Читать книгу Ulrichshof - Paul Keller - Страница 7

3. Kapitel

Оглавление

Sturmnacht

Dieser Übergang vom sechsundzwanzigsten zum siebenundzwanzigsten März war eine von jenen wilden Nächten, die um die Tag- und Nachtgleiche liegen. Da messen Licht und Finsternis, Winter und Frühling ihre zu gleichen Teilen ausgeloteten Kräfte, jeder hat zwölf Stunden für sich und zwölf Stunden gegen sich. Da gehen noch immer die Nachtalben gegen die Lichtalben an, da wird selbst ein herzhafter Mann nicht gern einsam auf öder Landstrasse wandern. In dieser Zeit sterben die meisten Schwindsüchtigen; der Winter hat sie zum Sterben reif gemacht, der Frühling tötet sie mit seinem zu jähen Licht, seiner zu starken Luft. Unheimlich sind solche Nächte, fast so schlimm wie die Finsternisse, die zwischen Weihnachten und Neujahr liegen, da der wilde Jäger durch die Wälder rast, Wolkenburgen baut auf den Bergen und seine Teufelsreiter über die Welt jagen lässt auf graumähnigen Rossen mit sturmgeblähten Nüstern, das Gesicht in den Nacken gedreht, die Eisen der Pferde verkehrt auf den Hufen.

*

In der grossen Gesindestube von Ulrichshof sassen Knechte und Mägde. Sie besprachen die grosse Neuigkeit, dass Gustav, der Pferdeknecht, vom Markt weg verhaftet worden war.

Die blonde Emma jammerte: „Was soll nur aus mir werden, wenn sie ihn einsperren!“

„Nun“, sagte die alte Grossmagd Ernestine, die so hässlich war, dass ihr selbst in ihren besten Jugendjahren kein Bursch nachgestellt hatte, giftig, „das Geld für die Kinderwäsche, für den Jungfernkranz und den Brautschleier hat dir ja Gustav ganz solide und reichlich zusammengeklaut.“

Die jüngeren Knechte und Mägde lachten.

„Pst!“ sagte Anselm, der älteste Knecht, der unverheiratet und klug war, „pst, keine versteckten Andeutungen, denn mir passt so was nicht. Erst hat der Reiche dem Armen alles genommen und wurde König, und jetzt nimmt der Arme dem Reichen manchmal eine Kleinigkeit und wird ein Gefängnisbrummer. Das nennt sich der Lauf der Welt. Seht, seht unseren Vogt! Der war unsere Obrigkeit, unser Aufseher. Der hat den Gottlieb Kärgel aus dem Hofe gebracht, weil er sich drei Zentner Gerste auf die Seite gebracht hatte, er brauchte die Gerste, es kann auch Weizen gewesen sein, für seine Hühner, und ich glaube für seinen Kanarienvogel als Futter, und seine Frau ass gern Mohnklösse. Fortgejagt ist er worden, und den Weizen hat er bezahlen müssen zum Marktpreise; nicht einmal Prozente haben sie ihm, dem langjährigen treuen Arbeiter, gegeben, sondern ihm einfach das volle Geld abgeknöppt. So ist die Welt! Und denkt ihr noch an den Robert, der unsere Schweinezucht unter sich hatte? Ist „Schweineinspektor“ vielleicht ein schöner Posten? Wer das glaubt, stecke nur mal die Nase in so einen Koben und hör sich die Musik an, die da herauskommt. Ist es zuviel, wenn so ein braver Mann wie Robert vom Schlächter, der die fetteste Sau kauft, sieben Taler „Rüsselgeld“ annimmt, die der Schlächter vom Kaufpreis abzieht, und davon gegen die Hoheit nicht erst gross was dahinerzählt wird? Alles hat der Vogt geklatscht. Oh, der verstorbene, selige Schuft, der! Sogar die Emilie hat er rausgebracht, weil die gern etwas Kristallzucker aus der Küche ass! Und nun — nun — wo sitzt der Vogt? Drüben — im anderen Lande! Wahrscheinlich sitzt er in einer greulichen Klemme. Die Hoheit hat mit ihm gesprochen.“

Ein Sturmstoss liess die Fenster klirren.

„Wer kann mit Toten sprechen?“

Ein neuer furchtbarer Windstoss. Ein Donnerschlag! Anselm und die Grossmagd, die katholisch waren, bekreuzigten sich, die Evangelischen pressten die Hände auf die Brust und senkten den Kopf, wie Evangelische tun, wenn sie in der Kirche das erste Gebet sprechen; ein paar Ungläubige zeigten sich forsch und lächelten verzerrt. Der forscheste schlich gleich darauf nach der „Toilette“, dem verschwiegenen Örtchen, das den vornehmen französischen Namen führte, weil es auf fürstlichem Gebiete lag.

Allen diesen Leuten war durchaus nicht wohl in dieser schwarzen Sturmnacht. Die alte Hoheit war ihnen unheimlich. Wer spricht mit Toten? Sie hatte mit dem Vogt gesprochen, und der hatte von drüben her den Gustav angezeigt, wie er all sein Leben lang seine Genossen verpetzt hatte.

Eine Magd sagte, da sei sicher der Teufel im Spiele. Der Vogt werde in der Hölle sein. Anselm verwies ihr das; er sagte, über die Hoheit möge jedes seine Meinung haben, aber von einem Toten zu sagen, er werde in der Hölle sein, das sei eine grosse Sünde, das sei schlimmer, als wenn man dem Toten das Leben abspräche. Ein Kuhjunge lachte über diesen Ausspruch. Anselm stand langsam auf, ging zu dem Kuhjungen hin und gab ihm eine grosse Ohrfeige; dann setzte er sich still und beschaulich wieder auf seinen Platz.

„Warum nur der tote Vogt gesagt hat, dass er selber Hühner gestohlen hat.“

Der weise Anselm antwortete: „Eben, weil er tot ist, kann er es sagen. Ein Toter kann jedem Gericht der Welt den Marsch blasen, und drüben braucht er nichts zu verschweigen, denn dort wissen sie ja sowieso alles. Vielleicht hat er auch die Alte ärgern und foppen wollen, weil sie ihm beim Tode einen Nachruf hat ins Kreisblatt setzen lassen: ‚Wohlan, du guter und getreuer Knecht, weil du über weniges getreu gewesen bist, will ich dich über vieles setzen; gehe ein in die Freuden deines Herrn!‘ Das stand über den Vogt im Kreisblatt. Jetzt hat sie den Salat! Ja, ja, beim Tode der Menschen werden die schönsten Bibelsprüche missbraucht und die ärgsten Gauner gelobt. Der Tod ist der gewaltigste Schönfärber.“

Einer, der im Verdachte stand, Sozialdemokrat zu sein, sagte:

„Wir sollten in dem Nachruf einen Anreiz haben. Seht, wenn ihr euch auch einmal zu Tode geschuftet habt, steht über euch auch so was Schönes im Kreisblatt. Haha! Was man schon davon hat!“

Anselm, der politisch rechts orientiert war, sagte:

„Ich habe noch keinen Dominialarbeiter gesehen, der sich zu Tode geschuftet hätte. Solche Exemplare von Menschen gibt es gar nicht.“

Er will jetzt selber Vogt werden, dachten die anderen und schwiegen. Um Gustav tat es allen leid, denn was Ehrlichkeit anlangt, hatte keines der Anwesenden ein ganz sauberes Gewissen, nicht einmal Anselm. Er wilderte. Er entschuldigte das vor seinem sonst sehr zarten Gewissen damit, dass seine Ahnen aus Kärnten stammten. Er kannte eine kleine Geschichte, dass einmal ein Bischof von Kärnten auf einer Hirtenreise einen Bauern fragte, ob denn in seiner Gemeinde auch stark gewildert werde, und dass der Bauer geantwortet habe: „Och, g’sessen ham mer alle schon oft, bloss den Herrn Pfarrer haben’s noch net verwischt.“ Die Kärntner müssen wildern, wie die Fische schwimmen müssen. Das ist nicht anders.

Gustav ist ziemlich bald darauf zu sechs Wochen Gefängnis mit Bewährungsfrist verurteilt worden. Hoheit nahm ihn aber nicht wieder in Dienst, und auf den anderen Höfen, wo er sich um eine Knechtstelle bewarb, sagte man ihm, er möchte sich lieber wo anders „bewähren“. Da musste Gustav in die Fremde auswandern; erst dreissig Kilometer von Ulrichshof entfernt fand er wieder eine Anstellung. Er liess seine Emma nachkommen, sie feierten der Einfachheit und Billigkeit wegen Hochzeit und Kindtaufe in einem und lebten herrlich und in Freuden, wie Emma schrieb, da sich Gustav auf seinem neuen Posten, der ein Vertrauensposten sei, wesentlich „verbessert“ habe. Das wirkte aneifernd auf den neuen Marktknecht vom Ulrichshofe, der nun seinerseits die Hühner stahl, dabei hoffend, dass es ihm auch einmal gelingen werde, zu einem so guten Endresultate zu kommen wie Gustav. —

Der Sturm tobte weiter. Ein schwerer Knall erschütterte die Stube. Kreideweiss erschien der junge Ungläubige, der draussen gewesen war, und meldete, er sei beinahe erschlagen worden; von der Heuscheuer, in der ja auch die „Toilette“ untergebracht war, sei soeben das halbe Dach abgerissen worden, direkt über seiner harmlosen und ungeschützten Figur.

Ein neuer Knall.

„Das ist die andere Hälfte des Daches“, bemerkte Anselm erläuternd. Er zuckte die Achseln. Was war solchen Naturgewalten gegenüber zu tun? Wenn die Hoheit ein Mittel hatte, den Sturm zu beschwören, mochte sie es anwenden. Sie selbst konnten nichts tun, als abwarten, ob vielleicht auch noch die anderen Dächer abgedeckt werden würden.

Der Sozialdemokrat sagte: „Die Dachdecker wollen auch leben.“

„Nein“, verwies Anselm. „Hoheit kann einem leid tun. Was das wieder für Kosten macht! Rittergutsbesitzer haben oft allerlei Nebenspesen.“

Er will nur selber Vogt werden, dachten die anderen und schwiegen.

„Bei Fräulein Brigitte ist noch Licht“, sagte der Jungknecht, „aber der Turm ist finster.“

„Julius wird bei Tobias sein, der ist krank.“

„Hoheit hat dem Doktor heute gekündigt.“

„Grosser Gott, dem alten Mann! Wo soll er denn hin? Das kann nicht sein!“

„Der Diener hat es gesagt und der weiss es von Tobias selbst. Deswegen ist er ja krank. Der Schreck . . .“

„Niemand ist hier seines Bissens Brotes sicher.“

Sie grübelten alle vor sich hin. Einer sagte:

„Sie wird wieder mit dem Vogt gesprochen haben, und der hat es sicherlich verraten, dass der Doktor Tobias einmal gesagt hat: Hoheit ist eine schmierige Person.“

„Schmierig hat er nicht gesagt“, widersprach jemand; „eine schwierige Person ist sie, hat er gesagt.“

„Wie kann er schwierig sagen, da sie doch so mager ist und kaum hundertzwanzig Pfund wiegt.“

„Ruhe!“ gebot Anselm. „Was versteht ihr? Das Wort schwierig hat mit Gewicht nichts zu tun; man soll nicht von Dingen reden, von denen man nichts versteht. Da soll man lieber mich befragen.“

Er bildet sich viel ein, dachten die andern; das kommt von dem vielen Lesen in seinem Kalender.

Dann kamen sie auf das schwerste Thema des Tages. Eine Magd fragte: „Könnten wir nicht alle diese Nacht munter bleiben, es ist die Todesnacht der jungen Frau. Es ist so unheimlich, weil auch der Sturm so jagt.“

Erst schwiegen sie alle, dann sagte der Sozialdemokrat: „Die Toten sind tot; sie können niemand mehr etwas anhaben —“

„Die Toten sind nicht tot“, sagte Anselm, „sie sind noch irgendwie und irgendwo da . . . das ist bestimmt wahr.“

„Ich fürchte mich“, sagte die junge Magd. „Wisst ihr noch, wie voriges Jahr die beiden Kinder, der Julius und die Brigitte, geschrien haben, als ihre Mutter starb? Voriges Jahr hat in dieser Nacht niemand von uns geschlafen.“

„Wer hätte da schlafen sollen! Die alte Hoheit war nicht zu Hause; sie war im Süden. Als sie merkte, es gehe mit der Schwiegertochter zu Ende, machte sie sich fort. Ja, es hat niemand von uns geschlafen. Die sterbende Frau war mit den beiden Kindern allein.“

Und mit der Krankenpflegerin und mit Tobias.“

„Und mich hat sie rufen lassen“, sagte Anselm, „und hat gesagt: ‚Grüsse alle unsere Leute noch einmal von mir! Bist ein guter, kluger Mann, Anselm; gib mir die Hand. Grüsse die Leute noch einmal‘.“

Dicke Tropfen liefen dem Alten über die Nasenwände herab. Herb sagte er:

„Sie war eine gute Frau! Wär’ nur die Alte lieber gestorben und die Junge am Leben geblieben!“

Er will doch nicht Vogt werden, dachten die anderen, aber auch sie sagten: „Sie war eine gute Frau!“ Und wenn eines zu träge war, etwas zu sagen, nickte es wenigstens mit dem Kopfe zu diesem Lobe der Verstorbenen.

*

In Brigittes Wohnzimmer sassen drei junge Leute um den festen Tisch, auf dem schon zu Mutters Zeiten die Schulaufgaben geschrieben worden waren; Julius, sein Freund Heinrich Martin und Brigitte. Julius hielt zwei Briefe in der Hand. Zornig sagte er: „Er kann mich nicht in Ruhe lassen mit seinen Schreibereien. Heute befiehlt er mir, ihm zu antworten, wahrscheinlich hat ihm das die Grossmutter eingetrichtert. O, ich habe ihm meine Meinung geschrieben. Passt auf!“ Er las seinen Antwortbrief vor.

„An den Festungsgefangenen

Herrn Eberhard von Kobel . . .

Ulrichshof, den 26. März,

am ersten Todestage meiner geliebten,

unglücklichen Mutter.

Ich berichte, dass Brigitte und ich Ulrichshof verlassen wollen. Wir sind so lange hiergeblieben, weil Brigitte sich nicht von den Zimmern ihrer Mutter trennen wollte. Mir ist das Haus, in dem meine Mutter so unglücklich war und sterben musste, schon lange verhasst. Der äussere Anlass zu dem Entschluss, Ulrichshof verlassen zu wollen, ist der, dass Hoheit dem Doktor Tobias gekündigt hat. Der alte, treue Mensch, der Ihnen, Herr Eberhard von Kobel, zum Maturum verholfen hat und der Ihnen auch die Doktordissertation gemacht hat, soll auf die Strasse geworfen werden, hilflos und krank, wie er ist. Der Grund für diese infame Kündigung besteht darin, dass Tobias unserer Mutter einen kleinen Kranz aufs Grab gelegt hat und dass er Brigitte ein Gedicht, das er selbst verfasst hat, über das Bett gehängt hat. Ich lege Ihnen eine Abschrift dieses Gedichtes bei, obwohl ich glaube, dass Sie es sich nicht über Ihr Bett hängen werden. Wie ich dazu komme, zu wissen, dass Ihre Dissertation ein Plagiat ist, will ich Ihnen mitteilen. Tobias hat mir nicht ein Sterbenswort davon gesagt, dass er der Verfasser Ihrer Doktorarbeit ist, aber er hat mir einmal in seiner Gutmütigkeit verraten, dass in seinem alten Sekretär ein Geheimfach sei, das aber so verzwickt zu öffnen sei, dass niemand das vermöge, der nicht die Kniffe wisse. Nun, das will ich eingestehen, ich war neugierig. Ich las ein Buch über Geheimfächer, das in der Schlossbibliothek ist, und als Tobias einmal vierzehn Tage Urlaub hatte, bastelte ich so lange an seinem Schreibtisch, bis ich das Geheimfach entdeckt und geöffnet hatte. Ich fand unter anderen Papieren, die ich natürlich unberührt liess, das Manuskript zu Ihrer Doktordissertation und drei von Ihnen an Tobias gerichtete Briefe, in denen Sie sich für seine ausgezeichnete Arbeit bedanken, durch die Sie ja in der Tat „summa cum laude“ promoviert haben. Ich will Ihnen etwas sagen, Herr Eberhard von Kobel: als Schüler schreibe ich ab, wenn ich es nötig habe, das ist alter Pennälerbrauch, das ist selbstverständlich; aber wenn ich einmal an den Doktor heran will, dann soll mich eher der Teufel holen, als dass ich mir von einem anderen die Dissertation machen lasse und dann als ein mit fremden Federn geschmückter Hahn in der Welt umherstolziere. Ich habe Ihre in Tobias’ Handschrift verfasste Dissertation und Ihre an Tobias dieserhalb gerichteten Briefe gestohlen und sie in ein viel sichereres Verwahrsam gebracht, als es das Geheimfach des Tobias ist. Tobias weiss noch heute nichts über das Abhandenkommen der Papiere.

Nun, Herr Eberhard von Kobel, fordere ich von Ihnen, dass Sie von dem grossen Erbteil, das Brigitte und ich von unserer seligen Mutter haben, soviel freigeben, dass wir beiden Kinder und Tobias in der Stadt leben können. In drei Jahren werde ich majorenn, von da an ordne ich meine Angelegenheiten selbst.

Sie haben mir heute ‚befohlen‘, an Sie zu schreiben. Nun habe ich geschrieben.

Julius von Kobel.“

Der Jüngling hieb mit der Faust auf den Brief.

„Das bekommt er! Das wird sitzen. Das ist der erste Akt meiner Rache an dem Schufte.“

„Julius“, mahnte Heinrich Martin, „er ist immerhin dein Vater —“

Brigitte weinte tief in sich hinein.

„Ach was, Vater! Diesen Einwurf habe ich erwartet. Passt auf!“ Er zog ein bedrucktes Blatt aus der Tasche.

„Dieses hier ist von einem namhaften weisen Manne geschrieben.

‚Ehre Vater und Mutter!‘ Das ist gut . . . Aber, Mann, ehre die Mutter deiner Kinder, Frau, ehre den Vater deiner Kinder, Vater und Mutter, ehrt eure Kinder! Bereitet euch niemals untereinander Schaden und Unehre! Das ist ein ebenso richtiges Gesetz wie das des Moses, und wer es nicht befolgt, dem wird es nicht wohlergehen, und er wird nicht lange leben auf Erden.“

Kreidig war das Gesicht des Jünglings. Unnatürlich laut sagte er:

„Das, was der Mann geschrieben hat, ist richtig, richtig wie die Bibel. Heinrich, weisst du, dass ich nicht in unsere Verbindung eintreten wollte, weil ich mich durch meinen Vater entwürdigt fühlte?“

„Eine Festungshaft ist nichts Entwürdigendes, und was so dazu führt, ist eben üblich in der Welt.“

„Schöne Üblichkeit, haha! Die ganze Gesellschaftsmoral soll in die Mistpfütze geworfen werden, da gehört sie hin!“

Ein Donnerschlag draussen. Heinrich eilte ans Fenster.

„Der Sturm hat die Heuscheuer abgedeckt.“

„Haha! Es wird ein Sturm kommen, der die ganze Bude hier niederreisst und alle Buden, in denen Herrenleute hausen. Dieses Haus war immer ein Sündennest. Frag nur die alte Hexe unten, die meine Grossmutter ist, die mit den Toten spricht und den Teufel durch die Karten um Rat fragt, frag sie, ob sie noch auf den Schutz und Segen des Himmels hofft.“

„Ich bitte dich, Julius“, weinte Brigitte auf, „schicke den Brief nicht ab, er ist so schrecklich grob.“

„Er ist wirklich zu grob“, sagte Heinrich.

„Wartet ein wenig, ich bin bald wieder da!“

Eben donnerte die zweite Hälfte des Scheunendaches zu Boden.

Bedrückt sassen Heinrich Martin und Brigitte am Tisch.

Nach fünf Minuten war Julius zurück. Es war vom Wetter zerzaust und durchnässt.

„Der Brief liegt im amtlichen Brieflasten!“ sagte er.

„Weine nicht so sehr, Brigitte! Der, um den diese Tränen rinnen, verdient sie wahrlich nicht. Brigitte, du weisst nicht alles von jenem Manne, der leider Gottes für uns ‚Vater‘ heisst. Du weisst nicht das Schwerste, du sollst es auch nie, nie erfahren. Du sollst mir bloss glauben, wenn ich dir sage, dass Eberhard von Kobel der Mörder unserer Mutter ist, der bewusste Mörder unserer Mutter. O, man kann nicht bloss morden mit Pistole und Dolch, am leichtesten mordet es sich durch Gift, nicht mit Arsen und anderen Giften, die die Gerichtschemiker leicht nachweisen, worauf dann der Henker droht, nein, mit anderen Giften, die ebenso tödlich wirken, von denen viele Leute wissen, die doch nicht imstande sind, den elenden Giftteufel vor das Gericht zu bringen. Brigitte, Heinrich, glaubet mir, es gibt keinen anderen Richter und Rächer auf Erden, was meine Mutter betrifft, als mich. Und diesen Richter und Rächer soll Eberhard von Kobel finden. Dieser Richter und Rächer wird weder Erbarmen noch Gnade kennen.“

Er hatte mit der Leidenschaftlichkeit der Jugend gesprochen, die sich am eigenen Mut, am eigenen Zorn, an den eigenen Worten berauscht, die in der Liebe wie im Hass masslos ist. Junge Augen träumen am süssesten, junge Zähne knirschen am lautesten.

Keines von den dreien hatte bemerkt, dass sich der Vorhang zum Nachbarzimmer leise verschoben hatte und der alte Tobias eingetreten war. Er hatte die letzte Rede des Julius mit angehört.

„Erschreckt nicht, es ist nur euer alter Toby.“

Sie erschraken doch alle drei. Dann fragten sie, warum er denn aufgestanden sei bei seinem kranken Zustande. Er bedürfe der Ruhe.

„Das ist keine Nacht der Ruhe. Auch die Dienstleute schlafen nicht. Julius, gerade in dieser Nacht solltest du nicht so harte Worte sprechen wie eben jetzt. Deine Mutter war milde. Hast du je gehört, dass sie ein rachsüchtiges Wort gegen deinen Vater gesagt hätte?“ „Sie war ein Frau. Sie war edel, allzu edel. Deshalb ging sie zugrunde. Ich bin keine Frau, ich will auch nicht edel und nachsichtig sein, ich bin ein junger Mann, der sein Recht und seine Ehre vertritt und Recht und Ehre der Seinen, der allen denen, die ihm oder den Seinen zu nahe treten, an die Gurgel fahren wird, dass ihnen die Luft ausgeht.“

Tobias erwiderte:

„Jugend ist stark, trotzig, rachsüchtig. Zum Teil beruht das auf ihrer Unschuld. Weil sie selbst noch nichts drückt an ernster Schuld, haben sie für die Schuld anderer kein Verständnis. Die Jungen sind die härtesten und ungerechtesten Richter. Ach, Julius,

‚Wer nie sein Brot mit Tränen ass,

Wer nie die kummervollen Nächte

Auf seinem Bette weinend sass,

Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte.

Ihr führt ins Leben uns hinein,

Ihr lasst den Armen schuldig werden,

Dann überlasst ihr ihn der Pein,

Denn alle Schuld rächt sich auf Erden.‘

Julius, noch ist deine Seele wie ein weiches, wenn auch wildes Meer. Jedes Seeräuberschiff, jeden Kahn, in dem ein zotiges Lied gesungen wird, möchtest du am Ufer zornig zerschellen. Warte nur, bis die Klippen aus der eigenen Tiefe wachsen, Vulkane aufspringen und böse Sandbänke hinterlassen, sieh erst zu, wie dir von den eigenen Schiffen eines nach dem andern scheitern wird, dann wirst du milder urteilen über alles, was du rund um dich als Schuld ansiehst. Wenn dich die himmlischen Mächte erst einmal haben schuldig werden lassen, wenn auch du erst einmal um dich selber weinend in kummervollen Nächten auf deinem Lager gehockt hast, dann erst wirf dich zum Richter über andere auf.“

„Tobias, mir hilft weder Goethes Weisheit noch deine. Meine Weisheit liegt im Blute, und das will Rache.“ Ein Kammermädchen erschien.

„Ich suche Herrn Doktor Tobias. Hoheit lässt Herrn Doktor sagen, er möchte trotz der vorgerückten Stunde bald einmal nach dem Teezimmer kommen.“

„Woher wussten Sie, dass er hier ist?

„Ich dachte es mir.“

„Oho, Sie dachten es sich, Lotte! Sie scheinen ein wenig zu spionieren. Da sehen Sie sich nur vor, dass ich Ihnen nicht durchs Schlüsselloch mal ein Auge ausschiesse; ich bin Kunstschütze.“

„Das lasse ich mir nicht gefallen“, heulte das Mädchen. „Das sage ich Hoheit.“

„Tun Sie das! Hoheit haben Sie schon mancherlei gesagt, zum Beispiel das von dem schwarzen Vorhang und dem Gedichte über dem Bette meiner Schwester. Und nun sofort hinaus und weg von allen Türen, oder die höllische Fledermaus fährt Ihnen in die Perücke!“

Das Mädchen verschwand kreischend.

„Du sprichst sehr hart mit den Leuten.“

„Wart’ nur, Brigitte, führe ich erst mal das Regiment hier auf Ulrichshof, dann fliegt die gute Hälfte der jetzigen Leute zum Tempel hinaus. Ich kenne die Schubiacke ohne Tischrücken und Kartenlegen. Toby, warum stehst du auf, du willst doch nicht etwa nach dem Teezimmer?“

„Ich muss ja; sie hat es mir befohlen.“

„Sie hat dir nichts mehr zu befehlen, sie hat dir gekündigt.“

„Sie ist noch meine Herrin.“

„Aber nicht mehr lange. Dann nehme ich dein Leben in Regie, alter Toby. Und heute in drei Jahren bin ich schon majorenn, heute in drei Jahren habe ich mein Erbe, das mit Brigittes Anteil weit über drei Viertel der Hypotheken des total verschuldeten Ulrichshofes ausmacht, heute über drei Jahre habe ich dem bisherigen Besitzer, Herrn Eberhard und seiner Mutter, die Hypotheken gekündigt und — da sie keinen Kredit mehr haben, anderwärts Geld zu bekommen, beide schon rausgeschmissen . . .“

„Julius, du tobst!“

„Ja, ich tobe! Ich will toben! Du sollst wissen, wie wenig du die grausame Hexe da unten zu fürchten hast. Du gehst nicht nach dem Teezimmer.“

„Ich gehe! Noch ist sie meine Herrin, und noch gefällt mir der Ton nicht, in dem du als mein neuer Herr zu mir sprichst.“

Der leidenschaftliche Jüngling umschloss den Alten mit beiden Armen.

„Toby, niemals werde ich dein Herr sein, immer werde ich dein getreuer Schüler bleiben, der in dir seinen wahren geistigen Vater liebt und verehrt. Wie ein vergötterter Patriarch sollst du auf dem Ulrichshofe leben, wenn ich erst die Herrschaft hier habe. Ich bitte dich, gehe nicht nach dem Teezimmer.“

„Ich muss gehen und will gehen.“

„Nun, so gehe! Lasse dich aufs neue demütigen und misshandeln!“

Ulrichshof

Подняться наверх