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Damals war sie etwa fünf Jahre alt und verbrachte alleine ein paar Sommertage bei ihrer Grossmutter in Bodma, einem winzigen Bergdörfchen im Oberwallis, das der Gemeinde Naters angehörte. Elena liebte ihre Grossmutter. Sie mochte ihr schlohweisses Haar, das sie jeden Tag kunstvoll zu einem festen Knoten flocht und unter einem hellen Kopftuch verbarg; sie mochte ihre kräftigen Hände, die wunderbar duftendes Brot buken, und sie liebte ihren zarten Duft nach Lavendel.

An jenem Tag wollte ihre Grossmutter, die von jedermann «Lisa» genannt wurde, a biz ga löifu. Elena war nicht sehr erpicht darauf, spazieren zu gehen. Viel lieber wäre sie zu Hause geblieben, um auf der Wiese vor dem Haus mit ihren Puppen zu spielen. Aber ihre Grossmutter bestand darauf, dass sie sie begleitete. Sie gingen in den dichten Lärchenwald, der unweit hinter ihrem Haus begann. Wie immer beschäftigte sich Elena unterwegs damit, Tannenzapfen, Moosstückchen, Flechten und kleine Lärchenzapfen zu sammeln. Sie trug die Teile eine Weile mit sich und tauschte sie gegen neue Fundstücke ein, die ihr noch besser gefielen.

Wenn Elena heute zurückdachte, ärgerte sie sich, dass sie damals nicht besser aufgepasst hatte, wo sie ihre Grossmutter hinführte. Sie war völlig in ihre Sammelei vertieft und folgte ihr blindlings. Darum bemerkte sie nicht, dass ihre Grossmutter vom Hauptweg abbog und einen schmalen, unscheinbaren Pfad ins dunkle Innere des Waldes wählte. Erst als ihre Grossmutter vor einem Erdhügel stehenblieb, sich davor niedergekniete und die Hände zum Gebet faltete, realisierte Elena, dass sie an einem Ort waren, den sie noch nie zuvor besucht hatten. Ein mulmiges Gefühl stieg in ihr auf. Sie mochte diesen Ort nicht. Am liebsten hätte sie sofort wieder kehrtgemacht. Der seltsame, mit Blumen bewachsene Hügel befand sich auf einer winzigen Lichtung, die von mächtigen, alten Arven umgeben war. Die Sonnenstrahlen vermochten kaum das Nadelwerk zu durchbrechen, was die Lichtung in ein diffuses Licht tauchte. Elena lief zu ihrer Grossmutter und ergriff ängstlich ihre Hand. «Grossmama», fragte sie zögernd, «Was ist das für ein Hügel? Warum gehen wir nicht weiter?» Die Grossmutter bekreuzigte sich mit gesenktem Kopf und erhob sich langsam. «Elena, dieser Hügel ist kein gewöhnlicher Hügel. Er ist ein Grab. Hier liegt deine Urgrossmutter Katharina begraben.» Elena wunderte sich. Sie wusste, dass die Verstorbenen für gewöhnlich unten im grossen Dorf Mund auf dem Friedhof begraben wurden. «Wieso wurde sie nicht wie all die anderen auf dem Friedhof beerdigt? Und wo ist der Grabstein mit ihrem Namen?», wollte sie wissen. «Deine Urgrossmutter hätte nicht gewollt, dass jeder weiss, wo sie begraben ist», antwortete die Grossmutter. Auf die Frage, weshalb sie das nicht gewollt hätte, reagierte die Grossmutter unwirsch und bat sie, mit der Fragerei aufzuhören und zu schweigen, um die Totenruhe nicht zu stören. Doch Elena verstand nicht. Wie konnte man die Ruhe eines Toten stören? Ein Toter war schliesslich tot. Den störte ohnehin überhaupt nichts mehr.

Sie war froh, als sie sich endlich auf den Heimweg machten und den unheimlichen Ort hinter sich lassen konnten. So klein sie auch gewesen sein mag, dieses Erlebnis hatte sich fest in ihr Gedächtnis eingebrannt.

Mit den Jahren erfuhr Elena nicht viel mehr über Katharina. Ihr wurde erzählt, welch wundervolle, mutige und intelligente Frau sie gewesen sei. Aber nie wurde ein Wort darüber verloren, wie sie gestorben war. Man trichterte ihr ein, nichts Schlechtes über sie zu denken, was auch immer sie je über ihre Urgrossmutter zu hören bekäme. Diese Andeutungen weckten Elenas Neugierde. Sie begann, sich immer mehr für diese geheimnisvolle Frau zu interessieren. Sie versuchte, im Internet zu recherchieren, jedoch ohne Erfolg. Sie fragte die Dorfbewohner von Bodma, dem Dorf, in welchem ihre Urgrossmutter aufgewachsen war. Ohne Ergebnis. Es schien, als hätten sie Angst, auszusprechen, was geschehen war. Elena spürte ganz deutlich, dass sie etwas vor ihr verheimlichten. Sie erkannte Angst in ihren Augen. Meistens bekreuzigten sich ihre Gesprächspartner, sobald Elena den Namen «Katharina» aussprach, und verabschiedeten sich rasch wegen dringend zu verrichtender Arbeiten. Man legte ihr nahe, die toten Seelen und die Vergangenheit ruhen zu lassen, damit man den Hass der dunklen Mächte nicht auf sich zöge. Elena tat all dies als Aberglaube ab. Sie wusste jedoch, wie ernst es den Dorfbewohnern mit diesen Ängsten war. Ihre Grossmutter hatte ihr früher viele Geschichten und Sagen von Zwergen, Trollen und Feen erzählt. Zwar waren diese angeblich frei erfunden, doch der Kern der Geschichte, wie ihre Grossmutter beteuerte, war immer ein wahrer. Schliesslich hatte Elena genug. Sie hörte auf zu suchen und akzeptierte die Tatsache, dass ihr niemand etwas erzählen mochte. Sie beschäftigte sich mit anderen Dingen in ihrem Leben, die ihr wichtiger erschienen. Eines Tages würde sie es schon erfahren. Da war sie sich ganz sicher.

Spur in die Vergangenheit

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