-klare kalte Tag, an dem sie die Herztür gefunden hat, fing ganz normal an. Sie aß in der Frühe ihre Haferflocken, dem Tryptophan wegen. Tryptophan ist eine Vorstufe des Glückshormons Serotonin und ist eine essentielle Aminosäure, d.h. sie muss durch die Nahrung zugeführt werden. Ist viel drin in Haferflocken, Kakao, Cashew-Kerne, Walnüssen und Eiern, etwas in Fleisch. Man kann sie auch in der Apotheke kaufen, und selbst Wikipedia sagt, der Bedarf ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Sie arbeitete bei Schulz Öle. Die pressen natürliche Öle aus aller Arten von Samen, Kernen und Pflanzen. Sie war Assistentin der Geschäftsleitung, in einigen Firmen bessere Sekretärin, hier vertraut auch mit Intima des Geschäftsbetriebs. Und der Job war ein Sprungbrett, denn Schulz Öle wollte demnächst ein Verkaufsbüro in Paris eröffnen - eine Vertrauensposition. Und die Frau neben mir in dieser Bar konnte gut Französisch.

Es war jener Tag, als der Juniorchef von seiner Managerposition aus wasweißichwo zurückkam. Der hatte jahrelang nichts mit der Firma zu tun, wenig Zeit, außer für besondere Familienfeiern auf dem Familiengut weiter draußen. Wo Hanna, so hieß sie, natürlich nie dabei war.

„Der Sohnemann ist da“, flötete die Sekretärin gleich zu Beginn in der Frühe, die zwei waren sich herzlich zugetan, es reichte für Tratsch und unverbindliche Geburtstagsgeschenke auf Ferrero-Naschzeug-Niveau.

„Ja, Mister Jet Set-Manger...“, Hanna war nicht angetan. „Bin ja mal gespannt...“

Sie hatte ihn keine drei Minuten später gesehen, und WIE gut der aussah! Die richtige Mischung aus zart und markant - sie war sofort hingerissen. Vielleicht nicht sofort verliebt, dazu war das Ganze zu distanziert. Und dann das:

„Ich liebe Manager-Witze“, hatte er gesagt. „Wenn Sie einen Neuen haben, nur raus damit.“

„Es stand zur Debatte, einen Manager-Ken für Barbie rauszubringen. Nach einer Umfrage unter den Kindern wurde der Vorschlag fallen gelassen aus drei Gründen: 1. Man würde keine Kleider verkaufen können, der Manager-Ken trägt ja immer Anzug. 2. Keiner würde eine Puppe kaufen, die nie daheim ist. 3. Die Kinder glaubten, einen Manager als Barbies Ehemann hat es ja mal gegeben, sonst würde sie sich jetzt nicht so tolle Sachen leisten können.“

„Hahaha“, sagte Junior. „Nicht übel. Mehr davon, falls Sie mehr haben. Aber nur neue, Eigenkreationen. Und ich kontere mit neuen Studentenwitzen.“

„Ok. Ja, habe ich. Genug.“ Hanna lächelte breit. Sie würde sich mehr überlegen, dem Junior Saures geben. Liebe geht vielleicht über den Magen, aber sie beginnt beim Lachen.

„Was ist der Unterschied zwischen Gefängnisinsassen und Studenten?“ fragte er. „Die Verbrecher will jemand und kann man nach 10 Jahren wieder in die Gesellschaft integrieren.“

„Gut. Einer geht noch“, fügte sie an. „Was haben die Spanische Grippe und Manager gemeinsam? 1. Man erinnert sich mit Grauen, es gab sie. 2. Ja, sie haben Millionen Opfer gefordert. 3. Hoffentlich kommen sie nie wieder.“

„Gleiche Frage nach dem Unterschied Gefängnisinsassen und Studenten; Antwort ist: Die Verbrecher haben etwas getan, ehe sie für 15 Jahren aus der arbeitenden Gesellschaft verschwinden.“

„Duzen Sie mich, ich heiße Hanna“, hatte sie gelacht und ihm die Hand einmal mehr hingehalten. Und er hatte gesagt: „Robert. Werde von Freunden Tii genannt, Tii ausgesprochen, vom jugendlichen Bertie abgekürzt.“ Und mit seiner warmen ruhigen und starken Hand ihre ergriffen und ihr Schauer über den Rücken gejagt und sie dachte: „Oh Scheiße. Mister ‚Warmer Überblick‘ - mit so einem Händedruck kann der jede haben!“ - und die Alarmglocken kreischten am Limit.

Die folgende Geschichte hat sie mir erzählt, mit dem Erstaunen im Ton, als wäre es ihr erst gestern passiert. Sie hätte daheim eine Herztür gefunden, ja, eine Tür zu einem Herzen. Sie hätte gedöst und irgendwo zwischen Wahrheit und Dichtung hat sie eine Tür gefunden einfach so im Nichts. Sie wusste nicht, ob es ein Gegenstand in ihrer Wohnung war, aber das erste, was deine Sinne dir melden: eine große Ruhe wie als Kind bei der Mutter, dazu die Wärme, das Gefühl, du bist in einem Herzen! Sie sah klar die Landschaft,sie hatte einen leicht milchigen Schimmer. Milchiges Licht, das von nichts zu kommen schien, keine Sonne. Und dieses milchige Licht wirft Tau überall, auch auf ihrer Hand. Sie probierte mit der Zunge vorsichtig daran, schmeckte lecker, der Tau.

Und es ist von einer sehr angenehmen Süße, nicht pappsüß, nein, es ist liebessüß. Du schmeckst es und du weißt, hier ist Liebe drin. Ganz wenig und bist schon für Stunden gesättigt. Hier im Herzen wird wahre Liebe kredenzt, ausgeschenkt, frei verteilt.

Auf alle Fälle, sie versicherte es mir, du atmest durch, endlich schmeckt die Liebe so, wie sie immer sein sollte. Ich weiß, du weißt wie das ist – denn die Ahnung nach dem Geschmack der wahren Liebe ist allen gegeben. Oft genug zum Vergleich und dann wieder zum Verdruss. Und sie sah dort drin nach vorne und erkannte einen Weg. Und der führte um die Ecke, denn rechts von ihr wucherte ein dichter vollgrüner Wald. Waren da Vogelgeräusche? Ja, der Wald, die Wiese, selbst der Weg, das ganze Herz, es lebte.

Zu der linken Seite des Weges ein Blumenmeer. Viele Blumen, alle Arten, alle Farben, Rosen, Tulpen, Veilchen und Orchideen, und was sonst noch.

Und dann sah sie die eine Blume, die ihre sein wird. Sie wussten es beide sofort. Die Blume blinzelte und die Blume winkte wie einem alten Freund, dann richtete sie sich auf und räkelte sich. Sie prüfte mit dem Blick ihre Wurzeln, auf die sie dann stand, wie jemand prüft, der sich versichern will, dass seine Schuhe angezogen sind. Und die Menschenfrau wunderte sich, aber die Blume sah den Weg zu Hanna und ging ihn, auf den Wurzeln, vorsichtig an den anderen vorbei staksend und wie am dichten Strand „Entschuldigung“ sagend. Und dann richtete sich die Blume vor Hanna in voller Größe auf, sie war mittelgroß, sie reichte ihr fast bis zur Brust, sie lächelte sie an und sagte: „Da bist du endlich. Wie schön.“

Sie streckte ihr Blatt aus und Hanna wollte ihr die Hand geben. Aber sie? Die Blume griff mit allen fünf grünen Blättern nach Hanna, umarmte sie. Mit zweien unten umschloss sie die Knie. Mit einem Blatt dazwischen war sie bei den Oberschenkeln, die beiden oberen Blätter umarmten die Taille.

„Blu heiße ich“, flüsterte die Blume. „Und ich bin eine Hilfe.“ Und sie deutete auf die ganzen anderen Blumen. „Ich bin eine Hilfe, wie die ganzen alle anderen Blumen Hilfe sind. Für alle, die hierher kommen.“

„Ich helfe auch gerne“, hat Hanna dann gesagt.

„Dann hast du ein großes Herz – also viele Blumen darin.“ Und Blu lehnte sich wieder wie vorhin seitlich an sie und sie fühlte, sie wollte nicht mehr weg hier.

„Du bist also meine Hilfe“, sagte Hanna. „Dann sagt mir als allererstes, wenn wir hier im Herzen sind, wofür sind diese Pfähle da mit den Drähten? Kann man hier nach Hause telefonieren?“ Hanna kicherte ob der Anspielung.

„Das sind keine Telefonleitungen“, Blu war bestimmt. „Geh näher.“

Gesagt, getan.

„In der realen Welt sagt man, man hat ein Draht zu jemandem“, erläuterte Blu. „Das ist er. Sie ziehen sich einfach durch das ganze Land. Wahr ist, oben liegt in einiger Entfernung ein Blechspielzeug mit Schellen an den Händen, ein kleiner Affe. Es ist eine Antenne. Sage eine Liebeserklärung und sieh, was passiert.“

Hanna sagte es leise, wollte es gleich testen: „Ich liebe dich.“ Und sogleich darauf fing die Affenfigur an, mit den Schellen zu klappern. Und in der Ferne hörte das offenbar ein anderer Affe, auch der fing an zu klappern und so setzte sich der Ton weiter fort, bis man ihn nicht mehr hören konnte.

Als auf einmal eine Windböe über sie hinweg fegte. Sie sah hoch und der leuchtende Himmel hatte sich an einer nicht allzu fernen Stelle verdunkelt zu einer dunkelgrauen Sturmfront. Mit zunehmender Schnelligkeit breitete sich die Sturmfront über den Himmel aus.

„Das ist eine Angstattacke“, sagte Blu und versteckte sich hinter einem Strauch. „Komm.“

Mit einer rasant ansteigenden Geschwindigkeit düsterte sich binnen Sekunden der Himmel ein und der Wind wuchs bedrohlich an.

Geräusche deuteten an, der Wind schwoll stärker und stärker zum Sturm an. Zunächst einzelne, dann immer mehr Blumen aus dem Feld wurden vom Wind verweht. Die wehrlosen Blumen wurden hochgehoben, sie schrien in Angst und wurden gegen den Wald neben ihnen geweht. Einige wurden gegen die Baumstämme geworfen, wo sie Blätter verloren und ganze Blütenkelche. Andere landeten in den Gebüschen, wo sie ängstlich tief in das schützende Grün krochen.

Immer mehr Blumen wurden hochgehoben, bis nur noch ganz wenige noch unversehrt waren, die sich an Steinen krallten, sich hinter Hindernissen versteckten, die sich flach auf den Boden warfen und ihre Blätter einzugraben suchten.

Äste wurden ihnen entgegen geweht, das Grün der Sträucher verlor mehr und mehr Blätter, schließlich war der Sturm genau über sie und ein prasselnder Regen wie hämmernde Bässe drosch auf den Boden ein. Pfützen bildeten sich schnell, dann quollen sie auf und Wildbäche rissen die am Boden gedrückten Blumen mit.

Dann war das Schlimmste vorbei und der Regen hörte so schnell auf, wie er gekommen war. Die hellen Strahlen aus dem Nirgendwo des Himmels drangen wieder zu ihnen durch. Alles wurde wie vorher, vereinzelte Blumen kamen wieder aus den Sträucherverstecken hervor, eilten wieder zu der Wiese. Das Wasser lief schnell in den Boden ein, dann war die Wiese wieder trocken. Und die Blumen legten sich wieder hin. Und sonnten sich wieder – als wäre nichts gewesen.

„Meine Brüder“, schluchzte Blu, als sie die abgerissenen anderen Blumen sah.„Herzen können grausame Orte sein.“

„Wie?“ fragte Hanna fassungslos. „Wie geht das?“

„Der schlimmste Feind des Menschen sind seine eigenen Gedanken“, Blu versuchte ein Lächeln. „Die können heftig ausfallen. Aber genauso schnell wie sie kommen, so können sie auch wieder verschwinden. Hier passiert sehr viel im Zeitraffer. Das war noch gar nichts. Da waren noch keine Blitze dabei. Das sind dann die Panikattacken. Die extrem schneidend-dürren Winde der Depressionen, die können andauern… So ein Ding, wenn es sehr lange wütet, danach ist wenig so wie es vorher war. Dieses Herz hat Reparatur nötig“, stellte Blu fest. „Deswegen bist du hier. Neugierig?“

Hanna nickte.

„Dann gehen wir um die Ecke. Den Weg entlang.“

Sie bogen ein und der Wald öffnete sich. Der Weg führte einen grünen Hügel hoch und oben darüber, auf dem Berg, befand sich eine Lichtung, denn von dort schien strahlendes Licht in den Weg hinein. Der Wald zu beiden Seiten war dicht und dunkel, der Weg unter den wuchernden Zweigen höhlengleich, märchenhaft. Und als sie auf halbem Wege ankamen, sah man ihn schon, den Turm der Sternwarte. Sie kamen an, große schwarze Steinquader bildeten die Mauern des Turms, blassgrünes Moos wuchs zwischen den Verbindungen, die schwere Eisentür war blankgeputzt. Kaum standen sie davor, da ging die Türe auf.

Vor Hanna stand ein lächelndes Bürschchen von gerade mal vielleicht 9 oder 10 Jahren mit einer großen runden Brille.

„Ich habe euch schon erwartet“, sagte dieser und öffnete die sehr laut knirschende Tür weit.

Das Bürschchen deutete auf eine enge Treppe nach oben, es roch in dem dunklen Turm nach Staub und alten Büchern, er ging ihnen voran, lautstark ächzend bei jeder Stufe, die er nahm.

„Du arbeitest wohl zu viel und treibst zu wenig Sport“, warf Hanna ein.

„Ich bin 83 Jahre alt“, erklärte das Bürschchen schwer schnaufend. „Die Erkenntnis kann einen sehr klein machen. Und das Betrachten des Weltalls macht einen geradezu winzig.“

Und dann waren sie oben. Ein großer, fast leerer Raum, hellbraune Dielenbretter am Boden, Steinquader die Wände. Hanna hatte ein Fernrohr erwartet, aber sie wurde enttäuscht. Das erwartete längliche Loch im Dach war da, ein Fernrohr war weit und breit nicht zu sehen.

„Das Fernrohr fehlt“, bemerkte Hanna.

„Das ist da“, das Bürschchen griff zu einem Monokel: „Hier, schau mal“, hielt es ihr hin.

Sie nahm es entgegen, es sah wie ein normaler Monokel aus, zumindest das, was sie dafür aus Filmen hielt.

„Oh, mein Gott!“ schrie Hanna. „Ist der groß! „Der…“, Hanna nahm die Sichthilfe wieder heraus. „Der Komet. Und er kommt genau auf uns zu.“

„Der… der Komet...!“

„...ist fast ein Weltzerstörer“, der Wissenschaftler nickte. „Er wird hier alles dem Erdboden gleichmachen. Es werden nur wenige überleben. Bis dahin hast du Zeit.“

„Für was?“

„Du sollst das Kind befreien“, Blu war wieder bestimmt. „Du wirst mit dem König kämpfen, du musst ihn töten. Und das Kind befreien.“

„WAAS? Ich soll einen König töten? Mit einer Blume? Und hat der König kein Schloss? Keine Wachen? Soldaten?“

„Hat er alles“, Blu nickte. „Aber du wirst es ja nicht morgen tun. Männer wachsen vielleicht mit den Frauen. Frauen jedoch wachsen mit ihren Aufgaben.“

„Und was hat das Ganze mit dem Kometen zu tun?“ Hanna verstand gar nichts.

„Und was hat das Ganze auch noch mit dem Philosophen Nietzsche zu tun? Und was mit dem vielleicht wichtigsten Buch der Welt?“ Blu lachte ihr ins Gesicht. „Du musst noch viel lernen und wir haben wenig Zeit. Nur in etwa sechs Wochen.“

„Und da war ich wieder im richtigen Leben“, sagte die Frau in der Bar. „Denn in etwa dieser Zeit sollte die Entscheidung fallen für die Stelle in der neu zu gründenden Niederlassung in Paris.“ Sie lehnte sich zur Seite auf den Tresen, ihre dunkelblonden mittellangen Haare fielen ihr seitlich ab.

„Der Chef-Sohn, Mister Sanfter Überblick, war einfach die Wucht. Aber schnell stellte sich heraus, der hat eine Angestellte von irgendwo her abgeworben. Und ich sollte sie einarbeiten. Die Rosa.“ Sie erhielt ihre Getränke, nippte kurz am Wasser. „Ich wusste natürlich da längst, die Rosa, die sollte meine Konkurrentin sein. Werden. Meine Gegnerin im Kampf um Paris.“

Hanna im Herzland

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