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Wider Erwarten schlief ich wie eine Tote. Mit neuer Energie war auch die Hoffnung wieder aufgetankt, überschlafen schien das Problem meines Liebsten lösbar, wenn ich nur den richtigen Druck ausübte. (Die Wahrheit siegt, doch das kostet Mühe! Zitat: Masaryk jun.) Noch einmal rief ich meinen Chef an, um mir frei zu nehmen. Da es Freitag war, gab er sich gekränkt.

«Warum haben Sie mir nicht schon gestern klipp und klar gesagt, daß Sie sich ein langes Wochenende machen wollen? Mit mir kann man doch reden!»

Er hatte seine allgemein verhaßte Vorgängerin nur mit Hilfe der Wende abgelöst, sie waren einander praktisch gleich (obwohl im Dienst der scheinbar katholischen Presse, hatten sie noch vorletztes Jahr die Unterschriftenaktion der Katholiken für Glaubensfreiheit verurteilt), doch kein anderer hatte Lust, den öden Papierkram zu machen, und er buckelte wenigstens nett vor uns allen.

«Ich hab familiäre Sorgen, die waren nicht vorauszusehen.»

«Rufen Sie von Ihrer grünen Bleibe an?» versuchte er, mich plump zu fangen.

«Dafür hat meine Gage bei Ihnen bisher nicht gereicht, nein, ich rufe von zu Hause an und bin sofort da, wenns sein muß.»

Meine Gereiztheit zeigte Wirkung, er begann zu scharwenzeln.

«Mein Gott, das war ein Scherz, Herr im Himmel, bleiben Sie dort, wie Sie es für nötig halten, Sie sind die einzige, die auf Vorrat arbeitet.»

«Danke», schloß ich in Rage, «und Sie sollen den Namen Gottes nicht in einem fort eitel nennen.»

Josef Beneš hat nie im Telephonbuch gestanden (daß mich das nicht gleich damals stutzig gemacht hat, wozu hat ein gewöhnlicher Betriebsökonom eine Geheimnummer nötig?) und war längst aus meinem Adreßbuch getilgt. Da jedoch sein immerwährender Blumenstrauß auch letztes Jahr gekommen war, muß er die Revolution jedenfalls glimpflich überstanden haben. Es schien also geraten, es zuerst mit der mir bekannten Adresse zu versuchen.

Daß Gábina sich melden könnte, dazu war es noch zu früh, und zu meiner Angst um sie noch weit, und die Überzeugung, daß ich meinem Liebsten helfen würde, wuchs. (Meine Stimmung besserte sich erheblich bei der Feststellung, daß der blöde Biß über Nacht violett geworden war und auf seine Art attraktiv wirkte.) Ich war imstande zu überlegen, was eine Frau anziehen soll, die selbst nach Jahren Eindruck auf ihren einstigen Liebhaber machen und den Staatssicherheitsmann in ihm zur Einkehr bewegen will. Der Fenstertest bewies, daß es wieder spürbar wärmer geworden war und ich in voller Frühlingsmontur ausrücken konnte. (Ein anderes Geschenk meines Liebsten war ein lilafarbenes Seidencomplet; zu den pluderigen türkischen Pantalons gehörte ein knapp zuknöpfbares Jäckchen, das als Korsett fungierte.)

Die Wahl hatte mir jedenfalls gutgetan, ich schwebte durchs Treppenhaus abwärts, als ginge ich zu einem Rendezvous, was psychologisch vorteilhafter war, als sich von dem Gedanken nerven zu lassen, daß mir höchstwahrscheinlich ein häßlicher Konflikt bevorstand. Fast überraschte es mich, daß draußen weder ein Sportcabriolet wartete noch ein junger Elegant seinen Diener vor mir machte. Ich nahm ungern zur Kenntnis, daß ich eine zwar wahnsinnig, dafür aber nur heimlich geliebte Bürgerin mittleren Alters und Einkommens war (fünfhundert Kronen über dem von der Regierung garantierten Minimum), und begab mich wie immer per pedes apostolorum zum nächsten Verkehrspunkt.

Das Haus befand sich am Ende der Straße oberhalb des Krankenhausgeländes, wo ein Unschuldslamm, auf Gabriele getauft, das Licht der Welt erblickt hatte (mein damals noch geliebter junger Gatte hatte eine solche Menge herrlicher Sträuße angeschleppt, daß Ärzte und Schwestern ihn einstimmig zum vorbildlichen Vater des Jahres erklärten, später gestand er mir fröhlich, ihm habe das gesamte Grünzeug für eine gute Flasche ein früherer Schulkumpel besorgt, der im Krematorium Blumen zu vernichten hatte). Den ganzen ‹Josefs-Sommer› hindurch war ich mit schlechtem Gewissen an der Geburtsklinik vorbeigegangen, im Grunde hatte ich von vornherein gewußt, was daraus wird, und hatte trotzdem in einer Art Besessenheit (heute unverständlich, ja: abstoßend!) darauf hingewirkt, daß Gábis Beziehung zu mir in die Brüche ging.

Das einfache Mietshaus aus den Dreißigern wirkte auch heute noch moderner als die Plattenbauten, die man danebengestellt hatte, seit ich nicht mehr hiergewesen war. Die Tür der Eckterrasse (auf die wir in jenem gleich doppelt heißen Juli bei Dunkelheit nackt hinausgetreten waren, um uns abzukühlen) sah mit ihrem weißen Vorhang, der das Rollo ersetzte, anders aus. Ich rechnete fast damit, daß er nach dem Umsturz die Adresse geändert hatte; statt Schwalben flogen jetzt überall enttarnte Geheimpolizisten herum, für die es plötzlich so gut wie keine warmen Länder mehr gab, so daß sie aufgescheucht wild durch das eigene schwirrten.

Sein Pech: Er hatte mir einmal sein Nest verraten, das garantiert keine Deckadresse war, dort mußte man immer über ihn Bescheid wissen, eine ganze Familie konnte nicht verschwinden, und vor allem bei seiner Schwester hatte ich eine Chance. (Josef ist der letzte der Gerechten in diesem Verein! erklärte sie damals, hatte sie dabei an die Partei gedacht oder auch an seine ‹Firma›?) Bevor ich von daheim weggegangen war, hatte ich wie durch ein Wunder die Telephonauskunft erreicht und mir alle Nachmittagsbusse nach Kladno aufgeschrieben.

Jetzt starrte ich am Fuße des Treppenhauses ungläubig auf das Mieterverzeichnis mit dem Namensschild Josef Beneš.

Der Aufzug war nun mit einem Schloß versehen, ich stieg also langsam bis unters Dach hinauf, um nicht außer Atem zu geraten, und klingelte noch im Gehen, ehe die Furcht mich überkam. Unterwegs hatte ich mir ausgerechnet, daß er dreiundsechzig sein mußte, Polizisten durften eher in Pension, und diese Sorte hatte man soeben haufenweise dorthin abgeschoben, jetzt glaubte ich fest, er würde mir öffnen. Das Treppensteigen bestätigte mir für heute eine solide Kondition (trotz der leichten Rum-Indisposition hatte ich in der Früh geturnt, so wie er es mir einst beigebracht hatte: Solche tollen Titten muß man in Trab halten, sie haben auch ihre Muskeln!), doch vor allem trieb mich ein gerechter Zorn.

Er war nicht zu Hause, aber ein verhältnismäßig junges Frauenzimmer schaute aus der Nachbartür (früher hatte eine taube Alte da gewohnt, deshalb brauchten wir uns keinen Zwang anzutun) und musterte mich auf eine Weise, wie sie niederen Schichten eigen ist (Zitat: meine selige Mama, sie meinte damit eine ganz bestimmte Art primitiver Gehässigkeit). Da sie keine Anstalten machte zu grüßen, klingelte ich erneut. Länger hielt sie das Schweigen nicht aus.

«Der Herr Ingenieur ist auf Arbeit!»

«Guten Tag (ich tat, als sei sie gerade aufgetaucht), wann pflegt er zu kommen?»

«Je nachdem. Mal so, mal so. Was wollen Sie von ihm?»

Hätte ich seinen Geschmack nicht gekannt, der kaum so abstumpfen könnte, könnte ich denken, sie habe was mit ihm. Doch ich brauchte eine Information.

«Ich komm nach Jahren mal wieder vorbei und hätt ihn gern was gefragt. Ist er noch nicht im Ruhestand?»

«Doch, schon», sagte sie eine Spur freundlicher, «aber er ist weiter für eine Firma tätig.»

Das schürte meine Wut. (Viktor: Wir werden von neuem in die Teufelsmühle geworfen, und sie ...)

«Hat er vielleicht ein Detektivbüro aufgemacht?»

«Er? Warum gerade ein Detektiv ...» (Wozu Rücksicht nehmen? Soll man allgemein ruhig über ihn Bescheid wissen!)

«Er war doch beim Innenministerium!»

«Na ja, das ja, aber er hat den Kram dort hingeschmissen, na, und sie haben ihm bald was angehängt, wie sie das immer gemacht haben, bis zur Revolution hat er in Bory bei Pilsen gesessen. (Nein ...!) Jetzt wollten sie ihn zurückhaben, er hat ihnen aber gesagt, nicht mal mehr im nächsten Leben. (Sie lachte rachsüchtig, während ich staunte.) Jeden Morgen holen ihn irgendwelche Australier mit dem Auto ab, für die macht er den Buchhalter und so. Gegen sechs kommt er, soll ich was ausrichten?»

«Nein ... ich schau wieder vorbei ...»

Ich grüßte und ging wie im Traum hinunter, bis die Sonne mir bewußt machte, daß ich auf der Straße stand. Josef – ein Dissident? So hat er mich doch nicht belogen? Und was bedeutet das für Viktor? Es war Mittag, mindestens sechs Stunden lang konnte mir keiner Antwort geben. Ich mußte etwas unternehmen, die lange Anspannung konnte mich aus dem Tritt bringen. Bei diesem Gedanken sehnte ich mich nach einer Kirche.

Ganz in der Nähe stand eine, in der ich zuletzt als Kind gewesen war, offenbar mit Papa, er war der Geschichtenerzähler der Familie, nur von ihm kann ich die lebhafte Erinnerung an den Baumeister haben, der sich des kühnen Gewölbes wegen mit dem Teufel verbündet hatte (wie so viele schöpferische Geister während der gerade erst beendeten Okkupation, doch die hatten nur Fürze hinterlassen). Selbst die so teuer bezahlte Kuppel machte heute keinen Eindruck auf mich (ich dachte an den Dom von Kuttenberg, den bestimmt Engel errichtet hatten), deshalb wendete ich den Blick davon ab und sprach mein Leibgebet.

«Vater unser, der Du bist im Himmel, geheiligt werde Dein Name, Dein Reich komme. Vergib mir meine Schuld, wenn ich auch kaum jemals meinen Schuldigern vergeben kann. Bewahre mir mein Töchterlein Gabriela, das ich so kümmerlich erzogen habe, immerhin habe ich aber versucht, sie zu einer Christin zu machen, vielleicht wird der Samen aufgehen, inzwischen halte die Hand über sie, mein Dummes, um Jesu Christi willen, sende Deine Schutzengel zu ihr, auf daß ihr niemand mehr ein Leids antue. Und beschütze mir jetzt vor allem andern meinen Allerliebsten, darum bitte ich Dich um alles in der Welt. Ich bin eine Sünderin, immer wieder gerate ich in Versuchung, doch Du hast mir die Gabe der Liebe verliehen, und mit ihr, Herr, Du mein Gott, liebe ich ihn! Ich bete, ich will besser werden und bemühe mich wenigstens, niemandem Schmerz zuzufügen und besonders lieb zu seiner Frau zu sein, denn schließlich, und darin liegt meine Strafe! rette ich ihn für sie ... Bewahre uns alle in diesem verkommenen Lande vor dem Bösen, denn Dein werde das Reich hier und die Macht und die Herrlichkeit bis in Ewigkeit. Amen.»

Kaum war ich zu Ende, kam aus dem nahen Beichtstuhl eine putzmuntere Alte mit prallvoller Tasche, Zufriedenheit im Gesicht, als habe sie einen besonders günstigen Einkauf getätigt. Die Gelegenheit erhellte mich, und ich fiel buchstäblich über den Geistlichen her, der ebenfalls aus dem mit reichem Schnitzwerk verzierten Kabäuschen trat.

«Hochwürden, dürfte ich auch ...»

Der stämmige Mann mit einem bäurisch runden Gesicht betrachtete meine Türkenhose.

«Ist das notwendig ...?»

Offensichtlich erfaßte uns beide Scham, mich wegen meiner wahrlich unpassenden Kleidung, ihn seiner Reaktion wegen, die einer Abweisung gleichzukommen schien.

«Verzeihung, ich meine nur, ob Sie ein paar Minuten warten könnten, ich habe eine unaufschiebbare Unterredung. (Dann bat er mich nahezu.) Sie können unterdessen in sich gehen ...»

«Ja, gern ...»

Ich hatte Zeit, und noch wichtiger: Ich konnte die Begegnung mit dem neuen Pfarrer meiner Kirche hinausschieben. Vergebens zwang ich mich zu christlicher Demut, doch mit den Kirchen erging es mir wie mit den Theatern, in manchen schien selbst der Geist zu fehlen, und das lag an der Person des Protagonisten, im gegebenen Fall des Geisteshirten.

Seit Jahren schon bestand meine Hauptbuße darin, daß ich bei einem alten Pfarrer beichtete, der zum Glück zwar nicht jenem erbärmlichen Kollaborateursverein ‹Pacem in terris› angehörte, dessen Fragen mich aber (Gott strafe mich nicht) an mein einziges (allerdings ausreichendes!) Verhör bei der Staatspolizei erinnerten. Nichts war ihm genug, er erkundigte sich nach peinlichen Einzelheiten (mit welchem unsittlichen Gedanken ich konkret gesündigt, wie oft genau ich Unzucht getrieben hätte), und ihm mußte und wollte ich, im Unterschied zu den Widerlingen, Rede und Antwort stehen. Er war es auch, der mich gezwungen hatte, da ich mich nie an alles erinnerte, auch ein erotisches Tagebuch zu führen. Zweifellos wollte er damit bewirken, daß ich mir mein Tun selber gehörig verleidete, doch er ahnte nicht, daß sich das auch gegen ihn richtete, ich konnte mir nicht helfen! Das wagte ich nicht, ihm auch noch zu beichten, und deshalb verspürte ich (Gott verzeih mir!) Erleichterung, als ihn krankheitshalber ein anderer Priester ablöste. Meine Hoffnung zerstob während der ersten Messe: Der Nachfolger gestikulierte gewaltig und artikulierte übertrieben (wie ein Operntenor), er kam mir aufgeblasen vor, und so schob ich die Begegnung im Beichtstuhl vor mir her.

Jetzt aber konnte ich mich überhaupt nicht konzentrieren, geschweige denn in mich gehen, mich störte der halblaute Streit in der Sakristei, bis ich ihm, ob ich wollte oder nicht, zuzuhören begann. Er kam mir wie ein hier unangebrachter politischer Streit vor, der Pfarrer lehnte wiederholt die neue Leitung ab und behauptete, die alte war in Ordnung und konnte noch Jahre bleiben, was ein unbekannter Baß das Spiel mit dem Feuer nannte. Daß ein so banaler Zank hier Vorrang vor der Beichte bekam, befremdete mich, deshalb erhob ich mich, um zu gehen, doch da tauchte auch schon der Priester auf und eilte herbei.

«Verzeihen Sie, aber ich hab die Elektriker hier, wir stellen auf zweihundertzwanzig um, und nun tun die so, als würden wir eine neue Kirche bauen.»

«Entschuldigen Sie, ich kann ein anderes Mal ...»

«Nein, nein! Bitte, kommen Sie, die machen es jetzt unter sich aus, ich bin hier doch für Sie da!»

Er verschwand, um sogleich hinter dem dichten Gitterwerk des Beichtstuhls nur noch Stimme zu sein.

«Wann waren Sie das letzte Mal zur Beichte?»

«Vor Ostern ...»

«In diesen fünf Wochen haben Sie nicht allzuviel sündigen können?» (Hat er doch nur Angst, daß ihm die Handwerker davonlaufen?)

«Ich habe mich fortwährend gegen das sechste und neunte Gebot vergangen!»

«Haben Sie ohne habgierige oder niedrige Absichten gehandelt, wie auch ohne das Bedürfnis, anderen Schaden zuzufügen?»

«Ja ...»

«Dann beten Sie zehn Ave-Maria für die armen Seelen im Fegefeuer!»

Die feierliche Erregung, die sich bei den Beichten meiner bemächtigte, stellte sich nicht ein, dafür der Verdacht, daß er mich dank meiner modischen Hosen zu den verhätschelten Zierpuppen zählt, die nur Unzucht treiben und Gott auf die Nerven fallen, gerade wenn es um die Illumination Seines Hauses geht. (Ich hatte einen Tadel erwartet, Erläuterung, Zuspruch und zumindest den ganzen Rosenkranz!) Er hat alles mit einer unverhofften Frage gerettet.

«Tragen Sie wirklich Verlangen, sich von Ihren Sünden abzuwenden?»

«Ja! Ich will schrecklich gern in Gnade leben, verliere aber immer wieder die Kraft!»

«Wollen Sie weiter, meine Tochter! Gott ist gütig zu jedermann, der sich nachhaltig müht, mehr zu wollen, als er kann. Oft belohnt er einen solchen mit der Erkenntnis, daß er mehr kann, als er wollte. Meiden Sie die Versuchung, und wann immer sie von sich aus an Sie herantritt, beten Sie, bis Sie sich überwunden haben. Ich erteile Ihnen die Absolution im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen. Gehen Sie hin in Frieden.»

Er eilte zu seinen Elektrikern zurück und hatte mir dennoch die Hoffnung wiedergegeben. Ja, so leicht ist das, es genügt zu gehorchen. Ich werde Viktor reinigen und ihn dann bitten, mir als Gegenleistung dadurch zur Reinigung zu verhelfen, daß er mich nie mehr anruft. Ich betete und spürte geradezu körperlich, wie die Leidenschaften von mir abließen und aus den Steinchen von Großmutters Rosenkranz kühlend die Gnade in mich einging.

Den Rest der Zeit verbrachte ich in einer Oase, auf die ich gestoßen war, als mich mein immer noch nicht gelöschtes Sodbrennen nötigte, ein Eckkneipchen zu betreten. Ich hatte die ortsübliche Spelunke erwartet mit erbärmlichem Angebot und muffiger Bedienung, doch willkommen hießen mich ein nach Neuheit duftendes Weiß, eine vor dem Verrotten bewahrte Kaffeehauseinrichtung Marke Thonet und vor allem ein pummeliges Frauchen, das den Illustrationen zu meinen geliebten alten Dickens-Ausgaben entstiegen zu sein schien.

Überstürzt entschuldigte sie sich, daß hier noch nicht alles tipptopp sei, das Lokal habe ihr kürzlich ihr in Deutschland lebender Sohn auf einer Auktion gekauft, das sei seit ewig ihr Traum gewesen. Vor zwei Wochen habe sie aufgemacht, und einige Lieferanten hätten sich verspätet. Die haben mir nicht geglaubt, strahlte sie, daß ich immer alles schaffe! aber vielleicht werde sie mich trotzdem zufriedenstellen, also was dürfe es sein?

Ich wünschte mir etwas gegen den Durst, aber kein Sodawasser, ich vertrage die Bläschen nicht, auch keine Cola, die ist mir einfach zuwider, an Kaffee habe ich mich übertrunken, und für Wein ist es zu früh. Na, dann Tee! rief sie frohgemut, ich wandte ein, Tee beize den Magen schlimmer als Kaffee, sie aber wedelte mit ihren Nudelholzarmen, nicht doch, sie meine chinesischen, Jasmin, den könne man immerzu trinken, zur Beruhigung wie zur Aufmunterung, zur Erfrischung wie zum Aufwärmen, er passe sich den Menschen wie den Umständen an.

Sie rief die Erinnerung in mir wach an die melancholische Erzählung eines bis vor kurzem verbotenen Schriftstellers über einen zierlichen Gast, der in einem sozialistisch heruntergekommenen Beisl immer wieder vergebens nach Jasmintee verlangte, bis man mit Mühe welchen für ihn beschaffte, allerdings zu spät: Der Gast hatte die Lust verloren und kam nicht mehr. Jetzt verstand ich sein Verlangen, bezaubert von dem einmalig feinen Duft und Geschmack, die mein geistiges Fest fortsetzten.

Die Besitzerin, deren Glück eine für Prager Abfüttereien und Tränken unbekannte Harmonie schuf, schilderte verträumt, wie hier neben dem unablässig brodelnden Samowar zwei Dutzend Porzellankännchen stehen würden, worin die Gäste ihren Tee mit Hilfe einer schön gedruckten Anweisung nach Lust und Laune auswählen und aufbrühen könnten. Sie erwartete hauptsächlich Männer, die von hier zu der Klinik laufen und fragen könnten, welche Fortschritte ‹ihre› Geburt mache, das Rauchen sei hier freilich erlaubt (gleich steckte ich mir eine an), und im Fall von Zwillingen sei eine besondere Sorte Brennesseln vorhanden, nach der, sie kicherte, sogar eine Stute einschlafe.

Wie zur Bestätigung trat ein nervöser junger Mann ein, der zu dieser Zielgruppe gehörte, und sie watschelte eilig zu ihm hin. Unterwegs schaltete sie taktvoll eine Musik ein, die in öffentlichen Räumen eine besondere Art von Stille und privater Atmosphäre schafft, und ich nippte zur spanischen Gitarre und meiner Zigarette schlückchenweise den hellen Tee. Alle diese Annehmlichkeiten hinderten mich nicht, nach einer Weile festzustellen, daß es mit der Erhebung meiner Seele zu Ende ging und ich beklommen an die Begegnung mit Josef dachte.

Nach den Jahren der Bekanntschaft, die eigentlich nur durch Viktor aufrechterhalten wurde, hatten wir noch ein Jahr nach seiner Flucht in kameradschaftlicher Verbindung gestanden, bis wir einander auf Knall und Fall verfielen. Bis dahin war das Körperliche für mich eher eine Begleiterscheinung der seelischen Hochstimmung gewesen (fast auch deshalb brachten mir meine Absprünge keine Wollust), jetzt aber schien es sich verselbständigt zu haben. Ich verspürte keine Verliebtheit, und trotzdem wurde mir plötzlich ein gestern noch ziemlich fremder Mensch physisch vertrauter als mein Herzallerliebster Vít’a, das Lieben mit ihm schlug mich rasch in seinen Bann. Von der Arbeit (damals noch der Hausmeisterstelle) jagte ich nach Hause, kochte für Gábina, sah ihre Aufgaben durch (besser gesagt, ich tat nur so, und bald schlug sich das auf ihrem Zeugnis nieder, wofür ich sie in meiner Tollheit verprügelte), versprach ihr das Blaue vom Himmel, stellte ihr den Fernseher an und betrat eine halbe Stunde später zur neuen Runde Josefs Bett (das ganze Zimmer hatte sich in einen Ring verwandelt, und wir rühmten uns gegenseitig wie die Narren unserer Kollektion von Bissen und Kratzern aller Schattierungen). Er war nachgerade unverwüstlich, wir aßen einen Happen, beglückten einander weit über Mitternacht hinaus (mit Rauchpausen), und er blieb dann noch lange erregt, nachdem er längst eingeschlafen war. Vor sechs haben wir uns kurz, aber stark verabschiedet (‹Riemen› nannte er diese rasche Liebe, so besorgten es die Soldaten im Torweg den Dienstmädchen, behauptete er lachend, sie hängten den einen Fuß ins Koppel!), und um sieben machte ich daheim Gábi schon für die Schule fertig, das gleiche Karussell drehte sich eine Woche lang, zwei, sechs, die Spannung lockerte sich auch tagsüber nicht, ich wischte meine endlosen Treppenhäuser und dachte gierig an die kommende Nacht. Heute weiß ich, es war eine verspätete hysterische Reaktion auf die größte Niederlage meines Lebens (die ich bald mit ebenso hysterischer Sittsamkeit kompensierte), doch damals war ich vor Lust von Sinnen, bereit, mich zu Tode zu lieben; ich magerte bis unter die Maße meiner Ledigenzeit ab und gefiel mir im Spiegel wie nie zuvor und danach. Dann brachen die Ferien an, und meine Besessenheit zwang mich, mein Versprechen zu brechen, daß ich mit der Tochter wie jedes Jahr in das kleine Hotel an der mittleren Moldau fahren würde (den ganzen Winter über hatte ich wie ein Fisch nach dem Wasser gelechzt und schreckte plötzlich vor dem Gedanken zurück, das müsse für drei Wochen Josefs Umarmung ersetzen), ein letztes Mal glückte es mir, meinen einstigen Ehegatten (der nicht mehr jung und schön, aber um so erfolgreicher war, weil er mit Geschick kollaborierte) zu überreden, daß er mit ihr in die Ferien fuhr, falls er sie nicht ganz verlieren wollte; das war seit langem ihr Traum, doch in diesem Sommer begriff sie sehr wohl, daß ich sie mit diesem ‹Geschenk› ganz brutal abschob, und beschloß, es mir heimzuzahlen. Ich verlor sie aus dem Sinn, kaum daß die Tür hinter den beiden ins Schloß fiel, und zog zu Josef, der in seinem Betrieb (es kümmerte mich nicht, in welchem) überfälligen Urlaub nahm; die Freudenfeste des Leibes hielten auch tagsüber an, aber unser Verlangen versiegte nicht, mehr und mehr wurde mir die abgrundtiefe Kluft bewußt zwischen dem, was ich jahrelang für körperliche Liebe gehalten hatte (‹Geschlechtsverkehr› war genau der richtige Ausdruck dafür), und dem, was ich jetzt erlebte: das ständige Sichannähern bis an die Grenze der Durchdringbarkeit (es erinnerte mich an die phantastische amerikanische Photoserie, die einen Menschen beim Sonnenbaden zeigt, beginnend mit dem weitesten Objektiv von der Spitze eines Chicagoer Wolkenkratzers aus, wo er als ein unkenntlicher Punkt so gut wie unsichtbar bleibt, bis hin zu der mikroskopischen Vergrößerung eines seiner Leberflecke), bei dem die höchste Lust kaum nachließ. (Welch ein Glück, daß bereits die erste Umarmung meines wiedergefundenen Liebsten vor einem Jahr diese trügerischen Höhepunkte mit einem Schlag übertraf, amor vincit omnia!) Dann kam die Nacht heran, über die ich beim Jasmintee nachdachte: Drei Tage vor Gábinkas Rückkehr, also auch vor dem einstweiligen Ende unserer Raserei, hatten wir beide zugleich das Bedürfnis, uns für eine Weile nicht zu berühren. Da auch nach Mitternacht die Hitze immer noch nicht nachgelassen hatte, zogen wir unsere Matratze auf die Terrasse hinaus, in die keiner hineinschauen konnte, denn wir befanden uns ganz oben, und ringsum waren nur Krankenhäuser, wo alles bereits eingeschlafen oder schon gestorben war. Das Radio spielte irgendwas, wir rauchten (er seine starken Gauloises), schlürften das Getränk unseres Sommers, den ‹Weißen Bären› (ein Eiscocktail mit russischem Wodka, der die Süße des tschechischen Sekts zurücknahm), und segelten gemächlich unter den regungslosen Sternen dahin.

«Ich möchte dir gern etwas sagen», flüsterte er.

Seltsam, daß wir zu jenen Zeiten meist flüsternd miteinander sprachen, obwohl wir uns vor niemandem verstecken mußten und auch keinen störten (und es war damals vielleicht die einzige Tätigkeit, für die das Regime keinen Paragraphen hatte).

«Na los!» ermunterte ich ihn. (Ich erwartete die fällige Verabredung für unsere Zeit ‹danach›.)

«Ich liebe dich und möchte dich heiraten.»

Noch nie hatten wir uns Liebe eingestanden. Und daß er sich entschließen würde, ein zweites Mal zu heiraten, war mir nie in den Sinn gekommen. Auf dem einzigen Photo, das in seiner Wohnung hing, umarmte er verliebt eine zierliche Frau; ihrer beider Rücken waren mit Fallschirmen beschwert. Der ihre hatte sich irgendwann später nicht geöffnet. Das schilderte er mir einmal mit kargen Worten. Sie sprangen an einem klaren Wintertag zu acht einen Stern, hatten ihn bereits geformt und hielten sich ringsum kurz an den Händen, für sie beide die letzte Berührung im Leben. So was passiert schon mal, berichtete er fast allzu unbeteiligt (und verriet damit, daß er selbst heute noch mit ihr abstürze), deshalb wird das auch trainiert, meistens reicht es, wenn man mit Armen und Beinen bremst, ich hätte sie eingeholt und an mir festgemacht; sie aber (er sprach nicht einmal ihren Namen aus) war offenbar im Schock, sie sank durch die blaue Luft wie ein Turmspringer immer vor ihm her, bis der Selbsterhaltungstrieb ihn zwang, die Reißleine zu ziehen. (Sie lag auf einer vom Schnee gezuckerten Wiese am Rücken, die Hand unterm Kopf und die Augen geschlossen, als nähme sie ein Sonnenbad, ich bin in der Stille ihr nachgesegelt und hab laut geheult vor Verzweiflung und Scham ...)

Dreizehn Jahre danach (ich fand in seiner Wohnung nicht das geringste Anzeichen einer weiblichen Hand, war er ein Einsiedler, der nun ins Leben zurückkehrte?) gestand er mir also seine Gefühle und bot mir die Ehe an. Und ich, das ewig flüchtende Wiesel, das zu seinem eigenen vielversprechenden Gatten gesagt hatte, Geh, ich will dich nicht mehr! das auch seinem Allerliebsten immer aufs neue entlaufen war, nicht nur um ihn zu Leiden und somit zu noch größerer Liebe zu zwingen, sondern auch, weil es in seinem tiefsten Wesen Freiheit noch höher über alles stellte, ich begann vor Freude zu beben, endlich in fester Hand zu sein! (Heute weiß ich, daß ich das erste Altersgeklingel vernommen hatte ...)

«Du hast mich wirklich lieb?» wisperte ich mit der Intelligenz einer Sechzehnjährigen, die soeben ihr Kränzlein eingebüßt hat. (Ich schloß nicht aus, daß ich gleich zu heulen anfangen würde.)

«Ich hab dich wirklich so lieb, daß ich ganz durcheinander bin. Ich mag dich so sehr, daß ich dich bitte: Zieh dich an und geh ein Stück mit mir.»

Die ungewöhnliche Bitte paßte zu dem unverhofften Geständnis. Wenige Minuten darauf verließen wir das Haus. Wie immer hielt er mich fest umschlossen, die rechte Hand auf meiner rechten Brust (Mein Nest! pflegte er zu sagen, und mich störte nicht, daß es kitschig klang, mit diesem Griff hatte im Frühjahr seine Wandlung vom Freund zum Liebhaber begonnen), und führte mich mit seinem scharfen Schritt zum Karlsplatz hinunter. (Zur Barbara? Barberina? Bibita? Wo will er das festlich begießen?) Mit einemmal verlangsamte er das Tempo.

«Steck dir eine darauf an!» er schnippte mir eine aus meiner Packung, die er aufmerksamerweise mitgenommen hatte (seine waren mir zu stark).

Der Park war natürlich menschenleer, doch während der Diktatur ein sicherer Ort, man wurde nicht von Zigeunern überfallen, höchstens von Polizisten. Einer sollte bald erscheinen.

«Wände haben Ohren, Petra, und was ich dir sagen will, ist nicht für sie bestimmt.»

«Du spannst mich auf die Folter!»

Er setzte diese sonderbare Brautwerbung in seinem Tempo und auf seine Weise fort.

«Gerade weil ich dich so lieb habe, bin ich außerstande, dir länger ein Theater vorzumachen.»

Mich durchfuhr ein banaler Schreck.

«Hast du eine andere?»

«Das meinst du doch nicht ernst? Wie sollte ich die schaffen?»

«Na, was dann für ein Theater?»

«Warte! Zuerst versprich mir, daß du in jedem Fall morgen mit mir nach Kladno fährst!»

«Warum ausgerechnet dorthin?»

«Weil ich dort meine Eltern habe und alle meine Leute. Ich will, daß du sie kennenlernst.»

«Aber gern!»

«Versprich mir das!»

«Ich sag dir, ich werde gern zu ihnen fahren.»

«Sag: Ich verspreche es bei der Gesundheit meiner Tochter!»

«Josef ... (meine Stacheln richteten sich auf) wozu so eine ...»

«Ich bitt dich sehr!»

«Meinetwegen ... (hatte er es für sein Anerbieten nicht verdient, daß ich einer kleinen Laune von ihm nachgab?) ich verspreche bei Gabinkas Gesundheit, morgen mit dir zu deiner Familie nach Kladno zu fahren, nur als deine Freundin, versteht sich, wir dürfen nichts überstürzen. Zufrieden?»

«Ja ... (Er war mit seinen Gedanken sichtlich schon woanders.) Du hast mich nie gefragt, was ich eigentlich tue.»

«Und du mich etwa?»

«Aber dir ist doch zumindest klar, daß ich Kommunist bin.»

«Mir war immer klar, daß du ein anständiger Mensch bist. Im Unterschied zu meinem Exmann, der als Parteiloser auf das Regime schimpft, aber ohne Skrupel an ihm schmarotzt.»

«Petra. Ich bin Major.»

«In Reserve, weiß ich, Viktor hat dich doch bei einer Übung kennengelernt, aber sonst bist du Ökonom, nicht?»

«Alles Deckmantel. Ich bin Major der Staatssicherheit. (Das verschlug mir wahrhaftig die Rede.) Das hat dir die Rede verschlagen.»

«Ja ...»

Er führte mich weiter fest umarmt und sprach mir leise ins Ohr.

«Ich weiß, wie du zu dieser Firma stehst und welche Erfahrungen du mit ihr hast. Als man dich bei jenem Maler festnahm (Schande! Olin und ich kamen nicht mal dazu, uns anzuziehen, sie schlugen die Türe ein), hat dich mein Untergebener verhört. Genauer gesagt, er wollte, blieb aber ohne Erfolg, selbst als er dich zu uns gebracht hatte. (Noch immer war ich keiner Silbe mächtig.) Er meldete, du hättest dich arrogant verhalten, es abgelehnt zu antworten und unter das Protokoll geschrieben: ‹Ich bin es nicht, wer sich hier schämen muß.› (Er zitierte wörtlich, er war tatsächlich bei denen! Dieser Spitzel hat mich wie eine Nutte behandelt.) Ich war stolz auf dich.» (Ich war empört.)

«Du?? Warum du??» (Mich verblüffte, wie schnell für mich aus einem Geliebten ein Geheimer geworden war.)

«Schrei nicht! Wir sind hier, damit ich dir sage, was du nicht weißt. Ich begehe eine Straftat, die unsereinen nicht nur Rang und Funktion kosten kann, sondern auch die Freiheit und noch mehr. (Schon möglich, offensichtlich, aber dennoch ...) Seit Monaten weiß ich, entweder muß ich mich von dir trennen oder dir die Augen öffnen. Mit Maria hat das seinerzeit viel länger gedauert (wer ist Maria? ach! die Pechmarie mit dem Fallschirm), ich bin dem Wesen nach ein Einzelgänger und vor allem: Nie wollte ich morgens neben einer aufwachen. Sie war die erste. Und die letzte vor dir.»

«Hat sie auch gewußt, daß du ...?»

«Damals war ich noch nicht dabei. Deshalb schleppe ich dich nach Kladno, dann magst du dich entscheiden, wie du willst. Ich habe ein Recht darauf, daß du meine Wurzeln kennenlernst, daß du von allein begreifst, wer ich bin und warum ich bin, was ich bin. Du wirst eine Arbeiterdynastie kennenlernen, die erst nach dem letzten Krieg einen Sohn zum Studium schicken konnte und bald erfahren mußte, wie schändlich man sie betrog. Ich ging nach dem Vorbereitungskurs für Arbeiter auf die Hochschule und als fertiger Jurist vorsätzlich zur Öffentlichen Sicherheit, das war schon zu Chruschtschows Zeiten, damit diese Schweinereien sich nicht wiederholen konnten! doch man brauchte mich als Erbsenzähler. Das Unglück mit Maria geschah im Januar achtundsechzig, gleich am Anfang des ‹Prager Frühlings›. Ich war mit den Nerven fertig, innerlich hörte ich nicht auf zu heulen, war ein Jahr lang in Behandlung und ein weiteres arbeitsunfähig. Ich kam zurück, unbelastet von dem, was inzwischen über dieses Land hereingebrochen war. Und darin sah ich mein Kapital ... Vorsicht, verbrennst dir die Finger!»

Ich warf die kurze Kippe weg, hatte aber ein dringendes Verlangen nach mehr Nikotin. Um mir Feuer zu geben, mußte er mich loslassen und nahm dann seine bevorzugte Haltung nicht wieder ein, was mir nur angenehm war.

«Maria war von gleicher Chemie wie ich, aber obendrein einer Verstellung unfähig, ich bin mir sicher, sie wäre später eine der ersten gewesen, die die Charta unterzeichneten. Als man anfing, mich für die Staatssicherheit anzuwerben, zu der sich sonst nur lauter protektionierte Blödiane drängten, wogegen ich ein Kaderprofil wie aus dem Bilderbuch hatte, den Titel ‹Meister des Sports› und eine weiße Weste, da beschloß ich, der tschechische Paul Thümmel zu werden.»

«Wer ...?»

«Der deutsche Agent Thümmel führte einen geheimen Krieg gegen Hitler, er vereitelte die Aktionen der eigenen Seite, indem er sie an den Widerstand verriet. Und ähnliches mache ich bis auf den heutigen Tag auch. Hat man denn nicht gleich davon abgelassen, dich zu sekkieren? Und ist nicht auch dein damaliger Freund Luna mit heiler Haut davongekommen?»

Die lautere Wahrheit, der hatte fest damit gerechnet, wie die meisten anderen eingesperrt zu werden, bei denen man während der Razzien eine frische Lieferung Exilzeitschriften und illegale Valuten zur Unterstützung der Verfemten gefunden hatte. Meine eingefleischte Abneigung gegen diese Institution (ich war geradezu physisch von ihr angewidert) war stärker als die beste Absicht, einem Mann zu glauben, mit dem ich gerade eine so tolle Zeit erlebte.

«Wie konnte dir das bis heute durchgehen?»

«Eine logische Frage. Als erstes habe ich sie mir selbst stellen müssen: Wie lange läßt ein so mächtiger Apparat mit sich spielen? Er ist zum Glück ein Abbild der Gesellschaft, er wimmelt von Nichtstuern und produziert Ausschuß, doch zum Aufspüren eines Räubers im eigenen Hühnerstall taugt er allemal. Drum habe ich gelernt, in jeder Sekunde an das zu denken, was ich nicht darf.»

«Und was darfst du nicht?»

«Etwa größere Bissen zu nehmen, als man schlucken kann. Oder Emotionen nachzugeben. Ich ließ die Finger von allem, was ein anderer bei uns gleichzeitig abdeckt, wie es dort heißt. Dafür mißbrauche ich in vollem Maß die Vorteile, die das eiserne Gesetz der Konspiration gewährt: Bestimmte Fälle darf aus Gründen der Geheimhaltung nur einer verfolgen. Wenn nötig und möglich, enden sie bei mir im Aus. Damit meine Erfolgsquote nicht verdächtig absank, im Gegenteil, damit sie mich zu weiteren selbständigen Aktionen legitimierte, deckte ich ein paarmal als erster auf, was sich nicht mehr verbergen ließ, oder aber schob die Schuld solchen zu, die dadurch ohnehin nicht noch mehr zu belasten waren. (Er bemerkte meine tiefen Zweifel.) Ja, das ist der Preis, den du selbst einschätzen mußt, Petra. Ich versuche, die blinde Gerechtigkeit durch eine überlegte zu ersetzen, darin sehe ich meinen bescheidenen Dienst am Volk. Und mein Einstand für die Ehe besteht darin, daß ich mich dir in die Hand gebe. Du bist empfindsam, du machst doch Gedichte, ich habe die Hoffnung, daß du mir glauben wirst.»

Irgendeine Straßenbahn fuhr, irgendwo schlug eine Turmuhr irgendeine Zeit, und ich war keines Gedankens fähig (in meine Netzhaut prägte sich für immer eine dramatisch zerrissene Wolke ein, die unterm Mond über dem ‹Fausthaus› schwebte), wir gingen und gingen ohne ein Wort um das endlose Oval des Parkwegs herum, die wenigen Zentimeter Abstand zwischen uns schienen unüberbrückbar wie eine Staatsgrenze.

«Möchtest du lieber zu Hause schlafen?» fragte er irgendwann. «Ich bring dich mit dem Taxi hin.»

Ich schüttelte den Kopf (es wäre nur ein peinlicher Krampf gewesen). Ihm war sichtlich wohler ums Herz, er hakte mich leicht unter, so wie wir bis zum Frühjahr immer gegangen waren, brachte mich zu sich zurück und ging duschen, um mir Zeit zum Einschlafen zu lassen. Wie durch ein Wunder (war es eins? ich war erschöpft an Leib und Seele) gelang mir das im Nu.

Um zehn wachte ich auf. An der Thermoskanne mit Kaffee in der Küche lehnte ein Zettel. Bin mittags zurück. Wenn du noch da bist, fahren wir nach kladno.

Eine Stimme drang an mein Ohr. Vor meinem Tisch stand die üppige Teekönigin. Mühsam fand ich in die Gegenwart zurück.

«Ob Sie noch einen Wunsch haben.»

«Nein, ich bin zufrieden ...»

«Eigentlich habe ich schon zu.»

Halb sieben, ob er mir auch nicht weggelaufen ist? Hastig raffte ich mich zusammen. Die drei heißen Jasmintees (wann hatte ich sie bestellt?) kosteten mehr als ein opulentes Abendessen, bis zum Gehalt blieb mir in der Börse ein Hunderter. Mein Liebster hat mir teure Kleider gekauft, ich aber muß mir am Montag Geld leihen für Zigaretten, für Kaffee und eigentlich auch fürs Brot.

«Also bist dus!» sagte er zur Begrüßung. «Die Beschreibung paßte nur auf dich.»

Er hatte die Tür aufgemacht, als ich die letzten drei Stufen noch vor mir hatte, mußte also nach mir Ausschau gehalten haben.

Ich betrat eine stehengebliebene Zeit. Hier hatte sich anscheinend überhaupt nichts verändert, vor allem er nicht. Sein nach wie vor dichtes Haar war schon vor Jahren interessant meliert gewesen (was hätte ich, meinte ich einmal neidisch, für deinen Ton bei der Friseuse blechen müssen), schon jetzt, Anfang Mai, war er bereits braungebrannt (natürlich: er lief ja passioniert Ski! er hatte es mir beizubringen versprochen, doch dazu war es nicht mehr gekommen ...), anders war nur, daß er mich nicht küßte (warum eigentlich nicht? heute ein Allerweltsgruß), sondern mir seine angenehm große Hand reichte (jene, die mich immer von rechts liebkost hatte) und mich in das einzige Zimmer führte.

«Nimm Platz. Siehst prima aus.»

Sein Blick verhehlte nicht im geringsten, was er an mir unverändert am meisten bewunderte. Diese Natürlichkeit steckte mich an, die Spannung war verflogen, als setzten wir ein gestern unterbrochenes Gespräch fort.

«Du kannst dich auch nicht beklagen.»

«Richtig», sagte er lachend, «ich wüßte nicht, bei wem.»

Womit er mir mitteilte, daß er allein war. Und sogleich wechselte er das Thema.

«Möchtest du einen Tee?»

«Nein, vielen Dank, ich hab grade ein Meer von Jasmin ausgetrunken.»

«In unserer neuen Teestube? Heut war ich ausnahmsweise nicht da, schade, dann hätt ich dich eine Stunde früher getroffen!» (War er auch ein Charmeur gewesen? Ich habs vergessen.)

«Warst du nicht Kaffeetrinker?»

«Und wie! Aber als der Arzt mir klarmachte, ich dürfte mir nur ein einziges Laster erlauben, hab ich mich für den Alkohol entschieden.»

Für den ‹Weißen Bären›? fragte ich nicht. Ich dachte nicht daran, an unseren Sommer zu erinnern.

«Ich hörte, du sollst für die Australier arbeiten.»

Er wies mit dem Kopf auf die Nachbarwohnung und verzog den Mund.

«Sie ist dem A neben dem Kennzeichen nicht gewachsen! Nein, es steht für Austria, ich bin dem Generalkommissar der österreichischen Industrie behilflich, sich in den hiesigen Steuervorschriften zurechtzufinden, in denen sich nicht mal unser Finanzminister auskennt.»

«Brauchst du dazu keine Sprachen?»

«Ich spreche Deutsch und zur Not Englisch. (Auch das hast du mir damals verheimlicht? lag mir auf der Zunge.) In den letzten Jahren habe ich allerlei gelernt, ich hatte dazu mehr Zeit.» (Ohne dich, wollte er vielleicht sagen? Mir kam die seltsame Information in Erinnerung.)

«Sie hat mir gesagt, du wärst eingesperrt gewesen.»

«Ja. Meine Chefs haben mir in ihrer Wut nach sowjetischem Muster ein Manko im dienstlichen Devisenkonto produziert.»

«Aber warum waren sie wütend? (Ich versuchte herauszukriegen, was die Sache meines Liebsten beeinflussen könnte.) Hast du gekündigt?»

«Von dort weg durfte man nur ins Krematorium. Ich hab lieber die Charta unterzeichnet.»

«Du?? (Moment ...) Aber die war doch lange vorher!»

«Unterschriften wurden weiter angenommen. Siebenundachtzig waren sie mir schon dicht auf den Fersen, drangewesen wäre ich so und so. Ich wollte nicht irgendwo in Sibirien verrekken, deshalb wählte ich den Ausstieg aus der Anonymität. Ich unterschrieb die Charta als einziger Geheimoffizier, obendrein zu ihrem zehnten Jahrestag. Zuerst steckte man mich in einen geschlossenen Pavillon, ich hatte nämlich irgendwann einen Nervenzusammenbruch gehabt (hast du vergessen, daß ich das weiß? ich hatte das vergilbte Photo der beiden Fallschirmspringer im Blickwinkel, und wer ist die Frau daneben? nein! ich ...), doch die Ärzte hatten schon ihren Gehorsam aufgekündigt, zu meinem Pech, denn so kam ich um ein Pflaster von zwölf Jahren nicht herum. Dann hatte ich Mordsglück mit der ‹Sanften Revolution› und riß nur anderthalb davon ab.»

Anscheinend schüttelte ich ziemlich ungläubig den Kopf, denn er setzte verdrossen hinzu.

«Du bist die einzige, die das nicht hätte überraschen müssen, du hast meine Absichten gekannt. Offenbar hast du mir schon damals nicht geglaubt.»

«Das ist nicht wahr! Ich hab am Sinn deines Handelns gezweifelt, nicht an deiner Ehrlichkeit. Sonst wäre ich keine Minute länger bei dir geblieben!»

«Geblieben bist du überhaupt nicht ...»

«Du weißt genau, warum! Die Tochter wollte mir aus dem Fenster springen, ich hätte ihr den allerbesten Papi gestohlen und möchte sie an meinen Galan verschachern. Du hast erlebt, wie verzweifelt ich war, dein Geheimkram interessierte mich am allerwenigsten. Du warst es, der mich nicht gehalten hat. Ich will nicht obendrein auch noch ein geheimer Geliebter sein!» (Originalzitat von dir!)

«Entschuldige ... (er wurde kleinlaut und deutete zur Wand) verzeih auch das Photo, ich hab es aus deiner Akte entwendet.»

Seine professionelle Wachsamkeit funktionierte also weiter. Ich wiederum erspürte instinktiv den rechten Augenblick.

«Übrigens, Anstand kannst du auch heute beweisen.»

«Wie?»

«Ist es wahr, daß du in so ein Verbrecheralbum, amtlich Agentenregister genannt, unseren gemeinsamen Freund Viktor Král eingetragen hast?»

Er sah mir geradewegs in die Augen und zuckte mit keiner Wimper. (War er darauf vorbereitet?)

«Ja, das ist wahr.»

Wonach mir das Herz vor einer unheimlichen Vorstellung zu pochen anfing.

«Und warst du wirklich sein ... Führungsoffizier?»

O Gott, wenn er nun ja sagt? Durch den erhöhten Blutdruck verschlossen sich mir die Ohren, ich hörte ihn nur von ferne, zum Glück aber deutlich.

«Nein.»

In meinem Trommelfell knackte es schmerzhaft, als tauchte ich aus der Tiefe auf. Angst wich einer Erbitterung.

«Wie konntest du dir eine solche Gemeinheit erlauben??»

Mir schien, als erblaßten seine Lippen, doch er antwortete in normalem Ton.

«Ich erinnere mich auch, daß ich dir anvertraut habe, wie ich auf diesem dünnen Eis meine Kür hinlege. Eingetragen habe ich ihn ohne sein Wissen, als ich mitkriegte, daß er bei erstbester Gelegenheit im Ausland bleiben würde. So habe ich dafür gesorgt, daß er sie bekam. Meinen Chefs habe ich vorgemacht, er werde dort weitergeführt, für den Verein ein Volltreffer.»

«Du ... du hast ... (mein Gehirn war außerstande, das zu verarbeiten) du hast gewußt, daß er abhauen will?»

«Ich staune noch immer, daß du das nicht gewußt hast.»

«Ich hatte nicht die leiseste, aber auch nicht die allerleiseste Ahnung! (Ich schrie.) Ich hätte es ihm ausgeredet!»

«Er ging doch deinetwegen. Er war mit dir unglücklich.»

Getroffen. Ich war drauf und dran, die Tür zuzuschmettern und erst bei der Metro haltzumachen, doch das war das letzte, was ich jetzt durfte. Ich griff nach der Zigarette, und er stand auf, als er sie mir anzündete.

«Petra, Vít’a war mein Kamerad, und ich habe deine Eskapade mit diesem Luna besser gekannt als er, nein! nie habe ich ihm eine Andeutung gemacht, doch auch ich gewann den Eindruck, daß ein Mann sich auf dich nicht stützen kann, denn gerade wenn er Halt sucht, weichst du zurück.»

Mit jedem Zug bemühte ich mich, unsichtbar die Tränen herunterzuschlucken. Er hatte recht. Er hat es selbst erlebt. Mea culpa, mea maxima ... doch warum so hochgestochen? Ich war eine Betrügerin und gleiche jetzt dem aus den Trickfilmen berühmten begossenen Begießer ...

«Glaub nicht, ich hätte bereits Absichten mit dir gehabt, du weißt, es hat noch ein gutes Jahr gedauert, ehe ich mir ein Herz faßte, eigentlich, bis du selbst es dir gewünscht hast. (Der gibts mir, der gibts mir.) Vít’a hätte nie ins Ausland gedurft, seiner Herkunft wie seines Charakters wegen. Als mir klar war, daß er darin die einzige Möglichkeit sah, sich vor dir zu retten, verzeih, aber er war dem Selbstmord nahe, weißt du das überhaupt? da trat ich in Funktion; ohne daß er es ahnte, versteht sich. Nach damaliger menschlicher Logik wäre er nie mehr zurückgekommen, irgendein Register konnte ihm draußen nichts anhaben. Und hier konnte ich auf sein Konto ein paar Leute retten.»

Mich nannte er taktvoll nicht. Vergebens suchte ich nach dem Taschentuch, bis er mir sein eigenes gab. Ohne Scheu trompetete ich laut, um wieder sprechen zu können.

«Nur, die Geschichte hat der Logik ein Schnippchen geschlagen, und dein Eintrag hat die Kommission beim Regierungspräsidium veranlaßt, ihm ein Ultimatum zu stellen: entweder auf französisch verschwinden oder Spießruten laufen.»

«Das tut mir leid. Ich habe den Fall glatt vergessen.»

«Vergessen??»

«Ich hab fast zwanzig Jahre in dieser Mühle gesteckt.» (Er will das Opfer spielen!)

«Du hast sie angekurbelt!»

«Du tust mir unrecht! Ich hab Sand ins Getriebe getan.»

«Für mich zählt, was du jetzt machen wirst! Bist du (ich holte Luft, jetzt ging es um alles) bereit zu erklären, wie es wirklich war?»

«Aber natürlich!»

«Und wie?? (Ich bemerkte seine Gereiztheit und legte im Interesse der Sache den Rückwärtsgang ein.) Ich will dir keine Vorschriften machen, ich hätte ihm nur gern gesagt, was er erwarten darf.»

«Zunächst muß er mir sagen, wer, wann und wo darüber zu befinden gedenkt. (Richtig!) Ist er bereit, sich mit mir zu treffen?» (Darauf bin ich nicht gekommen.)

«Weiß ich nicht. Aber du hast doch Telephon, oder?»

Der Gedanke erregte mich, ihn das erste Mal selber anrufen zu können, sie selbst hat mir doch die Nummer gegeben! Josef Beneš sah mich an, als hörte er das Wort zum erstenmal.

«Telephon?»

«Ich frage ihn gleich.»

«Und du denkst, das wird ihn freuen? Deshalb hat er dich hergeschickt, oder? Damit nicht der Eindruck entsteht, er könne mit mir zusammen die Spuren verwischen.»

«Willst du sagen (ich war außer mir), daß hierzulande weiter abgehört wird?»

«Vielleicht leide ich an professioneller Deformation, doch gelernt ist gelernt. Morgen abend um acht werde ich vor der Kirche in der Resslová warten, da, wo sich die Paraschutisten nach dem Attentat auf Heydrich versteckt hatten, du weißt doch! Entweder er hält an und macht mit mir eine kleine Fahrt, oder ich gehe fünf nach acht meines Wegs.»

Daß er ausgerechnet eine Gedenkstätte der vorletzten Okkupation nach der soeben beendeten letzten für ein heimliches Rendezvous vorschlug, deprimierte mich.

Ich schneie

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