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IV. Olmütz
ОглавлениеSie verglich die Stadtkarte mit der Realität. Die Glaswand der Hotelsuite bot einen Ausblick auf das alte Olmützer Rathaus. Als sie das letzte Mal im Jahre achtundsechzig mit einer Delegation des Koordinierungsausschusses der Künstlerverbände hier gewesen war, versuchte sie vergebens, die Scherben der Hoffnung vom Frühjahr zu kitten. Damals saß hier der Generalstab der Okkupationsarmeen. Die Panzer hatten sich schon in die umliegenden Wälder zurückgezogen, damit diese nicht die internationalen Medien provozierten, während die Stadt vor russischen Uniformen nur so wimmelte, die wie Ameisenzüge in die beiden größten Kaufhäuser zogen, aus denen sie alles, was ihnen als Erstes in die Hände fiel, in ihre Unterkünfte schleppten. Sie wollte das Leo erzählen, der gerade anklopfte und eintrat, doch in diesem Moment erinnerte sie sich an Viktors ironische Bemerkung, mit der er Erinnerungsmonologe zu unterbrechen pflegte und ihre Träume davon, was passiert wäre, wenn nicht etwas völlig anderes passiert wäre, endeten.
»Sub specie aeternitatis, Julia, sind das vergängliche Episoden der Geschichte, ein Furz!« Aus der Sicht der Ewigkeit hatte die zwanzigjährige sowjetische Okkupation wirklich die Größe einer Eintagsfliege, und so fragte sie Leo: »Warst du schon einmal in Olmütz?«
»Klar, oft. Ich habe hier für verschiedene Schulen Basketball gespielt.«
»Also kennst du die Stadt.«
»Na, recht gut, damit Sie ... damit du dich mit mir nicht verläufst.« Sie bekam Lust, sein Selbstvertrauen zu erschüttern.
»Also kennst du auch die drei Schicksalsstunden?«
»Welche meinst du?«
»Die erste muss jeder Abiturient kennen. Ich helfe dir. Eigentlich verdanken wir ihr die Prager Karlsbrücke!« Er war ratlos und gab es zu.
»Ich lasse mir gerne vorsagen ...«
»Man hat hier die Přemysliden ausgerottet.«
»Daran kann ich mich erinnern, aber was hat das mit der Karlsbrücke zu tun ...?«
»Die Tschechen haben sich dann Johann von Luxemburg ausgesucht, und der hat ihnen, zwischen Trinkgelagen und Schlägereien, Karl den Vierten gezeugt.«
»Aha, und er hat die Brücke ... klar ...«
»Na, und die zweite Schicksalsstunde von Olmütz sollte jeder Student kennen. Deshalb wurde Brünn die Hauptstadt Mährens.«
»Das weiß ich auch nicht ...«
»Im Unterschied zu Brünn haben die Schweden die hiesigen Stadtmauern zerstört, und so hat Olmütz seinen historischen Anspruch verwirkt, eine Metropole zu sein.«
»Aha ...«
»Die dritte Antwort ist schon fakultativ. Ich bin hier geboren.«
»Ahaaaaaaaa!! Da gratuliere ich dir aber!«
»Wozu?«
»Du bist hergekommen, um deinen Geburtstag zu feiern?«
»Ich habe erst im August Geburtstag, also bin ich, lieber Leo, eine Löwin, italienisch leonessa. Aber im Juni wurden meine Eltern geboren, beide.«
»Sie leben hier?«
»Sie leben überall.«
Nie vorher hatte sie das so gesagt, und auch für sie selbst klang dies so pathetisch, dass sie schnell die Karte zusammenfaltete und das Thema wechselte.
»Hat man dir ein anständiges Zimmer gegeben?«
»Klar. Die haben Angst vor dir.« Sie lachte und reichte ihm ein elegantes Portemonnaie.
»Da!«
»Was ist das ...?«
»Dein Portemonnaie. Ich werde doch nicht überall für dich zahlen, wie sieht das denn aus? Und die Rezeption soll rausfinden, ob hier heute eine Milonga stattfindet!«
»Das habe ich schon selbst rausgefunden.«
»Und?«
»Zufällig ist eine.«
»Wunderbar. Hast du schon gefrühstückt?«
»Ja. Und du?«
»Ich habe keinen Appetit. Vielleicht vor Aufregung. Aber ich habe schon von meinem Whisky getrunken. Gehen wir also!« Sie warf ihren Seidenschal über die Schultern und überließ es ihm, die Tür abzuschließen und den Schlüssel an der Rezeption abzugeben.
»Willst du zu Fuß gehen?«, wunderte er sich, als er ihren Wagen nicht sah.
»Ich will heute nicht angestarrt werden. Und ich habe mich im Stadtplan kundig gemacht.«
Sie ging los, und er bewunderte wieder einmal, dass gerade diese alte Dame die erste Frau war, wegen der er seine Schritte nicht zügeln, sondern sogar seinen normalen Schritt beschleunigen musste. Den Plan öffnete sie nicht mehr, und als habe sie direkt eine Satellitennavigation im Kopf, lief sie durch die Gassen der Altstadt und gelangte so in diesem intensiven Schritt nach nicht ganz einer Viertelstunde zu einem kleinen Platz, der fast vollständig von parkenden Autos ausgefüllt wurde. Erst dort benötigte sie von ihm einen Rat: »Wo meinst du, ist Norden?«
Er bestimmte die Himmelsrichtung schnell nach der Sonne, die auch bei dieser Inversionswetterlage zu erkennen war. Sie drehte sich forschend um ihre eigene Achse, bis er fragte:
»Was suchst du hier?«
»Die Synagoge.«
»Was?«
»Wir haben dicht neben ihr gewohnt.« Sie öffnete eine Broschüre und zeigte ihm ein Farbfoto eines erhabenen und reich verzierten Gebäudes im orientalischen Stil. Er verstand nicht.
»Das haben sie wegen der Autos abgerissen?«
»Wie meinst du das?«
»Na, damit die hier einen Parkplatz anlegen konnten ...«Jetzt wunderte wiederum sie sich.
»Das haben doch die Deutschen angezündet und dann abgerissen ...«
»Aha.«
Sie versuchte auch weiter, die Position zu bestimmen, und er überlegte, ob er dies als Selbstverständlichkeit übergehen oder eine Erklärung verlangen sollte. Doch vorher drehte sie sich um.
»Also Süden ist hier?«
»Ja ... bist du Jüdin?«
»Nein. Moment ... in diesem Fall stand unser Haus ... ja, in dieser Richtung!« Wieder überlegte sie, bis sie auf einen nicht neuen Plattenbau zeigte, im Erdgeschoss thronte ein Schild mit den Leuchtnachrichten eines Wettbüros.
»Hier!« Und wieder musste er ihr hinterherlaufen, um ihr die Tür aufhalten zu können.
Sie trat ein, ging noch ein paar Schritte und musste stehenbleiben, als sie direkt materiell von den Klängen umarmt und fasziniert wurde, die über die siebzig Jahre breite Schlucht aus allen Richtungen zu ihr drangen: auf dem Hof von dem Köhler, dessen hinkender Beifahrer Schmitzer die letzten Scheite eines Kohlenmeilers auflegte, der ihr wie ein Wunder vorkam, weil er nie kleiner wurde, Hufeisen von Pferden klapperten, zuweilen rutschten sie auch, und dann waren da noch das »Hü!!« und das Peitschenknallen des Kutschers Absolon, der ständig seinen roten Backenbart zwirbelte, laut setzte sich der Rollwagen auf dem Kopfsteinpflaster in Bewegung, auf der anderen Seite der Durchfahrt begannen zur selben Zeit die Drillinge der Familie Fieber zu brüllen, wenn die energischen Eltern, die sich nicht mit sinnlosen Ermittlungen aufhielten, grundsätzlich für alles die beiden Jungen und das Mädchen bestraften. Mit der bezopften Sara hatte sie hier bis zu dem Tag Verstecken gespielt, an dem sie plötzlich verschwand, auch ihre Brüder und Eltern tauchten nie mehr im Hof auf, ihre Mutter und ihr Vater verrieten ihr dann unter dem Eid der Verschwiegenheit, sie seien ins jüdische Königreich gereist, wo das ganze Jahr über Bananen und Orangen wuchsen, und sie hatte das Kleeblatt der Fiebers lange Zeit beneidet, dann auch gehasst, weil man dort wie der Blitz aus heiterem Himmel ihren eigenen Vater zum König gewählt hatte und er über sie herrschen musste, doch erst als er ihr hoch und heilig versprochen hatte, zurückzukehren, wenn man dort einen anderen wählen würde, und er hatte sein Versprechen eingelöst, denn gerade jetzt trat hinter Julia eine engelsgleiche Schwester im weißen Kittel in den vollen Warteraum und rief, als würde sie singen: »Wer ist denn der Nächste?«
»Ich, Mama!«, rief sie.
»Na, dann komm, Julchen!«, und dann sah sie schon, wie sie aus der Praxis ihr einzig echter Stiefvater anblickte ...
Leo hatte in seinem Leben auf nichts Geld gesetzt, nachdem er sich schon als Kind ausreichend davon überzeugt hatte, dass er nicht zu den Glückskindern zählte. In der Schullotterie zog er regelmäßig die Nieten, die Geschenke, die ihm unter dem Weihnachtsbaum gefielen, gehörten fast immer seinen Schwestern, und er gewann nur, wenn er kein Geld setzte. Das Pech, das ihn gerade an dem Tag überschüttet hatte, als er diese Frau kennengelernt hatte, kam immer und immer wieder mit der schönen Regelmäßigkeit des Vollmonds. Weil er nicht richtig wusste, wohin sie ihn schleppte und vor allem, was er dafür erwarten durfte, war er immer auf der Hut, um rechtzeitig den Moment zu erkennen, in dem er sie bitten musste, dass sie ihn auszahlte und er seiner eigenen Wege gehen durfte. Das geräumige Wettbüro, das er nach ihr betrat, unterschied sich nur vom Design her von dem um eine Generation älteren, das er aus einem Film kannte. Die gerade laufenden Ziehungen wurden von großen Flachbildschirmen übertragen, die Wetten wurden hinter dickem, wahrscheinlich gepanzertem Glas entgegengenommen und ausgezahlt, und in der Kaffee-Ecke saßen Kunden, die das Geschehen auf den Monitoren mit ihren Laptops verglichen. Seine alte Dame blieb in der Mitte des Raumes stehen und sah äußerst verblüfft aus. War sie zum Spielen gekommen und hatte sie nun der Mut verlassen? Oder war ihr schlecht geworden und er sollte einen Krankenwagen rufen? Ehe er sich entschließen konnte, machte sie ein paar Schritte auf ihn zu und schlug fast einem im Weg stehenden Mann die Zeitung aus der Hand, den sie nicht bemerkt hatte, so als sei sie blind. Statt sich bei ihm zu entschuldigen, rief sie Leo zu: »Bring mir einen Stuhl!« Er holte einen freien aus der Kaffee-Ecke, sie setzte sich und redete wie ein Reiseführer.
»Genau da in der Mitte, wo der Läufer von der Tür zur Kaffee-Ecke liegt, führte die Durchfahrt in den Hof zur Köhlerei von Herrn Oskar Taub, dort gegenüber, wo die Kassen sind, hatte Herr Jonáš Fieber seinen Laden, ein koscher Fleischer, und hier ... hier sitze ich direkt in unserer Praxis. Frag mal, ob die hier einen ordentlichen Whisky haben!«
Er ging, um einen zu holen, während sie mit der Hand auf dem Medaillon, das sie festhielt, kaum dass sie den Laden betreten hatten, in ihrer Vergangenheit hängen blieb, die immer lauter wurde, bis es nicht mehr auszuhalten war. Im letzten Moment brachte ihr der junge Mann einen Whisky, zwar keinen Malt, dafür aber einen mindestens zwölf Jahre alten, also konnte man ihn trinken. Sie kannte sich zu gut, als dass sie ihn in ihrer Stimmung auf einmal hinuntergeschüttet hätte, sie wollte sich gerade nicht dadurch blamieren, dass sie betrunken würde und er sie dann wie eine alte Oma wegbringen müsste. Sie nippte eine gute halbe Stunde an dem Glas, bis sich ihr äußerer Unterdruck und der innere Überdruck ausgeglichen hatten wie der Wasserspiegel eines Stausees und sie sich wieder wohler fühlte. Auf ihren Wunsch ging er in die Kaffee-Ecke, und sie war den hiesigen Angestellten und Kunden dankbar, dass sie sie nicht mit Fragen und Hilfsangeboten belästigten. Wahrscheinlich hielten sie alle für eine Zockerin, die nach einem außerordentlichen Verlust oder auch Gewinn langsam zu sich kam. Als sie sich völlig erholt hatte, nickte sie zu Leo hinüber, er solle ein Taxi rufen. Sie sah ihm an, wie gern er eine nähere Erklärung hören würde, doch dazu war sie momentan nicht in der Lage. An der Rezeption überließ sie ihn seinem Schicksal, er solle allein im Hotel auf gemeinsame Rechnung zu Mittag und zu Abend essen und sie erst halb zehn abholen, um sie auf die Milonga zu begleiten.
Sie bestellte einen Eisbergsalat zur gebackenen Forelle und eine Flasche des trockensten Weißweins aufs Zimmer und war froh, als man ihr Messwein aus den hiesigen erzbischöflichen Kellern anbot. Um sich perfekt gegen die Sentimentalität zu wehren, schaltete sie zum Essen einen deutschen Fernsehsender ein und konsumierte zusammen mit der Forelle auch ein virtuelles Filet Wellington, gebacken in einer TV-Küche. Danach nahm sie ein heißes Bad, passte auf, dass ihr die Hand mit dem Mobiltelefon nicht ins Wasser glitt und telefonierte eine halbe Stunde mit Giorgio. Dann ging sie zu Bett und befahl sich – wie fast immer erfolgreich – einzuschlafen. Um acht wurde sie wach, stärkte sich mit einem weiteren guten Whisky aus der Minibar und stand auf die Minute genau zur vereinbarten Zeit an der Rezeption. Auch jetzt hatte sie nicht vor, ihm irgendetwas zu erklären. Da wiederum Peppino sie chauffierte, legte sie eine Tango-CD ein und bereitete den jungen Tänzer darauf vor, welche Figuren sie gern mit ihm ausprobieren würde. Die hiesige Milonga fand in einem anständig renovierten Bürgersaal statt, und Julia bemerkte sofort mehrere junge Männer, die sie vom Typ her an Leos Prager Truppe erinnerten, was ihm unverständlicherweise entging. Dafür konnte er alle Figuren! Als er sie in der Pause bediente – Malt-Whisky bekam er für sie hinterm Barpult in einer Kaffeetasse – und sich für einen Moment entschuldigte, zog sie ihr Handy hervor und rief Peppino an. Er kam sofort, und sie schickte ihn vor aufs Herren-WC, um ihren Auftritt vorzubereiten.
Die mährischen Schönlinge pressten Leo noch immer zwischen zwei Urinalen an die Wand, als plötzlich der schwarzhaarige Mann in seiner von Muskeln aufgebauschten Livree auftauchte und sie erstarren ließ. Noch war an ihren Gesichtern abzulesen, welche Prügel sie Leo zu verpassen vorhatten, als die Dame persönlich mit der Mokkatasse in der Hand das Pissoir betrat.
»Guten Tag!«, sagte sie eiskalt, »wenn ihr meinem Neffen auch nur ein Haar krümmt, bringe ich euch bis vor ein internationales Gericht. Leo, bist du fertig?«
Als er wie betäubt nickte, befahl sie: »Dann komm.« Sie verließ als Erste den gefliesten Raum, Peppino ließ Leo den Vortritt, ehe er sich selbst bediente, während die schlappen Rächer vorsichtig Richtung Saal entschwanden. Sie beschloss, auch dies nicht zu kommentieren und tanzte eine weitere Stunde durch, doch sie machte sich bewusst, dass sie beide morgen ein langer und schwerer Tag erwarten würde, und so forderte sie weit vor Mitternacht zu einem Rückzug vom Parkett auf. Im Wagen gelangte sie zu der Einsicht, dass sie doch mit ihm reden müsse. Als er dann ihren Schlüssel nahm, um ihr das Zimmer zu öffnen, und »Gute N...« sagte, unterbrach sie ihn: »Nimmst du bei mir einen Schlaftrunk?«
Bis zu diesem Morgen hatte er sich in ihr nur nicht ausgekannt, seit dem Besuch im Wettbüro war er vollends verwirrt. Dort hatte sie sich verhalten, als sei sie unzurechnungsfähig, doch auf dem Herren-WC hatte sie einen Auftritt hingelegt, der eines Racheengels würdig gewesen wäre, um gleich darauf mit der Präzision eines Tanzmeisters Tango zu tanzen, sie wäre sicher in der Lage, mannesgleich einen schwächeren Partner zu führen! Ihr zweites Gesicht entsprach eher der Vorstellung, die sich die Truppe gebildet hatte, er hatte diese übernommen, und so lag er stets auf der Lauer, wann die seltsame alte Dame mit offenen Karten spielen würde. Er war den ganzen Tag durch die Stadt gestreift, in der er kein Mädchen kannte, und um eines zu finden, war keine Zeit. Er zwang sich dazu, seine Mutter anzurufen, um sie mit der Nachricht zu erfreuen, dass er zum letzten Mal solide mit dem Tanzen Geld verdiene, ihm dies aber auch selbst keinen Spaß mehr mache, und deshalb freue er sich auf sein Treffen mit Robert, das er nur ein kleines bisschen habe aufschieben müssen. Eigentlich war er der alten Dame für diesen ruhigen Abend dankbar, und deshalb hatte er sich ihr auf dem Parkett gewidmet, soweit er dazu in der Lage war. Die Episode auf dem WC präsentierte ihm nicht nur sie in einem neuen Licht, sondern auch den Chauffeur, der von einem unterwürfigen Diener, der die Mütze zog, mit einem Mal zu einem Mafioso mutiert war. War er vielleicht sogar ihr Liebhaber? Dann bleibt für mich wirklich nur die Tänzerrolle übrig! atmete er auf.
Die unerwartete Einladung auf ihr Zimmer überraschte ihn. Sollte vielleicht doch?? Darauf hatte er wirklich keine Lust, aber ... die Jungs hatten recht, er schuldete ihnen viel, wo sie ihn doch unter sich aufgenommen hatten. »Schalte deinen Magen auf Schwanz, Spacko!« erinnerte er sich an Mireks guten Rat aus dem Casino, doch er war sich nicht sicher, ob er dazu fähig sein würde. Herrgott, warum habe ich die Jungs nicht um Viagra gebeten?? Die Vorstellung der wahrscheinlich schon beginnenden Peinlichkeit brachte ihn durcheinander, er setzte sich begriffsstutzig auf den Platz, den sie ihm auf dem Ledersofa anbot, und blickte blind auf die leuchtende Stadt hinter dem breiten Fenster. Sie holte aus der Minibar zu den Gläsern auf dem Tisch ein großes Wasser und vier kleine Flaschen mit verschiedenen Destillaten, dann setzte sie sich neben ihn.
»Ich trinke lieber Wasser als Null-acht-fünfzehn-Whisky. Du such dir was aus.«
Er goss sich also französischen Cognac ein, und als sie mit ihm angestoßen und sie getrunken hatten, beschloss er, von selbst zu beginnen, um Herr der Lage zu sein.
»Warum hast du seit dem Lottogeschäft kein Wort mehr mit mir gesprochen?«
»Weil ich dich jetzt eingeladen habe, um es dir zu erklären. Der Jude war mein Ersatzvater, nachdem mein richtiger meine Mutter und mich gleich nach der Geburt im Stich gelassen hat. Dieser war Arzt, er hat meine Mutter wieder glücklich gemacht, mich hat er nach allen Kinderkrankheiten wieder aufgepäppelt, und ehe er sich von ihr scheiden ließ, entdeckte er noch, dass ich schon als Kind tanzen konnte.«
»Also noch ein Arschloch!«
Sie rollte die Augen: »Warum soll er ein Arschloch gewesen sein?«
»Na, warum schon ... der Judenbruder hat euch doch auch im Stich gelassen, oder?« Im selben Moment hatte er das Gefühl, dass sie ihn anschaute wie ein unbekanntes Tier.
Wenig später stand sie auf und zeigte auf die Fläschchen mit den Schnäpsen: »Trink das lieber bei dir drüben aus und lass dazu einen Porno laufen!« Sie ging mit ihrem Glas Wasser ins Schlafzimmer nebenan, und er verstand etwas verspätet, dass sie ihn eigentlich rausgeschmissen hatte.
Sie konnte lange nicht schlafen, so aufgebracht war sie, die üblichen Einschlafübungen halfen nichts. Judenbruder!! Von Kindheit an war dies für sie das schlimmste aller Wörter. Ich will diesen Primitivling nicht mehr sehen!! Da erinnerte sie sich daran, wie sie Viktor einst aus dem Schachklub abgeholt hatte und seinen Lieblingspartner, einen ehemaligen Philosophieprofessor, vernahm, wie er behauptete: »Die Sowjets wären beim Schach Winzlinge, wenn sie nicht ihre genialen Judenbrüder hätten.«
»Und du hast nicht mal mit der Wimper gezuckt!«, wunderte sie sich auf dem Heimweg. »Ich weiß genau, dass er kein Rassist ist, das Wort hat er wohl irgendwann mal in seiner Familie aufgeschnappt, und ich bin nicht Comenius, um ihn zu lehren, weise zu sein.« Warum trug sie diesen Staffelstab der Toleranz nicht weiter? Sie zwang sich, den Verlauf des heutigen Tages Revue passieren zu lassen, so wie ihn wahrscheinlich der junge Mann wahrgenommen hatte. Sie selbst musste ihm, schon seit sie Prag verlassen hatten, vorgekommen sein wie ein berechnendes Weibsbild, die in der Emigration, in die sie nicht mehr als die Jüngste gegangen war, bei der erstbesten Gelegenheit ihren unfähigen Mann gegen einen Millionär eingetauscht hatte, den sie anschließend auch irgendwie losgeworden war, um dann in ihrer alten Heimat das süße Leben genießen zu können, indem sie junges Fleisch kaufte, natürlich!, nach ihrem Verhalten in dem Modegeschäft hätte er auch den absurden Verdacht schöpfen können, dass sie ihn damit fürs Bett abonniere! Und sie suchte stattdessen wie eine Irre eine nicht existierende Synagoge und entdeckte in einem Wettbüro die ehemalige Praxis ihres Vaters, den sie darüber hinaus noch als echten Stiefvater bezeichnete.
Immer und immer wieder verspürte sie das Bedürfnis, sich mit Giorgio zu beraten, doch sie hatte schon am Nachmittag lange mit ihm gesprochen und nun wirklich keinen guten Grund in petto, ihn um Mitternacht zu wecken. Der Verstand sagte ihr, dass diesem jungen Mann Geschichten wie die ihre ebenso fremd waren wie ihr beispielsweise die Französische Revolution. Das Gefühl protestierte leidenschaftlich: Diese Tragödie hatte sich in seinem Land vor so kurzer Zeit ereignet, dass bisher noch nicht alle Beteiligten weggestorben waren, zu denen auch sie zählte! Der Verstand wandte leise ein, es sei ja ihre eigene Schuld, da sie um so vieles die durchschnittliche Lebenserwartung überdauert hatte, dass zwischen ihr und ihm bereits zwei Generationen lagen. Und wenn es fünf wären! rief das Gefühl, wie kann jemand, der eine Hochschule absolviert hat, nicht wissen, dass hier innerhalb von nur drei Jahren ein ganzes Volk ausgestorben war, dass über einhunderttausend Einwohner dieses Landes zu Seife wurden? Mit diesen Gedanken tauschte sie dann irgendwann das Bewusstsein gegen den Schlaf ein.
So nicht! wiederholte er auf dem Weg zu seinem Zimmer, so lasse ich nicht mit mir umspringen! Aus Wut zog er sich wirklich einen dummen Pornofilm rein, der wohl gerade mal einen Jungen, der frisch in die Pubertät gekommen war, erregen konnte, und schon bald nahm er ihn gar nicht mehr wahr, weil er, schnell hintereinander, die Fläschchen mit Gin, Wodka und Whisky ausgetrunken hatte, reifte in ihm ein fester Entschluss: Am Morgen würde er der Tante sagen, dass er kein Fußabtreter sei, auf dem sie ihre Launen abstreifen könne, er würde ihr die módes róbes zurückgeben, mit denen sie wahrscheinlich all ihre Gauchos bestach, und in seinen alten Klamotten mit dem ersten EC nach Prag zurückfahren; Robert würde ihm blitzschnell ein Treffen mit dem Chef arrangieren, der Chef nahm ihn bestimmt gern wieder, und dann konnte sich die Alte ihr Geld sonst wohin stecken, er bekam als IT-Fachmann genauso viel, ohne sich kaputt zu machen ... mitten in diesen Gedanken spielte man irgendwo seine Lebensmaxime »I go my way!« Betrunken wie er war, konnte er sich doch noch vergegenwärtigen, dass er angezogen auf dem Bett lag und das Handy in der Brusttasche des Sakkos steckte. Er fingerte das Gerät hervor und konnte sogar noch die erotischen Seufzer aus dem Fernsehen auf ein Minimum reduzieren. Es war Kája.
»He Spacko, stören wir dich nicht beim Ficken?«
»Nee, ich bin allein, sie hat ihr Apartment.«
»Aber du hast die doch schon gefickt, Spacko?«
Dann hörte er sich lügen: »Sie ist den ganzen Tag nicht vor die Tür gekommen, und jetzt waren wir auf einer Milonga, dort hat sie dann nicht durchgehalten ...!«
»Wie viel hat sie dann wenigstens ausgespuckt?«
»Wieder so viel wie in Prag, wahrscheinlich hat sie dafür einen Tarif.«
»Spacko, dann verlang doch mehr, wenn sie dich hinter sich herzieht wie einen Koffer!«
Leo hörte aus der Ferne, wie Kája einwarf: »Hat er sie schon gevögelt?«, und er antwortete schnell: »Ja, das mach ich schon noch, morgen fahren wir weiter.«
Das interessierte Kája: »Wohin?«
»Keine Ahnung, aber ...«, plötzlich schwang sich in ihm die Demütigung zu einem Eid eines Betrunkenen auf: »Jungs, ich werde diesen alten italienischen Klepper einreiten, dass sie von selbst pariert, auch wenn ich dann jedes Mal von dem Gammelfleisch das große Kotzen kriegen sollte ... Also ciao ... ich meine – ahoj!«
Das Unterbewusstsein ersetzte ihr das mitternächtliche Bedauern reichlich durch den Besuch ihrer beiden Viktors. So waren sie sich doch begegnet! Der tschechische Viktor hatte gerade an dem Tag, an dem sie nach Monaten wieder tanzen sollte, sogar auf einer der besten Bühnen Europas, plötzlich Fieber und wiederholt Hustenanfälle bekommen; zuerst überkam sie Panik und sie wollte schon die Direktion anrufen, damit diese sich um die zweite Besetzung kümmerte, doch er selbst versuchte sie davon zu überzeugen, dass ein solches Adrenalin ihr nur helfen könne. Er hatte recht, kaum hatte sie sich auf die Spitzen gestellt und war auf die Bühne gelaufen, verwoben sich ihr Geist und alle Muskeln mit der wunderbaren Musik, die sie wie eine Feder schweben ließ und dorthin trug, wohin sie gerade fliegen wollte. »Die doppelte entmaterialisierte Julia!« hatte sie einst der strengste tschechische Kritiker genannt, als sie im Goldenen Kapellchen gerade in Prokofjews Werk ihr Debüt gefeiert hatte, das einer Tragödie von Shakespeare angemessen war, und nun entdeckte in ihr, der Emigrantin aus dem »magischen Prag«, die Scala ihren neuen Star. Sie kam erst wieder bei den Ovationen zu sich, als sie einen Strauß weißer Rosen erhielt, normalerweise schickte ihr Viktor immer eine einzelne Rose nach jeder Vorstellung, umso mehr faszinierte sie diese weiße Salve. Bei der Premierenfeier hatte man sie schon im Voraus entschuldigt, doch dann verlor sie trotzdem eine halbe Stunde am Ausgang, weil sie zahlreiche Programme signieren musste, und so kam sie in ihrer provisorischen Wohnung in der Theaterpension erst an, nachdem man Viktor schon mit einem Rettungswagen abgeholt hatte.
Niemand hatte daran gedacht zu fragen, wohin man ihn bringen würde, und der Pförtner telefonierte eine weitere Stunde herum, ehe sie ein Taxi zum Ospedale di Santo Spirito ordern konnte. Sie war begeistert, als sie dort von einem tschechischen Arzt, der ebenfalls kurz zuvor emigriert war, empfangen wurde, doch gleichzeitig erschrak sie, als dieser den Verdacht auf eine ernsthafte Erkrankung der Lungen äußerte. Er war glücklicherweise auch einer der wenigen Verehrer von Viktors anspruchsvoller Poesie, doch er hatte noch nicht das Recht, Ausnahmen zu machen, er legte ihn also in einem großen Saal für zwölf Männer wenigstens in die Ecke, wo er so wenig wie möglich gestört werden konnte. Er ließ sie dort auch eine Weile bei ihm sitzen, doch Viktor schlief nach den Tabletten, die man ihm gegeben hatte, somit konnte sie ihn auch nicht mit der Nachricht erfreuen, welchen Erfolg sie gehabt hatte, und ihm auch nicht für die Rosen danken. Zu Hause entdeckte sie auf dem Strauß ein Kärtchen mit dem Namen Vittorio Mortadini, der ihr überhaupt nichts sagte. Am anderen Tag ließ man sie nicht zu Viktor und begründete dies damit, dass eine vertiefende Untersuchung laufe. Der nächste Morgen versetzte ihr gleich zwei Schläge auf einmal. Der tschechische Arzt bestätigte ihr zunächst, dass es sich um Lungenkrebs im fortgeschrittenen Stadium handelte, was eine anstrengende und teure Behandlung erfordere, und beschuldigte sie gleich darauf, dass sie die Ursache für seine Flucht aus der Heimat gewesen sei. »Nach Ihrem flammenden Fernsehauftritt habe ich im Prager Militärkrankenhaus einen Protest gegen den Einmarsch der Armeen organisiert, und einen Monat später entzog man mir den Chefarztposten und kündigte mir! Meine Frau hat mir Szenen gemacht, dass man mich noch verhaften und sie mit den beiden Mädchen allein zurückbleiben würde. Also mache ich jetzt ihretwegen den Hampelmann für Nachtdienste, während meine Kollegen in Prag unterschrieben haben, ich hätte sie angestiftet, und sie arbeiten fröhlich weiter!«
Sie torkelte direkt zum Theater, wo sie an der Ballettstange und unter der Dusche wieder so zu sich kam, dass sie am Abend bei der zweiten Aufführung wieder brillierte. In dem neuen Strauß weißer Rosen stak ein kurzer Brief, der sie wegen seiner entwaffnenden Ungewöhnlichkeit rührte: »Sehr geehrte Frau, weil ich nicht kennen Tschechisch, ich nicht glücklich nicht kann erklären Bezauberung und Betörung Ihre Kunst anders als zu Hilfe italienischtschechisch Wörterbuch. Große Bitte für persönlich Treffen! Mit Küssen Hand begeistert Vittorio Mortadini, Hotel Bristol.« In der Nacht schrieb sie ihm auf Englisch: »... für den Blumenstrauß und die so schön formulierte Einladung danke ich herzlich, doch ich verbringe meine sämtliche Freizeit im Krankenhaus S. Spirito bei meinem schwerkranken Mann, einem der besten tschechischen Dichter, der meinetwegen emigriert ist ...« Viktor verschwieg sie dies vorerst, sie wollte nicht, dass es ihm leidtat, dass sie ähnlich wie er selbst jemand anderes grüßte.
Es folgten eine weitere Reprise und ein weiterer Blumenstrauß, nun schon ohne Zusatz, doch mit einem Nachspiel von weitreichender Bedeutung. Am nächsten Tag fiel sie vor Schreck fast in Ohnmacht, als an dem gewohnten Ort im Krankenzimmer ein fremder alter Mann lag, doch da eilte schon der Professor selbst herbei und beruhigte sie, Viktor sei in ein eigenes Zimmer verlegt worden. Auf dem Weg zu ihm versicherte er ihr, er habe ihm die besten Medikamente und auch eine solche Behandlung verschrieben, wie er es ihrem gemeinsamen Freund, den er unheimlich achte, versprochen habe, denn »Senator Mortadini ist einer der tapfersten Italiener, den weder die italienische, noch die deutsche Haft brechen konnten ...« Vittorio wagte zum ersten Mal, sie persönlich zu grüßen, als er ihr auf Viktors Begräbnis kondolierte, und erinnerte an eine Geschichte, die ein Jahr her war und dessen Geheimnis sie erst jetzt verstand: noch vor ihr hatte er Viktor kennengelernt, den er kurz zuvor im Fernsehen als großen Dichter aus der Tschechoslowakei gesehen hatte, das war in einem Mailänder Restaurant gewesen, wo er sie nicht hatte belästigen wollen, doch wo er sich erlaubt hatte, anonym für sie zu bezahlen ...
Und nun kamen die beiden zusammen bis nach Olmütz!
»Julia«, sagte Viktor, »Vittorio und ich haben uns geeinigt, dass es keinen Sinn hat, aufeinander eifersüchtig zu sein, wo du uns doch beide gleich liebst, dein dritter Mann, Giorgio, wird tagsüber mit dir leben und wir beiden nachts!« Beruhigt und glücklich schlief sie wieder ein, und als sie die Augen öffnete, bot ihr das Gedächtnis einen längst verschütteten Vers an: »In Böhmen war ein schöner Tag, der ringsum voller Rosen lag.« Der neue Morgen hatte die graue Decke der Inversionswetterlage vom Vortag abgeworfen und bot ihr ein Bild ihrer Heimatstadt in den faszinierendsten Farben. Die Wut, mit der sie eingeschlafen war, erwachte nicht von Neuem, und sie vergegenwärtigte sich: sie hatte den jungen Mann nicht gemietet, damit er auf ihren Gräbern weinte, sondern als Tänzer, der Format bewiesen hatte. Sie entschloss sich, ihn auch weiterhin so zu nehmen, ihm das schändliche Nichtwissen nicht vorzuhalten und ihm, wenn er dies wollte, geduldig zu erklären, was er vielleicht noch zu fassen in der Lage war.
Er kannte sich zu gut, und so stellte er die Weckfunktion im Handy ein, eher er sich völlig betrank. Trinken konnte er zum Glück, somit wusste er, dass er funktionieren würde. Trotzdem genehmigte er sich eine schottische Dusche, bis er sich durch die heißen und kalten Wasserstrahlen vollständig wiederhergestellt hatte. Er erinnerte sich matt daran, dass er sich in der Nacht den dreien in Prag gegenüber zu irgendetwas verpflichtet hatte, doch der verletzte Stolz war immer noch stärker. Vollständig gepackt und nach einem guten Frühstück – dieses hatte er ausgiebig genossen! – kam er zur Rezeption in der Vorfreude, sich von der Alten zu trennen. Doch dort wartete ihr Muskelmann, der ihm den Koffer mit seinen Privatutensilien und den mit dem Zurückzugebenden abnahm und ihm in der Tür den Vortritt ließ. Die Alte saß schon im Wagen und lächelte ihm entgegen, so als danke sie ihm für eine unvergessliche Nacht.
Beim Frühstück in ihrem Apartment hatte sie noch einmal die Karte studiert, auf der sie bereits in Rom die Stelle gefunden hatte. Sie rechnete damit, dass sich alles im Laufe dieser halben Ewigkeit bis zur Unkenntlichkeit verändert haben konnte, also versuchte sie, die Landschaft nach dem Flusslauf zu bestimmen, es hatte sich ihr ins Gedächtnis gegraben, dass dies der erste große Mäander oberhalb der Stadt war. Sie bat Peppino, langsam zu fahren, somit winkten ihnen ein paar Frauen herzlich zu in der Annahme, in dem Luxusmietwagen ein jungvermähltes Paar zu grüßen. Olmütz war seit ihren Zeiten so gewachsen, dass sie fast befürchtete, die Regulierung des Flusses könne auch diese Ecke verschlungen haben, doch direkt vor dem Mäander schien die Stadt wie abgeschnitten, dann schloss sich nur noch Auwald an. Bald tauchte eine Wiese auf, die steil zu einer kleinen Lagune hin abfiel. So als würden sie direkt in die Vergangenheit hineinfahren, erblickte sie ein kleines bezopftes Mädchen, das auf der Welt kein ihr nahestehendes Geschöpf mehr hatte, doch das, was ihm gerade von allem am meisten fehlte, das war ein Grab.
Sie erschien ihm wie ausgewechselt. Wenngleich sie vollauf damit beschäftigt war, irgendein Ziel zu suchen, war sie nett, fast herzlich, sie scherzte, er habe sich am Abend vorher offensichtlich den Ruf eines Parkettlöwen ertanzt, weshalb sich alle Lokalhyänen auf ihn gestürzt hätten. Seinen Dank lehnte sie mit der schmeichelhaften Begründung ab, sie könne es sich nicht erlauben, ihr einen Tänzer zum Krüppel zu schlagen, der es mit den Profis aus Rom aufnehmen konnte. Dann aber schaute sie mehr und mehr auf den Weg, und er störte sie nicht, die nächtliche Eitelkeit wich der Erleichterung, nicht das Gesicht verloren zu haben und seine einträgliche Reise trotzdem fortsetzen zu können, glich ihr Verhalten doch einer Entschuldigung. Wie sie heute zu ihm sprach, bestätigte jedoch die Vermutung der Truppe, dass sie mit ihm andere Pläne habe, als nur Tangofiguren zu tanzen. Als sie halten ließ und ausstieg, blieb er zuerst sitzen, doch sie lief bis an den Fluss hinunter, und so ging er ihr hinterher; der parkende Rolls-Royce nahm sich mit dem reglosen Chauffeur an der geöffneten Tür oben auf dem Waldhintergrund wie ein Werbeplakat aus.
Nach der Erfahrung des Vortags dachte Leo nicht daran, Fragen zu stellen, wenig später erhielt er doch eine Erklärung: »Hier sind wir immer baden gegangen ...«
Er schaute zum anderen Ufer hinüber, wo schon die fürchterliche Vorstadtbebauung begann. »Warum gerade hier ...?«
»Dort war der gleiche Auwald.« Sie hob einen flachen Stein auf und warf ihn so geschickt, dass er mehrmals von der Oberfläche abprallte, ehe er versank.
»Das hat mir mein Stiefvater, aber eigentlich echter Vater beigebracht.« Sie erinnerte sich: »Und er hat mir für seine Fleischmarken die ersten Biskuits besorgt!«
»Was für Marken?«
»Lebensmittelmarken. Im Krieg gab es alles auf Zuteilung. Und Juden bekamen nur die Hälfte, also musste er zwei dafür geben.«
»Da hast du so gern genascht?«
»Genascht? Ach ... Biskuits sind Ballettschuhe. Und was du wahrscheinlich wirklich nicht wissen kannst: er hat sich von meiner Mutter nur scheiden lassen, weil sonst wir beide sein Schicksal geteilt hätten.«
Er wagte erneut zu fragen: »Welches?«
»Wir fahren hin«, sagte sie kurz angebunden und bückte sich erneut, diesmal aber legte sie die Hand aufs Wasser, so als würde sie es streicheln. »Und hier ist meine Mutter gegangen.«
Er erstarrte. »Hier ist sie ertrunken??«
»Nein, fortgeschwommen ...«
»Wie, fortgeschwommen ...?«
»Sie hat sich immer nach dem Meer gesehnt ... und weil wir kein Grab hatten, habe ich ihre Urne hier ausgeschüttet, damit sie endlich hinkommt ... Jetzt habe ich sie möglicherweise in Rom ...«