Читать книгу Tauche tiefer, wenn du schon im Fettnäpfchen schwimmst - Paul Strohmaier - Страница 4

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Kapitel 1

„Heute Abend wird es passieren!“, sagte ich euphorisch zu Rick, der am anderen Ende der Leitung den Coach gab und mich begeistert anfeuerte. „Ja, das ist die richtige Einstellung! So muss es sein! So wird das was!“ „Ja, genau so ist es!“, rief ich mir selbst zu.

„Und mit wem?“, fragte er sachlich. „Na ja, ich hab da mehrere zur Auswahl. Nadja, Sabrina, Tanja oder die kleine, süße Nicole.“ „Sehr gut, ich spüre, dass das dein Abend ist. Lass ihn dir nicht nehmen. Du wirst ihn verwandeln, du wirst den Elfmeter endlich in die Maschen setzen!“ Rick war wirklich gut als Motivator, er wusste nämlich, wovon er sprach. Er war der Meister, der Goalgetter, er hatte mit seinen fünfundzwanzig Jahren schon mehr Frauen vernascht, als ich Bier getrunken hatte, behauptete er zumindest. Ich dagegen war immer nur der Vorbereiter gewesen, nur derjenige, der zwar tolle Pässe spielte, aber nie einen Ball ins Netz brachte, der immer eine wirklich gute Vorbereitung hatte, aber in der Meisterschaft kein Bein auf den Platz bekam.

Ich war immer der gewesen, der beim Aufwärmen jeden Aufschlag, auch den zweiten, so platzierte, dass nicht mal Michael Chang ihn erwischt hätte, aber im Match, wenn es wirklich drauf ankam, dann machte ich Doppelfehler ohne Ende, dann war auch jeder zweite Aufschlag knapp über der Linie.

Aber das würde sich heute ändern. Heute Abend würde das ein für alle Mal vorbei sein.

In den letzten Monaten habe ich mich nämlich akribisch darauf vorbereitet, mir sämtliche „Wünsch dir das“-Bücher gekauft, was ich Rick nie verraten würde, und mir einen Plan erstellt, wie der Abend ablaufen würde. Ich habe die Tipps in den Büchern verwendet und mich geistig vollkommen auf dieses Ereignis eingestellt, meine Gedanken darauf fokussiert, mir vorgestellt, wie ich auf der Einweihung des neuen Agenturbüros erscheinen werde, wie mich die Frauen anstarren, wie ich locker, lässig und cool an ihnen vorbeischlendere, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen. Wie Daniel Craig oder noch besser. Diesen Film habe ich in den letzten Wochen Hunderte Male vor meinem geistigen Auge vorüberziehen lassen, und in wenigen Stunden würde er Wirklichkeit werden, das war mir sonnenklar. Das konnte gar nicht anders sein.

Voller Vorfreude legte ich die alte „Kauf mich!“-Scheibe der Toten Hosen in den CD-Player, stutzte dann kurz – nein, mit tote Hose ist es heute vorbei, ich brauchte was anderes. Metallica? „Die sind zu wild, aber Bon Jovi geht, auf Bon Jovi stehen sie alle, die passen haargenau zu meinem neuen Image.“

Während die New-Jersey-Rocker mit „It’s My Life“ losknallten, suchte ich erst mal in aller Ruhe meine Garderobe für den heutigen Abend zusammen. Das dauerte nicht lange, da ich schon ganz genau wusste, was Eindruck schindete. Ich legte vorsichtig meinen hellbraunen Anzug, den ich für die Hochzeit meiner Schwester Doris gekauft und der bei allen Damen dort eine bleibende Wirkung hinterlassen hatte – Doris’ Mann hatte mir das oftmals bestätigt –, aufs Bett, dazu ein schwarzes Hemd und eine schwarze Krawatte. Dezent, aber doch beeindruckend.

Danach packte ich meinen Koffer, denn morgen am Vormittag begann der dreiwöchige, wohlverdiente Sommerurlaub, der Rick und mich auf die Insel Kreta führen sollte. Der heutige Knallerabend und dann noch drei Wochen Kreta, das konnte sich sehen lassen. „Und nach dem heutigen Erfolgserlebnis wird Kreta mit Rick ein Kindergeburtstag. Mal sehen, wer da mehr abbekommt. Dem werd’ ich mal schön die Show stehlen.“ Ich grinste überlegen.

Es war jetzt vier, erst um sechs sollte es losgehen. Da war noch genügend Zeit.

Fünf Minuten später hatte ich sämtliche Fernsehzeitschriften durchgeblättert und meine Nervosität war doch ein wenig gestiegen. Zwei Stunden, was sollte ich in den nächsten zwei Stunden machen? Gute Frage!

Bier trinken? Nicht gut, weil ein zu frühes alkoholisches Stadium meine Pläne zunichtemachen könnte. Onanieren? Verlockend, sehr verlockend, aber ich wollte ja nicht so enden wie der Typ in „Verrückt nach Mary“. Außerdem war ich mir nicht sicher, ob ich dann am Abend noch voll funktionstüchtig wäre. Ob ich Rick anrufen sollte?

Das Handy hatte ich schon in der Hand … Aber ich würde doch nicht wegen jedem Scheiß Rick fragen!

Nach einem kurzen Zögern machte ich es mir auf dem Bett bequem und begann mein altbekanntes Tagewerk. Aber irgendwie wollte es nicht hinhauen. Ich kam mir vor wie beim Leichtathletiktraining mit zwölf, als der Trainer immer von Tempohärte sprach, was ich nie wirklich verstanden hatte. Tempo wäre nun überhaupt kein Problem gewesen, aber die Härte. Nachdem ich es einige Sekunden weiter versuchte, setzte ich mich doch sehr erschrocken auf. Das kannte ich bislang gar nicht!

Vor meinem geistigen Auge sah ich mich schon jetzt, mit fünfundzwanzig, in der Praxis von Dr. Hirsch, meinem Hausarzt, sitzen und flennend um Viagra bitten. Dr. Hirsch würde wie damals, als er mir im Alter von fünf Röteln diagnostizierte, was in seinen schwarzen Vollbart nuscheln, freundlich grüßen und mich dann mit der Sprechstundenhilfe allein lassen. „Würdest du dich bitte frei machen …?“, sagte die mitleidig. Kalter Schweiß drang aus meinen Poren. Was, wenn ich mich zu sehr auf diesen Abend konzentriert und dabei das wichtigste Werkzeug vergessen hatte?

Rick musste helfen. Hastig wählte ich seine Nummer, aber der Idiot ging nicht ran. „Verdammt! Habe ich wirklich mal ein Problem, hebt er nicht ab!“, knurrte ich.

Im selben Moment kam mir die rettende Idee – das Internet. Dort findet Mann alles, was Mann will. Während der Laptop hochfuhr, versuchte ich noch einmal Rick zu erreichen. Vergeblich. Dieser Mistkerl! Wenn es darum ging, an irgendwelchen Tresen, in dunklen Bars und Diskotheken Mädels abzuschleppen, dann war er immer voll da. Wenn er mir mit Inbrunst seine Aufrisssprüche wie „Hallo! Servus, bin der Rick, komm mit mir, kriegst ’nen guten … Schnaps!“ oder „Guten Abend, ich hab’ eine tolle neue Matratze zu Hause!“ (angeblich seine kürzeste, erfolgreiche Anmache, die nicht einmal fünf Sekunden dauerte) vorspielte, hörte ich ihm zu und applaudierte höflich, aber wo war er jetzt, wenn ich ihn mal brauchte?

Was sollte ich nun tun? Sollte ich jetzt im Chat nach einer Gespielin suchen oder doch wieder einmal die wunderbar nicht jugendfreien Seiten des weltweiten Netzes begutachten? Wie wär’s denn mit beidem gleichzeitig? Das würde doch definitiv Zeit sparen, von der ich ohnehin nicht mehr allzu viel hatte. Ich öffnete parallel meine bevorzugte Chatseite und eine Homepage der Erotik- und Sexgöttinnen.

Linda hatte mir geschrieben, die einsame Linda. Seit Monaten unterhielten wir uns nun schon per E-Mail und im Chat. Sie war die einzige Frau hier, die ich noch nie um Sex angebettelt hatte. Mir war irgendwie klar, dass diese Frage an ihr abperlen und sie nie wieder mit mir quatschen würde. Ich wusste auch gar nicht, wie sie aussah, meine Linda. Sie wollte sich partout nicht beschreiben und mir schon gar kein Foto schicken. Was ich von ihr wusste, war, dass sie irgendwo in dieser Stadt lebte, viel mehr war ihr aber nicht zu entlocken gewesen. Manchmal war es ein wenig langweilig, weil sie überhaupt nicht über Erotik sprechen wollte, aber ich war anscheinend der einzige Mann hier im Chat, der das nie von ihr wollte. Ihr Lob dafür tat richtig gut und ich war stolz auf mich selbst, diese mönchsgleiche Unterhaltung so lange durchzuhalten. Es war aber auch schön, mit einem Menschen über so vieles reden zu können.

Jetzt meldete sich die vernachlässigte Porno-Seite mit strenger Stimme: „Komm her, Du Hengst! Besorg es mir!“ Das Handy klingelte auch – Rick.

„Meister, was ist los?“ „Verdammt Rick, warum meldest du dich nicht?“ „Beruhig dich mal, was gibt’s denn?“

Aufgeregt schilderte ich ihm mein Problem, Rick wusste natürlich sofort, was zu tun war.

„Du lässt das mal schön bleiben für jetzt, du bist viel zu angespannt! Manchmal braucht Härte eine gewisse Entspannung. Du machst jetzt Folgendes: Trink einen Wodka, einen kalten.“ „Bist du dir sicher? Ich meine, ich wollte ja nicht schon betrunken …“ „Ich bin mir ganz sicher, hol dir den Wodka und mach dich mal locker. Verkrampft wird da heute gar nichts laufen!“

Stand das nicht so oder so ähnlich in den Wunsch-Büchern? Man darf nicht verkrampft an eine Sache herangehen, man muss sie sich wünschen und dann loslassen, sie am besten vergessen. Dann funktionierte es erst …

Rick hatte recht. Jetzt war Zeit für Wodka pur. Und zwar nicht für irgendeinen billigen Kartoffelfusel, sondern für den echten, polnischen Büffelgras-Wodka, den ich immer in meinem Gefrierfach lagerte. Der Legende nach muss ein Büffel auf den Grashalm, der in der Flasche steckt, pinkeln, damit das dem Wodka noch mal Geschmack verleiht.

Das Wässerchen gluckerte ins Glas, ich nahm wie immer ein wenig zu viel, aber heute konnte ich das wohl brauchen. Lockerheit war das Zauberwort, Lockerheit konnte mir helfen, wie hatte ich das vergessen können? Das war doch heute mein Tag, mein Abend!

Das erste Glas leerte ich in einem Zug, das zweite war dann noch etwas voller. Ich setzte mich wieder vor den Laptop und schloss demonstrativ die Porno-Seite, ohne dem Brunftruf der züchtigen Damen noch einmal gelauscht zu haben.

Lindas E-Mail war noch offen, sie schrieb von ihrem Wochenende, das sie mit Freundinnen verbracht hatte, und den Männern, die die vierköpfige Mädchentruppe umschwärmt hatten. Warum erzählt sie mir das?

Ohne zu antworten, schloss ich meinen Account und trank auch das zweite Glas Wodka aus. Wohlige Wärme durchströmte meinen Körper, jetzt fühlte ich schon ein wenig Lockerheit. Bis sechs Uhr war noch massig Zeit, ein Glas sollte sich noch ausgehen und dann brauchte ich zum Nachspülen ein Bier, damit der Wodka nicht so ganz allein die Magenwand zerstören konnte. Diesmal füllte ich das Glas bis zum Rand, dankte dem Bison für seine Spende, prostete mir selbst zu und goss mir alles in die Kehle.

„Ja, das wird heute mein Abend, das wird heute die große Feier der Entjungferung!“ Euphorisch hielt ich das leere Glas wie einen Pokal in die Höhe und rannte wie die Jungs von Barcelona nach dem Gewinn der Champions-League brüllend und jubelnd durch die Wohnung. So war das richtig, so sollten die Gefühle brausen, so musste sich das anfühlen – und nicht so wie vorhin bei diesem Selbstvergeige.

Und jetzt ab unter die Dusche – vorher würde ich noch Linda schreiben. Ich setzte mich hin.

Liebste Linda,

freut mich, dass Dein Wochenende so toll war, so wirklich interessiert mich Deine Mädchenrunde aber nicht. Das Einzige, was mich zurzeit interessiert, bist Du. (Ich dachte dabei ausschließlich an Sex und sonst nichts, aber das würde ich ihr nicht schreiben.) Ich fliege morgen für drei Wochen auf die Insel Kreta. Würde mich freuen, wenn Du danach noch da wärst. Vielleicht hättest Du dann mal Zeit und Lust, Dich mit mir zu treffen. Ich würde Dir nämlich so gerne mal gegenübersitzen und Dir beim Reden zusehen.

Dein Klaus

Das E-Mail schickte ich auf die Reise, so locker, wie ich jetzt war, konnte das nur gut gehen.

Unter der Dusche trank ich das Nachspül-Bierchen und war dann vollkommen entspannt, als Rick nachfragte.

„Mir geht’s prächtig, danke für deinen Tipp!“ „Bitte, bitte. Nur nicht zu viel trinken, ja? Du musst einen halbwegs klaren Kopf bewahren, um die Mädels klarzumachen!“ „Verstanden, Sir. Jawohl Sir.“ Ich lachte ein wenig dämlich, der Wodka tat, wozu er auf die Welt gesetzt worden war.

Bedächtig kleidete ich mich an, nahm das sorgfältig gebügelte Hemd und die Krawatte zur Hand, strich alles noch einmal glatt. Vor dem großen Spiegel drehte ich mich wie bei den Topmodels. Ja, das passt. Das ist perfekt. Der Anzug, das Hemd, die schwarzen Schuhe, die Krawatte. So sieht ein erfolgreicher Mann aus, so sieht ein Stecher aus, jawohl.

Um halb sechs verließ ich selbstbewusst und mit einem weiteren kleinen Schluck Wodka im Magen (quasi als Wegzehrung) meine Wohnung.

Auf dem Weg zur U-Bahn hatte ich die glorreiche Idee, dass ich überhaupt nicht als einer der Ersten die Eröffnung betreten sollte. Mein Auftritt wäre doch viel besser und eindrucksvoller, wenn ich später als alle anderen eintraf. So wie das eben die wirklichen Stars machen, lassen alle zappeln, um dann so richtig zu erscheinen, nicht nur einzutreffen. Um mir die gewonnene Zeit zu vertreiben, holte ich mir beim Kebab-Stand im U-Bahnhof noch ein Dosenbier, an dem ich genüsslich nuckelte.

Heute Abend würde das Elend ein Ende finden, das Elend, das mit meinem Eintritt in den Kindergarten begonnen hatte. Schon damals hatte ich keine Freundin abbekommen. Nicht einmal im Sandkasten wollten die Mädels mit mir spielen, während Rick sich schon im zarten Alter von vier Jahren in der Mittagsschlafpause einfach auf Mädchen drauflegte. Er war doch ein wenig frühreif, denke ich.

Und auch in der Volksschule wollte es bei mir überhaupt nicht klappen. Alle anderen Jungs hatten bei den Ritter- und Räuberspielen immer eine Prinzessin gefunden, die ihnen nach der erfolgreichen Rettung einen Kuss auf die Wange gab. Für mich blieb bei jedem Spiel, bei wirklich jedem Spiel, immer nur die zaundürre Bärbel, die nichts vom Küssen hielt, dafür aber härter boxen konnte als alle anderen in der Klasse. Auch ihr Knie setzte sie manchmal gekonnt ein.

Dann, im Gymnasium, war ich so richtig locker, denn mit sechzehn, ja mit sechzehn …

Das Telefon klingelte, Rick, der Meister, wollte wohl nachfragen, wie es mir ging.

„Hier ist Klaus, ich packe jede Maus!“, döselte ich ins Handy. Ich hätte wissen müssen, dass die kurze Stille danach nichts Gutes bedeutete.

„Bist du betrunken, mein Junge?“ Mama. Scheiße. Ich räusperte mich. „Äh, äh. Hallo Mama, nein. Also, eigentlich. Du weißt ja …“ „Na ja. Ich wollt ja nur nachfragen. Du fährst ja morgen für drei Wochen in Urlaub und meldest dich überhaupt nicht. Dass du vorher noch mal vorbeischaust, hätte ich mir aber schon erwartet!“ „Ja, ich weiß. Hatte wirklich viel zu tun in den letzten Tagen, und jetzt bin ich gerade auf dem Weg zur Eröffnung des neuen Großraumbüros. Hab ich doch erzählt …“ „Aha. Dein Vater hätte dich auch gern gesehen, das weißt du, oder?“ „Ja, Mama. Ich weiß.“ Ich nahm einen kräftigen Schluck vom Bier, um das schlechte Gewissen wegzuschwemmen. „Du Mama, ich bin jetzt in der U-Bahn-Station, ich kann dich ganz schlecht verstehen. Sollte die Verbindung gleich abreißen, dann ist der Empfang weg.“ „Pass schön auf dich auf im Urlaub. Und lass dich nicht von Rick zu irgendwelchen Gaunereien verleiten. Mir gefällt es ja überhaupt nicht, dass du mit diesem Kerl auf Urlaub fährst. Du weißt ja, was passiert, wenn man mit dem rumhängt …“ Ich legte das Handy zur Seite, denn mir war sonnenklar, dass sie wieder die alte Kiffer-Geschichte auspacken würde.

Mit sechzehn hatten Rick und ich mal hin und wieder einen Joint geraucht, ein Schulfreund hatte uns dann Hanfsamen geschenkt. Die Pflanzen wuchsen wie verrückt, wir stellten sie bei meinen Eltern auf den Balkon. Meine Mutter – Vater ging ja nur auf den Balkon, wenn er mal zu viele Bohnen gegessen hatte; das kam so gut wie nie vor, weil er das nicht durfte – bemerkte überhaupt nicht, welche Kuckuckseier sie hier goss und großzog. Sie hätte es auch überhaupt nie gecheckt, wenn nicht, ja wenn nicht der Metzler, der Nachbar von gegenüber, gefragt hätte, ob und wann er wohl auch ein Paar Gramm haben könne.

„Ich weiß, Mama!“, flüsterte ich schuldbewusst ins Telefon. „Und ich hab dir damals schon gesagt, lass die Finger von diesem Teufelszeug und auch von diesem Rick. Das wird mit dem kein gutes Ende nehmen …“ Wieder legte ich das Handy auf den schmierigen Stehtisch des U-Bahn-Standes, nahm die Dose und genehmigte mir einen Schluck. Eine wunderschöne Brünette schwebte vorbei. Als ich bemerkte, dass sich ihre Augen in meine Richtung bewegten, blickte ich cool und lässig durch sie hindurch. Ich fixierte die Wand hinter ihr, sie war wie Luft für mich. Rick hatte recht, Frauen brauchen das. „Yes!“ Mit geballter Faust jubelte ich mir selbst zu. Als ich wieder aufblickte, war die Göttin längst verschwunden.

„Vergiss nicht, dich einzucremen, und melde dich, wenn du angekommen bist. Du weißt ja, wie viel in den Flugzeugen so passiert.“ „Ja, Mama, werde ich. Versprochen. Ganz sicher. Die Verbindung ist ganz schlecht, ich hör jetzt nur noch ein Rauschen. Bis dann.“ Ich legte auf, nahm den letzten Schluck aus der Dose und begab mich festlich gelaunt und nur ganz leicht schwankend zur U-Bahn.

Die Feier war schon in vollem Gange, ich hatte die Eröffnung versäumt. Das machte mir aber nichts aus, denn jetzt kam der große Moment erst. Noch einmal ging ich in Gedanken diese wichtigsten Augenblicke durch. Reingehen, ohne zu zögern, zur Theke streben, weder nach links noch nach rechts blicken. Das Gesicht ernst und gefasst, der Blick starr auf das Ziel gerichtet. Dann ein Bier bestellen, umdrehen und scheinbar ohne Interesse die schmachtenden Blicke der Frauen einfangen. Das Zielobjekt (Nadja, Sabrina, Tanja oder Nicole – je nachdem, welche mir am nächsten steht) erfassen, es ins Visier nehmen, darauf zustreben und dann zuschlagen. So einfach war das. Rick hatte wieder einmal recht, der Typ war wirklich ein Genie, ein Meister.

Ich atmete vor dem Eingang noch einmal tief durch, dann öffnete ich die Tür. „Mach was aus deinem Leben! Nimm es endlich selbst in die Hand! Heute ist der Abend aller Abende!“, sagte ich mir dabei wie in den letzten Monaten in Gedanken vor.

Ricks Plan klappte wunderbar, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken oder irgendjemanden wahrzunehmen, war ich durch den gut gefüllten Saal geschwebt und stand nun an der Bar. Ich konnte förmlich spüren, wie sich die Blicke der vielen Prinzessinnen in meinen Rücken bohrten. Au ja, heute würde es rundgehen. Das Glas Bier stand nun vor mir, der Moment der Wahrheit war gekommen. Mit dosiertem Elan drehte ich mich um und musterte mit versteinertem Gesicht die Anwesenden.

Die Erkenntnis traf mich so unerbittlich, dass ich das halbe Glas mit einem Schluck leerte. So wie ich niemanden wahrgenommen hatte, so hatte auch keine im Saal mich wahrgenommen. Kein Augenpaar war auf mich gerichtet, ich war auch nicht der Einzige mit hellbraunem Anzug und schwarzem Hemd. Verdammt, irgendwas lief hier falsch!

Nervös drehte ich mich wieder um und begann fieberhaft zu überlegen. Was hatte ich falsch gemacht? Sollte ich Rick anrufen?

Ein Schlag auf meinen Rücken riss mich aus meinen Gedanken.

„Hallo, Klaus! Wie geht’s dir?“ Didi, der mir im neuen Großraumbüro gegenübersitzt. Er war hörbar nicht mehr nüchtern. „Danke. Geht. Bin gerade erst gekommen.“ „Und? Hast schon ein Opfer gefunden? Heute soll ja dein großer Abend sein!“ Er grinste mich an, während mein Gesicht zu Stein erstarrte. Woher wusste er? Wie gab’s denn das?! „Du hast in den letzten Tagen ein bisschen zu laut mit Rick telefoniert, das bekommt man dann eben so mit …“, ergänzte er. „Ach so, na ja.“ Mein Hirn rotierte, aber ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Das Einzige, was mir jetzt einfiel, war, das Glas mal auszutrinken. Das tat ich dann auch, blickte zu Didi, der noch immer auf eine Antwort zu warten schien, und bestellte mir ein weiteres Getränk. Den Penner, den Lauscher, den Telefon-Voyeur neben mir ignorierte ich einfach. Wie hatte das nur passieren können? Mein schöner Plan …

Missmutig brachte ich die nächsten drei Bier in vollkommener Einsamkeit an der Theke zu und tat, was ein Mann macht, wenn er verloren hat. Den Kummer runterspülen. An alte, glorreiche Zeiten denken. Mit sechzehn, ja mit sechzehn, da war die Welt noch in Ordnung gewesen, damals hatte ich zum ersten Mal ein Mädchen geküsst. Sie hieß Bea, ging in meine Klasse und war einfach nur hübsch. Diesen Moment werde ich nie mehr vergessen. Wandertag war angesagt und wir tuckerten mit einem überfüllten Bus durch die Gegend. Sie kam neben mir zu stehen und ignorierte mich. Mehr als ein Hallo hatte sie noch nie zu mir gesagt. Plötzlich bremste der Bus, und da sie sich nicht richtig festgehalten hatte, stürzte sie auf mich. Ihre Lippen klatschten auf die meinen. Das war wirklich magisch. Nach einem Augenblick, der zu lang andauerte, als dass er Zufall hätte sein können, stieß sie sich von mir, wurde puterrot im Gesicht und wandte sich ab. Nach diesem Vorfall habe ich ihr bis zur Matura Liebesbriefe geschrieben, von denen sie keinen einzigen beantwortete. Sie hatte sicher Angst vor ihrem Freund, dem Schwimmstar der Schule, Jens, der aussah wie Arnold Schwarzeneggers Halbbruder und Pranken hatte wie ein ausgewachsener Sibirischer Tiger. Rick, der im Bus neben mir gestanden war, meint heute noch, dass das kein Kuss war, sondern ein Unfall, aber ich bin mir ganz sicher …

Ich brütete so vor mich hin – diese Wünsche-Bücher würde ich morgen in der Früh, bevor ich zum Flughafen fahren würde, rituell verbrennen. Das war doch alles Humbug! –, als mir schon wieder jemand auf den Rücken klopfte. Diesmal aber etwas sanfter. Ich hatte mein Glas schon in der Hand, um Didi damit auf den Kopf zu schlagen. Es war aber gar nicht der Idiot, es war Moni, meine Büro-Kollegin schon seit immer.

„Hallo, Klaus! Wie geht’s dir?“, sagte sie lächelnd. „Hallo!“, erwiderte ich. „Verdammt, warum sieht die denn heute so gut aus? Das gibt’s doch nicht. Ist mir noch nie aufgefallen.“ Sie war ein wenig kleiner als ich, ihre hellbraunen Haare hatte sie aufgesteckt und sie trug ein langes, schwarzes Kleid, das ihre Figur wirklich hervorragend betonte. Normalerweise trug sie Pullis und Jeans, im Sommer vielleicht mal ein olles Blümchenkleid, das aussah wie eine Tapete. Heute – heiß, einfach heiß! Ich schluckte. „Wo ist denn Ralph?“ Ihr lächelndes Gesicht sackte in sich zusammen, sie kämpfte mit den Tränen. „Er hat mich gestern verlassen. Dieser Scheißkerl. Einfach so, von einem Tag auf den anderen.“ Ich nickte mitleidig, in meinem Inneren breitete sich Freude aus. Zielobjekt gefunden? „Magst was trinken?“ „Oh ja, Wodka-Orange bitte.“ Wir tranken nun gemeinsam und sie erzählte mir vom Ende ihrer Beziehung, davon, wie Ralph sich in den letzten Monaten verändert hatte, wie er auf einmal Selbstfindungsseminare besuchte, wie er von einem Tag auf den anderen zum Meditationsguru geworden war und nur noch Tantra-Sex vollziehen wollte, der sich am besten von Freitagabend bis Sonntagvormittag zog.

Meine Frage, ob das denn überhaupt gehe, ignorierte sie. Da musste ich später noch einmal nachhaken, denn irgendwie bewunderte ich diesen Ralph. Ich war ja schon froh, wenn ich mit mir allein länger als drei Minuten zugange war.

Sonntagmittag musste Ralph nämlich dann immer zu verschiedenen spirituellen Vorträgen mit anschließenden Yogaübungen und Diskussionen, die bis spät in die Nacht dauerten. Gestern endlich hatte er ihr erklärt, dass diese sonntäglichen Vorträge nicht stattgefunden hatten, dass er eine andere hatte, eine, die ihn wirklich verstand, eine, die auf die Vorstellung von zweitägiger Tantra-Gymnastik nicht mit Kopfschmerzen reagierte. (Da hatte ich meine Antwort.) Eine, die kochen konnte. Die nächsten Sätze konnte ich dann nicht mehr verstehen, weil Moni schluchzte, ihr Inhalt war sicher nicht nett, das konnte ich sehen.

Aber jetzt musste ich sie unterbrechen, denn meine Blase meldete sich schon seit Längerem und ich konnte dem Drang nun nicht mehr widerstehen. Ich klopfte ihr zärtlich auf die Schulter. „Bin gleich wieder da, ich muss nur ganz, ganz dringend.“ Sie nickte und kippte den Rest ihres Wodkas runter.

Voller Freude eilte ich in Richtung Toilette. Ich hatte mein Zielobjekt gefunden, ich hatte blitzschnell umdisponiert, war flexibel und locker geblieben. Rick wäre stolz auf mich. Er hatte zwar mal gesagt, dass Unabwägbarkeiten immer wieder mal auftauchen konnten, aber wie man genau damit umzugehen hatte, war er mir damals schuldig geblieben. Egal, ich hatte selbst einen Weg gefunden. Moni war zwar nicht so scharf wie Nadja, aber …

Herbert, mein Chef, riss mich aus meinen Gedanken. Er streckte mir seine wie immer feuchte Hand entgegen. Wäh, glitschig wie immer. „Aah, Klaus. Wünsch dir ’nen tollen Urlaub! Vergiss nur nicht, dass du gleich, wenn du wieder zurück bist, die Kampagne für den fettfreien Schmelzkäse machen musst. Die warten eigentlich jetzt schon auf Ergebnisse. Das ist ein sehr wichtiger Auftrag für die Firma, ich erwarte mir dein Bestes! Und jetzt genug von der Arbeit, genieß die Feier und deinen Urlaub!“ Seine Frau Ingrid kam dazu, das war nicht gut, denn die konnte man in ihrem Redeschwall nicht stoppen. Wenn die mal anfing zu reden, dann musste irgendwo eine Bombe hochgehen, damit sie unterbrach. „Klaus! Gut siehst du aus! Wie gefällt dir das neue Büro? Ich hab dem Herbert ja schon oft gesagt, dass ich die Farben nicht mag, dieses Grau ist einfach zu trist, da wäre was Grünes viel besser gewesen. Aber er hört ja nicht auf mich. Würde er das tun, dann wären da nicht so viele Grautöne …“ Meine Blase explodierte gleich, das spürte ich. Ich flüsterte: „Tut mir leid, ich muss ganz, ganz dringend“, riss mich von Ingrid los, die mich am Ärmel hielt, und begab mich schnellstens auf die Toilette. Das war wirklich Rettung in letzter Sekunde.

Im Spiegel betrachtete ich mich und ich entdeckte jenes Siegerlächeln, von dem Rick so oft gesprochen hatte, auf meinen Lippen. Ich war wie Rocky Balboa, ich würde heute gewinnen, ich würde heute Nacht zum Champ werden. In meinem Kopf spielte die Band Survivor „Eye of the Tiger“ und ich jubelte meinem Spiegelbild zu. Leichtes Unbehagen löste nur aus, dass Moni einen Tantra-Ralph gewohnt war, der wahrscheinlich neben dem Sex noch heilige Mantras rezitierte oder Sudoku-Rätsel löste – und das über mehrere Tage. Egal, das spielte keine Rolle, sie wollte ihn nur vergessen, und das würde sie am besten mit mir können!

Gelöst und voller Tatendrang trat ich aus dem WC und da stand sie plötzlich vor mir. Sabrina, die kühle Blonde, auf die jeder in der Firma scharf war, auch Herbert. Man konnte sehen, wie er zu sabbern begann, wenn sie ihre Projekte im Plenum vorstellte. Ihre langen Beine waren dabei wie Dolche, die sicher nicht nur in mein Herz schnitten. Auch heute trug sie wie beinahe jeden Tag einen verdammt kurzen Rock. Mir stockte der Atem. „Klaus“, hauchte sie in ihrer unnachahmlichen Art, „ich habe auf dich gewartet!“ Oh Gott, was sollte ich tun? Ich spürte, wie das Blut aus meinem Gehirn rauschte und sich im Becken ansammelte. „Ach ja?“, krächzte ich. „Ja.“ Sie nahm mich an der Hand. „Komm mit!“ Mein Puls raste, der Film hatte wieder seine richtige Hauptdarstellerin, in mir explodierten sämtliche Silvesterfeuerwerke, die es auf der Welt bislang gegeben hatte, und ich musste mich dazu zwingen, so ruhig wie möglich zu atmen. Sie zog mich quer durch die Festlichkeit, ich folgte ihr untertänigst, denn ich spürte die neidischen Blicke meiner Kollegen. Jaa! Ich war am Ziel angelangt. Was immer sie jetzt auch zu tun gedachte, ich war dabei.

Endlich erreichten wir ihr Büro, in das sie mich schob. Sie hatte als eine von vier Mitarbeitern ihr Büro behalten dürfen, alle anderen mussten sich jetzt im Großraumbüro gegenübersitzen. Ich verstand, warum gerade sie das nicht musste. Sie war eine Göttin, eine Frau, für die Männer alles tun würden. Ein einziger Blick von ihr genügte, um alles, wirklich alles umzukrempeln. Ich stellte mir vor, wie sie zu Herbert gesäuselt hatte: „Aber ich darf doch mein Büro behalten? Oder?“ Das verbunden mit einem Blick, der sämtliche Interpretationen offenließ, was man in diesem Büro alles anstellen konnte. Wie hätte er da widerstehen können?

Und genau da war ich jetzt, im Heiligtum, am Ziel. Sie schloss die Tür. Jetzt waren wir allein, endlich. Das Licht, das von draußen ins Büro fiel, beleuchtete ihr Domizil schwach, das war mir gar nicht unrecht. Ich sah nur ihre Silhouette, als sie auf mich zukam, ihren Kopf ganz nah an den meinen brachte. Jetzt wagte ich nicht mehr zu atmen, jetzt konnte ich Faust verstehen. Dies war der Moment, in dem man sagt: „Verweile doch, du bist so schön!“ Von mir aus hätte mich jetzt auch der Teufel mitnehmen können, das wäre es wert gewesen.

Sie kam noch näher, ich spürte ihren Körper an meinem, ihre Lippen auf den meinen. Ich war im Himmel. So musste es im Paradies sein! Gott, war das einmalig!

Als sich unsere Zungen berührten, läuteten in meinem Kopf bereits die Hochzeitsglocken. „Die ist es, die eine. Die, der ich alle meine Geheimnisse erzählen werde. Die, die mich versteht und begehrt. Sie ist es.“

Sie hauchte mir ins Ohr: „Klaus, darauf habe ich seit Monaten gewartet. Du bist einfach ein wunderbarer Mann. So warmherzig, so hilfsbereit, so sexy.“ Ich konnte nicht sprechen, also nickte ich nur. Sie fuhr fort: „Du wirst noch einen Augenblick auf mich warten? Ich muss schnell noch was holen. Wenn ich zurückkomme, möchte ich mehr, möchte ich alles von dir. Und das, was ich hole, brauchen wir dazu.“ In meiner Hose ging es rund. Es sollte also wirklich passieren. Ich dankte Gott, Allah, Jesus, Buddha, Shiva, Krishna, sämtlichen Engeln und Erzengeln und allen Heiligen. Nie mehr würde ich über sie lästern.

Sie schlich sich nach einem weiteren Kuss raus und ich schälte mich schnellstens aus meinem Anzug, riss das Hemd auf, ließ nur die neuen, schwarzen Pants an, die mir ohnehin jetzt schon viel zu eng waren. Egal. Wie sollte ich warten? Wie sollte ich sie empfangen? Sollte ich mich hinlegen? Oder doch lieber stehen?

Ich entschied mich fürs Stehen, als sich nach bangen Sekunden des Wartens die Tür öffnete. Sie war wieder da, sie hatte ein Kondom geholt, es sollte gleich losgehen. „Rick, wenn du mich jetzt sehen könntest! Du wärst stolz auf mich.“

Ich lächelte und flüsterte: „Hallo!“, als mich plötzlich grelles, aufblitzendes Licht blendete. Und das nicht nur einmal. Erst nach einigen Augenblicken erkannte ich, dass ich fotografiert wurde. Ich war starr vor Schreck. Didi brüllte: „Es sind sicher an die zwanzig Bilder! Danke Klausi, du hast gerade die Weihnachtsfeier gerettet!“ Im Hintergrund hörte ich das Gackern von Sabrina und weiteren Büro-Tussies.

Ich weiß nicht mehr, wie lange ich in dem Büro gestanden war, aber mich überkam mit einem Mal ein wütender Brechreiz – ich kotzte Sabrinas Markenteppich voll. So wenig hatte ich eben doch nicht getrunken, und diese Magenentleerung half mir, innerhalb von wenigen Sekunden wieder halbwegs nüchtern zu werden. Normalerweise hätte ich mich wegen des Teppichs geschämt, aber diesmal war mir klar, das geschieht der Schnepfe recht. Ich spürte keinerlei Reue. Hastig zog ich mich an und schlich so unauffällig wie möglich aus dem Büro. Ich sah weder die feixenden Gesichter noch hörte ich das auffällige Gelächter der Partygäste.

Wie in Trance legte ich den Weg nach Hause zurück. In meinem Kopf rauschte es nur. Was war da eben passiert? Wie hatte das geschehen können?

„Didi, der Arsch – dem reiß ich eigenhändig die Sacknaht auf, dem werd ich die Eier abschneiden. Der wird sich noch wünschen, niemals geboren worden zu sein. Und Sabrina? Scheiße, ich kann mich doch nie mehr im Büro sehen lassen. Da kann ich doch nach dem Urlaub nicht wieder auftauchen. Das überlebe ich nicht.“ Mit einem Schlag war mir sonnenklar, was ich jetzt zu tun hatte. Zu Hause angekommen, verfasste ich sogleich ein E-Mail.

Lieber Herbert,

da Du sicherlich schon mitbekommen hast, welche Partyspielchen (auf meine Kosten) auf der Eröffnungsfeier durchgeführt wurden, muss Dir klar sein, dass ich keineswegs mehr in der Lage bin, nach dem Urlaub im Büro zu erscheinen.

Nur um das klar und deutlich zu sagen: Ich kündige! Zum nächstmöglichen Termin!

Den Arsch-Job mit dem Schmelzkäse kannst Du gern an Didi abtreten. Der Speichellecker wird mit den Molkereitypen sicher perfekt zurechtkommen.

Liebe Grüße auch an Deine Frau! Ihr Dauergelaber geht nicht nur mir auf den Sack!

MfG

Klaus Böhmer

PS: ICH KÜNDIGE!

Nicht noch einmal lesen, sondern sofort abschicken. Sollte ich jetzt noch einen Wodka kippen? Mein Kopf sagte Ja, aber der Magen fühlte sich nicht allzu frisch an. Also keinen Wodka.

Vielleicht wäre ein Gespräch mit Rick eine Lösung? Ich nahm mein Handy zur Hand. Eine Mitteilung war vor mehr als einer Stunde eingelangt – „Wo bleibst Du? Ich wollte mich doch mit Dir betrinken. Moni“ Ach Moni, nette, liebe, süße Moni. Wenn du wüsstest, ach was, du weißt es sicher schon. Ich fühlte mich hundeelend, so erniedrigt zu werden, so schmachvoll erniedrigt zu werden.

Mir blieb jetzt doch nur, mich aufs Bett zu legen und versuchen zu schlafen, obwohl mir absolut klar war, dass ich kein Auge zubekommen würde. Also holte ich meinen besten Freund (abgesehen von Rick) aus dem Handgepäck, meinen iPod. Die Musik würde mir helfen, die Musik hatte mir immer geholfen.

Nach der Maturafeier musste sie mich aus einem kleinen Tief holen – und hat es geschafft. Ich kann mich noch ganz genau an den Abend erinnern, als ich stockbetrunken versucht habe, ausnahmsweise nicht Bea hinterherzuschmachten, die von Jens recht grob betatscht wurde – was konnte man sich von diesen Händen denn sonst erwarten? –, sondern meine jahrelange Sitznachbarin Annelie zu küssen und zu begrapschen.

Sie war immer so nett zu mir gewesen, wir hatten so oft miteinander gelacht, und in meinem Rausch waren einfach die Gefühle mit mir durchgegangen. Beim Anblick ihres wunderbaren Dekolletés hatte sich das Pulsieren meines Blutes in ein Getöse und Gedonner verwandelt. Sie hatte diese Niagarafälle in meinem Inneren weder mitbekommen noch ansatzweise Ähnliches verspürt, denn sie gab mir eine so saftige Ohrfeige, dass meine Wange noch heute schmerzt, wenn ich nur daran denke. Seither hat sie kein Wort mehr mit mir gesprochen, obwohl jetzt schon sieben Jahre vergangen sind. Rick konnte mir nicht helfen, er war nämlich mit zwei Mädels aus der Nachbarklasse beschäftigt.

Ich landete am Schluss der Feier wie gehabt neben der noch immer zaundürren Bärbel, die aber zumindest nicht mehr boxte, wenn ich in ihre Nähe kam. Als ich aber in meinem Wahn ihren Oberschenkel berührte, stand sie auf und sagte in einem Ton, den ich nie wieder vergessen werde: „Notgeiles Schwein!“

Da habe ich dann meinen Walkman genommen, die Stöpsel in die Ohren gesteckt und den Rest der Nacht allein Musik gehört. Und in der Früh war es besser, die Scham war verflogen, der Rausch der Nacht hatte sich ein wenig gelüftet.

Ähnlich war es auch gelaufen, als Rick und ich etwa ein Jahr später wieder einmal um die Häuser zogen. Er hatte sich angeboten, für mich endlich eine kleine Maus herzurichten, wie er es nannte. Noch heute ist mir schleierhaft, wie er das anstellen wollte. Er würde das schon schaffen, ich solle mich nur in Ruhe an der Bar entspannen. Und tatsächlich, keine Stunde später kam er mit zwei hübschen Mädels im Schlepptau an die Bar. Er zwinkerte mir zu, stellte mir die zwei vor und begann hemmungslos mit der einen zu flirten.

Ein wenig hatte ich von ihm schon gelernt, also unterhielt ich mich mit der anderen. Sie hieß Anna und ihr Lächeln war wirklich süß. Wir tranken so einiges an dem Abend, wovon ich das meiste bezahlte, und als Rick vorschlug, doch zum nahe gelegenen See zu fahren, um dort zu baden, waren die beiden mit Freude dabei. Ich war an dem Abend der Chauffeur, was mir aber in dem Fall überhaupt nichts ausmachte. Denn die Vorfreude darauf, Anna vielleicht nicht nur nackt sehen zu dürfen, trocknete meine Kehle aus.

Die erste Enttäuschung folgte, als Anna sich nicht zu mir auf den Beifahrersitz gesellte, sondern schnurstracks mit Rick und ihrer Freundin Lisa die Rückbank besetzte und die drei dort im Halbdunkel Dinge vollführten, von denen ich überhaupt nicht zu träumen wagte. Ich versuchte mich auf die Straße zu konzentrieren und redete mir ein, dass ich während der Fahrt ohnehin nicht abgelenkt werden dürfe, dass ich meinen Lohn dann am See schon noch erhalten würde. Nebenher schaltete ich das Autoradio ein, Slipknot stampften den Song „Wait and Bleed“ – war da der Titel vielleicht schon ein schlechtes Omen?

Als wir nämlich am See ankamen, sprangen die drei aus dem Wagen, bevor ich überhaupt einparken konnte. Danach waren sie verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt; ich suchte überall, aber ich konnte sie nicht finden. Ich brüllte, ich rief, ich heulte, aber niemand antwortete mir. Also setzte ich mich ins Auto und hörte Musik. Rick würde ich niemals zurücklassen, Ehrensache.

Im Morgengrauen tauchten sie eng umschlungen auf, alle drei mit einem verträumten Blick und einem sanften, schon beinahe entrückten Lächeln auf den Lippen.

„Klausi, wo warst du?“, grinste Rick. „Ich habe euch sicher eine Stunde lang gesucht, verdammt.“ „Du hättest rufen sollen!“ „Was glaubst du, habe ich getan?“ „Du hast echt was versäumt.“ Die Mädels kicherten, aber mir war gar nicht zum Lachen zumute.

Auf der Rückfahrt schliefen die drei hinten, ich drehte die Musik so laut, wie die Boxen es vertrugen. Rick öffnete nur kurz die Augen, lächelte und meinte: „Du hast es drauf, Klausi! Beim nächsten Mal!“

Die Songs halfen mir damals wirklich. Und genau so würde es auch heute sein, sie würden mich beschützen, meine Schale stärken, meine Mauer wieder aufbauen helfen. Sie würden mich aus dem dunklen Loch ziehen, in das ich gestürzt war.

Ich steckte mir die Knöpfe in die Ohren, drehte die Lautstärke ein wenig zurück – ich wollte ja nicht, dass meine Nachbarn zuhören konnten –, legte mich hin und schloss meine Augen. Der Shuffle-Modus brachte mich über Gary Jules’ „Mad World“ zu Nine Inch Nails mit „Something I Can Never Have“ bis zu Metallicas „Nothing Else Matters“. Die Tränen standen mir die ganze Zeit in den Augen, ich fühlte eine unendliche Traurigkeit in mir. Manu Chaos „Infinita Tristeza“ half dabei noch ein bisschen. Die Frage nach dem Warum ließ mich nicht los. Dass das passiert war, konnte ich nun nicht mehr ändern. Aber warum gerade mir? Warum heute? Ich hatte mich doch an die Vorgaben der Wünsche-Bücher gehalten, ich hatte doch alles genau so gemacht, wie dort vermerkt war. Warum hatte es nicht geklappt? Warum klappte es überhaupt nie? Warum wollte keine Frau mit mir zusammen sein? WARUM? Wenn ich eine ansteckende Krankheit hätte oder hässlich wäre wie das Phantom der Oper … Aber sogar dieses Monster bleibt nicht allein!

Ich brauchte mehr Prügelmusik, das sentimentale Gedudel hielt ich nicht mehr aus. Da musste was eindeutig Gefühlstötendes her. Ich öffnete meine „Prügelliste“ am iPod und sah mir dabei zu, wie Cradle of Filth, Dimmu Borgir, Machine Head, Slipknot, Fear Factory und andere jede Emotion aus meinem Körper brüllten und schlugen. Trotzdem schlief ich irgendwann weinend ein.

„Steh auf, wenn du am Boden bist! Steh auf, auch wenn du unten liegst! Es wird schon irgendwie weitergehen …“, sang Campino von den Toten Hosen in meinem dunklen Traum, aus dem ich um sechs Uhr mit einem dringenden Bedürfnis erwachte. Eigentlich hatte er recht. Aufstehen, wenn man am Boden liegt. Aufstehen musste ich jetzt sowieso, denn meine Blase wollte es so. Bis acht könnte ich noch liegen bleiben, aber ich hatte eine Idee. Heißt es nicht: „Geteiltes Leid ist halbes Leid“? Diesen Spruch würde ich jetzt anwenden, ich würde zum ersten Mal in meinem Leben meine Traurigkeit jemandem mitteilen. Ich würde sie aus meinem Leben rausschreiben, sie loswerden – an Linda. Sie war diejenige, die alles von mir las, die mir sogar antwortete, wenn ich vollkommenen Unsinn von mir gab. Linda war meine Rettung, mein Anker, meine Leiter, die mich aus der Gletscherspalte der Gefühle bringen sollte.

Also setzte ich mich an den PC, nachdem ich mir noch Wasser für die Brandlöschung geholt hatte, und schrieb ihr, schrieb mir den Ballast von der Seele.

Tauche tiefer, wenn du schon im Fettnäpfchen schwimmst

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