Читать книгу Spur in die Vergangenheit - Paula Grandjean - Страница 5
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ОглавлениеHeute, so glaubt sie, war dieser Tag endlich gekommen. Das Tagebuch könnte der Schlüssel zu all ihren Fragen sein. Ohne lange zu überlegen packt sie ihren blauen Wanderrucksack. Ihren Eltern hinterlässt sie einen Zettel mit der Nachricht, dass sie ihre Grossmutter im Wallis besuchen würde. Und schon ist sie auf dem Weg zur Bushaltestelle. Sie muss sich beeilen, wenn sie den Bus zum Bahnhof und den letzten Zug nach Brig noch erwischen will. Sie rennt. Um besser laufen zu können, fixiert sie den Rucksack dabei so gut es geht, indem sie ihn mit beiden Händen an den Schultergurten hält. Sie möchte unbedingt weg sein, bevor ihre Eltern nach Hause kommen, denn beide würden ihren Besuch nicht gutheissen. «Ich bin alt genug», denkt sie trotzig. «Ich kann das selbst entscheiden. Schliesslich bin ich schon 17!»
Während sie läuft, bedauert sie, an einem so entlegenen Ort zu leben. Früher fand sie es toll, auf dem Land zwischen Kühen, Ziegen und Hühnern aufzuwachsen. Heute würde sie ein Leben in der Stadt vorziehen. Das heisst, wenn sie ehrlich ist, macht es ihr nicht viel aus, in einem Dorf zu wohnen, in dem jeder jeden kennt. Sie mag die Vertrautheit, das Gefühl, sich zu Hause zu fühlen. Und ausserdem liebt sie die Natur. Aber wenn sie es eilig hat und auf den öffentlichen Verkehr angewiesen ist, sehnt sie sich nach mehr Nähe zur Zivilisation.
Am Bahnhof angekommen, bleiben Elena noch genau zwei Minuten bis zur Abfahrt des Zuges. Sie erwischt ihn nur dank eines älteren Ehepaares, das etwas länger braucht, um einzusteigen.
Der Zug ist gut besetzt. Die beiden Walliser Frauen vom Nachbarabteil, deren Gespräch Elena verfolgt hatte, sind in der Zwischenzeit ausgestiegen. Stattdessen lümmelt ein kleiner Junge mit strohblondem Haar auf seinem Sitz herum. Er trägt ein hell- und dunkelgrün geringeltes T-Shirt und eine Jeans-Latzhose. Der Kleine grinst sie frech an, als sich ihre Blicke treffen. Seine Mutter lächelt entschuldigend und versucht, ihm klar zu machen, dass die anderen Fahrgäste gerne ihre Ruhe hätten. Elena dreht ihren Kopf wieder zum Fenster und blickt hinaus auf die leuchtend grünen Wiesen und die Kirschbäume voller saftiger Früchte, die schnell vorbeiziehen. Ihr gelockter Rotschopf spiegelt sich im Fenster. Sie streicht sich eine widerspenstige Locke hinters Ohr. Sie mag ihre Haare. Während sie früher wegen ihrer Haarfarbe aufgezogen wurde, wird sie heute immer öfter darum beneidet. Die roten Haare sind sozusagen ein Familienerbstück. Ihre Mutter und ihre Grossmutter sind beide rothaarig und ihre Urgrossmutter, über die Elena nur sehr wenig weiss, soll angeblich ebenfalls rothaarig gewesen sein. Ihre wilde Lockenmähne stammt auch von ihrer Grossmutter. Das Haar ihrer Mutter dagegen ist völlig glatt. Elena ist mit ihrem Äusseren eigentlich ganz zufrieden. Ihr blasser Teint, ihre blaugrauen Augen und die vielen Sommersprossen auf Nase und Wangen lassen sie zart und zerbrechlich wirken. «Wie das Äussere doch täuschen kann», denkt sie lächelnd.
Den Rest der Zugfahrt widmet sich Elena ihren derzeitigen Lieblingssongs. Die Kopfhörer im Ohr, die Augen geschlossen, mit der Fussspitze den Takt mitwippend, nähert sie sich voller Ungeduld ihrem Ziel. Sie freut sich auf ihre Grossmutter und ist gespannt, wie sie auf den Anblick des Tagebuchs reagieren wird, das Elena in einem schützenden Leinensäckchen in ihrem Rucksack verstaut hat.