Читать книгу Parlament der Toten - Paul Doherty - Страница 6
1
ОглавлениеEs war Hinrichtungstag auf der weiten, kahlen Ebene von Smithfield. Sonst herrschte hier ein reges Treiben. Auf verschiedenen Märkten wurden Pferde, Rinder und Schafe verkauft; die Gegend um den Teich herum war dann voller Stände und Buden, an denen Leder, Fleisch und Milcherzeugnisse feilgeboten wurden. Die Menschen strömten immer in Scharen hierher, um Mißgeburten und dressierte Tiere zu begaffen, und Puppenspieler, Wahrsagerinnen und Bänkelsänger aus ganz London, die Quacksalber, Lebkuchenweiber und Höker mit ihren Spielzeugtrommeln und Bartholomäus-Puppen machten blühende Geschäfte. Männer und Frauen aller Schichten kamen nach Smithfield: Edelleute und Höflinge in Seide und Taft, Kaufleute in ihren Bibermützen und die Huren aus der Cock Lane mit ihren rotgefärbten Haaren. Kinder starrten mit wohligem Grausen in die glasigen Augen der abgetrennten Schweineköpfe, die sich auf den Ständen der Fleischer türmten. Ganz in der Nähe, in der Schenke »Hand und Schere«, war ein Standgericht damit beschäftigt, Taschendiebe, Fälscher und sonstige Betrüger abzuurteilen. Infolgedessen herrschte an den blutverschmierten Schandpfählen stets Hochbetrieb. Am Mittwoch aber war Hinrichtungstag. Dann beherrschte der große sechsarmige Galgen mit seinen baumelnden Schlingen den Marktplatz; die verurteilten Verbrecher wurden von Newgate heruntergeführt, vorbei an St. Sepulchre, und in der Schenke »Zum Schiff« durften sie noch einmal einkehren, um ein letztes Glas zu trinken, bevor sie schließlich von der Leiter gestoßen wurden.
Sir John Cranston, dem Coroner des Königs in der City of London, waren solche Anlässe immer ein Greuel gewesen, aber an diesem speziellen Mittwoch, am Fest der Heiligen Hilda, war es an ihm, als des Königs Zeuge zugegen zu sein, wenn der königlichen Gerechtigkeit Genüge getan wurde. Er saß auf seinem großen Schlachtroß mit der schwarzen Schabracke und trug die Amtskette um den Hals; sein breites, fettes Gesicht war zu einer feierlichen Maske erstarrt, und seine freundlichen blauen Augen blickten jetzt kalt und hart. Hin und wieder wieherte sein Pferd, wenn die Menge hinter ihm sich allzu dicht herandrängte, aber abgesehen vom gelegentlichen Kratzen des weißen Bartes oder Zwirbeln des Schnurrbarts bewegte Sir John sich kaum.
»Zu Hause sollte ich sitzen«, stöhnte er leise bei sich. »Im Garten mit Lady Maude. Oder den Kerlchen zuschauen, wie sie Gog und Magog herumhetzen.«
Sir John hatte vier große Leidenschaften: erstens seine Frau und seine Kinder; zweitens die Liebe zur Gerechtigkeit; drittens seine große Abhandlung über die Verwaltung der Stadt – und schließlich eine tiefe Zuneigung zu seinem Secretarius und Gehilfen bei der Aufklärung schrecklicher Mord- und Totschlagsfälle, Bruder Athelstan, dem Dominikanerbruder und Pfarrer von St. Erconwald in Southwark.
»Und dann deinen Rotwein«, erinnerte Sir John sich flüsternd.
»Nicht zu vergessen das Londoner Ale und den süßen Malvasier.«
Sir John wußte nie, in welcher Reihenfolge diese Passionen eigentlich aufgelistet gehörten. In Wirklichkeit war ihm alles zusammen lieb. Cranstons Vorstellung vom Himmel war eine geräumige Londoner Taverne voll süßduftender Kräuter und blühender Rosen, wo er, Athelstan, Lady Maude und die Kerlchen in alle Ewigkeit zusammensitzen, reden und trinken konnten.
»Zu Hause sollte ich sitzen«, knurrte er noch einmal.
»Was habt Ihr gesagt, Mylord Coroner?«
Cranston drehte sich um und schaute Osbert an, seinen Gerichtsschreiber, dessen braunes Gesicht sorgenvoll verzogen war. Die kleinen dunklen Augen waren in der Morgensonne zusammengekniffen.
»Gar nichts«, brummte Cranston. »Ich wünschte bloß, die Halunken wollten sich beeilen und von Newgate heraufkommen.« Und wie zur Antwort erhob die Menge am anderen Ende von Smithfield ein mächtiges Gebrüll und teilte sich, um den grellbunt bemalten Todeskarren durchzulassen. Auf dem Bock saß der Henker mit seinem Gehilfen; beide waren von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet. Die Pferde, die sie führten, hatten gestutzte Mähnen, und zwischen ihren Ohren wippten purpurn gefärbte Federn. Auf dem Karren standen drei brüllende und gestikulierende Männer in weißen Hemden. Zu beiden Seiten marschierten Kolonnen von Soldaten aus der Garnison im Tower mit geschulterten Hellebarden. Hinter dem Karren liefen zwei Dudelsackpfeifer und spielten eine ausgelassene Weise.
Warum der ganze Mummenschanz? fragte sich Cranston. In seiner Abhandlung über die Verwaltung der Stadt würde er dem jungen König empfehlen, solche Schauspiele abzuschaffen und die Hinrichtungen auf den Gefängnishof von Newgate zu beschränken. Cranston richtete sich in seinen Steigbügeln auf und spähte über die Köpfe der Menge hinweg, die gegen die von Stadtbütteln und Bezirksdienern bewachten Holzbarrikaden drängte.
»Taschendiebe und Beutelschneider werden alle Hände voll zu tun haben, Osbert«, bemerkte er. »Sie lieben solche Menschenmengen.« Sir John schaute funkelnd in die Runde, als könnten seine vorquellenden Augen jeden der zahllosen Gauner, die hier geschäftig Börsen und Beutel aufschlitzten, ausfindig machen und bedrohlich anstarren.
Der Henkerskarren kam näher, und schließlich rumpelte er auf die freie Fläche vor dem Schafott. Die drei Gefangenen mit ihren schmutzigen, unrasierten Gesichtern wurden heruntergezogen. Ihre Hände waren gefesselt. Der Franziskaner, der ebenfalls auf dem Karren gestanden hatte, ließ sich herunter, ohne mit seinen Sterbegebeten innezuhalten; die drei Schurken allerdings, nach ihren Gesichtern zu urteilen, kümmerte das einen Dreck.
»Wir wollen es kurz machen!« blaffte Cranston und hob die Hand.
Die Herolde zu beiden Seiten hoben ihre Trompeten, aber ihre Mundstücke waren voller Spucke, und es kam nur ein Quieken heraus.
»Ach, um Himmels willen!« bellte Cranston, als ein Chor von Gelächter ihre Bemühungen quittierte.
Die Herolde entschuldigten sich murmelnd und hoben ihre Trompeten noch einmal. Diesmal brachte ein schriller Fanfarenstoß die lärmende Menge zum Verstummen. Cranston trieb sein Pferd voran und machte vor den drei Verurteilten halt.
»Ihr sollt gehängt werden!« erklärte er und nickte Osbert zu, damit dieser das Pergament entrollte.
»Ihr, William Laxton«, verkündete der Schreiber mit lauter Stimme, »Andrew Judd und William the Skinner wurdet durch die Richter seiner Gnaden der Entführung und Vergewaltigung für schuldig befunden, außerdem Falkeneier und Rinder gestohlen, Rehe gewildert, einen Teich abgelassen und Unzucht mit Knaben getrieben zu haben, für schuldig des weiteren der Hinterziehung königlicher Steuern, der Falschmünzerei, der Beutelschneiderei, der Wegelagerei auf des Königs Landstraßen, der Leichenfledderei, der Hexerei, Zauberei und Teufelsdienerei. Für diese und diverse andere Verbrechen wurdet ihr verurteilt, an diese gesetzliche Stätte der Hinrichtung gebracht zu werden. Habt ihr noch etwas zu sagen, bevor das Urteil vollstreckt wird?«
»Ja! Verpiß dich!« schrie einer der Verurteilten.
Cranston nickte dem Henker zu, aber der Bursche stand nur da. Seine Augen glitzerten durch die Löcher in seiner Maske.
»Was ist los, Kerl?« blaffte Cranston.
»Sie haben kein Hab und Gut«, antwortete der Henker. »Nach dem Gesetz der Stadt«, fuhr er tönend fort, »gehören Hab und Gut sowie die Kleider der Verurteilten dem Henker – aber die haben einen Dreck!«
»Das würde ich mir nicht gefallen lassen!« schrie einer der Verbrecher. »Wenn du nicht gescheit bezahlt wirst, laß uns doch alle nach Hause gehen.«
Cranston schloß die Augen. Hinter sich hörte er das Murren der Menge, die spürte, daß hier etwas nicht in Ordnung war. Er schaute zum Offizier der Wache hinüber, aber der zuckte nur die Achseln, räusperte sich geräuschvoll und spuckte aus.
Cranston wühlte in seiner Börse und warf, ohne auf das Gejohle der Verurteilten zu achten, dem Henker eine Münze zu. Dieser fing sie geschickt mit seinem schwarzen Handschuh auf.
»Dann wäre da noch mein Gehilfe.«
Noch eine Münze verließ Cranstons Börse.
»Und die Sackpfeifer.«
Wieder warf Cranston eine Münze.
»Was ist mit Heu und Stroh für die Pferde?«
Cranstons Hand senkte sich auf den Griff seines Schwerts.
»Jetzt werdet nicht gleich wütend!« rief der Henker.
Sir John beugte sich von seinem Pferd herunter. »Bei den Zitzen des Satans, Mann! Entweder hängst du die Kerle jetzt auf, oder ich mach’s für dich! Dann hänge ich dich und deinen Gehilfen daneben, und für die verdammten Sackpfeifer ist immer noch Platz.«
Der Henker warf nur einen Blick auf Sir Johns rotes Gesicht mit dem gesträubten Bart. »Herr, verschone uns!« murmelte er. »Ihr könnt es einem nicht verdenken, daß er es versucht. Ich habe Weib und Kinder zu ernähren. Na gut, kommt schon, Jungs!«
Unterstützt von den Soldaten, legten der Henker und seine Gehilfen den Übeltätern die Schlingen um den Hals und schoben sie die Leiter hinauf. Sir John hob die Hand. Hinter ihm fingen vier Jungen an, einen Trommelwirbel zu schlagen.
»Gott erbarme sich eurer!« rief Cranston.
Er schloß die Augen und ließ die Hand herabfahren, die Leitern kippten um, und die drei Gauner kreiselten strampelnd in der Luft. Die Menge wurde still, und Cranston zog, ohne die Augen zu öffnen, den Kopf seines Pferdes herum und brummte Osbert zu, er solle nur allein nach Hause gehen.
Sir John hatte das Treiben hinter sich gelassen und war schon fast in Aldersgate, als er hörte, wie jemand seinen Namen rief. Er zügelte sein Pferd. »Was wollt Ihr?« fragte er.
Ein junger Ritter in einem Kettenpanzer trieb sein Pferd heran und zog den Handschuh aus; er hatte sich die Panzerhaube über den Kopf gezogen, und sein Körper war vom königlichen Wappengold in Rot, Blau und Gold bedeckt.
»Cranston, der Coroner?«
»Nein, ich bin der Erzengel Gabriel«, antwortete Sir John.
Der junge Mann lächelte, und die Fältchen an seinen Augen verliehen den harten Zügen ein jungenhaftes Aussehen.
»Entschuldigt«, grollte Cranston und ergriff die ausgestreckte Hand des Mannes. »Aber die Hinrichtungstage sind mir ein Graus.«
»Niemandem gefällt das Sterben, Sir John.«
»Und wie ist Euer Name?«
»Sir Miles Coverdale. Hauptmann der Garde John von Gaunts, Seiner Gnaden des Regenten.«
»Lord John von Gaunt, der Herzog von Lancaster, Ritter des Hosenbandordens, des Königs geliebter Onkel.« Grinsend rezitierte Cranston die lange Liste von Titeln. »Und was wollt Ihr von mir, Coverdale?«
»Ich will nichts von Euch, Sir John. Ich habe schon genug Probleme in Westminster.« Coverdale schob die Kettenhaube zurück und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht.
Sir John sah, daß der sauber gestutzte Bart des Mannes eine tiefe Narbe gleich unter der Unterlippe verdeckte.
»Seine Gnaden, der Regent, schickt mich«, fuhr Coverdale fort.
»Er ist in Eurem Haus in der Cheapside.«
Cranston schloß die Augen und stöhnte. »Da hätte er Euch nicht zu schicken brauchen«, knurrte er. »Denn dort will ich jetzt hin.«
»Eure Gemahlin, Lady Maude, dachte anders darüber«, antwortete Coverdale, ohne eine Miene zu verziehen. »Sie hat von möglichen Dienstgeschäften im ›Heiligen Lamm Gottes‹ gesprochen.«
Cranston zog sein Pferd herum, ließ die Zügel locker und setzte seinen Weg fort; insgeheim staunte er über Lady Maudes gottgegebene Fähigkeit, seine Gedanken zu lesen.
Durch Abfälle und Innereien aus den Fleischerläden ritten sie die St. Martin’s Lane hinunter und bogen dann nach links in die Cheapside ein. Auf dem Markt dort herrschte reges Leben, aber der Platz vor Sir Johns Haus wirkte merkwürdig verlassen. Seine Haustür war von vierschrötigen Feldwebeln im Wappenrock des Königs und Bogenschützen in Sir John von Gaunts Livree abgesperrt. Die Menge wogte an ihnen vorüber, und Sir John sah ihre finsteren Blicke und hörte die gemurmelten Flüche.
»Der Regent.« Er beugte sich hinüber. »Euer Herr ist nicht beliebt.«
»Das ist niemand, der herrschen muß, Sir John.«
Cranston verzog das Gesicht und stieg ab; dabei schweiften seine Augen über die Menge. »Leif!« brüllte er dann. »Leif, du nichtsnutziger Hund, wo steckst du?«
Ein paar Umstehende schauten überrascht herüber, machten dann aber hastig Platz für den dürren, rothaarigen, einbeinigen Bettler, der behende wie ein Laubfrosch herbeigehüpft kam.
»Sir John, Gott segne Euch, ist es schon Zeit zum Essen?«
Der Bettler stützte sich auf seine Krücke und glotzte um Sir John herum auf Sir Miles. »Ihr habt Besuch, Sir John?«
»Kümmere dich um die Pferde«, befahl Cranston. »Und wenn meine Gäste gehen, bringst du meins hinüber zum ›Heiligen Lamm Gottes‹.«
Leif hoppelte aufgeregt auf und ab: Wenn Sir John Besuch hatte, bedeutete das nicht nur Klatschgeschichten, an denen Leif sich ergötzen konnte, sondern vielleicht auch noch eine von Lady Maudes schmackhaften Pasteten und einen Becher vom besten Rotwein des Coroner. Sir Johns Stirn war von düsteren Ahnungen zerfurcht, als er Sir Miles jetzt durch den Kordon der Soldaten ins Haus führte. Die Mägde kauerten in der Küche; sie fürchteten sich vor den halbgepanzerten Männern, die sich in Türen und Korridoren drängten. An denen schob Sir John sich vorbei, marschierte die Treppe zur Galerie hinauf und warf mit dröhnendem Krachen die Tür zum Söller auf. Lady Maude saß am anderen Ende unter einem Baldachin vor dem Kamin. Cranstons Zwillinge, kahlköpfig, blauäugig und einander so ähnlich wie ein Ei dem anderen, klammerten sich an ihr grünes Taftkleid und starrten gebannt den prachtvoll gewandeten Fremden an, der es wagte, lässig zurückgelehnt im Sessel ihres geliebten Vaters zu sitzen. Der Fremde erhob sich, als Cranston hereinkam, und strich sich die maulbeerfarbene, gegürtete Tunika glatt, die bis auf die hohen Reitstiefel aus spanischem Leder hinabreichte. Um den Hals trug er einen prunkvollen, dicht mit Juwelen besetzten Kragen, der von einer goldenen Brosche mit dem Doppel-S des Hauses Lancaster zusammengehalten wurde. Cranston nahm sich zusammen und verbeugte sich. »Mylord, Ihr seid höchst willkommen in unserem Haus.«
Das sonnengebräunte Gesicht seines Gastes verzog sich zu einem Lächeln; müde streckte er die von Edelsteinen besetzten Finger aus, damit der Coroner sie ergreifen konnte.
»Cranston, es freut mich, Euch zu sehen.«
Sir John schaute ihm in die hellgrünen Augen: John von Gaunt, der Herzog von Lancaster. Im stillen bewunderte er den hübschesten Sohn Edwards III. Mit seinem hellblonden Haar, dem sauber getrimmten Bart und den Augen, die niemals ruhten und den überschwenglichen Stolz des Mannes verrieten, erinnerte er Cranston an einen silbernen Kater.
Gaunt ließ seine Hand los. »Wenn ich Euch sehe, Sir John, muß ich immer an meinen liebsten Bruder, den Schwarzen Prinzen, denken.« Gaunt lächelte. »Er hat stets große Stücke auf Euch gehalten.«
»Euer Bruder, der Herr lasse ihn ruhen in Frieden, war ein mächtiger Fürst und ein edler Soldat«, antwortete Cranston.
»Jeden Tag, Euer Gnaden, gedenke ich seiner in meinen Gebeten, und ich bedaure zutiefst, daß er seinen eigenen Sohn nicht als gekrönten König gesehen hat.«
»Mein lieber Neffe sendet ebenfalls seine Grüße«, sagte Gaunt spöttisch. »Er spricht viel von Euch, Sir John. Von Euch und diesem Secretarius, den Ihr da habt – Bruder Athelstan.«
Lady Maude hatte sich hinter ihm erhoben; Sorgenfalten durchzogen ihr hübsches kleines Gesicht. Mit ihren Blicken und einem leisen Kopfschütteln warnte sie Sir John davor, sich mit diesem mächtigsten aller Männer anzulegen.
»Möchtet Ihr Wein, Sir John?« rief sie.
»Aye, ein Glas Rheinwein, aber kalten«, antwortete Cranston und zwinkerte ihr kurz zu. Dann sank er auf die Knie und streckte die Arme aus. »Und ein bißchen Marzipan für meine Knaben!«
Die beiden »Kerlchen« ließen die Röcke ihrer Mutter fahren und kamen auf wackligen Beinchen angetapst; sie prallten gegeneinander und hätten beinahe auch den Regenten beiseite gestoßen, bevor sie sich ihrem Vater in die Arme warfen. Cranston küßte die heißen, klebrigen Gesichter.
»Prächtige Söhne.« Gaunt lächelte auf ihn herab.
»Geht spielen«, sagte Cranston leise.
»Hund will nicht spielen«, stammelte Stephen und zeigte zum anderen Ende des Söllers, wo die beiden Wolfshunde Cranstons, Gog und Magog, unter dem Tisch lauerten. Cranston grinste. Die Hunde fürchteten sich vor niemandem außer Lady Maude. An ihren betretenen Mienen sah er, daß die beiden ihre scharfe Zunge zu spüren bekommen hatten; offenbar hatte sie ihnen eingeschärft, sich zu benehmen, solange Gäste im Haus waren. Die Jungen folgten ihrer Mutter hinaus. Cranston nahm in seinem eigenen Sessel Platz und bedeutete Gaunt, sich auf dem der Lady Maude niederzulassen. Blaskett, Sir Johns Majordomus, servierte ihnen den Wein auf einem Tablett; er beobachtete seinen Herrn aufmerksam mit großen, traurigen Augen. Draußen im Korridor begann eins der Kerlchen zu heulen. Blaskett verdrehte die Augen zum Himmel, stellte die Weinbecher auf einen kleinen Tisch zwischen Cranston und Gaunt und zog sich schweigend zurück. Cranston nahm seinen Becher, hob ihn dem Regenten entgegen und schlürfte dann geräuschvoll.
»Ich bin ein vielbeschäftigter Mann, Cranston.«
»Dann, Mylord, haben wir etwas gemeinsam.«
»Und mit welchen großen Verbrechen habt Ihr es im Augenblick zu tun?« fragte Gaunt spöttisch.
Cranston hätte ihm eine Aufzählung geben können, die eine Meile lang war. Die Fälscherbande, die er verfolgte, die Zuhälter und Hochstapler, die abgefallenen Priester, die sich als Magier versuchten … Noch immer, dachte Cranston, begleiten mich die Schurken auf allen Wegen.
»Katzen«, antwortete er rundheraus und sah vergnügt, daß Gaunt sich beinahe an seinem Wein verschluckte.
»Mylord Coroner, Ihr scherzt wohl?«
»Mylord Regent, ich scherze durchaus nicht. Jemand stiehlt Katzen auf der Cheapside.«
»Und das sollte den Coroner der Stadt beschäftigen?«
»Mylord, seid Ihr jemals Fleabane begegnet?« fragte Cranston.
»Er ist ein Betrüger, ein ganz verschlagener. Wenn etwas nicht festgewachsen ist, wird Fleabane es stehlen. Wenn er es nicht von der Stelle bringen kann, wird Fleabane versuchen, es zu verkaufen. Hin und wieder erwische ich ihn. Dann wird er bestraft, aber immer wieder kehrt er zu seinem alten Leben zurück, und meine Faust in seinem Nacken betrachtet er inzwischen als Teil des vielfältigen Musters im Teppich des Lebens. Mit anderen Worten, Mylord Regent: Die Verbrecher von London wird es geben, solange es die Stadt gibt. Freilich gibt es Verbrechen, bei denen wirklich Unschuldige zu Schaden kommen, und der Diebstahl der Katzen ist eines davon. Einer alten Frau in der Lawrence Lane wurden sechs Stück gestohlen – ihre einzigen Gefährten. Bei einem Kaufmann in der Wood Street waren es zwei. Nun hat die alte Frau in der Lawrence Lane gewissermaßen ihre Familie verloren, der Kaufmann in der Wood Street womöglich seinen Broterwerb. Denn, seht Ihr, er kauft Früchte und Getreide von den Bauernhöfen auf dem Lande und lagert sie in seinem Speicher. Wenn da keine Katze ist, gedeihen die Mäuse und Ratten, verbreiten ansteckende Krankheiten und verderben gute Ware.«
Gaunt stellte fasziniert seinen Becher auf den Tisch. »Und Ihr wißt nicht, wer die Katzen stiehlt?«
»Nein. Ich weiß weder, wie sie gestohlen werden, noch, von wem, und auch nicht, wohin sie kommen. Aber der Menschenfischer hat mindestens vier oder fünf tote Katzen aus dem Fluß gezogen« – Cranston trank schlürfend aus seinem Becher –, »und das ist ein gewisser Trost. Denn anfangs dachte ich, sie würden um ihres Fells willen geschlachtet oder einem Metzger sei das Fleisch knapp geworden.« Er sah, daß der Regent blaß wurde. »Aye, Mylord. Es ist durchaus bekannt, daß Köche, ob sie nun im königlichen Palast oder in einer Schenke in der Cheapside arbeiten, Katzenpastete servieren, gut gedünstet und mit Kräutern garniert.«
»Ja, ja, durchaus.« Der Regent hob seinen Becher, überlegte es sich dann aber anders. »Sir John«, begann er, »Ihr werdet das alles liegenlassen müssen. Ihr habt von dem Parlament gehört, das mein Neffe, der König, in Westminster einberufen hat?«
»Ja. Ihr braucht mehr Steuern, und die Commons wollen Reformen.«
»Mylord Coroner, Eure Unverblümtheit ist erfrischend. Aber es stimmt. Die Commons mögen mich nicht. Sie stellen ungerechte Vergleiche zwischen mir und meinem Bruder an, Gott schenke ihm die ewige Ruhe. Der Krieg in Frankreich läuft nicht gut. Unsere Küstenstädte werden von französischen Piraten attackiert. Die Ernte war schlecht, und der Brotpreis beträgt das Dreifache von dem, was man im vorigen Jahr bezahlen mußte. Ich tue ja, was ich kann. Ein Getreidekahn nach dem andern kommt die Themse herauf, und der Bürgermeister und der Rat der Stadt haben strenge Verordnungen zur Festlegung des Brotpreises erlassen.«
Cranston schaute zu Boden. Er kannte diese Verordnungen; sie wurden öfter gebrochen als eingehalten. Aber er hielt lieber den Mund.
Der Regent beugte sich vor. »Gerade ging alles gut«, fuhr er fort.
»Die Abgeordneten der Commons haben sich im Kapitelhaus der Westminster Abbey versammelt. Ihr Sprecher, Sir Peter de la Mare, ist ein guter Mann.« Gaunt machte eine Pause.
Mit anderen Worten, du hast ihn bestochen, dachte Cranston, hielt aber weiter den Mund. Der Regent fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.
»Einige Abgeordnete sind freundlich, andere, vor allem die aus Shrewsbury und Stafford, erweisen sich als unzugänglich. Sie sind eine eng gefügte Gruppe: Sir Henry Swinford, Sir Oliver Bouchon, Sir Edmund Malmesbury, Sir Thomas Elontius, Sir Humphrey Aylebore, Sir Maurice Goldingham und Sir Francis Harnett …«
»Und?« warf Cranston ein.
»Diese Ritter wohnen in einer Herberge, die ›Zum Ungeheuer‹ heißt. Am Montag abend verließ Sir Oliver unvermittelt seine Gefährten, und am nächsten Morgen trieb sein Leichnam mit dem Gesicht nach unten bei Tothill Fields im Wasser. Er wies keinerlei Spur von Gewalt auf. Wir wissen nicht, ob er ins Wasser gestoßen wurde oder einem Unfall zum Opfer fiel. Jedenfalls wurde die Leiche herausgefischt und in die Herberge geschafft; dort wollten die anderen Ritter dann ein Fuhrwerk mieten und ihn nach Shrewsbury bringen lassen. Ein Priester wurde beauftragt, die nötigen Gebete bei der Totenwache zu sprechen. Er traf gestern abend spät im Gasthof ein und bezog anscheinend gleich seinen Posten in der Kammer des Verstorbenen. Später kam eine Dienstmagd an der Kammer vorbei und sah, daß die Tür offenstand; sie ging hinein. Von dem Priester war nichts zu sehen. Sir Oliver lag noch immer in Leichentücher gehüllt in seinem Sarg, aber auf dem Boden daneben lag Sir Henry Swynford mit einer Garotte um den Hals.«
Gaunt schwieg. Er streckte die Hand aus und spielte mit einem Ring aus Silberfiligran. »Vielleicht handelt es sich bei beiden Todesfällen um Mord«, fuhr er fort. Er hob den Kopf. »Beide Männer erhielten eine Warnung, bevor sie starben: eine Kerze, eine Pfeilspitze und ein Stück Pergament mit dem Wort ›Memento!‹.« Gaunt räusperte sich. »Und die beiden Leichen waren geringfügig verstümmelt worden. Man hatte ihnen Kreuze in Stirn und Wangen geritzt.«
»Und niemand weiß, was das alles zu bedeuten hat?« fragte Cranston.
»Nein. Oh, es gibt die üblichen Geschichten; beide Ritter waren beliebt und bewundert. Männer von Ansehen in ihrer Gemeinde.« Gaunt lächelte spöttisch. »Die Wahrheit ist, daß sie alle beide eingefleischte Halunken waren. Sie haben in den Kriegen in Frankreich gedient, wo sie reiche Beute zusammenplünderten, und als sie zurückkamen, bauten sie sich davon ihre Herrenhäuser und schmückten die Gemeindekirche aus. Angeblich hatten sie überhaupt keine Feinde«, fügte er erbittert hinzu, »was aber die größte Lüge von allen ist, wenn man sich nur die Mühe macht, mit ihren Pächtern zu reden.«
Gaunt stellte den Becher hin und erhob sich. »Nun ist es mir gleichgültig, Cranston, ob sie tot oder lebendig sind, im Himmel oder in der Hölle. Nicht gleichgültig ist mir hingegen, daß hinter vorgehaltener Hand tuschelnd behauptet wird, die beiden Männer seien ermordet worden, weil sie sich dem Regenten entgegengestellt hätten: als Strafe für sie und als Warnung für den Rest.« Er beugte sich zu Sir John hinüber und packte dessen Armlehnen, so daß sein Gesicht nur eine Handbreit von Cranstons entfernt war: »Also, Mylord Coroner, begebt Euch jetzt nach Westminster. Nehmt Euren Secretarius Bruder Athelstan mit. Entlarvt den Mörder, macht dem Treiben ein Ende, und wenn Ihr damit fertig seid, könntet Ihr in die Cheapside zurückkehren und herausfinden, wer hier die Katzen stiehlt.«
»Sonst noch etwas, Mylord?« Cranston schaute dem Regenten in die Augen und nippte gelassen aus seinem Becher.
»Jawohl.« Gaunt richtete sich auf und schob die Daumen hinter den Schwertgurt. »Sir Miles Coverdale, Hauptmann meiner Garde, ist verantwortlich für den Königsfrieden im Palast von Westminster. Er wird Euch zur Seite stehen.« Gaunt tat einen Schritt zurück und machte andeutungsweise eine spöttische Verbeugung. »Meinen Dank an Eure gute Lady.« Er ging zur Tür.
»Mylord Regent.« Cranston machte sich nicht die Mühe, sich im Sessel umzudrehen.
»Ja, Mylord Coroner?«
»Ich dachte gerade an Katzen, Mylord. Habt Ihr welche?«
Gaunt zuckte die Achseln. »Was soll die Frage?«
»Nichts weiter«, antwortete Cranston über die Schulter hinweg.
»Unser König ist noch jung, sein Vater ist tot. Ich dachte an das Sprichwort: ›Wenn die Katze aus dem Haus ist, tanzen die Mäuse‹.« Sir John nahm einen Schluck und lächelte, als er hörte, wie die Tür zugeschlagen wurde.
In der Pfarrkirche von St. Erconwald in Southwark saß Bruder Athelstan beim Taufbrunnen gleich hinter dem Eingangsportal und hielt, sehr gegen seinen Willen, eine volle Gemeinderatssitzung ab. Wie gewöhnlich hatte er auf seinem hochlehnigen Chorstuhl Platz genommen, den man eigens für diesen Anlaß heruntergebracht hatte. Ihm gegenüber saßen die Mitglieder seines Gemeinderates im Halbkreis und warteten auf sein Urteil. Hingestreckt auf dem Holzdeckel des Taufbrunnens lagerte der große, zerzauste Kater Bonaventura, den Athelstan insgeheim als sein einziges wirklich treues Gemeindekind betrachtete. Hin und wieder öffnete sich das eine gesunde Auge des Katers; bernsteinfarben glühte es auf und starrte Ranulf, den Rattenfänger, an, als wüßte Bonaventura, daß es Ranulfs heimliche Sehnsucht war, ihn zu kaufen. Bonaventuras Fähigkeiten als Mäuse- und Rattenfänger waren schließlich in der ganzen Pfarrgemeinde wohlbekannt. Heute jedoch, wo Athelstan die Gemeindebücher führen und Bonaventura jagen sollte, mußte diese Sondersitzung stattfinden: Watkin, Pike und der Büttel Bladdersniff waren an diesem Morgen in der Messe zur Kommunion gegangen und hatten dann feierlich geschworen, im Beinhaus einen Dämon gesehen zu haben.
»Er war schwarz«, trompetete Watkin so laut, daß sogar die Haare in seinen großen, aufgeblähten Nasenlöchern sich vor Empörung zu sträuben schienen. »Und riesig, mit leuchtenden Augen und einem scheußlichen Gesicht, blau und rot um den Mund – und bewegt hat er sich wie der Blitz!«
»Ihr wart betrunken«, erwiderte Mugwort, der Glöckner. »Pemel, die Flämin, hat euch drei gesehen: Von euren sechs Beinen hat keins mehr getaugt.«
»Von den neunen wohl eher«, verbesserte Crispin, der Schreiner, aber niemand schien diese unanständige Bemerkung zu verstehen.
»Betrunken oder nicht«, kreischte Pike; er legte den Kopf auf die Seite und deutete auf die dicken roten Striemen auf seiner Wange. »Wer hat das denn gemacht, he?«
Athelstan schob die Hände in die Ärmel seiner Kutte und wiegte sich sanft vor und zurück. Verstohlen warf er einen Blick auf Benedicta; er rechnete damit, daß ihre Augen vor Heiterkeit funkeln und ihre lieblichen Lippen ein Lächeln nur mit Mühe unterdrücken würden, aber die Witwe machte ein besorgtes Gesicht.
»Was meinst du dazu, Benedicta?« fragte Athelstan, bevor Watkins angriffslustige Frau einschreiten und sich für ihren Mann in die Bresche stürzen konnte.
»Ich glaube, daß sie da etwas gesehen haben, Pater.« Benedicta spielte mit der Troddel an dem Gürtel, der ihre schmale Taille umgab. »Ich habe Pikes Wunde verbunden; es waren die Spuren wilder Klauen. Ein Stückchen höher«, fügte sie hinzu, »und er hätte ein Auge verloren.«
»Ihr erzählt uns doch immer«, meldete sich der Kesselflicker Tab zu Wort, »Ihr erzählt uns doch immer, Pater, wie der Satan umherschweift und sieht, wen er verschlingen könnte.«
»Ja, Tab, aber das meinte ich im geistigen Sinne, und ich sprach von jener unsichtbaren Welt, von der wir nur ein Teil sind.«
»Aber das stimmt nicht«, wandte Watkins Weib ein. »Merry Legs in der Pfarrei St. Olave behauptet, ein Teufel sei dort um den Glockenturm getanzt wie ich um den Maibaum.«
»Und ich habe Kobolde in der Ecke wispern hören«, warf Pemel, die Flämin, ein. »Klein, Pater – nicht größer als Eure Finger. Ich habe gehört, wie sie im Holzwerk krabbelten.«
Athelstan schloß die Augen und betete um Geduld.
»Wie sah der Dämon denn aus?« fragte Huddle, der Maler, und deutete auf die hintere Wand der Kirche, wo er gerade dabei war, in Holzkohle eine wunderbare Vision von Christi Abstieg in die Hölle zu skizzieren.
»Laßt es gut sein«, unterbrach Athelstan rasch und warf einen kurzen Blick zu Simplicitas hinüber, einer jungen Frau aus der Stinking Alley, die ihm nach der Messe zugeflüstert hatte, sie wolle mit ihm über ihren verschwundenen Mann reden. »Wir haben noch andere Dinge zu besprechen.«
»Aber das hier ist wichtig.« Bladdersniff richtete sich auf seinem Schemel auf, rümpfte die feuerrote Nase und blinzelte mit den biertrüben Augen. »Wenn Ihr uns nicht glaubt, Pater, dann laßt uns doch ins Beinhaus gehen. Schauen wir selbst nach.«
Seine Kameraden schienen darüber nicht ganz so begeistert zu sein, aber Athelstan sah darin eine Möglichkeit, sie alle zufriedenzustellen.
»Kommt.« Er stand auf.
»Pater, ich fürchte mich«, jammerte Pemel.
»Keine Sorge.« Athelstan befingerte das hölzerne Kruzifix, das er am Hals trug. Er scheuchte Bonaventura vom Taufbrunnen, schloß den Deckel auf, klappte ihn hoch und schöpfte mit dem kleinen Emailschälchen, das Mugwort ihm reichte, ein bißchen Weihwasser heraus.
»Wenn ein Teufel im Totenhaus ist«, verkündete er, »dann werden Kreuz und Weihwasser ihn schon in die Flucht jagen.« Angeführt von ihrem Pfarrer, an dessen Seite Bonaventura feierlich einherstolzierte, verließen die Gemeinderatsmitglieder die Kirche. Sie überquerten den Friedhof und folgten dem ausgetretenen Pfad um Grabsteine und Kreuze herum zu dem großen, schwarz gestrichenen Schuppen in der hinteren Ecke. Die Tür stand immer noch offen – ein deutliches Zeichen für die überstürzte Flucht der Männer in der vergangenen Nacht. Athelstan drehte sich um und zwinkerte Benedicta zu.
»Jetzt bleibt hier. Ihr alle.«
Mit dem Kruzifix in der einen und der Weihwasserschale in der anderen Hand, legte Athelstan das letzte Stück zurück und blieb vor dem Totenhaus stehen. Er betrachtete den Boden, der aufgewühlt war, wo Pike und seine beiden Kameraden sich gebalgt hatten, weil jeder zuerst hinaus wollte.
Ich habe sie nie gefragt, was sie da eigentlich wollten, dachte er. Wahrscheinlich waren sie betrunken; ich hoffe bloß, sie hatten nicht Cecily, die Kurtisane, bei sich. Die einzigen, die auf diesem Friedhof liegen sollten, sind die Toten. Athelstan betrat das Beinhaus und roch sofort den fauligen, stechenden Geruch.
»Um Gottes willen, Mann!« flüsterte er bei sich. Er stellte den Weihwasserbecher auf den langen, fleckigen Tisch und schaute sich um. Der Geruch legte sich ihm auf die Kehle und ließ ihn husten. Athelstan nahm ein wenig Zunder aus der Tasche und bemühte sich, das Zittern seiner Hände zu unterdrücken. Er zündete die Talgkerze an und hielt sie hoch, so daß der dunkle, höhlenartige Raum sich mit tanzenden Schatten füllte.
»Erhebe dich, o Herr«, flüsterte er, »und errette mich vor meinen Feinden.«
Vorsichtig ging er im Leichenhaus umher. Er hielt diesen Ort immer sauber, schrubbte den Tisch und fegte jede Woche den Boden. Hoch oben in der Wand war ein kleines Fenster, und wenn ein Leichnam im Raum lag, verbrannte er stets Weihrauch, wie noch vor zwei Tagen, als die Näherin Mathilda hier gelegen und auf ihr Begräbnis gewartet hatte. Woher also kam dieser gräßliche Gestank? Athelstan stellte die Kerze hin, nahm die Weihwasserschale und segnete das Haus. »Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes« – doch noch während er diese Worte sprach, schwirrten ihm allerlei Überlegungen durch den Kopf. Er erinnerte sich an einen kürzlich empfangenen Brief vom Generaloberen seines Ordens, in dem von Anzeichen für dämonische Aktivitäten die Rede gewesen war: von Gewalt und unerklärlichen Phänomenen.
»Aye«, flüsterte Athelstan bei sich, »und von einem scheußlichen Gestank, der das Hirn gerinnen läßt und die Seele in Angst und Schrecken versetzt. Unfug!« fügte er hinzu.
»Pater?« Athelstan fuhr herum. Benedicta stand in der Tür. Die Witwe trat ein, hielt sich dann Mund und Nase zu und wich jäh wieder zurück. Athelstan folgte ihr.
»Benedicta, was ist denn?«
Die Witwe war bleich. »Letzte Nacht, Pater … ich wollte nicht davon sprechen, aber ich war kurz nach Einbruch der Dunkelheit in meinem Garten und sah unter dem Apfelbaum eine dunkle, abscheuliche Gestalt.«
Athelstan sah Benedictas angsterfüllten Blick. »Aber Weib, du glaubst doch gewiß nicht an all das?«
»Athelstan!«
Der Ordensbruder fuhr herum. Sir John Cranston stand breitbeinig am Eingang zum Friedhof.
»O Herr, bewahre uns«, hauchte Athelstan. »Den Herrn Satan in Southwark zu haben, ist schon schlimm genug, aber dazu auch noch Cranston …«