Читать книгу Es ist Sarah - Pauline Delabroy-Allard - Страница 8

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1.

Es geht um Sarah, ihre unerhörte Schönheit, ihre steile Nase, die einem seltenen Vogel zu gehören scheint, die unglaubliche Farbe ihrer Augen, Felsgrau, Grün, nein, nicht Grün, eher wie Absinth, wie Malachit, ein gedämpftes Grün-Grau, ihre Schlangenaugen mit den hängenden Lidern. Es geht um den Frühling, als sie in mein Leben trat wie auf eine Bühne, schwungvoll, eroberungslustig. Siegesgewiss.

2.

Es ist ein Frühling wie jeder andere, ein Frühling, der melancholisch stimmt. Auf den Pariser Plätzen blühen die Magnolien, und mir kommt der Gedanke, dass ihr Anblick jenen, die hinsehen, das Herz zerreißen muss. Mir zerreißen sie das Herz, die Magnolienblüten auf den Plätzen. Ich betrachte sie jeden Abend, wenn ich von der Schule nach Hause gehe, und jeden Abend brennen mir die großen blassen Blütenblätter ein bisschen in den Augen. Es ist ein Frühling wie jeder andere, mit plötzlichen Schauern, dem Duft des nassen Asphalts, einer Art Schwerelosigkeit, einem Hauch von Freude in der Luft, der flüstert, wie zerbrechlich alles ist.

In jenem Frühling laufe ich wie ein Gespenst durch die Gegend. Ich führe ein Leben, das ich so nie führen wollte, ein Leben allein mit einer Tochter, deren Vater ohne Vorwarnung verschwunden ist. Eines Tages, eines Abends vielmehr, hat er die Wohnung verlassen und dann. Und dann nichts mehr. So kann es kommen, dass es von heute auf morgen, ich meine buchstäblich von heute auf morgen, zwischen zwei Menschen, die sich jahrelang geliebt haben, weder Blicke noch Worte, weder Gespräche noch Vorhaltungen, weder Wut noch Verbundenheit, keine Zärtlichkeit, keine Liebe mehr gibt. Dieser Wahnsinn, diese Absurdität ist mein tägliches Brot. Ich glaube, dass das Leben damit zu Ende ist. Ich erwarte nichts und niemanden mehr. Es gibt einen neuen Mann in meinem Leben, einen jungen Bulgaren. Wenn ich über ihn spreche, nenne ich ihn meinen Lebensgefährten. Er ist ein Gefährte, ja, er begleitet mich durch dieses leidbestimmte Leben. Ich warte. Ein Wort geht mir auf quälende Weise nicht mehr aus dem Kopf, das Wort Latenz. Ich sollte die Bedeutung im Wörterbuch nachschlagen. Ich weiß, dass ich gerade eine Latenzzeit durchlebe. Ich weiß nicht, wie lange sie andauern und welches Ereignis ihr ein Ende setzen wird. In der Zwischenzeit ist jeder Tag ein wenig wie der vorangegangene, angefüllt mit den Pflichten einer jungen Mutter, einer jungen Lehrerin, einer Tochter, einer Freundin, der Liebhaberin des Bulgaren. Ich gebe mir Mühe, das Leben zu leben. Ich lebe nicht wirklich. Aber ich bin eine brave Schülerin. Ich sammle Fleißpunkte. Ich bin gut gekleidet, höflich, charmant. Mit dem Fahrrad, mein Kind auf dem Sitz hinter mir, radele ich durch das fünfzehnte Arrondissement. Wir gehen ins Museum, ins Kino, in den Jardin des Plantes. Ich finde mich hübsch, es heißt, ich sei nett, aufmerksam gegenüber anderen. Ich versuche, keine Wellen zu schlagen. Ich bin die Mutter eines perfekten Kindes, die Lehrerin außergewöhnlicher Schüler, die Tochter wunderbarer Eltern. Das Leben hätte noch lange so weitergehen können. Ein langer Tunnel ohne Überraschungen, ohne Geheimnisse.

3.

Ein ungestümes Klingeln, wie ein Peitschenschlag durch die steife Atmosphäre der Wohnung. Wir haben uns für Silvester in Schale geworfen, drei Paare, die sich aus den Augenwinkeln beäugen, überrascht hier zu sein, viel zu aufgetakelt. Alles ist künstlich, die Festdekoration, die Gesprächsthemen, die Aufmachung der Gäste. Alles ist wie einstudiert. Würdevoll. Verkrampft. Als es klingelt, scheinen die Möbel bei dem für sie ungewohnten Ton zusammenzuzucken. Gemurmel. Es ist Sarah, freut sich jemand. Ich weiß nicht, wer Sarah ist. Aber ja, heißt es, ihr seid euch schon begegnet. Mir werden die Umstände beschrieben. Keine Erinnerung. Die Gastgeberin geht zur Tür. Es ist Sarah, ja. Ich erkenne sie nicht wieder.

Sie kommt zu spät, lacht, ist ganz außer Atem. Wie ein plötzlicher Wirbelsturm. Sie spricht laut, schnell, sie holt eine Flasche Wein aus ihrer Tasche, etwas zu essen, eine Fülle von Dingen. Sie legt ihren Schal ab, Mantel, Handschuhe, Mütze. Sie legt alles auf den Boden, auf den cremefarbenen Teppich. Sie entschuldigt sich, scherzt, wirbelt herum. Sie drückt sich vulgär aus, benutzt Worte, die noch lange in der Luft zu hängen scheinen, nachdem sie sie ausgesprochen hat. Sie macht zu viel Lärm. Vorher war da nichts, Schweigen, affektiertes Lachen, feierliche Mienen, und auf einmal ist da nur noch sie. Das ist ärgerlich. Die Gastgeberin in ihrer Abendrobe runzelt die Stirn. Sarah bemerkt es nicht, zur Begrüßung verteilt sie energisch Küsschen an alle. Sie beugt sich zu mir, riecht nach prickelnd kalter Dezemberluft. Sie hat rote Wangen, die ihre Eile verraten. Sie ist zu stark geschminkt. Sie ist nicht besonders gut angezogen, trägt nicht ihr schönstes Kleid, ist nicht elegant, hat ihr Haar nicht raffiniert hochgesteckt. Sie redet viel, stürzt sich auf das Glas Wein, das man ihr reicht, reagiert auf irgendeinen Spruch mit lautem Lachen. Sie ist lebhaft, exaltiert, leidenschaftlich.

Ein Moment wie in Zeitlupe. Das Glas gleitet mir aus der Hand, mein Lebensgefährte ruft Oh nein!, das Glas dreht sich in der Luft, alle schauen, niemand kann es verhindern, es ist bereits zu spät, das Glas fällt geräuschlos auf den cremefarbenen Teppich, sein gesamter Inhalt ergießt sich darauf und bildet eine abstrakte Form, Rotwein auf cremefarbenem Teppich, ein schönes minimalistisches Bild. Ich werde vor Scham zunächst blass, dann rot, die Gastgeberin in ihrer Abendrobe wird fuchsteufelswild, es ist eine Katastrophe, ein Desaster, die rote Zeichnung auf dem cremefarbenen Teppich, ein Missgeschick, ein Unfall. Eine Bresche.

Später gehen wir zu Tisch. Wir begeistern uns beim Anblick der hübschen Decke, des hübschen Geschirrs, der hübschen Menükarten. Es gibt eine Tischordnung. Wir sind zu siebt. Die Gastgeberin in ihrer Abendrobe verkündet, wer wo zu sitzen hat. Sarah wird neben mir platziert. Zu meiner Rechten.

4.

Sie ist Violinistin. Sie raucht Zigaretten. Sie ist zu stark geschminkt, aus der Nähe ist es noch schlimmer. Sie spricht laut, lacht viel, ist auf ihre Art lustig. Sie verwendet mir unbekannte Wörter. Einen ihr eigenen Jargon. Sie spielt mit der Sprache, erfindet Ausdrücke, bildet zum Spaß Reime. Sie erzählt amüsante Anekdoten, Geschichten voller überraschender Wendungen. Auf meine Bitte hin erzählt sie bereitwillig mehr. Sie ist lebendig. Im Laufe unserer Unterhaltung erfahre ich, dass sie gerne Gesellschaftsspiele spielt, in den Bergen wandern geht, mit den Menschen, die sie liebt, gemeinsam singt. Bereits seit ein paar Jahren macht sie eine Psychoanalyse. Sie legt sich auf die Couch. Sie findet es seltsam, in eisiger Stille über sich selbst zu sprechen. Aber sie geht trotzdem wieder hin, sie hält es für wichtig. Zweimal die Woche. Manchmal dreimal.

5.

Am frühen Morgen treten wir auf die Straße und gehen alle zusammen zur nächstgelegenen Metrostation. Wangenküsschen auf dem Bürgersteig, mit diesem seltsamen Gefühl des ersten Tages eines neuen Jahres. Das umgekippte Weinglas ist bereits eine großartige Anekdote, wir lassen die Szene nochmals aufleben, fügen hier und da ein Detail hinzu, das Stirnrunzeln der Gastgeberin in ihrer Abendrobe.

Mein Lebensgefährte über Sarah: »Also ehrlich, die ist vielleicht merkwürdig!«

6.

In den Tagen darauf, den ersten Tagen des neuen Jahres, schreibt sie mir. Es ist Januar, aber noch einmal geschieht das Wunder. Einmal noch gibt sich der Winter geschlagen, hängt noch ein bisschen nach, bäumt sich ein letztes Mal auf, aber es ist zu spät, es ist vorbei, der Frühling hat gewonnen. Als ich aus der Schule komme, ist der Himmel weit und bläulich, in einem leicht verwaschenen Blau, wie ein gefärbtes Stück Stoff. Harmlose Wolken ziehen vorbei. Auch der Mond sitzt zurückhaltend in einer Ecke, Tag und Nacht treffen sich wie gute Freunde, was mich leicht erschauern lässt. Die Schatten auf dem Asphalt werden täglich länger, und mein Heimweg führt mich durch unvergleichlich goldenes Licht. Die Straßen mit den Häusern aus Kalksandstein sind erfüllt vom Vogelgezwitscher, ununterbrochenem Geplapper, und man kann fast hören, wie die Knospen aus den Zweigen sprießen, grün, zart, zerbrechlich. Ich schaue zu, wie das Licht die Spitzen der Häuser rosa färbt. Wie viele Male werde ich noch das gewaltige Glück haben, bei all dem zuzuschauen? Einmal? Fünfzehn-, dreiundsechzigmal? Ist es das letzte Mal, frage ich mich, ist es das letzte Mal, dass eine neue Jahreszeit meinen Körper erzittern lässt? Sie schreibt mir in den ersten Tagen des neuen Jahres. Nur ein paar Worte zunächst, auf die ich höflich antworte. Dann mehr und mehr. Sie sagt, dass es schön wäre, wenn wir uns wiedersehen. Sie schlägt vor, ein Konzert in der Philharmonie zu besuchen. Sie schlägt vor, ins Kino, ins Theater zu gehen. Wir sehen uns einmal, zweimal, immer öfter. Der Winter schleicht sich nach und nach davon, auf leisen Sohlen, ohne einen Ton.

7.

An einem Märzmorgen schreibt sie mir, dass sie in der Nähe meiner Schule sei, fragt, ob wir zusammen zu Mittag essen wollen. Ich kann nicht. Ich habe keine Zeit, zu viel zu tun, es wäre mir unangenehm, wenn das meine Kollegen mitbekämen. Ich sage zu. Zur vereinbarten Zeit schlüpfe ich hinaus, mit merkwürdiger Freude im Bauch. Draußen ist es schön. Sie wartet an der Metrostation auf mich. Sie redet sofort los, sehr schnell, sehr laut, fuchtelt mit den Armen herum. Sie hat glänzende Augen. Sie läuft auf der Straße, kümmert sich herzlich wenig um die Autos, die sie überfahren könnten. Sie bemerkt sicher nicht, dass ich sie alle fünf Minuten am Ärmel ziehen möchte, weil sie so zerstreut wirkt, dass ich einen Unfall befürchte. Sie ist lebendig.

8.

Im koreanischen Restaurant redet sie so viel, dass die Bedienung dreimal wiederkommen muss, um die Bestellung aufzunehmen. Sie ist nie bereit. Sie erzählt mir, dass sie sich nie entscheiden könne, dass das ein Problem sei im Leben. Dass sie alles wolle und das Gegenteil. Sie erzählt, dass sie während der Streiks, die 1995 Frankreich lahmlegten, gelernt habe, in Paris per Anhalter zu fahren. Sie war in dem Jahr fünfzehn. Ich schaue sie an und höre schon nicht mehr zu, ich schaue sie an und frage mich, wie sie mit fünfzehn ausgesehen haben mochte und wie das Leben zu jener Zeit wohl war. Ein paralysiertes Paris, an manchen Tagen verstummt durch das fehlende Gedröhne der Autos in den Straßen, oder zumindest ein bisschen stiller, wie eingerostet. Paris mit einem Frosch im Hals. Und mittendrin die fünfzehnjährige Sarah, bestimmt schon mit den hängenden Augen, bestimmt schon mit ihrem Geigenkasten auf dem Rücken, wie sie im sechzehnten Arrondissement, wo sie aufgewachsen ist, wie eine Seiltänzerin auf dem Bordstein balanciert, den Daumen hochgestreckt, in der Hoffnung, dass sie jemand mitnimmt. In die Schule, ins Konservatorium, zu Freunden zum Proben. Ans Ende der Welt. So stelle ich es mir vor. Mit fünfzehn fuhr Sarah per Anhalter durch das heisere Paris, weil sie wollte, dass man sie ans Ende der Welt mitnahm. So stelle ich es mir vor, und so bleibt es mir im Gedächtnis.

Später, als sie mich zur Schule zurückbegleitet, oder vielleicht im selben Gespräch, erzählt sie mir, wie sie das erste Mal vor ihrem Vater Bier getrunken hat. Der Tag war noch nicht weit fortgeschritten, und ich glaube, dass ihr Vater sie, ihrer Erinnerung zufolge, abholte, nachdem sie eine Woche woanders gewesen war, oder sie zum Zug brachte. Es war auf jeden Fall von einem Bahnhof die Rede. So stelle ich mir die Szene vor. Sarah und ihr Vater, beide auf Metallstühlen in einem Bahnhofslokal. Es ist helllichter Tag, ich erinnere mich, dass sie das erwähnte, als sie mir ihre Erinnerung erzählte. Sie eine junge Frau, ich stelle sie mir schön vor, aber ich weiß es nicht. Er – es ist schwierig zu sagen, wie er aussieht. Vor zwanzig Jahren war er vielleicht noch braunhaarig? Fröhlich? In Gesellschaft seiner jugendlichen Tochter zu Scherzen aufgelegt? Der größte Schatz seines Lebens, sein Augenstern, sein kleiner Liebling. Sie erzählt lachend ihre Erinnerung, ich weiß nicht, warum, aber sie lacht mit Jahren Verspätung, Jahre danach lacht sie schallend über seinen Gesichtsausdruck, als sie ihr erstes Bier bestellte, über den Stolz, den sie empfand, und ihre Selbstsicherheit. Ich stelle mir ihre großspurige Art vor, die unvergessliche Farbe des ersten Bieres, das sie unerschrocken am helllichten Tag bestellt, während sie mit ihrem Vater im Lokal sitzt. Sie teilt mit mir diese Erinnerung und lacht, hört nicht mehr auf zu lachen, lacht so sehr, dass es fast ansteckend ist. Fast zwanzig Jahre danach erzählt sie mir lachend von ihrer Unverfrorenheit.

9.

Ich frage sie, was sie unter Latenz versteht. Sie legt den Kopf ein wenig schräg, als ich ihr erkläre, dass dieses Wort wie bei einer Doppelbelichtung über den Bildern meines Lebens liegt, dass es mir nicht aus dem Sinn geht, dass ich nicht genau weiß, warum es mich nicht loslässt.

Nach kurzem Schweigen: »Das ist die Zeit zwischen zwei bedeutenden Ereignissen.«

10.

Die Tage ziehen vorbei. Der Frühling richtet sich ein, ruhig, ohne Eile. Es ist ein Frühling wie jeder andere, ein Frühling, der melancholisch stimmt. Sarah richtet sich in meinem Leben ein, ruhig, ohne Hast. Sie lädt mich ins Theater ein, ins Kino. Sie raucht in meiner Küche, an einem Abend, als ich sie zum Essen einlade. Sie erzählt mir ein Geheimnis. Sie sagt, dass es ein Geheimnis sei, das sie noch nie jemandem verraten habe. Sie bemerkt meine Verwirrung nicht. Sie schenkt mir die letzte Aufnahme ihres Streichquartetts. Eine Platte von Beethoven. Sie weiß nicht, dass ich sie in den darauffolgenden Tagen ununterbrochen höre. Sie weiß nicht, dass ich Fachliteratur über Kammermusik lese. Sie weiß nicht, dass ich alles wissen will, alles verstehen, alles kennen. Sie vermutet zu keinem Zeitpunkt, dass ich mir schreckliche Vorwürfe mache, auf dem Konservatorium keine bessere Schülerin gewesen zu sein.

Mein Lebensgefährte amüsiert sich über diese plötzliche, unerwartete und ein wenig vorschnelle Freundschaft. Ich verrate ihm nicht, dass ich, sobald ich die Wahl habe, mit ihm oder mit ihr Zeit zu verbringen, sie wähle. Um sie spielen zu hören, gehen er und ich gemeinsam zur Streichquartettbiennale in die Philharmonie. Es ist ein Sonntagnachmittag. Als wir dort eintreffen, ist der Saal voll, es sind keine Plätze mehr frei. Ich streite mich mit dem Mann an der Kasse, mache ihm schöne Augen, bettele, tobe. Mein Lebensgefährte sagt, das ist doch nicht so schlimm, wir können sie ein anderes Mal hören. Er sagt, nun komm aber, lass uns in der Sonne einen Kaffee trinken. Ich weigere mich aufzugeben. Ich heule vor Wut. Er versteht nicht, was mit mir los ist. Schließlich ergattere ich im letzten Moment zwei Plätze. Wir müssen auf Klappstühlen sitzen, weit entfernt von der Bühne. Ich kneife die Augen zusammen, um zu erkennen, was dort vor sich geht. Zum ersten Mal sehe ich die drei anderen Mitglieder des Quartetts. Als sie alle vier hintereinander auf die Bühne kommen, muss ich fast auflachen, so nervös bin ich. Zum ersten Mal sehe ich sie schön frisiert, elegant, vornehm. Sie trägt ein berückendes rückenfreies Kleid, sehr lang, schwarz. Ein Gruß ans Publikum, dann beginnen sie ihr Spiel. Es verschlägt mir den Atem. Nach dem ersten Satz des ersten Quartetts will ich schon fast applaudieren. Ich kenne die Gepflogenheiten nicht. Ich verstehe nichts. Mein Blick bleibt an der kleinen Gestalt auf der weit entfernten Bühne haften. Die Zugabe verblüfft mich. Ein Satz aus einem Quartett von Bartók, heißt es, ausschließlich als pizzicato gespielt. Ich verstehe nichts von dem, was ich höre. Ich applaudiere wie wild, laut und lange, bis mir die Handflächen schmerzen.

11.

Sie fragt mich, was ich an meinem freien Mittwoch ohne meine Tochter mache. Ich gehe ins Kino, allein. Das schreibe ich ihr. Ich teile ihr den Namen des Kinos mit, die Uhrzeit der Vorstellung. Ich ertappe mich dabei zu hoffen, sie möge danach am Ausgang stehen, auf mich warten. Der Film handelt von Liebeleien, die über eine große Liebe hinwegtrösten. Ein Schwarz-Weiß-Film. Die Hauptdarstellerin ist sehr schön. Es erinnert mich an einen Film der Nouvelle Vague. Ich genieße es, allein im Kino zu sein. Ich frage mich, ob sie kommen wird. Der Film ist zu Ende. Ich laufe hastig nach draußen. Keiner da. Es regnet. Ich gehe schnell, mit gesenktem Kopf, schaue zu, wie meine Stiefel ganz von allein über das nasse Pflaster der Rue de la Verrerie eilen. Mein Telefon klingelt. Sie ist es. Sie fragt wo bist du, sie sagt ich bin in der Rue de la Verrerie, ich bin gleich da.

12.

Sie wünscht mir Glück, als ich an einem der strahlenden ersten Sonnentage zum Gericht muss. Danach, bei einem Glas Wein, fragt sie mich, wie es gelaufen sei. Sie lässt mich nicht aus den Augen, als ich ihr vom Warten erzähle, vom Richter, vom Vater meiner Tochter, die jedes zweite Wochenende bei ihm verbringen wird, von der Sonne, in der mir viel zu heiß war, mir, die ich ganz in Schwarz gekleidet war, weil ich um meine verlorene Liebe Trauer trug.

13.

Sie schlägt vor, dass ich sie in eine Theatervorstellung in der Cartoucherie begleite. Sie wartet an der Metrostation Château de Vincennes auf mich, an der Linie 1. Sie trägt wie gewöhnlich ein Kleid, das ihr überhaupt nicht steht. Sie begrüßt mich mit einem breiten Lächeln und hört während der ganzen Fahrt durch den Bois de Vincennes nicht auf zu reden. Die Nacht bricht herein. Sie redet, sie redet wie ein Wasserfall. Sie ist lebendig. Sie stellt mir Fragen zu meinem Beruf, zu dem Lycée, an dem ich unterrichte. Sie hört erst auf zu reden, als die Lichter ausgehen. Im Dunkeln berühren sich unsere Knie.

14.

Das Theater heißt: Théâtre de la Tempête, Sturmtheater.

15.

Das Stück hat sie aufgewühlt. Sie will unbedingt den Hauptdarsteller ansprechen. Ich beobachte, wie sie mit beeindruckender Selbstverständlichkeit an ihn herantritt. Sie redet hemmungslos auf ihn ein. Er lächelt. Sie fragt mich, ob ich müde sei oder ob wir Zeit hätten, etwas trinken zu gehen. Sie fügt hinzu, Château de Vincennes sei nun nicht gerade der beste Ort, um etwas trinken zu gehen. Doch es gibt eine Bar, Les Officiers. Sie geht hinein. Sie nimmt Platz. Sie fragt, welches Bier es hier vom Fass gebe. Als die Bedienung mich nach meinem Wunsch fragt, sage ich, das Gleiche, genau das Gleiche. Sie wirkt traurig, ein wenig niedergeschlagen, so habe ich sie noch nie gesehen. Sie fragt, ob wir rausgehen, eine rauchen können. Sie schaut auf ihre Füße. Es ist ein wenig kalt in der schwarzen Nacht. Sie bläst Rauch in den Himmel, eine Wolke steigt zu den Wolken. Sie sieht mir tief in die Augen. Sie sagt ich glaube, ich bin in dich verliebt.

16.

Sie macht eine Bewegung, ganz leicht, weicht zurück mit einer Art Tanzschritt, sie lächelt fast, als ich stammele ach ja, das wusste ich nicht. Sie sagt, sie werde eine zweite Zigarette rauchen, um ihren Mut, ihre Kühnheit zu feiern, das Streichholzratschen in der Nacht, der Schwefelgeruch wird für immer und ewig nach dem befreienden Geständnis duften, nach der unaussprechlichen Realität, die endlich ausgesprochen wurde, nach der entblößten Wahrheit, die vor mir ausgebreitet, mir dargeboten wird wie ein Geschenk.

Schwefel zählt zur Gruppe der Chalkogene. Es ist ein häufig vorkommendes, mehrwertiges Nichtmetall, geschmacklos und nicht wasserlöslich. Schwefel ist vor allem in Form von gelben Kristallen bekannt und in vielen Mineralien enthalten, insbesondere in Vulkanregionen. Brennend verströmt es einen starken, beißenden Geruch. Schwefel ist ein Feststoff. Das chemische Element hat die Ordnungszahl 16. Elementsymbol S.

17.

Es geht um Sarah, ihre rätselhafte Schönheit, ihre steile Nase, die einem sanften Raubvogel zu gehören scheint, ihre Kieselaugen, grün, nein, nicht grün, die außergewöhnliche Farbe ihrer Augen, ihre Schlangenaugen mit den hängenden Lidern. Es geht um Sarah die Unbändige, Sarah die Leidenschaft, Sarah den Schwefel, es geht um den einen Moment, als das Streichholz ratscht, den einen Moment, als das Holzstäbchen Feuer fängt, als der Funke die Nacht erhellt, als aus dem Nichts die Flamme emporschlägt. Den einen, winzigen Moment, kaum eine Sekunde lang. Es geht um Sarah, Elementsymbol S.

18.

Soufre. Schwefel. Aus dem Lateinischen sulfur, der Blitz, das Himmelsfeuer. Erste Person Singular. Je souffre. Ich leide. Aus dem Lateinischen suffero, ertragen, auf sich nehmen, erdulden. Im Einzelfall auch: von jemandem für etwas bestraft werden. Eine Strafe über sich ergehen lassen.

19.

Sie überreicht mir das Geständnis wie ein Geschenk. Sie geht durch die Nacht davon. Einige Tage später sagt sie zu, als ich ihr vorschlage, ins Kino zu gehen. Es läuft ein neuer Film von Alain Resnais mit dem Titel Aimer, boire et chanter. Sie kommt zu früh zum Treffpunkt. Ihre Augen sind zu stark geschminkt, ihre Augen mit den hängenden Lidern. Es ist März. Sie stimmt mir zu, als ich sage, dass es bald Frühling ist. Sie hat Hunger, großen Hunger. Sie fragt, ob wir vor dem Film eine Kleinigkeit essen gehen können. Sie bestellt einen bretonischen Pfannkuchen und Buttermilch. Anschließend hat sie Lust auf ein Bier. Sie bestellt ein Glas vom stärksten. Die Bedienung fragt mich, was ich möchte. Das Gleiche, genau das Gleiche. Während wir unser Bier trinken, erzählt sie von ihrem letzten Konzert. Sie berichtet ausführlich, erklärt mir, was ich nicht verstehe. Sie ertappt meinen Blick, der sie streift, der auch das kleinste Detail ihres Körpers, ihres Gesichts erfasst. Sie fragt woran denkst du. Ich weiche ihren Fragen aus. Ich will nicht antworten. Das Geständnis liegt wie ein Geschenk zwischen uns. Mein gesenkter Blick. Darum geht es, um die durchdringende Stille und das Schweben durch Tage wie Watte, wenn man die Wahrheit verschenkt.

20.

Nach dem Film noch ein paar Biere, die stärksten der Bar, und für mich das Gleiche, genau das Gleiche. Noch ein paar ratschende Streichhölzer, die die Schlangenaugen einen kurzen Moment lang erhellen, bevor uns auf dem Bürgersteig, auf den wir zum Rauchen gegangen sind, erneut die Nacht umhüllt. Noch ein paar gleichgültig weggeschnippte Kippen. Noch ein paar Geschichten. Es ist irgendwann so spät, dass der Wirt uns rauswirft. Er will zumachen. Es ist mitten in der Nacht, und er ist müde.

Der Film Aimer, boire et chanter ist ein französisches Drama, mitgeschrieben und produziert von Alain Resnais. Dauer: 108 Minuten. Zur Besetzung gehören Sabine Azéma, Hippolyte Girardot, André Dussollier. Es ist Alain Resnais’ letzter Film vor seinem Tod am 1. März 2014.

Ich habe keine Erinnerung daran.

Sie geht ein Stück vor mir in jener Märznacht, auf dem Boulevard du Montparnasse. Sie wirkt weniger betrunken als ich. Sie ist lebendig. Sie sieht nicht, dass ich mich bemühe, in ihren Spuren zu laufen, dass ich benebelt bin, dass das Pflaster ein wenig schwankt. Sie dreht sich plötzlich um, sehr schnell, und legt ihre Lippen auf meine.

Sie winkt ein Taxi heran. Sie streichelt meinen Oberschenkel auf der Rückbank des Wagens. Sie hat glänzende Augen. Sie geht hinter mir die zwei Stockwerke bis zu meiner Wohnung hinauf, so nah, dass ich ihren Atem an meinen Waden spüre. Sie kommt mit rein. Sie schenkt sich ein Glas Wasser ein. Sie schminkt sich neben mir ab, in meinem winzigen Bad. Der Spiegel zeigt zwei überraschte und zugleich ernste, schrecklich ernste Gesichter. Im flackernden Licht des anbrechenden Tages schlüpft sie unter die Decke, neben mich. Sie flüstert, dass sie noch nie mit einer Frau geschlafen habe. Sie fragt und du. Ich sage ich auch nicht, genauso, ganz genauso. Sie streichelt mein Gesicht, meinen Hals, meine Brüste.

21.

Ihr Parfum. Ihr Duft. Ihr Nacken. Ihr Haar. Ihre Hände. Ihre Finger. Ihr Hintern. Ihre Waden. Ihre Nägel. Ihre Ohrläppchen. Ihre Muttermale. Ihre Schenkel. Ihre violette Vulva. Ihre Hüften. Ihr Bauchnabel. Ihre Brustwarzen. Ihre Schultern. Ihre Knie. Ihre Achseln. Ihre Wangen. Ihre Zunge.

Sie verabschiedet sich am nächsten Morgen von mir, an einer Straßenecke auf dem Weg zur Schule. Sie nickt mir zu und geht davon. Sie verabschiedet sich, ohne zu wissen, dass meine Hände zittern, dass sie den ganzen Tag nicht aufhören zu zittern, nicht glauben können, was sie getan, was sie berührt haben. Sie verabschiedet sich, ohne zu wissen, dass ich am Ende des Vormittags zum Arzt gehe, unfähig, noch weiter zu arbeiten, dass er mich für zwei Tage krankschreibt, dass ich unter meine Bettdecke flüchte, um in ihrem Duft zu schlafen, mitten am Tag. Am nächsten Morgen falte ich die Krankschreibung auseinander, um sie zu verschicken. Die ärztliche Begründung lautet: Veränderter Allgemeinzustand.

22.

Eine Frau lieben: ein Sturm.

23.

An den darauffolgenden Tagen denke ich nur an das Geschehene, die Bilder ziehen unter meinen Lidern vorbei, sobald ich die Augen schließe. Ich hätte nicht gedacht, dass ich eines Tages den Körper einer Frau berühren und es mir wahnsinnig gefallen würde, so sehr, dass ich andauernd daran denke, Tag und Nacht. Sie ist immer in meinen Gedanken. Sie verfolgt mich, nackt, hinreißend, ein Gespenst, das meine Adern, mein Geschlecht zum Pochen bringt. Sie ist eine Offenbarung, ein Lichtstrahl, eine Epiphanie.

24.

Nicht bei ihr zu sein wird sinnlos nach der ersten Nacht.

25.

Sie schreibt mir, viel und oft. Worte hageln in unsere getrennten Leben, den ganzen Tag lang und bis spät in die Nacht. Sie schreibt mir, ich antworte, sie schreibt mir wieder. Sie stellt mir Fragen, ob mir das auch gefallen habe, ob mir das seitdem auch nicht mehr aus dem Sinn gehe. Meine Antwort: Ja, ja. Ja. Das äußere Leben existiert nicht mehr. Das tägliche Leben auch nicht. Es gibt nur noch sie. Sie, ihre Schlangenaugen, ihre Brüste, ihren Arsch.

Um mich zu sehen, wirft sie ihre Termine über den Haufen, wann immer es geht. Es läuft stets auf die gleiche Weise ab. Sie kommt zu mir, in meine Wohnung. Sie flüstert, wenn ich sie bitte, leiser zu sprechen, weil meine Tochter nebenan schläft. Sie zieht das Abendessen immer ein wenig in die Länge, kostet den süßen Moment aus, erzählt Geschichten. Sie trinkt ein Glas Wein und schaut mir unverwandt in die Augen. Sie raucht eine Zigarette am Fenster. Und dann hält sie es nicht mehr aus, kommt auf mich zu. Sie saugt meinen Duft ein, atmet mich ein. Darum geht es, um den Atem, den Schwefel, den Sturm.

Sie weiß nicht, dass sich bei ihrem Duft alles in mir zusammenzieht. Sie weiß nicht, dass mich nichts anderes mehr interessiert, nichts und niemand. Sie isst jeden Morgen ein Croissant, trinkt dazu einen Milchkaffee. Sie legt jeden Tag Mascara auf. Sie benutzt mir unbekannte vulgäre Ausdrücke. Ich nehme sie in meinen Wortschatz auf. Sie presst ihre Brüste an meine, sobald wir allein sind, und hält mich fest umklammert, als ob sie wollte, dass wir ein Körper würden. Sie geht mit ihrem Streichquartett auf Tournee. Sie reist nach Brüssel, nach Budapest. Sie schreibt mir die ganze Zeit. Sie fragt, ob unser häufiges Getrenntsein auch für mich schwer sei. Sie fleht mich an, auf sie zu warten, sie verspricht mir, so schnell wie möglich zurückzukommen. In unserem Sturm ist sie der Kapitän. Ich werde zur Seemannsfrau.

26.

Ein glücklicher Zufall im Kalender. Das Quartett spielt in Venedig, als ich dort gerade im Urlaub bin. Ich reise mit einer Freundin, der ich erkläre, dass eine Bekannte, Sarah, auch in Venedig sei, dass es doch nett wäre, sie zu sehen. Wir vereinbaren ein Treffen an der Piazza San Bartolomeo, an einem Aprilnachmittag. Am besagten Tag verlieren meine Freundin und ich uns im Labyrinth der venezianischen Gassen. Ich bekomme Angst, dass wir zu spät kommen. Ich gehe schnell. Das Herz schlägt mir bis zum Hals, ich habe merkwürdige Kopfschmerzen, schmerzende Schläfen. Ich treibe meine Freundin an, die staunend durch die Stadt schlendert. Ich habe Sarah seit ein paar Tagen nicht mehr gesehen. Im italienischen Licht, so weit weg von meiner Pariser Wohnung, erscheint mir das, was wir seit ein paar Wochen erleben, verschmolzene Münder, aneinandergepresste Körper, fast als ein Ding der Unmöglichkeit. Es scheint auf einmal unmöglich, dass diese Sache wirklich ist. Ich frage mich sogar, ob sie, Sarah, wirklich ist, ob sie nicht meiner Fantasie entsprungen ist.

Die Piazza San Bartolomeo, manchmal Campo San Bartolo genannt, ist ein Platz gleich in der Nähe des Rialto. Sehr belebt und beliebt, ist er einer der favorisierten Treffpunkte der Venezianer. In der Mitte des Platzes steht eine Bronzestatue von Carlo Goldoni, einem venezianischen Dramatiker des 18. Jahrhunderts, Erschaffer der modernen italienischen Komödie und Autor, unter anderem, von L’incognita, La putta onorata, La dama prudente, La donna stravagante, La donna bizzarra, La donna sola.

Auf der Piazza San Bartolomeo ist niemand zu sehen. Nun ja, doch, Hunderte von Leuten, eilende Venezianer, Touristen unterschiedlicher Herkunft, Gruppen, Kinder, sicher alle glücklich, hier zu sein, in Venedig, an einem Tag im April. Aber niemand. Ich prüfe jedes Gesicht, ich finde sie nicht, ich habe es gewusst, ich habe sie erfunden, ich habe alles nur erfunden, das ist nicht wirklich, nichts davon, das ist nicht wirklich, all das, ihr Arsch, ihre Brüste, ihre Schlangenaugen.

Ich weiß nichts davon, aber sie ist zu früh am Treffpunkt, auch sie sucht mich, durchkämmt die Menge, schaut in jeden Winkel zwischen den rosafarbenen Fassaden, ihr ist zu warm in der Aprilsonne, sie hat Angst, mich erfunden zu haben, dass all das nicht wirklich ist, sie wartet, hat Bauchschmerzen. Sie sieht mich, sie durchbohrt mich mit ihrem Blick, nichts existiert mehr, nur noch unsere Blicke, die sich begegnen, auf der Piazza San Bartolomeo, unsere Körper, die sich aufeinander zubewegen wie durch eine dunkle magnetische Kraft, als wären wir verhext.

Sie gibt mir unauffällig ein Zeichen, ein Augenzwinkern, als meine Freundin einen Augenblick lang abgelenkt ist, dann steht sie auf, um zur Toilette zu gehen. Ich erhebe mich ebenfalls, gebe vor, dringend jemanden anrufen zu müssen, lasse meine Freundin, die in den Reiseführer vertieft ist, allein zurück. Sie erwartet mich, an das Waschbecken gelehnt. Ihre Lippen schmecken nach Campari, ihre Zunge nach grünen Oliven. Sie verschlingt mich. Sie murmelt endlich, endlich, endlich, endlich, endlich.

Als wir zurückkommen, kichernd und mit roten Wangen, sagt meine Freundin: »Das hat aber gedauert!«

27.

Vor ihrem Abflug hat sie eine Schnitzeljagd in Venedig organisiert. Sie hat mir Nachrichten mit Hinweisen hinterlassen, Scharaden, Rätsel, die ich lösen muss. Ich finde kleine Geschenke, die sie hier und da verteilt hat. In einer Konditorei nenne ich wie angewiesen meinen Namen. Sobald ich ihn ausspreche, serviert man mir einen frisch gepressten Orangensaft und Gebäck mit Marmelade, dazu einen Brief. Es ist Frühling, das Licht ist grausam schön, die Sonne plätschert in den Kanälen, die Stadt berauscht mich. Sie liebt mich, dort steht es schwarz auf weiß. Sie liebt mich.

28.

Sie wird bald fünfunddreißig. Sie ist fröhlich, unwiderstehlich lustig. Sie ist enthusiastisch, exaltiert, theatralisch. Alles versetzt sie in Staunen, weckt ihr Interesse. Sie lernt gerne etwas dazu. Sie ist zierlich, trägt Kleidung in Größe 36. Manchmal Größe 34. Sie vergeht vor Lust bei echtem spanischen Schinken. Sie mag Wurst ganz allgemein, Fleisch. Sie ist Fleischesserin. Sie spricht Spanisch, kennt Madrid gut, aber hegt eine besondere Liebe für Italien. Das erste Trio von Brahms gehört zu den Dingen, die sie auf der Welt am liebsten hat. Sie hat keine Geduld, für nichts. Sie will alles, und zwar sofort.

29.

Mit ihrem Streichquartett fährt sie auf Tournee durch ganz Europa. Sie schreibt mir aus Ungarn, aus Belgien, aus den Niederlanden, aus Spanien, aus Portugal, aus Italien, aus der Schweiz. Zwischen den Reisen hat sie ein paar Tage, manchmal auch nur ein paar Stunden frei, um nach Hause zu fahren, um auszupacken, einzupacken, die Noten auszutauschen, zu schauen, ob in ihrer Wohnung alles in Ordnung ist. Sie stopft alles in den Koffer, kommt lieber zu mir. Sie sagt, dass es nicht so schlimm sei, wenn sie zwischen zwei Flügen nicht nach Hause komme, dass sie, um saubere Kleidung zu haben, in der nächsten Stadt neue Sachen kaufen werde. Sie kommt zu jeder Tages- und Nachtzeit, legt ihre dunkelblaue Lederjacke ab, zieht sich aus, wirft sich augenblicklich auf mein Bett, fällt über mich her. Am nächsten Morgen trinkt sie einen Milchkaffee, verschlingt ein Croissant. Sie überprüft ihre Abfahrtszeit, ihre Abflugzeit. Sie zieht sich an. Sie streift die Lederjacke über. Wenn sie geht, ihren Geigenkasten auf dem Rücken, den Koffer in der Hand, umarmt sie mich, vergräbt ihre Nase in meiner Halsbeuge. Sie weint jedes Mal. Zuerst ganz leise, dann immer stärker. Sie krallt sich an mir fest, sie schnieft, sie schluchzt. Ihre Wangen sind mit Mascara beschmiert, ihr ganzes Gesicht mit Rotz. Sie sagt, dass sie dieses Leben nicht mehr führen wolle, dass es keinen Sinn habe, dass sie dableiben wolle, ins Kino gehen, mit mir zu Abend essen, normale Dinge wie im normalen Leben tun. Sie betont das Wort normal. Sie hat auf einmal eine tiefe Stimme, die Stimme des Kummers. Sie streichelt über meine Wange, sie küsst mich ein letztes Mal, hinterlässt eine Mascaraspur auf meinem Blusenkragen, den Geruch nach dunkelblauem Leder auf meinen Handflächen. Und dann ist es wie immer, sie geht.

Sie kommt wieder. Wieder ist es ein Fest. Durchwachte Nächte zum Reden, zum Sichlieben, und wieder von vorne, bis die Vögel singen. Abendessen mit Wein und Zigaretten, zu viel Wein und Zigaretten. Wenn wir uns wiederbegegnen und die Küsse so lange wie möglich hinauszögern, bis sie es nicht mehr aushält, wenn sie in meinen Mund beißt wie in eine Kirsche. Heftig. Gemein.

30.

Sie liebt mich. Da steht es, in venezianischer Tinte. Schwarz auf weiß.

31.

Es ist schön, zu entdecken, dass ihr die gleichen Dinge gefallen wie mir, im Café lesen, japanisch essen, ins Theater gehen, sich in unbekannten Gassen verlaufen, Feste organisieren. Sie wohnt in Les Lilas, am Ende der Linie 11. Sie lacht, als ich ihr erzähle, dass ich eine Spezialistin für die Metrostation République geworden bin, dass ich sprichwörtlich fliege, wenn ich auf dem Weg zu ihr von der Linie 8 in die Linie 11 umsteige, denn eine verpasste Metro, und es kommt mir so vor, als ginge die Welt unter, als wäre der Verlust von drei Minuten unserer gemeinsam verbrachten Zeit unerträglich. Sie lernt meine Tochter kennen, sie taxieren sich zunächst, bevor sie sich gut und schließlich wunderbar verstehen. Sie wacht manchmal vor mir auf, verbringt Zeit mit dem Kind in der Küche, bereitet das Frühstück zu, was mich rührt und amüsiert. Es ist Frühling, das Leben ist angenehm, ich schaue nicht mehr auf die blassen Magnolienblüten, wenn ich aus der Schule komme. Sie erwartet mich in einem vor den Schülern verborgenen Winkel, es ist eine Überraschung. Sie weiß nicht, dass ich nur noch Streichermusik höre, Quartettmusik, dass ich, sobald ich einen Augenblick allein bin, in Endlosschleife die Videos schaue, in denen sie mit ihrem Quartett spielt, dass meine liebsten die sind, in denen sie die erste Geige spielt, in denen sie beim Spielen ihr ganzes Gesicht verzieht und aussieht wie ein Ungeheuer.

32.

Aus einem Medizinbuch. Latenz: zeitweiliges Verborgensein von etwas, das sich jeden Moment durch das Auftauchen von Symptomen manifestieren kann.

33.

Sie hat keine Kinder, sie weiß auch nicht, ob sie welche will. Sie liest äußerst langsam, es kommt vor, dass wochenlang der gleiche Roman auf ihrem Nachttisch liegt. Sie trägt Brille, wenn sie ins Kino geht, wenn sie Auto fährt, manchmal auch, wenn sie ihre Partituren übt. Sie hat zwei Brüder, jünger als sie. Sie hat einen Vater, der ihr den Geschmack an Feierlichkeiten vererbt hat, und eine Mutter, die ihr den Geschmack am Feiern vererbt hat. Sie liebt ihre Familie sehr. Sie ist im sechzehnten Arrondissement aufgewachsen, nicht weit von der Seine entfernt. Sie wählt links, wenn sie wählt.

Es ist Sarah

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