Читать книгу Versunken und Vergessen - Paula Hering - Страница 3
ОглавлениеDie alte Frau kam aus dem Gemüseladen und wackelte beim Gehen von einem Bein auf das andere. Sie trug eine Gießkanne in der rechten Hand, mit der linken wischte sie sich den Schweiß von der Stirn. Das Wasser kam wie in Zeitlupe aus dem löchrigen Aufsatz der zerbeulten Kanne. Sie ging zurück in den Laden, aber die Wasserkügelchen schwebten noch immer einige Zentimeter über dem Boden. Als ich daran vorbeifuhr, fielen sie wie auf ein heimliches Kommando aus der Luft und prasselten auf den Gehweg wie Sommerregen.
Als ich aufwachte, schien vor meinem Fenster die Sonne und als ich nach unten kam, fand ich das Haus leer vor, deshalb machte ich mich ohne Frühstück auf den Weg zum Kummersee. Die Kronen der dicht ans Wasser gedrängten Laubbäume, spiegelten sich auf der Wasseroberfläche und an der Stelle, an der am Vortag der Wasserdampf aufgestiegen war, weckte nun etwas anderes mein Interesse. Das Wasser war überall mehr oder weniger dunkelgrün, in der Mitte aber war es tiefschwarz.
Ich zog mich aus und schwamm geradewegs darauf zu. In der Seemitte angekommen, holte ich Luft und tauchte. Unter mir schimmerte es hell und ich entdeckte eine algenbewachsene Mauer, schwamm durch eine Öffnung und befand mich in einem Tunnel. Dann wurde es heller über mir und ich tauchte auf. Ich rang nach Luft und schwamm zu einem Mauervorsprung, zog mich daran hoch und lehnte mich erschöpft an eine Wand. Die Luft war grün und das Wasser leuchtete. Über mir wölbte sich eine steinerne Kuppel, in deren Mitte sich eine runde Lichtquelle befand. Sonnenlicht fiel ein und hüllte die Szene in milchiges Dämmerlicht. Ich war wie berauscht von meiner Entdeckung, bis ich plötzlich Angst bekam.
Ich hetzte nach Hause, als wären Hunde hinter mir her. Als ich ankam, fehlte mir die Kraft, mein Rad abzuschließen. Meine Hände zitterten. Schwindelig legte ich mich aufs Bett und zog die Decke über den Kopf. Marta legte sich an meinen Bauch. So lagen wir noch, als ich mitten in der Nacht aufwachte.
Viermal war ich zum Luftholen in die Kuppel zurückgekehrt, bis ich mich für den richtigen Weg entschieden hatte. Zählen hatte mir geholfen, die Angst zu kontrollieren. Ich zählte die Schwimmzüge zurück an die Oberfläche, die Atemzüge bis ans Ufer, die Schritte bis zu meinem Rad. Erst war es nur ein Gedanke gewesen. Was, wenn ich hier nicht wieder herausfinde? Dann hatte ich zu frieren begonnen und die Angst hatte sich in mir ausgebreitet, um mich zu lähmen, bis ich wehrlos auf den Grund sinken würde.
An Schlafen war nicht mehr zu denken. Als ich aufstand, schlich Marta auf meinen Schreibtischstuhl, um dort weiterzuschlafen. Zwei Wände im Arbeitszimmer meiner Mutter waren vom Boden bis zur Decke mit Bücherregalen bedeckt und vor den Regalen stapelten sich Neuanschaffungen. Sie unterliege dem Zwang, zu jedem Thema das richtige Buch im Schrank haben zu müssen, meinte mein Vater. Es gab Bücher zu allen möglichen Themen, Weltliteratur in verschiedenen Sprachen, Medizin und Naturheilkunde, Philosophie, Literaturgeschichte. Große Bücher und Bildbände standen in den unteren Fächern. Auf Knien rutschte ich vorbei an Kunstbänden und Atlanten. Architektur war ein Steckenpferd meiner Mutter, eines von vielen. Das Lexikon der Weltarchitektur hatte ich schon mit fünf Jahren gekannt. Meine Mutter hatte ihre Gutenachtgeschichten mit Bildern von Schlössern und Burgen ausgeschmückt und obwohl die Fotos klein und nicht einmal farbig waren, hatten sie mir märchenhafte Träume beschert. In dieser Nacht forderte das Buch die Träume zurück.
Zunächst blätterte ich es von vorne bis hinten durch. Kuppelbauten gab es jede Menge, bei den Römern und in Byzanz. Es gab Kuppelkirchen und Kuppelgräber, Scheinkuppeln und Kuppelmoscheen. Um sechs Uhr setzte ich mich an meinen Schreibtisch und begann zu skizzieren, was ich im Kummersee gesehen hatte.