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III. Prag
ОглавлениеPrag zeigte ihr sein freundlichstes Gesicht und begrüßte sie mit dem schönen Wetter des bevorstehenden Sommers. Signore Bartolo, der Direktor ihres Lieblingsreisebüros in Rom, der sich wie ein hoher kirchlicher Würdenträger bewegte und auch so sprach, hatte zweifelsohne die Leitung des Prager Grandhotels mit seinen Mails, Anrufen und Interventionen über Skype so gedrillt, dass diese sich auf sie ebenso vorbereitet hatte wie auf Obama. Als Peppino, der schon einen Tag zuvor mit den Koffern angekommen war und im Flughafenhotel geschlafen hatte, vor dem Haupteingang vorfuhr, so als sei dort eine weiße Yacht gelandet, öffneten die Boys in Livree gleichzeitig beide Flügel der Eingangstür, und der Hoteldirektor sprach sie, eine Rose in der Hand haltend, in englischer Sprache mit dem richtigen Titel an – »Serene highness!« – also »Prinzessin«. Natürlich hatte er für sie dieselbe Suite wie für den amerikanischen Präsidenten hergerichtet, denn Bartolo hatte sicher auch nicht versäumt anzudeuten, dass sie als Witwe eines Mannes, der darüber hinaus viele Jahre Senator war, auch weiterhin Mitglied des Klubs führender italienischer Politiker und vor allem des europäischen Hochadels sei. Allerdings wusste er nicht und konnte deshalb das Personal nicht darauf aufmerksam machen, dass sie Tschechisch sprach, somit sprachen anfangs alle mit ihr Englisch, während sie das Vergnügen hatte, solche Aufforderungen zu verstehen wie »Franta, du sollst ihr die Aufzugtür aufhalten!« oder »Idiot, zerkratz den teuren Koffer nicht!«. Sie wollte nicht, dass sich daraus ein riesiger Skandal entwickelte, deshalb gab sie ihr Geheimnis schnell preis und betonte, die paar Bemerkungen überhört zu haben. Wiederum amüsierte sie, dass der »Idiot mit dem Koffer«, als er sich für das reichliche Trinkgeld mit einem Diener bedankte, sie mit »Frau Prinzessin« ansprach. Im selben Augenblick stellte sich die Hoteldame mit ihrer Assistentin ein, unter ihrer Leitung wurden alle Sachen aufgehängt und verstaut. Aus ihrem Gesichtsausdruck schloss sie, dass selbst die schöne Frau Obama keine drei Paar Tanzschuhe mit sich geführt hatte.
Dann nahm sie einen weiteren Schluck irischen Whisky, legte sich in die Wanne für zwei, schaltete Whirlpool und Fernseher gleichzeitig ein und sah die ersten tschechischen Nachrichten seit den letzten vierzig Jahren, in denen dem Idol des Prager Frühlings, Alexander Dubček, Tränen in den Augen standen, nachdem die erschöpften Reformatoren und zufriedenen »Konservativen« aus Moskau zurückgekehrt waren, wo man gerade den »vorübergehenden Aufenthalt der Bruderarmee« in der Tschechoslowakei, die somit zum sowjetischen Gubernium wurde, unterschrieben hatte. Ihr Viktor bezeichnete den Versuch, den Totalitarismus zu demokratisieren, von Anfang an als kindlich naiv. »Ein Hase bringt dem Bären nicht bei, Gras zu fressen!« Das Ergebnis des Eintauschs des bösen Fridolin Novotny gegen den braven Pierrot Dubček kommentierte er mit einem Bonmot: »Ein alter Saustall mit neuem Personal«. Und das Weinen des Ersten Sekretärs über das Ergebnis der Moskauer Gespräche, dessen Kern den Bürgern verborgen blieb, widerte ihn förmlich an. »Die Unterstützung von fünfzehn Millionen im Rücken zu haben, in denen sich die Okkupationsarmee wie Zucker auflöst, und alles derart zu vergeigen, dafür müsste sich jeder ehrliche Politiker erschießen!« In Rom konnte man kein tschechisches Fernsehen empfangen, und nach Viktors Tod begann sie, die Zeitungen, die ihnen Bekannte aus Prag über verschiedene Boten geschickt hatten, ungelesen wegzuwerfen. Die Exilzeitungen lasen sie schon seit längerer Zeit nicht mehr, denn den eingefleischten Demokraten Viktor hatten ihr primitiv radikaler Antikommunismus und auch die Kleinkriege der verschiedenen Emigrantenwellen abgestoßen. »Im Totalitarismus Winzlinge, in der Freiheit Riesen!« Was sie jetzt von der Badewanne aus sah, waren die Bilder des Lebens eines unbekannten Landes, wo sich selbst die Sprache verändert hatte, an eine so nachlässige Aussprache konnte sie sich nicht erinnern. Von allen Gesichtern sprach sie nur das von Präsident Havel an, der gerade seinen ersten Film drehte.
Als er im ersten Jahr seines Präsidentenamtes während eines Staatsbesuches auch nach Capri gekommen war, hatte sie dort gerade, schon mit Giorgio, die traditionellen Ferien im Quisisana verbracht, und für das Bankett in dem berühmten Hotel erhielt sie natürlich eine Einladung. Kaum hatte sie Havel tschechisch begrüßt, gab er ihr den Vorzug vor seinem eigenen Dolmetscher. Und als er festgestellt hatte, wer sie war, wich er nicht mehr von ihrer Seite und verbrachte entgegen dem Protokoll mit ihr den größten Teil des Abends. Er habe sie zwar nie, entschuldigte er sich, im Nationaltheater tanzen sehen, doch er habe sie als Star verehrt, der alle großen Diskussionstribünen des damals weltbekannten politischen Prager Frühlings geziert habe. Er habe auch Viktor gekannt, doch er war zu gut erzogen, als dass er die Witwe gefragt hätte, warum der große Dichter damals nirgendwo teilgenommen habe, somit sei er dann nur ihretwegen emigriert. Ein bisschen hatte sie sich in Havel auf Capri verliebt, er war damals ein faszinierender Mann auf dem Höhepunkt seiner Kräfte, vergöttert von der freien Welt. In dem TV-Spot erinnerte er sie jetzt in fast erschütternder Weise an den ermatteten Viktor und auch an Vittorio in den letzten Monaten ihres Lebens, und sie wurde von Traurigkeit übermannt. Ehe diese jedoch sich in ihr festsetzen konnte, stieg sie aus der Wanne, trank ein weiteres »Hütchen« und setzte sich an den Computer.
Fünf Minuten später wusste sie, dass der Argentino heute in dem guten alten Restaurant Mánes getanzt würde, fast erschrak sie ob dieses schicksalhaften Refrains. Zehn Minuten später zog sie Sportkleidung an, und nach einer halben Stunde hatte sie mit Make-up neben Dutzenden von Falten auch ein paar Jahrzehnte mit weggewischt. Sie wagte es nicht, gleich beim ersten Mal durch diese ihr fremd gewordene Stadt zu Fuß zu gehen, und so fuhr Peppino sie ins Slavia. Am Nationaltheater zitterten ihr vor Erregung die Knie. Sie gab ihm die Anweisung, genau um acht wieder hier vorzufahren, und sie versuchte, schneller ins Café zu gelangen, als die an der Straßenbahn wartenden Gaffer die Aufmerksamkeit von der weißen Limousine auf sie übertragen hatten. Eine Sekunde später fühlte sie sich so, als hätten Engel sie nun kopfüber in die Stadt ihrer Jugend getragen.
Sie konnte nicht beurteilen, ob sie die ursprüngliche Möbelgarnitur sah, doch sie glaubte daran, als sie die durchsichtige grüne Muse sah, die auf dem Tisch eines Absinth-Trinkers saß, das berühmte Bild hing schon dort, als sie das erste Mal nach Prag gekommen war, und zwar gleich mit dem festen Entschluss, die Aufnahmeprüfung für das Konservatorium zu absolvieren. Damals hatte sie allein dagesessen – die Eltern waren längst tot, bis auf ihren »Fast-Vater«, wie sie ihn nannte, dem sie es dann stolz heimzahlte, dass er sie völlig verleugnete, nachdem er der Mutter weggelaufen war –, wie auf ein Märchenschloss hatte sie von hier aus bei Sodawasser auf die beiden Trigen geschaut, die sich über dem Nationaltheater erhoben, und sie träumte einen unerfüllbaren Traum. Diese Erinnerung wurde aus dem Meer von Applaus hervorgespült, den sie sieben Jahre lang als Coppélia, Odetta und Odile oder Julia, ihre Namensvetterin, auslöste. Auf diesen Namen verzichtete sie dann in Italien aus nüchternen Gründen durch die Annahme der italienischen Variante Giulietta, der sich dort besser aussprechen ließ. Im Unterschied zu den meisten Leuten, die in Form von Fotografien oder Filmausschnitten in die Vergangenheit reisen, waren ihr Stimmen und Klänge im Gedächtnis geblieben. Und so hörte sie auch jetzt die bedrohlichen Eingangstöne zu Prokofjew, die schon von Beginn an den Tod ankündigten – Tjamtadamta tjamtadamta tjamtadamta tiidaa, tjamtadamta tjamtadamta tjamta ...
»Womit kann ich dienen?« Der Kellner vermutete in ihr eine deutsche Touristin, und sie übernahm diese Rolle.
»Haben Sie türkischen Kaffee? Aber nicht den orientalischen ...«, erinnerte sie sich, »ich meine den, Sie nennen ihn hier doch turek ...« Das wusste er zu schätzen.
»Sie waren schon in Prag!«
»Ja, aber das ist schon lange her!«
»Macht nichts, den turek machen wir immer noch!« Statt eines Glases mit einer aromatisch duftenden schwarzen Flüssigkeit, die so dick war, dass der Löffel darin stand, brachte er eine Tasse irgendwas, das an zusammengegossenes Wasser aus Kartoffelschalen erinnerte. Als sie jedoch davon trank, war auch ihr Magen sofort wieder zu Hause, der hier und im gegenüberliegenden Gebäude jahrelang dreimal während einer Probe und dreimal während einer Vorstellung nach dieser Brühe verlangt hatte. Seltsam, dachte sie, der Magen und die Sprache sind eigentlich eine übertragene Heimat, die den Menschen nie verlässt. Am Klavier, das zu dieser Zeit noch stumm war, lagen Zeitungen, deren Namen sich verändert hatten, einige waren länger, einige kürzer geworden. Was sie las, vergaß sie gleich wieder, sie nahm nur das Ambiente des Cafés wahr. Fort war die Horde von ausgelassenen Studenten der Filmakademie der musischen Künste, die direkt über dem Café ihren Sitz hatte, verschwunden waren auch die einsamen Rentner, die hier bei Sodawasser ihre Zeitungen lasen, schämten sie sich nun vor den Ausländern oder können sie sich nicht mal mehr das Wasser leisten? Es überwogen hier die fast einheitlich gekleideten Tschechen in Krawatten, die ernst über auf dem Tisch ausgebreiteten Dokumenten diskutierten, sie tippte auf Manager. Ihre Rührung wich, als sie merkte, dass von dieser fast unveränderten Kulisse eine Kraft ausging, die der durchsichtigen Muse ähnelte, die sie auch einst vor ihrer schicksalhaften Aufnahmeprüfung und später fast vor jeder Vorstellung im Nationaltheater ergriffen hatte. Das Klavier ertönte und servierte Musik, die sie schon längst als globalisiert bezeichnete, weil diese sie fast in allen Cafés des Westens sowohl betäubte als auch langweilte, die schon lange ihr einstiges Flair verloren hatten. Sie schaute auf die Uhr, es war fast acht, sie legte eine etwas größere Banknote auf den Tisch, die sie zusammen mit dem Flugticket bereits in Rom bekommen, aber noch nicht gründlich angeschaut hatte, und sie schaffte es gerade in dem Moment auf die Straße, als Peppinos weißer Schoner anlegte. So wie sie es abgemacht hatten, öffnete er nicht die Tür, um nicht den Verkehr zum Erliegen zu bringen, sie sprang behände selbst in den Wagen und wies ihn an, vor der Brücke nach links abzubiegen. Der Fahrzeugplebs stand für den Ghost wie üblich Spalier, alle bremsten, um ihn sich anzuschauen, und nach nicht ganz einer Minute war sie am Mánes, konnte gerade so ihre Stadt- gegen die Tangoschuhe mit einem ordentlichen hohen Absatz eintauschen, Peppino hielt in einer Ecke des Bürgersteigs vor der Abfahrt zum Kai und bekam von ihr die Anweisung, um Mitternacht wieder zu erscheinen, er konnte seine Verwunderung nicht verbergen, dass er so früh kommen sollte, doch sie wollte sich für morgen richtig ausschlafen, wo sie mit dem Prager Genius loci zusammenzutreffen beabsichtigte.
Im Mánes war sie in ihrem Leben oft gewesen, auf Partys und bei den schicksalhaften Versammlungen des Jahres achtundsechzig, doch vor allem: im Mánes hatte sie zum ersten Mal ihr Viktor der Erste angesprochen, wie sie ihn bezeichnete, um ihn von Vittorio zu unterscheiden; sie war fest entschlossen, gerade heute in allerreinster Form ihre Sehnsucht nach beiden auszutanzen. Wo hier das Tanzparkett war, davon hatte sie keine Ahnung, doch sie bemerkte einen jungen Mann, der wahrscheinlich auch stehen geblieben war, um das beste Auto der Welt in der luxuriösesten Version zu sehen, und sie fragte ihn.
»Wissen Sie, wo hier heute getanzt wird?«
Er wusste es: »Unten.«
»Eine normale Milonga?«
»Ja.«
Erst jetzt bemerkte sie, dass er Schuhe im Beutel dabei hatte. »Gehen Sie hin?«
»Ja ...«
Nach dem Gesetz aller Milongas auf dieser Welt duzte sie ihn sofort. »Und, hast du eine Partnerin?«
»Nein ...«
Zufrieden hakte sie sich bei ihm ein. »Jetzt hast du eine.«
Leo kam sich vor wie jemand, der urplötzlich von einem Fluch befreit war. Eine tschechischsprachige Millionärin aus Italien, wie das Kennzeichen des göttlichen Wagens verriet, die hier in Jeans einen Partner für einen Tango argentino suchte – davon hatte er bis jetzt nur träumen können. Tschechinnen zahlten selten mehr als einhundertfünfzig Kronen für eine Tanda, bei den Touristinnen überwogen speckige Rucksackträgerinnen, die einen Gegendienst in ihrem Hotel anboten, doch für Sex hatte Leo immer genug Gelegenheit, und vor allem konnte man nicht davon leben. Ein Glücksgriff waren deshalb die Ehefrauen der Prager Diplomaten, die sich wahrscheinlich untereinander geeinigt hatten, dass sie pro Tanda fünfzehn Euro zahlen würden, leider nicht einen Cent mehr, aber glücklicherweise auch nicht weniger, also musste man nicht um sie losen. Die Streichhölzer, das hatte Kája so ausgedacht, wurden auf vier unterschiedliche Längen gestutzt, wenn unter den Süchtigen kein bekanntes Gesicht war und man »blind« wählen musste, dann loste man zumindest um die Hübscheste der Hässlichen.
Auf dem kurzen Weg, als er sie über die Treppe ins untere Restaurant führte, an die das Tanzparkett angrenzte, überlegte er, wie alt sie wohl sein könnte. Wenn er das stark mit Make-up bearbeitete Gesicht hinzurechnete und den unglaublich schwungvollen Schritt abzog, ergab das ein Mittel von plus minus sechzig. Beide hatten nichts aufzuschieben, und so begleitete sie ihn sofort aufs Parkett, wo bereits getanzt wurde, und gleich fasste sie ihn bei beiden Armen. Ehe sie sich bewegte, forderte sie ihn noch auf: »Sag Julia zu mir. Und du bist wer?«
»Leo.«
»Aha. Dann zeig mal, was für ein Löwe du bist!«
Die Zahlungsmodalitäten erwähnte sie nicht und ließ sich sofort führen. Ab dem ersten Schritt war ihm klar, dass er eine Partnerin hielt, die es drauf hatte. Er wollte aber nicht riskieren, dass sie schnell müde wurde, und so probierte er nur Figuren aus, die sie nicht verletzen konnten und die auch ihn nicht unnötig erschöpften. Wenig später trafen seine Blicke nacheinander Kája, Mirek und Lád’a, sie hatten die einzigen drei Damen unter sich aufgeteilt, die hier heute gut aussahen. Wie unzählige Male eingeübt, signalisierten sie ihm jedes Mal, wenn sie sich bei den Drehungen ins Gesicht sahen, spöttisches Mitleid. Er konnte sich vorstellen, welch gepfefferte Bewertung er hören würde, wenn er sich mit ihnen traditionell in der Pause auf der Toilette traf. Er freute sich darauf, sie dann zu übertrumpfen, doch er wusste noch immer nicht, wie er zu Verhandlungen über Geld gelangen sollte. Und wie wäre es, fiel ihm aus heiterem Himmel ein, wenn er dies absolut ihr überlassen würde? Und was wäre, wenn er sich sogar, er dachte immer intensiver nach, in diesem Falle zu der Millionärin ähnlich galant verhalten würde, wie er sich verhalten hatte, als er ganz normal mit den Mädchen aus der Schule und aus dem Betrieb plänkelte?
Seine verdrossene Seele begann sich auf einmal leise zu freuen. Nein, sagte er zu sich, er war kein Gigolo und wird vor allem keiner werden! Morgen würde er Robert bitten, ihm ein Treffen mit dem Chef von Sonnymat zu arrangieren, der ihm schon damals angeboten hatte, dass er jederzeit zurückkehren könne. Er würde also zurückkehren, lernen, früh aufzustehen, er würde seine Schulden bezahlen und vor allem denken! denken wie damals, als er beim mündlichen Staatsexamen die Prüfungskommission so sehr beeindruckt hatte, dass sie ihm einstimmig das Diplom »cum laude« zusprach. Er tanzte, wie er es gewohnt war, automatisch, doch dabei recht erfinderisch, damit sie es nicht merkte. Sie schien es ihm in ähnlicher Weise gleich zu tun, somit kamen sie sich gegenseitig nicht ins Gehege.
Als die Kapelle endlich zur Pause in die angrenzende Bar verschwand, wollte er sich bei ihr entschuldigen, er müsse kurz austreten, da sprach sie das erste Mal nach eineinhalb Stunden und überraschte ihn mit einer Frage: »Du bist mit einer Truppe hier?«
»Wie, mit einer Truppe ...?«
»Und ihr seid vier, nicht wahr?«
Er versuchte, das noch durchzustehen. »Vier was ...?«
»Leo, hältst du mich für blöd?«
»Warum sollte ich Sie ...«
»Ihr seid Taxi-Dancer, nicht?«
Den Ausdruck kannte er, aber ausgesprochen hörte er ihn zum ersten Mal. Auf jeden Fall klang das besser als Gigolo!
»Ja ...«
»Warum hast du dann bei mir keine Taxe ausgehandelt?«
Er wollte nicht weiter lügen. »Es kam mir blöd vor ...«
»Aha, und warum?«
»Wahrscheinlich deshalb, weil Sie von draußen gekommen sind ...«
»Du wolltest also alle guten Landsleute vor der entfremdeten Landsmännin repräsentieren? Oder hast du dich etwa geschämt? Das musst du nicht. Das ist ein normaler Beruf, und ich brauche ihn darüber hinaus oft, also zahle ich auch ohne Diskussionen und gut. Jetzt gehe ich raus rauchen, und du hol uns beiden mal einen Whisky, wenn sie einen Malt haben und dazu noch Irish.«
»Hier wird während einer Milonga kein Alkohol ausgeschenkt.«
»Das ist mir bekannt, lieber Leo, aber ich habe noch keine Bar kennengelernt, wo man mir für ein ordentliches Bakschisch nichts gegeben hätte!«
»Wie viel soll ich geben?«
»Ich kenne die hiesigen Preise nicht, deshalb hast du kein Limit, gib, was du für richtig hältst.«
Sie zog ihre Zigarettenschachtel und das Feuerzeug aus der Tasche und zauberte dabei eine Banknote hervor.
»Wie viel ist das?«
»Ein Palacký, also eintausend.«
»Reicht das?«
»Auf jeden Fall!«
»Schön. Den Rest kannst du behalten. Ich bin dort, wo wir uns getroffen haben.«
Und fort war sie.
Das Trio kehrte schon von der Toilette zurück, tankte an der Bar neue Flüssigkeit in Form von tschechischer Cola und begrüßte ihn so, wie er es erwartet hatte.
»Komm her, Spacko, wo hast du den Zombie ausgegraben?«
Das hatte Kája ausgedacht.
»Wenn die dir auf dem Parkett abkratzt, dann sitzt du wegen Leichenschändung, Spacko!« Das war Mireks Beitrag. Lád’a war wie immer nichts eingefallen. Leo überging das und sprach den Barkeeper an.
»Hast du hier irgendeinen zwölf Jahre alten Malt?«
»Tullamore, aber da kostet das Glas zweihundertzwanzig.«
»In Ordnung. Also zwei Mal, und gib mir nur fünfhundert wieder raus! Schon vorher.«
»Das ist in Ordnung!« Großzügig tauschte er mit dem staunenden Barkeeper den Palacký gegen den Fünfhunderter mit Božena Němcová darauf ein und gab ihnen einen Rat: »Ihr Idioten, dann guckt euch doch einfach nur mal ihr Gefährt an.«
Als er eine Weile später mit zwei Gläsern in der Hand zu ihnen nach oben kam, wurde er Zeuge, wie sie sie ansprach.
»Meine Herren, haben Sie einen Wunsch?«
Auf einen so strengen Ton waren sie nicht vorbereitet.
»Wir ...?«, entgegnete Kája, völlig aus dem Konzept gebracht. »Ja. Oder gibt’s eine Frage?«
Kája gelang es endlich zu sprechen.
»Nein ...«
»Wenn ihr mich ausspannen wollt, ich bin bis Mitternacht vergeben.«
Sie zogen sich wieder ins Gebäude zurück, und als Leo an ihnen vorbei ging, hörte er ein wütendes Zischen: »Blöde Scherze heb dir für den ersten April auf, Spacko.«
Er brachte ihr das Glas, und sie stieß sofort mit ihm an.
»Also Cin-cin!« Sie sah, wie er sie anstarrte. »Ist irgendwas?« Wo um acht der weiße Geist des Rolls-Royce gefunkelt hatte, stand ein alter und recht abgewrackter Škoda Felicia.
»Nein, nichts ...«
Wieder durchschaute sie ihn: »Der Ghost wartet in der Hotelgarage, auf der Straße ruft er ja nur Zusammenrottungen von Neugierigen hervor.«
Sie nahm wieder einen Schluck, stützte sich auf das steinerne Geländer, schaute zum pulsierenden Wehr hinüber, wie er es bisher nur in alten Filmen gesehen hatte.
»Was machst du eigentlich?« Sie brachte ihn in Verlegenheit.
»Also jetzt?«
»Na, überhaupt.«
»Ich bin ... ich war IT-Fachmann ...« Sie wunderte sich.
»Auto-Fachmann?«
»Nein, ei-ti, Informationstechnologe, Rechner und so.«
»Aha. Und jetzt rechnest du nur noch mit Schritten, oder?«
»Na ja ... momentan ...«
»Du lebst vom Tango, nicht wahr? Was mir entgegenkommt, denn du weißt ja sicher, wo hier die nächste Milonga stattfindet.«
»Gleich morgen ...«
»Und wo?«
»In der Lucerna-Bar, das ist Ecke Štěpánská und Wenz ...«
»Leo, ich habe hier länger gelebt als du!«
»Oh, pardon ...«
»Keine Ursache. Und hast du morgen was vor?«
»Nein.«
»Jetzt doch. Die Lucerna-Bar.« Sie trank aus und reichte ihm das Glas, damit er es wegbrachte.
»Aber noch hast du nicht sonderlich gut gebrüllt, Löwe!«
»Wie meinst du das ...?«
»Hast du den ›Sommernachtstraum‹ gesehen?«
»Nein ...«
»Das ist von Shakespeare. So ein schönes Lob wird dort ausgesprochen: Gut gebrüllt, Löwe!«
»Und worin habe ich schlecht gebrüllt?«
»Du hast getanzt, als würde es dir nicht sonderlich Spaß machen. Das darf ein Profi nicht.« Jetzt setzte er sich zur Wehr.
»Ich wusste doch nicht gleich, was du kannst!«
»Und jetzt weißt du es?«
»Ich glaube, viel.«
»Dann zeig, was du drauf hast!«
Und so ließ er es im zweiten Drittel krachen, er wechselte zwischen Sacada und Gancio, die effektvollen Volcadas und das lange Planeo, und er musste bewundern, mit welcher Leichtigkeit sie sich ihm anpasste, eine Weile später waren sie ein Paar, das Tango hätte unterrichten können. Zuerst bemerkte dies die Truppe, die ironischen Blicke gingen in Erstaunen über. Allmählich bemerkten das auch die anderen Paare, kurz vor Mitternacht räumte man für sie sogar die Mitte des Parketts, und bei der nächsten Pause wurde herzlich applaudiert. »Jetzt hast du schon besser gebrüllt, Löwe!«, sagte sie zufrieden, »begleitest du mich zum Auto?« Das weiße Phantom hatte sich wieder in den Rolls-Royce der Klasse Ghost materialisiert, der Chauffeur stand vor dem Wagen und hielt den Pelzmantel bereit. Als sie ihn sich umlegen ließ, hielt sie weitere Banknoten in der Hand. Plötzlich hielt sie inne.
»Hast du studiert?«
»Was habe ich?«
»Ob du studiert hast.«
»Klar. Technik.«
»Dann muss ich noch was drauflegen!« Das tat sie auch und fragte weiter.
»Wie heißt du eigentlich?«
»Na, Leo ...«
»Das weiß ich. Und weiter?«
»Nerad.«
»In Ordnung. Also dann morgen um acht?«
»Ja.«
»Also dann ciao oder ahoj!« Der Chauffeur setzte seine Mütze auf, lief hinten um den Wagen, stieg ein, und der Ghost stach majestätisch vom Bürgersteig ab. Als sich Leo umdrehte, erblickte er vor dem Eingang ins Untergeschoss wieder die ganze Truppe, die ähnlich drein schaute wie er vor vier Stunden. Er zeigte ihnen die Banknoten und zählte sie endlich. Sie hatte eintausend pro Stunde gezahlt.
»Mensch, Spacko«, flüsterte Kája, »die musst du für uns melken!«
Von dem riesigen Tablett, den man ihr in das Salon-Apartment brachte, hätte ein ganzes Dutzend Hungriger frühstücken können. Julia bereitete sich nur ein »Frühstück amerikanischer Sportler« zu. So hatten sie und die Mädels im Wohnheim eine Speise bezeichnet, die sie manchmal den ganzen Tag über aßen, wenn sie das Stipendium für hochwertige tschechische Mode vom Ende der fünfziger Jahre ausgeben mussten, das waren seltsam harte Hosen, hierzulande als Texas-Hosen bezeichnet, im Westen Blue Jeans. Die Scheiben Reibequarks mit Tomaten blieben jedoch auf immer ihr Lieblingsessen, auch weil sie ihr bis heute den Geschmack ihrer Kindheit und ihre Wespentaille erhalten hatten. Dazu trank sie ihre erste Tasse Kaffee und holte sich dabei die Adresse des Modehauses in Prag aus dem Internet, das eine Filiale einer führenden Firma aus Rom war, der junge Leo von gestern Abend hatte einen angenehmen Eindruck bei ihr hinterlassen, und sie beschloss, ihn sich auch anders als obligatorisch zu sichern. Dann zog sie ein möglichst unauffälliges Tageskostüm an, setzte eine wenig extravagante Sonnenbrille auf und hüllte ihren Kopf in ein Tuch, so passierte sie die Empfangshalle und auch die Rezeption unerkannt, jedoch ehrfürchtig gegrüßt wie eine der babuschkaähnlichen Ehefrauen von Gästen aus dem Nahen Osten. Peppino hatte bis zum Abend frei, den Hoteltaxifahrer schlug sie freundlich aus.
Durch die Betonlandschaft von Über- und Unterführungen gelangte sie bemerkenswerterweise problemlos – »Du hast einen Kompass in dir!«, hatte Viktor sie immer bewundert – in eine Straße, die sie geradewegs zum Wenzelsplatz führte. Schon dort wurde sie von Erregung ergriffen, dass sie den Namen des ersten Opfers der Nazis, des Studenten Jan Opletal, behalten hatte, der die kleine Julia nur um ein paar Monate überlebt hatte. Ergriffen grüßte sie den Fürsten aus Bronze, doch eher als ihn das Ross, unter dessen Schweif sie mehrmals ein Rendezvous gehabt hatte. Diese Ergriffenheit wich schnell von ihr angesichts des Spaliers zweifelhafter Gestalten aller Hautfarben, die ihr schon am Morgen zumeist erotische Dienstleistungen anboten. Innerhalb weniger Minuten verstand sie, dass Prag sich von all den jahrelang verbotenen Früchten zuerst das minderwertigste bestellt hatte, das aus den Zentren der westlichen Metropolen schon längst von einer anderen Zeit hinausgedrängt worden war. Das braucht Zeit ...! sagte sie zu sich und ließ ihre Augen auf den Portalen der alten Häuser ruhen, deren Schönheit sie jetzt zum ersten Mal wahrnahm, denn als sie Prag verlassen hatte, waren diese eingehüllt in ein Grau und den Schmutz des dahinsiechenden Sozialismus. Die Straße Vodičkova, in die sie gerade einbog, wurde damals eingerahmt von einem langen Laubengang aus Brettern mit der Aufschrift Achtung, sims kann abstürzen! Nun zierten sie Fassaden, die sich mit den Pariser Champs-Élysées, der italienischen Via Veneto oder dem Wiener Kohlmarkt messen konnten.
Die meisten Häuser waren nach Eigentumsrückgaben wieder instand gesetzt worden, und zwar zu einem Preis, den der siegreiche Kapitalismus immer und überall in Rechnung stellt. Hier funktionierte er offensichtlich schon bestens in seiner doppelten Form, die Balzac und nach ihm auch Brecht mit »Glanz und Elend« bezeichneten. Der Glanz wurde hier sehr störend durch Kitsch abgestumpft, das Elend liebenswürdig durch den sichtbaren Boom gedämpft. Sie hörte auf, wie eine linke Touristin zu denken und versuchte, wieder Bürgerin der Stadt zu werden, in der sie die besten Jahre ihres Lebens verbracht hatte, weil sie ihr die verschwundene Welt ihres heimatlichen Mähren hatte ersetzen können. Das Neustädter Rathaus und das Gerichtsgebäude zeigten sich auch in vollem Glanz, und die einst langweilige Straße Myslíkova überraschte mit einer Palette angenehmer Farben restaurierter Mietshäuser im Patrizierstil. Doch dann wurde schon alles vom gebrochenen Weiß des nicht alternden Gebäudes Mánes überstrahlt, das sie am Abend vorher auf einen Tanzsaal reduziert hatte, und deshalb sah sie es erst heute in seiner gesamten Gropius’schen Schönheit.
Der Bauhaus-Stil, nur etwas älter als sie selbst, hatte sie schon von klein auf durch seine überwältigende Einfachheit fasziniert, Viktor hatte über ihn gesagt, er sei »genial einfach wie ein Dreieck und genial funktionstüchtig wie eine Schubkarre«. Diesmal ging sie nicht hinunter, sondern sie betrat das Restaurant auf der Ebene des Ufers. Dieses öffnete gerade und war noch ganz leer. Hinter der riesigen Glasscheibe, die die gesamte Frontseite ausfüllte, befand sich das »Goldene Kapellchen«, das Nationaltheater, und diesen Beinamen, den das Gebäude von begeisterten Patrioten erhalten hatte, trug es zu Recht, denn die grell angestrahlte Krone blitzte, was an ein kleines Sonnengewitter erinnerte. Als Viktor Julia hier zum ersten Male ansprach, war das Dach instandhaltungsbedürftig und deshalb glanzlos gewesen.
»Entschuldigen Sie, Madame, sind Sie nicht Julia Jandová?«
»Bitte??« Aber nein, nicht Viktor beugte sich zu ihr herab, sondern ein sehr alter Kellner in einer sorgfältig gepflegten schwarzen Weste und einem weißen Vorhemd.
»Entschuldigung, ich hatte den Eindruck ...«
»Aber ich bin wirklich Julia Jandová, genauer gesagt, das war ich ... haben Sie mich noch erkannt??«
»Nein, ich habe Sie nur noch nicht vergessen. Sie haben sich doch hier mit Doktor Konečný getroffen, ehe Sie ... also ehe er sich ...«
»Hat scheiden lassen, das stimmt! Und Sie arbeiten immer noch hier?«
»Ich arbeite wieder hier, sie haben mich als Aushilfe eingestellt, aber nun sind es schon zehn Jahre, weil sich hier in der Zwischenzeit mindestens zwanzig Kellner die Klinke in die Hand gegeben haben, die eigentlich nur am Trinkgeld Interesse hatten. Frau Julia, wir beide haben hier sogar auf denselben Geburtstag in dem glücklichen Jahr angestoßen, das nur von den Veilchen bis zu den Pflaumen dauerte.«
Sofort erinnerte sie sich an die Zeit der Hoffnung, von der in der Hymne die Rede gewesen war, gesungen mit einer Mädchenstimme, die der selten begeisterte Viktor als »hinreißend groben Samt« bezeichnet hatte.
»Doch keine Angst, Frau Jandová, jetzt wo ich weiß, dass Sie zurückgekommen sind, sage ich niemandem, wie alt wir beide sind!«
Vollkommen perplex war sie dann, dass er ihr zum Lendenbraten auch noch Stille servierte, als er die üblicherweise banale Musik ausschaltete. Das Restaurant blieb lange leer, da, wie er ihr erklärte, die Touristenmeile am Nationaltheater endete, die Künstler aßen zum halben Preis unten zu Mittag, wo sie am Abend getanzt hatte, und der Mánes lebte vor allem von großen Stehbanketts und Festgelagen. Der Lendenbraten kam ihr direkt göttlich vor, allerdings war sie sich bewusst, eine Ewigkeit keinen gegessen zu haben. Der aufmerksame Kellner tauchte mit einem sauberen Wischtuch, das er auf altmodische Weise gefaltet über den Arm gelegt hatte, nur dann auf, wenn sie ihn gerade brauchte, und so dachte sie hier, endlich nicht in der erträumten, sondern wahrhaftigen Ruhe und in Frieden intensiv an die Zeit der schweren Unfreiheit, die ihr seltsamerweise die wichtigste und wohl auch glücklichste Etappe ihres Lebens gewesen zu sein schien. Da war sie erfolgreich gewesen, wurde geliebt, und sie war auch in einen Mann verliebt gewesen, den sie bereits lange gekannt hatte, bevor er sich ihr persönlich vorstellte. Viktor Konečný war ebenso begabt wie bescheiden gewesen, und seine Ehe zerfiel damals eben auch deshalb, weil er, wie ihm seine Frau vorwarf, nicht »zur ersten Liga« der tschechoslowakischen Schriftsteller gehörte. Er konnte und wollte aber nicht zu dieser gehören, eben weil er nicht in die Partei eintreten wollte, die zusammen mit allem anderen auch die Literatur zerstörte; sie schrieb ihr eine Art bizarren sozialistischen Realismus vor, der die Zensur perfektionierte, indem die Autoren diese an ihren Werken selbst vornahmen. Seine Verse, die in limitierten Auflagen erschienen, wenngleich sie jedes Mal gleich in den ersten Tagen ausverkauft waren, faszinierten Julia wahrscheinlich ähnlich wie Viktor ihr Tanz – »Sie dichten mit ihrem gesamten Körper!« hatte er ihr damals gesagt, nachdem sie ihm kurz vorher ihre Reverenz erwiesen hatte.
Ihre schwere Kindheit in einer schrecklichen Zeit hatte sie radikalisiert, ihre engsten Freunde waren enttäuschte Kommunisten, die versuchten, die Partei von den Blutflecken der politischen Prozesse zu reinigen. Sie selbst war in das Konservatorium eingetreten, als die nicht lange zurückliegende Rede von Nikita Chruschtschow den radikalen Kritikern der vorherigen abwegigen Entwicklung grünes Licht zu geben schien. Dies führte sie dann auch auf die Tribünen jenes berühmten Jahres achtundsechzig, während Viktor wie immer »unerkannter Teil der Menge, die sich immer frei entscheiden konnte, ob sie euch Propheten nachfolgt oder aufhängt«, sein wollte. Da sie nach der sowjetischen Okkupation Mitglied des Koordinierungsausschusses des Künstlerverbandes wurde, die vereinbart hatten, dass sie, statt sich zu erniedrigen, lieber, wie der Dichterkönig Jaroslav Seifert gesagt hatte, »mit wehenden Fahnen untergingen«, saß sie neben dem alten Barden auch an jenem nicht enden wollenden Herbsttag, an dem im Mánes die Solidaritätserklärung als Manifest angenommen wurde. Damals war auch Viktor mit dabei und hatte unterschrieben, doch zu Hause holte er sie mit einer harten Prophezeiung aus einem weiteren Traum.
»Die meisten deiner Helden werden auf Jahr und Tag überlaufen, um nicht auf dem Scheiterhaufen zu enden.«
Es dauerte kein halbes Jahr, als er sie überredete, zumindest »vorübergehend in das andere Europa zu gehen, ehe sich entscheidet, wer wen auffrisst«. Er selbst tippte darauf, dass Husák obsiegen würde, der »fähig sein würde, selbst das Ballett zu verbieten, damit die Jandová aus dem Nationaltheater verschwindet«. Er sollte sich nicht irren. Eine Woche nach ihrer Landung in Mailand, wohin sie die Scala auf Grund eines besorgten Briefes solidarisch eingeladen hatte, um in »Schwanensee« ein Gastspiel zu geben, erklärte in Prag der neue Genosse der Erste in seinem originellen Tschechoslowakisch, der Staat sei »kein Taubenschlag, aus dem jeder ausfliegen kann, wie es ihm gerade einfällt«, im selben Augenblick ließ er die Grenzen schließen, »damit nicht einmal eine Maus entwischen kann«. So begann der Weg der Primaballerina zu neuen Höhen und der Fall des Dichters ins literarische Nichtsein, bei dem er aus Liebe zu ihr freiwillig seinen Lesern und seiner Sprache den Rücken kehrte.
Sie war dankbar, dass sie von einer Gruppe englischer Studenten aufgeschreckt wurde, die sich hierher verirrt hatte, anscheinend müde nach einer mehrtägigen Party mit gutem und für sie billigem Bier, sie redete dem Ober die Idee aus, sie nicht zahlen zu lassen, drängte ihm im Gegenzug reichlich Trinkgeld auf und versprach, ganz sicher in vierzig Jahren wiederzukommen. Sie lief am Ufer entlang bis zur Čech-Brücke, von da aus zur Tochterfirma des Modehauses aus Rom vor dem Altstädter Ring und verblüffte das Personal, indem sie die genauen Maße eines Kunden diktierte, mit dem sie, wie sie bekannte, nur einige Male getanzt hatte. Sie leistete mit einer Golden Card eine stattliche Anzahlung, ebenfalls für das Versprechen, sie noch heute eine Stunde oder später nach dem Schließen des Geschäfts zu erwarten, und sie ließ die Angestellten rätseln, ob die bestellten Stücke dem Bedachten auch tatsächlich passen würden. Dann hielt sie das nächste Taxi an, hörte zur Abwechslung in tschechischer Sprache die Klage des Fahrers über das Wetter, die Preise und die Regierung, und begab sich im Hotel direkt ins französische Restaurant, um sich persönlich für den Abend den besten Tisch auszusuchen. Der Maître war schon informiert, denn er teilte ihr sofort einen Ober zu, der perfekt italienisch sprach, vor allem deshalb, weil er Italiener war.
Leo versöhnte sich mit seiner Mutter dadurch, dass er am anderen Tag das tat, wonach sie sich schon lange gesehnt hatte. Er stand vor acht Uhr auf, rief Robert absichtlich beim Frühstücken an, um ihm vor ihr zu sagen, er wolle sich bald mit ihm treffen und über eine mögliche Rückkehr in die Firma beraten. Begeistert war auch der Freund, und sie verabredeten sich, was die Mutter noch mehr freute, für den nächsten Abend. Leo rechnete logischerweise damit, falls ihn die schwerreiche Tschechoitalienerin noch ein drittes Mal buchen würde, mit dem Freund den Termin zu ändern, und der Mutter würde er erklären, Robert habe ihn darum gebeten. Da er so ungewohnt früh in sein Zimmer zurückgekehrt war, wo ihm die Mutter, ehe er die Zeitung fertig gelesen hatte, aus Dankbarkeit wieder einmal das Bett gemacht und aufgeräumt hatte, raffte er sich zu einer weiteren Aktivität auf, die er lange verdrängt hatte. Er erneuerte seine eigene Webseite und versuchte, mit ihrer Hilfe noch suggestiver zu veranschaulichen, worum sich jeder bringe, der seine Dienste nicht in Anspruch nähme. An der Nachfrage Null änderte dies jedoch bis zum Abend nichts, eine gewisse Enttäuschung vertrieb er mit einem Schläfchen, als er sich sicher war, dass ihm die Mutter dies heute nicht übelnehmen würde.
Er wachte so spät auf, dass er es nicht schaffte, noch etwas zu essen, doch vor dem Eingang zur Lucerna in der Straße Štěpánská stand er eine Minute vor acht mit vorbereitetem Regenschirm, den zu holen er noch einmal zurückgelaufen war, als ihn vor der Haustür Regen begrüßte. Und einen Moment später erblickte er dasselbe Bild, bei dem sich die ganze Straße aufzutun schien, damit das weiße Wunder majestätisch durch die Mitte vorfahren konnte. Da schoss auch schon die Automatik des Schirms der mit Seide bespannten Federn ab wie ein Fallschirm, und Leo lief auf die Fahrbahn, um an der hinteren Tür die Hilfe des Chauffeurs zu ersetzen. Als er sie öffnete, schien es ihm, als sei eine andere Frau gekommen, im Unterschied zum fast sportlichen Kostüm, das sie am Abend vorher getragen hatte, trug sie eine Robe, die er auch auf Milongas in besten Kreisen noch nicht gesehen hatte. Die große Schlachtausrüstung! fiel ihm beim Blick auf ihr Kleid und den Schmuck spontan ein, und trotzdem nicht auffallend überladen, wie sich manchmal in Tschechien übergewichtige Ehefrauen behängen, die von ihren neureichen Millionären mit Goldschmuck überschüttet werden, damit sie sich ohne Vorwürfe mit ihren schönen Assistentinnen vergnügen dürfen. In dieser bewundernden Phase hörte er erst beim zweiten Mal, dass sie nicht daran denke auszusteigen, im Gegenteil, er solle einsteigen, er versuchte es sinnloserweise von ihrer Seite aus, bis er begriff, dass er das von der anderen Seite aus tun musste, darauf machte wiederum sie ihn aufmerksam, indem sie ihn auf den Gegenstand hinwies, der ihn am Einsteigen hinderte. Nachdem er seinen Schirm endlich geschlossen hatte, konnte er auch hinter sich die Tür schließen, der Ghost fuhr weich im Spalier der stummen Bewunderer an und glich dabei den Wagen von Befehlshabern der Militärparaden aus Fernsehübertragungen.
Das Innere der Limousine glich einem winzigen Apartment, das vom Fahrer durch eine so starke Glasscheibe getrennt war, dass sie schusssicher erschien. Er kehrte zu ihrem Outfit zurück und wies unzufrieden auf seines, das für eine Milonga ausreichte, doch neben ihr ...
»Ich glaube, ich passe nicht ganz zu Ihnen ...«
»Egal!«
Es ertönte das stereotype Klingeln ihres Handys, sie ging zur Konversation in italienischer Sprache über, somit hatte er mit seinem IT-Italienisch überhaupt keine Chance. Die versteckten Lautsprecher und das Mikrofon machten es möglich, dass sie ihre Position überhaupt nicht zu verändern brauchte, mit verschränkten Armen sprach sie mit einem unsichtbaren, aber angenehmen Bariton, so als sitze sie in einem Café. Vorn neben dem Chauffeur leuchtete ein großes Navigationsgerät, auf dem der Google-Film des Wenzelsplatzes, der Straßen Mezibranská, Žitná und dann wieder hinab zum Mánes lief, dann nach rechts zum Nationaltheater und zur Karlsbrücke, bis sie einmal um das Prager Stadtzentrum herumgefahren waren und in der Straße Pařížská hielten. Da beendete sie das Gespräch und befahl: »Aussteigen!«
Sie wartete nicht auf den Chauffeur, sondern öffnete selbst die Tür, geschmeidig glitt sie aus dem Wagen, und Leo hatte zu tun, sie am Eingang des Luxusgeschäfts einzuholen, dessen Türen sich wie durch ein Wunder auftaten, obwohl die Öffnungszeit schon längst vorbei war. Es erwartete sie ein elegant gekleideter Mann, der in fließendem Tschechisch grüßte, während er mit ihr in einem anscheinend passablen Italienisch sprach. Im ersten Stock begrüßte sie ehrfürchtig ein dicklicher Mann mit einem Maßband um den Hals.
»Geh mit ihm, Leo!« Er folgte also dem Schneider in eine geräumige Kabine, in der ein klassischer »stummer Diener« aus schwarzem Holz stand, der mehrere Textilien trug, nach und nach tauschte er seine Kleidung gegen einen hellgrauen Anzug mit feinen Streifen, ein weißes Hemd mit hohem Kragen, eine Krawatte und ein Einstecktuch, beides ebenfalls fein gestreift, in einer Nuance, in der Grau zu Schwarz wird, schwarze Socken und Schuhe. Der Schneider schwieg ehrfürchtig, doch er nickte jedes Stück freudig ab. Im Spiegel erspähte Leo dann ein wohlgestaltes Mannequin. So erschien er auch dem Chef, der auf Italienisch offensichtlich nicht mit Lob sparte. Auch sie sah zufrieden aus und machte sich auf den Weg.
»Benissimo. Also dann weiter!« Er wagte es, sich zu Wort zu melden.
»Und meine Sachen?«
»Die nimmt man dir nicht weg. Hol sie morgen ab.«
Schon wieder lief sie vor ihm auf dem Bürgersteig her, an dem gerade der Ghost anlegte, den Chauffeur hatte sie wahrscheinlich schon vorher per Handy gerufen. Leo wollte ihr die Tür öffnen, doch sie ließ sich von links in den Wagen gleiten und rückte von dort aus auf den rechten Platz, damit er auch einsteigen konnte.
»Und jetzt gehen wir etwas essen!«, sagte sie zu ihm, nachdem sie losgefahren waren, »ich könnte mich nie mehr an eure Kinderzeiten gewöhnen, zu Hause gehe ich abends nie vor zehn Uhr aus und komme nie vor zwei zurück.«
So als habe die Verkleidung nie stattgefunden, schilderte sie ihm detailliert den Ablauf von Milongas in Rom, »das ist fast so, wie wenn man in die Oper geht, jeder will das genießen wie einen kleinen Festtag.«
Sie ließ ihn nicht zu Wort kommen, und ihn begann zu stören, dass sie ihn behandelte, als würde ihn das alles gar nicht betreffen, so als müsse er gar nichts wissen, als habe sie nur seine Beine und seine Arme gemietet und der Rest ihres Besitzers würde sie überhaupt nicht interessieren. Bestärkt von seiner morgendlichen Entscheidung, in sein früheres Leben zurückzukehren, dachte er beleidigt, so wird niemand mit mir umspringen! Er musste jedoch ausharren, bis der italienisch sprechende Kellner, der auch nur mit ihr sprach, als sei sie allein da, die Flasche echten Champagner geöffnet hatte. Er wartete, bis sie am Korken gerochen hatte, den er ihr auf einem goldenen Untersetzer unter die Nase hielt, und als sie nickte, schenkte er ihr und anschließend auch ihm ein, Leo meinte, in seinem kühlen Ausdruck Verachtung wahrzunehmen. Nachdem sich der Ober entfernt hatte, forderte sie ihn auf, mit ihr anzustoßen.
»Also, cin-cin!« Stattdessen war er aufgebracht.
»Könnten Sie mir erklären ...«
»Siezen wir uns wieder?«, unterbrach sie ihn, doch er hatte sich schon aus dieser zu lange dauernden Defensive befreit.
»Könntest du mir erklären, was du da mit mir machst?«
»Du hast doch sogar selbst gespürt, dass du heute nicht zu mir passt.«
»Ich habe mich für eine Milonga angezogen!«
»Ich werfe dir doch nichts vor.«
»Warum also ...« Sie ließ ihn nicht ausreden.
»Ich wollte, dass du deiner Truppe was zu erzählen hast und doch nicht mit ihnen teilen musst.« Es war offensichtlich, dass sie sich mit ihm aussöhnen wollte.
»Leo! Ich wollte dich nicht beleidigen, nur eine Freude machen, also denk nicht darüber nach, genieß es. Cin-cin!«
Er beruhigte sich, stieß mit ihr an und war sogar in der Lage, unter Verweis auf sein neues Outfit Bewunderung zu äußern:
»Wie konnten Sie ... wie konntest du da so sicher sein?«
»Ich habe dich doch gestern abgetastet. Mach dir übrigens keinen Kopf, das ist vorerst nur geborgt.«
Ehe er dies kommentieren konnte, erschienen die Kellner mit den Vorspeisen, und Leo ließ wieder zu, dass sie alles auswählte, worüber er letztlich froh war, weil er sich die meisten Speisen nicht zu bestellen gewagt hätte, zwar fehlten in dem Angebot für die Gäste die Preise, doch er hatte keine Ahnung, was sich hinter den exotischen Bezeichnungen verbarg. Als das Abendessen vorbei war, wusste er dank ihr, wie man Austern mit Pumpernickel aß und lernte auch sehr schnell, mit einem seltsamen chirurgischen Gerät das beste Fleisch aus den raffinierten Verstecken in den Scheren eines Hummers herauszuholen. Sie lobte ihn, und er war recht stolz darauf. Dann deckte man ab, und ihn erwartete eine kalte Dusche.
»Wann hast du dich entschlossen, Gigolo zu werden?«
Jetzt traf ihn dieser Ausdruck härter als von seiner Mutter.
»Na, erlaube mal ...??«
»Bist du beleidigt?«
»Du hast selbst gesagt, ich bin ein ...«
»Taxi-Dancer! Aber diese Bezeichnung haben sich die Gigolos ausgedacht, ähnlich wie die Müllmänner, als sie begannen, sich als Fachkräfte für Entsorgungstechnik zu bezeichnen, im Grunde ist es doch alles eins.«
»Ein grundlegender Unterschied besteht für mich dann doch darin.«
»Aha, und welcher?«
»Ich tanze ganz normal mit den Frauen. Oder hast du den Eindruck, ich prostituiere mich??«
»Nein. Aber du hast aufgehört, normal zu arbeiten.«
Das ließ er sich nicht gefallen.
»Du arbeitest wahrscheinlich aber auch nicht allzu viel!«
Doch er hörte schnell damit auf, warum sollte er sich selbst und ihr den Abend verderben, sie war eben reich und verrückt, vielleicht hatte sie ihn ja auch gar nicht beleidigen wollen ... »Entschuldige, aber ...«
»Ich habe gearbeitet, solange ich konnte«, sagte sie sachlich. Er war froh, dass sie die Entschuldigung annahm, und er zeigte Interesse.
»Und als was?«
»Na, als Tänzerin.«
Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er das schon hätte sehen müssen, als er sie zum Parkett führte, war sie doch mit ausgedrehten Fußsohlen ins Untergeschoss des Mánes gekommen, die Fersen dicht beieinander stehend, und beim Tango hatte sie jede seiner Bewegungen vorausahnen können!
»Also eigentlich eine Kollegin? In der Operette?«
»In der Oper.«
»Wo?«
»Wo wir gestern waren, von dort aus ein Stück flussabwärts. Wir haben es vom Fenster aus gesehen.«
»Du meinst jetzt nicht das Nationaltheater ...«
»Das eben meine ich.«
»Warst du dort im Ballett?« Sie lachte.
»Eher so eine, die man als Primaballerina bezeichnet.« Er starrte sie ungläubig an, bis sie mit der Auflösung kam.
»Du musst mich dir etwa um hundert Jahre jünger vorstellen! Willst du einen Nachtisch? Cameriere!« Sie ließ sich noch einmal die Karte bringen, doch diesmal fragte sie ihn, ob er irgendetwas möge.
»Eis.«
»Kann ich es dir noch etwas aufbessern?«, fragte sie, wartete aber nicht mehr auf eine Antwort.
»Un sorbetto con limone«, bestellte sie und stand auf.
»Entschuldige, ich gehe kurz auf mein Zimmer, mich umziehen und vor allem eine rauchen, ehe Brüssel auch noch dort Rauchmelder einführt.«
Er musste einen weiteren verächtlichen Blick des Kellners verdauen, der ihm recht dreist zu verstehen gab, wofür er ihn hielt, doch er hatte nur zwei Möglichkeiten: entweder ihm den weißen Gallert ins Gesicht kippen oder ihn ignorieren und essen. Der fremdartige Name bezeichnete normales Wassereis, doch sie hatten es stark mit Wodka aufgebessert. Durch diesen gestärkt versuchte er, Kája telefonisch zu erreichen.
»Na, wie läuft’s, Spacko, ist sie hinter dir her?«
»Na, ich weiß nicht ...«
»Wie meinst du das, Spacko??«
Er berichtete kurz, wie sie ihn eingekleidet, beköstigt und nun im Restaurant abgestellt hatte.
»Ich hoffe, sie holt mich hier ab, und die lassen mich nicht wie einen Hochstapler hochgehen«, meinte er abschließend. »Mensch, Spacko, das ist unvorstellbar!«, freute sich Kája, »und hör mal, wenn du nicht mit ihr im Bett landest, dann komm ins Kasino, Spacko, wir wollen heute nach der Schicht noch in Verlängerung gehen!«
Sie rauchte die Zigarette zu Ende, und als sie sich umzog, legte sie ihren Schmuck in den Safe, nur das Medaillon legte sie nicht ab, ihre nach Giorgios Ansicht »finale Versicherung«, mit der sie in der Regel auch schlief; wie sie die hiesigen Milongabesucher am Vortag gemustert hatte, wäre sie hier wahrscheinlich überall auffallend »overdressed« gewesen. Sie schaute noch einmal in ihre Mailbox und fand eine einzige Mitteilung. Giorgio fragte besorgt, ob sie auch keine Probleme habe, und sie beruhigte ihn mit einer kurzen Nachricht, sie habe das Glück gehabt, einen Tänzer zu finden, der außergewöhnlich gut Tango tanzen könne und eigentlich auch ihren tschechischen Bodyguard spiele, somit werde sie versuchen, ihn auch für ihre nächste Reise zu buchen. Und sie fügte hinzu, sie werde in der Nacht telefonisch mehr berichten. Dann fuhr sie nach unten, ließ den jungen Mann vom Liftboy aus dem Restaurant abholen, und Peppino brachte sie zur Lucerna.
Die Milonga wurde von einem Privatklub veranstaltet, der gleich am Eingang Mitgliedschaften verkaufte, die den Zutritt einfacher Leute verhinderten. Leo kannte man, und wahrscheinlich brauchte man ihn hier, damit der Laden lief, weshalb er sich schon im Wagen leicht unwohl fühlte. Sie spürte das und gab ihm das Geld vorher, damit er alles Notwendige für sie zahlen konnte. Obwohl sie erst nach zehn eintrafen, forderte sie ihn schon halb zwölf zum Gehen auf und lud ihn auf der Straße wieder in ihr fahrendes Apartment ein. Er sah aus, als interpretierte er dies auf seine Art, und sie amüsierte sich ob seiner Verlegenheit und über seine Überraschung, als sie hinter der Karlsbrücke nicht zum Hotel weiterfuhren, sondern zur Mánes-Brücke abbogen und dann an den Chotek-Gärten die Serpentine hinaufglitten. Ein paar Minuten später fuhr der Ghost vom Pohořelec aus auf den Hradschin-Platz, wo er an der Masaryk-Skulptur hielt. Kaum hatte Peppino die Tür geöffnet, nickte sie auch Leo zu, er solle aussteigen und ihr folgen.
Sie blieb jedoch schon nach ein paar wenigen Schritten an einer Metalltafel am Gittertor des äußersten Palais stehen.
»Seit wann ist hier die Nationalgalerie?«
Er zuckte mit den Achseln, und sie machte sich bewusst, dass es keinen Sinn hatte, ihn zu fragen. Sie schritt weiter, gleichzeitig eröffnete sich ihr das magische Bild, wie sie es Tag und Nacht so viele Jahre lang gesehen hatte, die Silhouette Prags, verbunden durch die Naht des Flusses, eingerahmt auf der einen Seite vom Strahov-Kloster und auf der linken durch die weiße Masse der Burg. Das Matthias-Tor war schon geschlossen, nirgendwo war eine Menschenseele, nur sie beide und Peppino, der neben dem Auto stand, reglos wie die Skulptur des ersten Präsidenten über ihm. Sie lehnte sich mit dem Rücken an den steinernen Sims, steckte eine Zigarette in die Spitze, zündete ihren kleinen Goldbarren mit der Bezeichnung Dupont an, und als sie den Rauch ausstieß, erklärte sie diesem Jüngling: »Hier bin ich eine Ewigkeit nicht gewesen.«
»Wie lange?«
»Wie alt bist du eigentlich?«
»Fünfundzwanzig ... bin ich geworden.«
»Dann fast zwei deiner Leben lang.«
»Mensch ...« Warum erzähle ich ihm das eigentlich? wunderte sie sich, was kann er schon darauf sagen? Und gleichzeitig tauchten in ihr die Erinnerungen an die Klänge dieses wahnsinnigen Abends auf, an das fürchterliche Rasseln der Panzerketten, die vom Kopfsteinpflaster abprallten, russische Befehle und die ohrenbetäubende Salve aus einem Maschinengewehr und schließlich das unbeschreibliche Geräusch, als die Kugeln das Fensterglas durchschlugen und sich in die Bücherrücken über dem gegenüberliegenden Bett bohrten.
»Da oben rechts, unter diesem Fenster, müssten im Putz noch Kugeln stecken.«
»Welche Kugeln ...?«
»Aus einem Maschinengewehr. Irgendeinem sowjetischen Panzerschützen sind die Nerven durchgegangen.«
»Meinst du am Ende des Krieges?«
»Ich meine im August achtundsechzig. Aber das ist ja für dich schon fast wie Französische Revolution, stimmt’s?«
»Nein, das nicht, aber ich weiß das nur von meinen Eltern, am Gymnasium hat uns irgend so ein ehemaliger Bolschewik unterrichtet, der ist sicherheitshalber nicht über das Ende des neunzehnten Jahrhunderts hinausgegangen, und an der Hochschule war dann keine Zeit mehr ...«
»Vor allem aber kein Interesse, oder?«
Er wehrte sich: »Die Informationstechnologie schreitet so schnell voran, dass man zu tun hat, Schritt zu halten!«
Sie schluckte die Frage herunter, wie ihm dabei der Tango helfe, und in diesem Moment fragte er: »Und wie siehst du das? Mit den Kugeln?«
»Ein paar sind bei uns im Zimmer gelandet. Wir haben dort gewohnt, ehe wir nach Rom gegangen sind.«
»Wer?«
»Mein Mann und ich.«
»Hat er auch getanzt?«
»Er war Schriftsteller ...«
»Aha ...« Er hatte wohl den Eindruck, dass er aus Anstand noch mehr Interesse zeigen sollte. »Wie hieß er?«
Die Erinnerung, die sie eben noch überkommen hatte, wich der Ironie. »Leo! Wann hast du zum letzten Mal ein Buch gelesen??«
Er gab es zu. »Naja ...«
»Dann frag nicht ... übrigens hat er es nicht bis in die Schullesebücher geschafft. Er war nur ein armer Emigrant und ist kurz darauf gestorben.« Aus seinem Blick zu Peppino und auf den Rolls-Royce verstand sie, was ihm durch den Kopf ging. »Hast du irgendwann schon mal den Namen La Scala gehört?«
»Nein ...«
Sie nickte in Richtung Mitte des nächtlichen Panoramas, wo immer noch das Goldene Kapellchen strahlte.
»Das ist gewissermaßen das italienische Nationaltheater, in Mailand.«
»Aha ...«
»Die kannten mich schon von hier, sie haben uns zu einem Gastspiel eingeladen, und dann habe ich dort getanzt bis zur Ballettrente. Mein Viktor hat gern gesagt: Die Scala hat dir heute so applaudiert, dass sie fast geplatzt wäre. Und ein Jahr nach seinem Tod hat dann dort ein Prinz um meine Hand angehalten.«
»Ein Prinz ...?«
»Hier wäre das ein Fürst. Vittorio Francesco Vicenzo Mortadini. Seitdem bin ich römische Prinzessin, und weil er amtlich seine zwei Brüder hat enterben lassen, weil sie Mussolini und Hitler unterstützt haben, wenn dir diese Namen etwas sagen, so wird mit mir, die ich nun schon zum zweiten Male Witwe bin, dieses Geschlecht völlig aussterben.«
Sie verfolgte seine Reaktion, weil irgendwo gerade die einzige diensthabende Kirche Mitternacht geschlagen hatte und die Sehenswürdigkeiten eine nach der anderen erloschen. Sie winkte Peppino heran, der sofort vorfuhr. Schweigend gelangten sie zum Hotel, wo der offensichtlich angespannte Leo fast mit dem Chauffeur zusammenstieß, weil auch er ihr eifrig die Tür aufhalten wollte. Sie stieg aus, steckte ihm ein paar Banknoten in die Tasche des neuen Sakkos und reichte ihm die Hand.
»Morgen reise ich ab. Also ciao, Leo.« Damit hatte sie ihn so überrascht, dass er sie wieder zu siezen begann.
»Sie kommen nicht mehr zurück ...?«
»Vielleicht in einem halben Jahrhundert.«
»Das ist schade.«
»Warum?«
»Wir sind doch gut miteinander ausgekommen ...«
»Und ich zahle gut, nicht wahr?«
Nickend stimmte er zu, also war er so gereift, dass sie ihm anbieten konnte, was sie seit dem Vortag im Sinn hatte.
»Dann komm doch mit.«
»Wohin ...?«
»Ich mache eine Rundreise durch mein Leben.«
»Und wie lange ...?«
»Das weiß ich nicht. Aber wenn du keine Zeit hast, dann ist das kein Problem. Ich finde sicher jemanden.«
Worauf er sich blitzschnell so entschloss, wie sie es erwartet hatte. »Ich nehme mir die Zeit.« Und schon hatte sie ihn.
»Also dann morgen um eins und nimm deine persönlichen Dokumente mit. Wir beginnen mit einem Mittagessen, im Hotel haben sie mir Brotsuppe mit Knoblauch, Lendenbraten und Erdbeer- und Aprikosenknödel mit Quark versprochen. Hol vorher deine alten Sachen ab, der Anzug gehört dir schon.«
Mit einem Kasino hatte die Kneipe dieses Namens nichts gemein. Es war ein richtiges Lokal, wo ein gepflegtes Pilsener gezapft wurde. Letztes Jahr hatten ihn die drei hierher mitgenommen, als er das erste Mal als attraktiver und deshalb gefährlicher Konkurrent auf einer Milonga aufgetaucht war. Ursprünglich sah es so aus, als wollten sie ihn in der Pause klassisch auf dem WC durchwalken, einer hatte gegen drei keine Chance, doch es war ihm glücklicherweise schon dort gelungen, sie davon zu überzeugen, dass er ein würdiges Teammitglied sein könne, wo er doch beim Tango x-mal mehr Variationen beherrschte als sie und bereit war, mit ihnen pari-pari zu teilen. Den Vorteil des »großen Topfes« erkannten sie gleich beim nächsten Mal, und außerdem konnte er ihnen bei der Elektronik raten, deren Tücken ihnen den Job schwer machten.
Der Abstecher auf den Hradschin hatte bewirkt, dass er zeitgleich mit ihnen ankam. Sein Anzug und die Schuhe, weitere vier Tausender auf dem Tisch, von denen drei ihnen gehörten, und ihr Angebot, sie zu begleiten, riefen eine übereinstimmende Reaktion hervor, die der Chef definierte, als den Leo aus taktischen Gründen auch weiterhin Kája ansah. »Mensch, Spacko! Die will dich ins Bett kriegen!« Das wies er entschieden von sich.
»Quatsch! Sie könnte meine Großmutter sein!«
»Wer so einen aufs Parkett legt, Spacko, der fickt auch so!« Die drei brachen in Gelächter aus, doch der Chef wurde gleich wieder ernst.
»Eine steinreiche Witwe ohne Verwandte, Spacko, du könntest ein zweiter Schwanzenberg werden!«
»Wie meinst du das?«
»Spacko, der erste Schwanzenberg hat, das hab ich mal gelesen, in der Zeit des Pferdes irgendwo auf einer Burg eine Siebzigjährige gefickt, und sie hat mit ihm das Geschlecht gegründet!«
»Das würde mein Magen nicht mitmachen!«
Míra gab ihm einen Rat: »Dann schalte deinen Magen auf Schwanz, Spacko!« Wieder Gegröle. Und wieder wurde dies vom Chef beruhigt, der zivilisiert sprach.
»Halt mal, Leo, du bist der Intelligenteste, aber wiederum nicht so, dass du uns drei jetzt übergehst und nun dein eigenes Ding drehst. Du hast uns überredet, dass einer für alle arbeitet und alle für einen, nur deshalb hat dir Lád’a nicht die Visage eingeschlagen. Also leg die Lady richtig flach, damit wir alle mal einen schönen Urlaub in der Karibik machen können!« Der meist stumme Lád’a ließ zur Abschreckung seinen Bizeps spielen, ballte die mächtigen Fäuste und fügte kompromisslos hinzu.
»Das bist du uns schuldig, Spacko!« Leo verstand, dass er damit die Zustimmung erhalten hatte. Der Chef schlug ihm zur Ermunterung auf den Rücken, und Mirek würzte noch nach: »Aber aufgepasst, Spacko, dass ihn dir nicht das künstliche Gebiss einklemmt!«