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Prolog

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Niemand wird je die Nacht vergessen, als der Dämon nach Southwark kam. Der Frühling wurde schon spürbar, selbst in den verkommenen Gassen und verdreckten Gängen von Southwark, das sich ans Südufer der Themse duckte. Der Regen hatte das kotverschmierte Pflaster abgespült, und die Wolken rissen allmählich auf, als das Tageslicht an jenem frischen Frühlingstag erstarb. Ladenjungen und Händler räumten ihre Stände ab. Die hochwandigen Mistkarren rumpelten durch die Straßen, und Arbeiter mit schweißnassen Gesichtern rackerten sich ab, um die offenen, angeschwollenen Kloaken von Müll und Abfall zu reinigen. Die Männer arbeiteten vergnügt, denn sie dachten an die Pennies, die ihnen versprochen waren. Nicht einmal der aufgedunsene Kadaver einer Katze oder eines Hundes störte die Aussicht auf eine Schüssel Suppe und einen Humpen Ale nach getaner Arbeit.

Pike, der Grabenbauer, Gemeindemitglied von St. Erconwald in Southwark, war ebenfalls unterwegs. Er schlüpfte an der Kirche vorbei und in die Taverne »Zum Gescheckten«, wo der Hundemann, das Wiesel, der Fuchs und der Hase schon auf ihn warteten. Sie saßen auf umgedrehten Fässern an einem Tisch, der in einer dunklen Ecke stand, und ihre unrasierten Gesichter waren tief in den Kapuzen verborgen, die sie sich weit über den Kopf gezogen hatten.

»Du kommst spät!« knurrte der Hundemann.

Pike schluckte nervös.

»Wer zu spät kommt«, zirpte das Wiesel, »zahlt die Zeche!«

Pike stöhnte leise auf. Er rief Tiptoe, den Schankburschen, herüber und bestellte fünf Humpen Ale. Bei den Fäßchen am anderen Ende der Schenke lehnte Joscelyn, der einarmige Schankwirt, und beobachtete sie alle aufmerksam. Pike schloß die Augen und kratzte sich den struppigen Bart. Ob Joscelyn Verdacht geschöpft hatte? Ob er ahnte, was Pike hier trieb? In diesem Fall würde Bruder Athelstan, der Pfarrer, ihn am nächsten Sonntag beiseite nehmen und ihm die übliche Predigt halten. Pikes Miene wurde milder. Wie immer, würde Athelstan in seiner schwarz-weißen Dominikanerkutte, mit seinem olivfarbenen Gesicht und den sanften, fürsorglichen Augen ihm einen Vortrag über die Gefahren des Hochverrats und das Grauen des Henkerstricks halten.

»Nun?« knurrte der Hundemann. »Wie sagt man, mein Freund?« Pike schrak aus seinen Gedanken hoch. Er beugte sich über den Tisch, entschlossen, diesen Vertretern der Großen Gemeinschaft des Reiches zu zeigen, daß er keine Angst hatte.

»Als Adam grub und Eva spann, wo war da der Edelmann?« sang er.

Die vier Rebellenführer, deren Identität sich hinter ihren seltsamen Namen verbarg, nickten einträchtig. Trotzdem behielten sie Pike wachsam im Auge, um es gleich zu bemerken, wenn er ein Zeichen des Unbehagens erkennen ließe oder seine inbrünstige Unterstützung für ihre große Sache schwinden sollte. Tiptoe brachte die Humpen herüber. Pike rückte eine seiner kostbaren Münzen heraus. Als der Junge gegangen war, hob der Grabenbauer seinen Humpen.

»Auf die große Sache«, murmelte er.

Die andern vier bekräftigten seinen Trinkspruch und nahmen einen Schluck von dem bitter schmeckenden Getränk.

»Nun?« fragte der Hase. »Wie geht es in Southwark?«

»Der Topf blubbert«, erklärte Pike dunkel. »Unser junger König Richard ist noch ein Kind; sein Onkel, John von Gaunt, ist zwar nur der Regent, aber er führt sich auf wie ein Kaiser. Die Steuerlast ist schwer, die Unzufriedenheit wirbelt wie Schlamm im Wasser, und sogar die Kaufleute protestieren.« Er knallte seinen Humpen auf den Tisch. »Man hat zu Westminster ein Parlament zusammengerufen«, fuhr er aufgeregt fort. »John von Gaunt verlangt mehr Geld, aber die Commons verweigern es ihm. Könnte sein, daß sie bestimmte Minister unter Anklage stellen.«

»Pah!« Das schmaläugige Wiesel verzog spöttisch das Gesicht und trank aus seinem Humpen. »Was erwarten die Fettsäcke denn? Milde und Nachsicht von einem Mann wie Gaunt?«

»Und – wann werdet ihr kommen?« fragte Pike.

»Zeiten und Daten gehen dich nichts an«, gab der Hase zurück.

»Aber wenn das Zeichen gegeben wird und Jack Straw, unser Priester, das brennende Kreuz aussendet, dann werden wir kommen.«

»Männer aus Essex, Kent, Suffolk, ja, aus nördlichen Gegenden bis hinauf zum Trent, werden blitzschnell über London herfallen«, rief der Hundemann. »Und wie ein Feuer auf dem Stoppelfeld werden wir diese Stadt mit Flammen reinigen, von Southwark im Süden bis Cripplegate im Norden.«

»Aye«, fügte das Wiesel hinzu. »Werden sie läutern mit Feuer und Schwert. Es wird keine Könige und Prinzen mehr geben, keinen Großen Rat und kein Parlament. Die Grundherren werden vernichtet werden, und die Elenden werden das Land erben.«

Der Hundemann lehnte sich über den Tisch und packte Pike beim Wams. »Und die Männer von Southwark?« fragte er.

»Wir werden fest und treu zur Sache stehen«, antwortete Pike.

»Wir werden die London Bridge einnehmen und die Torhäuser an beiden Enden. Wir werden dort sein, wenn ihr gegen den Tower marschiert.«

Der Hundemann betrachtete ihn aufmerksam. Vielleicht bemerkte er, daß Pikes Blick nicht ganz stetig war oder daß seine Unterlippe ein bißchen zitterte.

»Bist du auch immer noch auf unserer Seite, Pike?« fragte er leise.

»Ja. Es ist bloß …«

»Bloß was?« Der Fuchs lehnte sich herüber, packte Pikes Hand und drückte sie fest.

»Werden alle sterben?« platzte Pike heiser heraus. »Wird es keine Gnade geben?«

»Überhaupt keine«, antwortete der Fuchs und verbarg sein Gesicht hinter seinem Bierhumpen. »Für keinen Lord, keinen Bischof, keinen Priester. Wieso, Pike – weißt du von einem Mann, der es wert wäre, daß man ihn rettet?«

»Bruder Athelstan«, zischte Pike und riß die Hand des Hundemannes von seinem Wams. »Der Gemeindepfarrer von St. Erconwald«, fuhr er aufgeregt fort. Furchtsam sah er sich um, aber Joscelyn war verschwunden. »Athelstan ist ein guter Mensch«, flüsterte Pike. »Sanft und gütig. Er liebt seine Pfarrkinder und weist niemanden ab.«

»Er hat einen geschorenen Schädel«, erwiderte das Wiesel. »Er ist ein Ordensbruder. Wer nicht für uns ist«, intonierte er, »ist gegen uns. Wer sich nicht mit uns sammelt, verstreut uns in alle Winde.« Er betrachtete den entschlossenen Zug um Pikes Mund. »Aber Barmherzigkeit wird jenen zuteil werden, die selbst Barmherzigkeit zeigen.«

»Wie denn?« fragte Pike.

»Er wird schneller sterben als die andern.«

Der Hundemann trank sein Bier aus und schmetterte seinen Humpen auf den Tisch. »Wir gehen jetzt«, sagte der Rebellenführer und stand auf. »In einem Monat, Pike, kommen wir zurück. Wir werden dann wissen wollen, wieviele Männer du aufbringen kannst, wieviele Bögen, wie viele Piken.« Er lächelte über seinen Scherz mit dem Namen des Grabenbauers.

Die übrigen verließen nacheinander die Schenke. Pike machte sich nicht die Mühe, ihnen nachzusehen. Er war im Begriff, sich zu entspannen und nach einem neuen Humpen zu brüllen, als er eine Hand auf seiner Schulter spürte: Der Hundemann schob sein hageres, schmales Gesicht dicht heran, so dicht, daß der saure Atem des Mannes Pike zurückfahren ließ.

»Von Eisenhut«, wisperte er und ließ einen dreckigen Lappen in Pikes Schoß fallen, »wirst du nichts mehr hören!«

Pike schluckte entsetzt, als er den Namen ihres Vertreters im Bezirk Cripplegate hörte. »Wieso? Was ist passiert?« stammelte er.

»Er ist zum Verräter geworden und hat zuviel geredet.« Der Hundemann drückte Pikes Schulter.

Pike saß wie erstarrt da. Als er sich schließlich umdrehte, waren die Rebellenführer gegangen. Langsam faltete er den verdreckten Lappen auseinander und starrte entsetzt auf das, was da zum Vorschein kam: eine menschliche Zunge, grau und schrumpelig – nur das Ende war noch blutig. Pike hielt die grausige Gabe immer noch fest umklammert, und sein Magen wollte sich umdrehen, als er aus dem Wirtshaus stürzte. Draußen warf er das Lumpenbündel in die Gosse, und dann konnte er sich nicht mehr beherrschen; er fiel auf die Knie und erbrach alles, was er getrunken hatte.

Eine Stunde später suchte ein demütiger Pike sich trunken seinen Weg durch die engen Gassen. Er war in die Schenke »Zum Gescheckten« zurückgekehrt und hatte noch einen Humpen hinuntergestürzt, bevor das Grauen nachgelassen hatte. Aber seinen Mut hatte das Ale nicht wachsen lassen, und Pike bereute zutiefst, daß er sich nicht an Bruder Athelstans Rat gehalten hatte. Dann hatte er das Ende der Gasse erreicht und torkelte auf die Treppe der Kirche von St. Erconwald zu.

Hier blieb der Grabenbauer stehen: Die Tür war verschlossen, und er sah kein Licht. Er schaute hinüber zum Haus des Priesters, aber auch das lag in Dunkelheit gehüllt. Pike tippte sich an die Seite seiner rotgeschwollenen Nase. »Ich weiß, wo du bist«, brummte er.

Er taumelte rückwärts und spähte am Kirchturm hinauf. Vor dem schwarzblauen, sternenhellen Himmel sah er Flammenschein und eine dunkle Gestalt, die sich bewegte. »Du betrachtest deine verdammten Sterne!« murrte Pike.

Der Grabenbauer blinzelte müde und ließ sich auf die Stufen der Kirchentreppe fallen. »Ich wünschte, ich wäre bei dir«, grollte er. »Weit weg von all diesem Unfug.«

Er ließ das Gesicht in die Hände sinken und dachte verzweifelt über seine Lage nach. London war jetzt eine brodelnde Brutstätte der Unruhe geworden. Die Steuerlasten waren schwer, die Lebensmittel knapp, die Franzosen drangsalierten die Städte überall an der Küste mit Feuer und Schwert. Und schlimmer noch, draußen auf dem Lande verschworen sich die Bauernführer, die Vertreter dessen, was sie die Große Gemeinschaft des Reiches nannten, zu einer wilden Rebellion, die Kirche und Staat hinwegfegen sollte. Pike seufzte. Manchmal klang es ja aufregend, aber würde es auch geschehen? Und wenn es geschähe, würde der nächste Staat denn besser als dieser sein? Und was war mit Bruder Athelstan? Würde er sterben? Würde man ihn vor die Kirchentür hängen, wie es die Rebellenführer allen Pfaffen angekündigt hatten? Und wenn der Aufstand fehlschlug, was dann?

Pike rappelte sich schwankend wieder hoch. Bruder Athelstan hatte recht. Jeder Galgen in London würde dann unter der Last der verwesenden Kadaver ächzen. Von hier bis Dover würden sie baumeln, und der Regent würde keinen verschonen.

»Geht es dir gut, Pike?«

Der Grabenbauer fuhr herum. Watkin, der Mistsammler, kam herüberstolziert, gedrungen und fett wie eine Kröte; sein breites, rotes Gesicht leuchtete noch kräftiger vom Bier, das er getrunken hatte, und er schwenkte seinen Spaten wie ein Ritter sein Schwert.

»Guten Abend, Watkin.« Pike blinzelte und bemühte sich, mit fester Stimme zu sprechen.

Watkin war der Vorsitzende des Pfarrgemeinderates – eine Position, nach der Pike sich herzlich sehnte. Er konnte sie nicht erreichen, aber das lag nicht an Watkin, der ein geborener Dummkopf war, sondern an Watkins furchterregender Frau, deren Zunge einem Dreschflegel glich. Der Mistsammler blieb jetzt vor ihm stehen und stützte sich auf seinen Spaten.

»Du hast getrunken.«

»Dann wären wir ja schon zwei«, gab Pike zurück.

»Unsere Frauen werden jammern«, fügte Watkin verschlagen hinzu, »aber nicht ganz so laut, wenn wir ihnen sagen, wir waren in Gemeindeangelegenheiten unterwegs.«

Pike lächelte verschwörerisch; die beiden Männer schwankten zusammen durch die Gasse, und jeder dachte sich eine Geschichte aus, mit der er den Zorn seines Ehegespons würde besänftigen können. Auf halbem Wege schloß sich Bladdersniff, der Büttel, den beiden an; er war ebenso berauscht wie sie. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als ihren Durst in einer kleinen Ale-Schenke zu löschen, bevor sie ihre Wanderschaft fortsetzten. Als sie damit fertig waren, konnten alle drei kaum noch stehen; also hakten sie sich gegenseitig unter und stolperten zurück zur Kirche. In lautstarkem Geflüster vertrauten sie einander an, daß sie ja im Totenhaus schlafen und sich am nächsten Morgen dann neue Ausreden ausdenken könnten.

Als sie bei St. Erconwald ankamen, war Athelstan anscheinend von seinem Turm heruntergekommen. Die drei stahlen sich auf den Friedhof und tasteten sich zwischen den Grabhügeln und den verwitterten Kreuzen hindurch zum Beinhaus in der hinteren Ecke. Pike legte einen Finger an die Lippen und befahl den beiden andern, zu warten, während er am Türriegel herumfummelte.

»O Herr, beschütze uns!« flüsterte er dann. »Die Tür ist schon offen!«

Er wankte hinein, zog seinen Zunder hervor und zündete die dunkelgelbe Talgkerze an, die auf ihrem Messinghalter mitten auf dem Tisch stand. Kaum hatte er es getan, da hörte er ein Geräusch in der hinteren Ecke. Pike packte die Kerze, fuhr herum und starrte voller Entsetzen auf die dunkle Gestalt, die da auf dem Gemeindesarg hockte. Die Gestalt setzte sich in Bewegung und kam näher. Pike sah glitzernde Augen, gräßlich gebleckte Zähne und ein blaurotes Gesicht, umkränzt von schwarzem, stacheligem Haar.

»O Herr, bewahre uns!« schrie Pike. »Ein Dämon aus der Hölle!«

Er taumelte rückwärts gegen den Tisch. Der Dämon folgte ihm, schlug mit seiner Pranke zu und riß Pike die Wange auf, worauf der Grabenbauer die Kerze fallenließ und ohnmächtig zu Boden sank.

Am nächsten Morgen saß Henry Swynford, Ritter und Abgeordneter der Commons aus der königlichen Grafschaft von Shrewsbury im gegenwärtigen Parlament, in der Schenke »Zum Ungeheuer« beim Palast von Westminster, auf der Bettkante und starrte in die Finsternis. Wenige hätten den prunkvollen Ritter mit der silbernen Löwenmähne, dem arroganten Gesicht und dem großspurigen Auftreten hier wiedererkannt. Sir Henry war als Edelmann geboren und aufgewachsen. Er hatte mit dem Schwarzen Prinzen in Frankreich und Navarra gekämpft und galt in Shrewsbury als bedeutende Persönlichkeit: als Soldat und Kaufmann, als Mann von Welt, der in allen Dingen wohlbewandert war. Er hatte die Triumphe des Schwarzen Prinzen miterlebt und die goldenen Leoparden Englands über die spanische Grenze getragen. An all das erinnerte Sir Henry die Ratsherren immer wieder, wenn sie sich im Ratssaal von Shrewsbury versammelten, um die betrüblichen Probleme zu erörtern: die drängenden Steuerforderungen des Regenten und die im Namen des Königs ausgesprochene Einberufung des Parlaments nach Westminster. Sir Henry hatte geprahlt, er und seine Freunde würden nur dann Geld geben und sich mit neuen Steuern einverstanden erklären, wenn der Regent sich ihre Forderung nach radikalen Reformen anhörte.

»Wir brauchen eine neue Flotte«, hatte Sir Henry trompetet.

»Dann die Amtsenthebung gewisser Minister, Sparmaßnahmen beim Regenten und bei Hofe, und die jährliche Einberufung eines neuen Parlaments.«

Seine Rede war mit Beifallsgebrüll aufgenommen worden: Sir Henry und seine Freunde aus Shrewsbury und seiner ländlichen Umgebung hatten das Mandat erhalten. Rauschend waren sie in London eingezogen und hatten die besten Zimmer im »Ungeheuer« belegt (die einer ihrer Verwalter so billig angemietet hatte), und nun saßen sie allabendlich zusammen und heckten tuschelnd aus, wie die Sache weitergehen sollte. Aber jetzt hatte sich all das geändert. In der Kammer nebenan lag Sir Oliver Bouchon, ein anderer Abgeordneter. Sein Leichnam war, vom Wasser aufgequollen, aus der Themse gezogen worden wie ein toter Fisch, doch ohne ein Mal an seinem Körper. Alle sagten, es sei ein Unfall gewesen, aber Sir Henry wußte es besser. Sir Oliver war am Nachmittag zuvor zu ihm gekommen, gleich vor der St. Faith-Kapelle. Er hatte Sir Henry am Ärmel gezupft, ihn in eine überschattete Nische geführt und ihm die Kerze, die Pfeilspitze und den Pergamentfetzen mit dem einen Wort »Memento!« in die Hand gedrückt.

Zunächst hatte sich Sir Henry angesichts der Veränderung in Sir Olivers Benehmen verwundert, aber auch erschrocken gezeigt: Er war erregt und käsebleich gewesen und hatte seine zitternden Hände anscheinend kaum in der Gewalt gehabt.

»Was ist denn das?« hatte Sir Henry geflüstert. »Was soll das alles bedeuten? Eine Pfeilspitze, eine Kerze und das Wort ›Memento!‹?«

»Habt Ihr es denn vergessen?« hatte Bouchon gefaucht. »Seid Ihr so aufgebläht von Eurem Stolz, Sir Henry, und ist Eure Seele aus Eisen, daß die Geister der Vergangenheit nicht eindringen können in Euer Herz? Denkt doch nach, Mann!« Jetzt hatte er fast geschrien. »Denkt an Shropshire, vor Jahren, mitten in der Nacht: eine Kerze, eine Pfeilspitze und das Wort ›Memento!‹.«

Sir Henry hatte es eiskalt überlaufen. »Unmöglich!« hatte er geflüstert. »Das ist doch Jahre her! Wer sollte es verraten?«

»Jemand hat es getan«, hatte Bouchon erwidert. »Denn das hier habe ich in meiner Kammer gefunden, als ich heute am frühen Nachmittag zurückkam.«

Und dann hatte Sir Oliver alles wieder an sich gerafft und war davongeeilt, ehe Sir Henry ihn hatte aufhalten können. Zunächst hatte Sir Henry die ganze Sache beiseitegewischt, aber an diesem Morgen hatte eine grausige Gestalt, genannt der »Menschenfischer«, Bouchons aufgedunsene Leiche hergebracht. Es hieß, Sir Oliver sei wahrscheinlich durch einen Unfall zu Tode gekommen, und man hatte die Leiche in Sir Henrys Obhut zurückgelassen. Sir Henry hatte ein paar Leute dafür bezahlt, den Leichnam zu waschen und herzurichten. Morgen würde er einen Fuhrmann und eine Eskorte mieten, um Sir Oliver zu seiner Familie nach Shrewsbury zu bringen.

Sir Henry hielt sich für einen harten Mann; im Laufe der Jahre waren andere Waffengefährten auf den blutigen Schlachtfeldern von Frankreich und Nordspanien gefallen. Aber hier lag die Sache anders. Sir Henry warf einen Blick auf den Tisch und den Grund für seine Angst: Die Kerze, die Pfeilspitze und der Pergamentfetzen mit dem Wort »Memento!« waren nun auch ihm geschickt worden. Bei der Rückkehr vom Parlament hatte er sie vorgefunden, und weder der Wirt noch einer seiner Diener hatten ihm erklären können, wie sie hergekommen waren. Sir Henry dachte über die Vergangenheit nach und erinnerte sich an die Worte eines Predigers: »Unvergebene Sünden sind unsere Dämonen«, hatte der Priester erklärt. »Sie verfolgen uns auf leisen Sohlen und bleiben uns zäh auf den Fersen, und wenn wir es am wenigsten erwarten, lassen sie die Falle zuschnappen.«

War es das, was jetzt geschah? fragte sich Sir Henry. Sollte er die anderen warnen? Er nahm den Weinbecher vom Boden und leerte ihn. Zuerst würde er Sir Oliver seine Reverenz erweisen. Der Priester mußte seine Gebete inzwischen beendet haben. Sir Henry schnallte sich den Schwertgurt um, öffnete seine Tür und trat hinaus auf die Galerie. Die Tür zu Sir Olivers Zimmer stand halb offen, und der Kerzenschimmer schien ihn hereinzulocken. Sir Oliver lag in seinem Sarg, aber kein Priester war zu sehen. Sir Henry drehte sich um und sah eine dunkle Gestalt auf dem Bett liegen.

»Fauler Hund!« knurrte er.

Er trat an den Sarg und schaute hinein. Sein Herz setzte aus. Drei blutig rote Kreuze waren dem Toten ins Gesicht geschnitten worden, eins in die Stirn und eins in jede Wange.

»Die Male!« murmelte er. »Was denn …?«

Er schrak auf, doch zu spät. Die Schlinge des Meuchelmörders hatte sich um seinen Hals gelegt. Sir Henry bäumte sich auf, aber der Draht der Garotte spannte sich straff, und noch während er würgend und nach Luft schnappend starb, hörte Sir Henry die furchtbaren Worte:

»Tag der Rache Tag den Sünden, wird das Weltall sich entzünden. Welch ein Graus wird sein und Zagen …«

Im Sterben sah Sir Henry eine andere Szene vor sich: Zappelnde, gurgelnde Gehenkte an den ausgestreckten Ästen einer Ulme mit roten Kreuzen auf Stirn und Wangen, während dunkel vermummte Reiter diese Verse sangen.

Parlament der Toten

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