Читать книгу Henker und Bluthunde: Wichita Western Sammelband 7 Romane - Pete Hackett - Страница 10
Wie ein Rudel Bluthunde ... Western von Pete Hackett Über den Autor
ОглавлениеUnter dem Pseudonym Pete Hackett verbirgt sich der Schriftsteller Peter Haberl. Er schreibt Romane über die Pionierzeit des amerikanischen Westens, denen eine archaische Kraft innewohnt, wie sie sonst nur dem jungen G.F.Unger eigen war – eisenhart und bleihaltig. Seit langem ist es nicht mehr gelungen, diese Epoche in ihrer epischen Breite so mitreißend und authentisch darzustellen.
Mit einer Gesamtauflage von über zwei Millionen Exemplaren ist Pete Hackett (alias Peter Haberl) einer der erfolgreichsten lebenden Western-Autoren. Für den Bastei-Verlag schrieb er unter dem Pseudonym William Scott die Serie "Texas-Marshal" und zahlreiche andere Romane. Ex-Bastei-Cheflektor Peter Thannisch: "Pete Hackett ist ein Phänomen, das ich gern mit dem jungen G.F. Unger vergleiche. Seine Western sind mannhaft und von edler Gesinnung."
Hackett ist auch Verfasser der neuen Serie "Der Kopfgeldjäger". Sie erscheint exklusiv als E-book bei CassiopeiaPress.
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EIN CASSIOPEIAPRESS E-Book
© by Author www.Haberl-Peter.de
© der Digitalausgabe 2013 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen
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DIE FÜNF REITER FIELEN ihren Pferden in die Zügel. Zu beiden Seiten schwangen sich schneebedeckte Abhänge in die Höhe. Es war Januar, und es war eisig kalt. Ausgeatmete Luft bildete in der glasklaren Luft weiße Dampfwolken. In die stoppelbärtigen, verwegenen, von der schneidenden Kälte geröteten Gesichter schlich sich so etwas wie Erleichterung. Vor ihnen lagen die Gebäude einer kleinen Ranch. Rauch stieg aus dem Schornstein des Wohnhauses senkrecht zum blauen Himmel.
"Na endlich", schnappte Sam Walker. "Dachte schon, wir würden in dieser Einöde nie mehr auf eine menschliche Behausung stoßen. Endlich ein Dach über dem Kopf, Wärme, ein anständiges Essen..."
"Oder ein Empfang mit Pulverdampf und heißem Blei!" So fuhr ihm Slim Stevens, der wegen seines überlangen Halses den Beinamen 'Turkey' erhalten hatte, dazwischen. "Vergiss nicht, dass wir auch in Wyoming gesucht werden."
Stevens war der Anführer dieses falkenäugigen Rudels. Raub und Mord ging auf das Konto der Bande. Sie kam von Montana herunter, wo sie ebenfalls vor dem Gesetz fliehen hatte müssen.
Er ließ seinen wachsam-misstrauischen Blick über die Ansammlung einiger Schuppen und Scheunen springen. Das Muhen einer Milchkuh drang aus einem flachen Stall. Alles wirkte irgendwie aufgeräumt und gepflegt. Es hatte in der Nacht geschneit. Der frische Schnee im Ranchhof war nur zwischen Ranchhaus, Brunnen, Stall und Futterscheune zertreten. Im Übrigen war die weiße Decke unberührt. Es sah nicht so aus, als würden viele Menschen diese Ranch bevölkern.
"Wir reiten hin", erklärte Stevens, zog seine dicken Fäustlinge aus, schob sie unter die Jacke und angelte das Gewehr aus dem Scabbard. Er lud durch und stellte die Waffe mit der Kolbenplatte auf seinen Oberschenkel. Seine Kumpane folgten seinem Beispiel. Es waren Kerle mit dem typisch wachsamen Blick der Gesetzlosen.
Die Pferde sanken bis zu den Knien in den Schnee ein. Unter dem Neuschnee war die alte Schneedecke gefroren. Es krachte, wenn die Hufe einbrachen. Der Pulk zog eine breite Schneise in den weichen, weißen Untergrund.
Als sie auf zwanzig Yards an die Ranch herangekommen waren, trieb ihnen eine erregte, helle Stimme entgegen – die Stimme einer Frau: "Das ist weit genug. Wer seid ihr und was wollt ihr? Ich ziele mit einem Gewehr auf euch, und seid versichert, dass ich schieße, wenn ihr euch verdächtig benehmt."
Sie sprach mit einem kehligen Akzent.
Die Kerle strafften die Zügel, die Pferde standen. Slim Stevens rief: "Wir haben uns in der Felswildnis verirrt, Ma'am, vergangene Nacht, als der Schneesturm tobte. Wir sind durchgefroren, müde und halb verhungert!"
Stevens ruckte im Sattel, das Tier unter ihm setzte sich wieder in Bewegung. Seine Kumpane trieben ihre Pferde gleichfalls an. Die Frau im Haus schwieg jetzt. Sicher war sie ratlos und unschlüssig, konnte sie sich nicht entscheiden, wie sie sich den fünf Fremden gegenüber verhalten sollte.
Sie trat aus der Tür. Sie war mittelgroß und schlank. Haar, so schwarz und glänzend wie das Gefieder eines Raben, fiel in dicken Zöpfen über ihre Schultern, ihr Gesicht war dunkel und von einer exotischen Schönheit. Sie war eine Indianerin.
Die fünf Sattelstrolche bekamen große Augen.
"Eine dreckige Squaw!", entfuhr es Tom Murphy geringschätzig. "Seit wann besitzen die Indsmen richtige Ranches? Beim Satan, hoffentlich sind die Ställe und Schuppen nicht voll von diesen roten Teufeln."
Stevens sprang vom Pferd. Er reichte Gordon Webster die Zügel und stapfte durch den Schnee auf die Frau zu, das Gewehr, das sie auf ihn richtete, ignorierend.
Auch Walker und McLaughlin saßen ab. Lauernd, die Gewehre schussbereit, sahen sie sich um.
Als der Gewehrlauf gegen seine Brust stieß, hielt Stevens an. Unbeeindruckt schob er mit einer lässigen Bewegungen die Waffe beiseite. Er schürzte die Lippen, höhnisch meinte er: "Wir wollen keinen neuen Indianerkrieg anzetteln, Lady, wir wollen uns nur aufwärmen, ein paar Stunden schlafen, etwas Anständiges essen und unseren Pferde die nötige Ruhe gönnen. Lebst du alleine hier?"
"Nein. Mein Mann ist auf der Jagd. Er wird jeden Moment zurückkehren."
Wie eine Warnung vor drohendem Unheil durchfuhr es die Frau. Sie bemerkte den erregten Puls ihrer Halsschlagader. Und sie zuckte zusammen, als sie der Fremde scharf fragte: "Wie heißt dein Mann?"
"Jack Shannon."
"Ein Weißer?"
"Ja." Die Indianerin nickte.
Verächtlich zogen sich die Mundwinkel des Banditen nach unten. "Ein Squawman. Darum also habt ihr euch hier in der Wildnis verkrochen. Euch wollten weder die Roten noch die Weißen."
"He, Slim, überlass uns die Rothaut!", rief Tom Murphy, und in seinen Augen schillerte eine wilde Gier. Er rutschte vom Pferd und näherte sich schnell.
Die Frau wollte sich herumwerfen, um ins Haus zu fliehen. Wie eine furchtbare Flut überkam sie das Begreifen, dass sie es hier mit einer Bande von skrupellosen Tramps zu tun hatte, ihr fieberndes Gehirn machte ihr schlagartig klar, dass sie in tödlicher Gefahr schwebte.
Slim Stevens reagierte gedankenschnell. Seine Hand schoss vor, erwischte sie, er schleuderte sie zurück, und sie taumelte Tom Murphy entgegen, der ihr mit einem blitzschnellen Griff das Gewehr entwand. Er warf die Waffe weit von sich. Sie versank im Schnee.
Und plötzlich war die Frau von den fünf Kerlen umringt. Sie feixten. Nur mühsam bezwang die Indianerin die aufsteigende Panik. Angst und Grauen griffen mit eisiger Klaue nach ihr. Ihre Gefühle übermannten sie. Das Unabänderliche ihrer Lage war ihr plötzlich voll und ganz bewusst. Sie befreite sich mit letzter Willenskraft von der Lähmung, die sie bannte, und stieß sich ab. Ihre einzige Chance bestand darin, ins Haus zu gelangen. Dort stand noch ein Gewehr im Schrank, und sie konnte sich vielleicht die Schufte so lange vom Leib halten, bis Jack heimkehrte. Das war ihre Hoffnung. Aber sie zerplatzte wie eine Seifenblase. Sam Walker stellte ihr das Bein. Es gelang ihr nicht, das Gleichgewicht zu bewahren. Lang schlug sie in den Schnee. Webster und Murphy zerrten sie auf die Beine.
"Hinein mit ihr!", befahl Slim Stevens. Er lachte widerlich auf. "Wir suchten Wärme, einen Stall für unsere Pferde, eine warme Mahlzeit und einen Platz, an dem wir für einige Stunden die Beine ausstrecken können. Und was finden wir darüber hinaus: Ein Weib, wie es dir nur alle Lichtjahre einmal über den Weg läuft, geschaffen, um einem richtigen Mann den Verstand zu rauben."
Sie schleppten Naomi ins Haus...
*
ES SCHNEITE WIEDER. In dicken Flocken fiel der Schnee. Innerhalb einer halben Stunde waren Schneewolken am Himmel aufgezogen, und nun luden sie ihre weiße Last über dem Land ab.
Jack Shannon führte das Pferd am Zügel. Auf dem Packsattel seines Reservepferdes türmten sich Felle. Am frühen Morgen war er aufgebrochen, um nach seinen Fallen zu sehen. Er tötete und häutete die gefangenen Tiere an Ort und Stelle. Jetzt freute er sich auf seine warme Stube und auf Naomi, seine Frau, mit der er vor drei Jahren in die Big Horn Berge gezogen war, um den Sommer über Vieh zu züchten, und im Winter als Fallensteller und Pelztierjäger zu arbeiten.
Es war düster. Durch das Schneetreiben war das Blickfeld begrenzt. Die Pferde waren ziemlich erschöpft. Dann konnte Jack durch den weißen Vorhang aus Flocken einen Schuppen erkennen. Gleich darauf schälte sich auch das Wohnhaus aus dem Gestöber. Hinter den beiden Fenstern herrschte Dunkelheit. Jack brachte die Pferde in den Stall. Da standen fünf Pferde, die nicht ihm gehörten. Fünf seiner Tiere fehlten allerdings.
Unruhe bemächtigte sich seiner. Irgend etwas begann im Hintergrund seines Bewusstseins zu lauern, etwas, das ihn zutiefst beunruhigte - das sich aber seinem Verstand entzog. Dunkle Ahnungen kamen auf ihn zu. Er wusste nicht, worauf sie sich bezogen. Er fühlte nur, dass sie drohend waren.
Er überließ die beiden abgetriebenen Pferde sich selbst, nahm das Gewehr und verließ den Stall. Eine weiße, unberührte Schneedecke hatte sich auf den Hof gelegt und alle Spuren ausgelöscht. Obwohl Jack fast sicher war, dass das Wohnhaus keine Gefahr mehr barg, bewegte er sich vorsichtig. Vorsicht und Wachsamkeit waren ihm in der Wildnis voll tödlicher Gefahren zur zweiten Natur geworden. Er hatte sich auf blitzartige Reaktion eingestellt.
Ungeschoren betrat er die Ranchhaus.
Naomi kam ihm nicht entgegen, so wie er es gewohnt war. Er zog die Schultern zusammen, als wehte ihn ein eisiger Hauch an.
Im Schlafzimmer fand er Naomi. Sie war tot. Ihre Kleidung war zerfetzt. Sie hatten ihr Gewalt angetan. Noch im Tod war ihr Gesicht von Grauen und Abscheu geprägt. Etwas in Jack zerbrach in dieser Stunde ...
*
ES WAR ÜBER EIN JAHR her, dass Jack Shannon seine Frau begraben musste. Für Jack war eine Welt zusammengebrochen. Er hatte die Ranch verlassen. Ruhelos trieb es ihn kreuz und quer durchs Land. Er suchte die Mörder, um sie gnadenlos zur Rechenschaft zu ziehen. Aber er konnte ihre Spur nicht aufnehmen. Die Schufte schienen sich in Luft aufgelöst zu haben. Manches mal erschien ihm alles wie ein böser Alptraum und er hatte das Gefühl, einem Phantom hinterherzujagen. Aber er gab nicht auf.
Dann kam Jack nach Cheyenne. Es war ein regnerischer, kalter Tag Ende April des Jahres 1868. In Cheyenne endete vorläufig der Schienenstrang der Union Pazifik. Im Camp südlich der Stadt wimmelte es von Eisenbahnarbeitern aller Nationalitäten, hauptsächlich aber handelte es sich um Iren. Abenteurer, Glücksritter, Banditen und eine Reihe weiteres zwielichtiges Gesindel gaben sich in der wilden, sündhaften Town ein Stelldichein. Cheyenne war ein Sodom und Gomorrha am Ende des Schienenstrangs. Und in diesem Sündenpfuhl hoffte Jack einen Hinweis auf die Mörder Naomis zu finden.
Tief sanken die Hufe des Pferdes in den Schlamm ein. Riesige Pfützen, mit kleinen Seen vergleichbar, bedeckten die Straße. Von den Dächern und Vorbaudächern tropfte das Regenwasser. Alles hier schien nur provisorisch aufgebaut zu sein. Es war wohl so, dass sich die Geschäftemacher nur auf einen vorübergehenden Aufenthalt eingerichtet hatten. Sie zogen weiter, wenn die Union Pazifik das Camp hier auflöste, um den Schienenstrang weiter nach Westen zu treiben, im Wettrennen gegen die Central Pazifik, die ihre Gleise von Sacramento her verlegte.
In Cheyenne pulsierte wildes, ausgelassenes Leben. Heftige, bösartige Impulse durchzogen die Stadt. Jack glaubte es fast körperlich zu spüren...
Es war später Nachmittag. Der Himmel war wolkenverhangen. Die Stadt wirkte düster und grau. Hier und dort waren auf den Sidesteps Menschen zu sehen. Die Fahrbahn war wie leergefegt. Der knöcheltiefe Morast hielt die Menschen ab, sie zu betreten. Klirrende Hammerschläge trieben von der Baustelle in die Stadt. Das Pfeifsignal der Lokomotive des Bauzugs mit den Schlaf- und Salonwaggons derjenigen Männer, die hier den Ton angaben, ertönte. Die Waggons schepperten.
Jack wurde unverhohlen beobachtet. Er selbst schaute nicht nach links oder rechts. Dennoch vermittelte er Wachsamkeit und Bereitschaft. Er verströmte düstere Ernsthaftigkeit, etwas, das ihm etwas Ungewöhnliches und Gefährliches, Abweisendes und Undurchschaubares verlieh. Die tiefen Linien in seinem Gesicht zeigten an, dass Jack das Leben mit all seinen Höhen und Tiefen kennengelernt hatte. Und obwohl Jack noch keine dreißig war, waren seine Augen die eines uralten und weisen Mannes, der ein Leben voller Erfahrungen hinter sich hatte.
Hotels, Saloons, Spiel- und Tanzhallen und Geschäfte, in denen man vom Hufnagel aufwärts gegen bare Münze so ziemlich alles erhalten konnte, reihten sich zu beiden Seiten der Main Street, die von Sidesteps aus groben, ungehobelten Bohlen und Vorbauten begrenzt wurde. Es gab Gassen und Seitenstraßen. Riesige Holztafeln über den Eingängen verkündeten mit riesigen Lettern, was das jeweilige Etablissement an Vergnügen zu bieten hatte.
Jack zügelte das Pferd vor einem flachen Bau, den eine Hinweistafel als Marshal's Office auswies. Er saß ab. Lose warf er die Zügelleine über den Querbalken des Holms. Das nasse Fell des Pferdes dampfte. Das Tier prustete. Jack tätschelte ihm den Hals. Dann stieg er die drei Stufen zum Vorbau hinauf. Schlamm tropfte von seinen Stiefeln. Leise klirrten Jacks Sporen.
An die Wand links der Tür waren Steckbriefe und Bekanntmachungen geheftet. Viele der Papierbögen waren alt und vergilbt. Manche waren schon derart verwittert, dass das Gedruckte kaum noch zu entziffern war.
Jack studierte die Steckbriefe mit unbewegtem Gesicht.
Dann betrat er das Marshal's Office. Hinter dem Schreibtisch saß ein Mann. Seine Füße lagen auf dem Tisch, er hatte die Hände über dem Bauch verschränkt, sein desinteressierter, fast abweisender Blick war auf Jack gerichtet.
Eine massive Gitterwand trennte den Raum in zwei Hälften. Die Hälfte hinter den Gittern war in vier kleine Zellen unterteilt. Zwei der Zellen waren belegt. Zwei heruntergekommene, verwahrlost anmutende Kerle bevölkerten sie.
"Was wollen Sie, Stranger?" So empfing der Marshal den Eintretenden, ohne seine Haltung zu verändern.
Die beiden Häftlinge starrten Jack neugierig an.
Jack blieb in der Tür stehen. Er spürte Verärgerung wegen des unfreundlichen Verhaltens des Marshals. Die scharfe Erwiderung, die er auf der Zunge hatte, verschluckte er jedoch und sagte grollend: "Mein Name ist Shannon. Ich bin hinter einer Bande von drei oder vier Mann her, Marshal, vielleicht sind es auch fünf. Es sind schmutzige Frauenschänder und Mörder. Kam irgendwann in letzter Zeit ein entsprechendes Rudel an?"
Der Marshal war ungefähr vierzig Jahre. Seine steingrauen Augen blickten hart und freudlos. Die Lektionen, die ihm diese Stadt erteilt hatte, hatten ihn verschlossen, hart und kompromisslos werden lassen. Er fixierte Jack von oben bis unten, legte den Kopf etwas schief, über seine Lippen sprang es: "Ich sah Sie ankommen, Shannon. Nachdem Sie auf den Vorbau stiegen, vergingen einige Minuten, bis Sie das Office betraten. Diese Minuten widmeten Sie sicherlich den Fahndungsmeldungen draußen an der Wand. Drei, vier oder fünf Männer!" Der Marshal lachte trocken und ironisch auf. "Es gibt in dieser Stadt und im Land Hunderte von der Sorte, auf deren Fährte Sie reiten. Wenn Sie also nicht mehr zu bieten haben..."
Der Gesetzeshüter presste die Lippen aufeinander, hob die Schultern, ließ sie wieder nach unten sacken.
"Nichts anderes habe ich erwartet", murmelte Jack. Er hatte tatsächlich nicht den geringsten Hinweis auf die Identität der Banditen. So war er auch nicht enttäuscht. "Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich etwas in Ihrer Stadt umsehe, Marshal?", fragte er.
Der Angesprochene schwang die Beine vom Schreibtisch, im nächsten Moment saß er gerade, seine Hände umspannten die Schreibtischkante, und es sah aus, als wollte er sich in die Höhe stemmen. Aber er blieb sitzen. Mit brechender Stimme gab er zu verstehen: "Das Gesetz bin in dieser Stadt ich, Shannon. Ich beschäftige ein halbes Dutzend Gehilfen. In Cheyenne sind Mord und Totschlag an der Tagesordnung. Wir müssen uns mit rauflustigen Bahnarbeitern herumschlagen, mit Falschspielern, mit Kerlen, denen der Sechsschüsser höllisch locker sitzt, mit Raub und Diebstahl und einer ganzen Palette von gesetzeswidrigen Dingen mehr, und ich bin nicht wild darauf, einen in der Stadt zu wissen, der sein eigenes Gesetz vertritt. Sicher, es ist ein freies Land und eine freie Stadt, und Sie sind ein freier Mann, Shannon, und so kann ich es Ihnen nicht verbieten, sich frei in Cheyenne zu bewegen. Sollten Sie aber irgendeinen faulen Zauber veranstalten, dann müssen Sie mit mir rechnen."
"Ich habe verstanden, Marshal." Jack nickte. Er spürte ganz deutlich, dass es sich bei dem Marshal um einen aufrechten und unerschrockenen Mann handelte, der uneigennützig das Gesetz vertrat, und der als zähmende Hand das nötige Format besaß, eine wilde Town wie diese nicht völlig im Strudel der Rechtlosigkeit versinken zu lassen. "Darf ich Ihren Namen erfahren?"
"Natürlich. Ich heiße Jones – Kenneth Jones." Jetzt zeigte der Gesetzesmann ein scharfes Grinsen. "Es freut mich, wenn wir uns verstehen, Shannon. Man muss in dieser Stadt hart durchgreifen. So manchen Burschen muss man regelrecht zähmen – bändigen wie ein wildes Tier. Darum lasse ich von vornherein keinen Zweifel darüber aufkommen, wie ich zu diesem oder jenem stehe."
Sekundenlang nagte Jack an seiner Unterlippe. Dann sagte er leidenschaftslos: "Es war meine Frau, die die Schufte vor über einem Jahr brutal vergewaltigten und umbrachten. Und wenn es mir gelingt, ihre Spur aufzunehmen, dann wird mich nichts und niemand aufhalten, ihr zu folgen, bis der letzte der Mörder tot vor mir liegt."
Das kantige Grinsen des Marshals war erloschen. Ein unnachgiebiger Zug hatte sich in seiner Miene Bahn gebrochen. Sein Mund war schmal und hart geworden. Die grauen stechenden Augen sagten Jack, dass er einen Mann mit einem eisenharten Willen vor sich hatte. Und jetzt erklärte der Gesetzeshüter eisig: "Sie sind weder Richter noch Henker, Shannon. Und wenn Sie zuerst schießen, werde ich Ihnen auf die Hacken steigen. Männer werden hier im Schnellverfahren abgeurteilt. Es gibt keine Möglichkeit der Berufung. Urteile werden am nächsten, spätestens übernächsten Tag vollstreckt. So ist das hier. Sie sind doch nicht nach Cheyenne gekommen um zu hängen? Wäre doch schade, nicht wahr?"
"Machen Sie sich meinetwegen keine Sorgen, Marshal", versetzte Jack ebenso kalt und abschließend. "Ich kenne das Gesetz."
Mit dem letzten Wort schwang er herum. Hinter ihm klappte die Tür ins Schloss. Er stand wieder auf dem Vorbau. Gedankenverloren schwenkte er seinen Blick die breite, schlammige Straße hinauf und hinunter. Dann ging er zu seinem Pferd ...
*
SEIT ZWEI TAGEN BEFAND sich Jack in Cheyenne. Er begann den Marshal mehr und mehr zu verstehen. Hier musste ein Mann wie Jones entweder resignieren oder mit stählerner Härte durchgreifen. Verständnis, Entgegenkommen und Milde waren bei den betrunkenen Randalierern und schießwütigen Coltschwingern fehl am Platze.
Es war Nacht. Mitternacht war vorüber. Die Stadt glich einem alles verschlingenden Moloch, der Abend für Abend zu bösartigem Leben erwachte. Sündiger Lärm erfüllte die Straßen. Cheyenne war ein Hexenkessel, in dem es brodelte und gärte. Jack war bei seinem täglichen Streifzug durch die Saloons im Silver Star angelangt, einer üblen Spelunke und Spielhöhle. Verwegene Gestalten vergnügten sich hier im düsteren Schein der Petroleumlampen, Männer, deren Gesichter von Lasterhaftigkeit und Verworfenheit geprägt waren.
Im Schankraum herrschte Ausgelassenheit. Betrunkene grölten und schrien durcheinander. Gelächter erschallte. Leichtbekleidete, grellgeschminkte Mädchen bedienten die Gäste. Betrunkene torkelten herum. Es roch nach süßlichem Parfüm, Bier, Schnaps, Schweiß und Tabakrauch. Die Luft war zum Schneiden.
Mit einem Whiskyglas in der Linken schlenderte Jack im angrenzenden Spielsalon durch die Reihen der Tische, an denen gespielt wurde. Die Laternen, die mitten über den grünbezogenen Tischen von der Decke baumelten, warfen Schatten in die angespannten Gesichter der Spieler. Hier und dort fluchte jemand rauh. Karten klatschten. Stimmen waren zu hören, wenn die Männer Karten kauften oder ihre Einsätze verkündeten.
An einem der Tische hielt Jack an. Er war mit vier Männern besetzt. Einer der Kerle war ein typischer Gambler im berufsspezifischen Habit, einem dunklen Anzug also, darunter trug er ein weißes Rüschenhemd und um den Hals eine weinrote Schnürsenkelkrawatte aus Samt. Sein Gesicht war krankhaft bleich, unter seinen Augen lagen dunkle Ringe.
Blitzschnell verteilte der Mister die Blätter. Die Einsätze wurden in die Tischmitte geschoben, dann kauften die Spieler ihre Karten. Der Mann rechts von dem Spielertypen eröffnete mit fünf Dollar. Alle gingen mit. Der Einsatz wurde überboten, und dann wollte einer der Spieler sehen.
Ein dicklicher Bursche, der von seinem Äußeren her an einen wohlhabenden Storeinhaber erinnerte, gewann mit einem Flush. Der Bursche rechts vom Berufsspieler zischte eine Verwünschung, und dann stieß er kehlig hervor: "Zur Hölle mit euch, ihr habt mir den letzten Cent aus der Tasche gezogen. Ich kann nicht mehr setzen. Ich kann nicht mal mehr meine Zeche bezahlen. Ich bin fertig."
Der Spieler schaute ihn an und erwiderte frostig: "Dann musst du aussteigen, Otis. Oder du beschaffst dir Geld. Wir halten deinen Platz gerne frei."
Der andere verzog den Mund. Er lehnte sich zurück, trank von seinem Brandy, hüstelte, dann fragte er: "Gibst du mir einen Vorschuss, Ross? Zwanzig Dollar. Du..."
"Du stehst bereits mit zwanzig in der Kreide, John", sagte der dickliche Mann lächelnd. "Wenn ich dir noch einmal zwanzig gebe, sind es vierzig. Dein Lohn aber beträgt nur dreißig Bucks. Wie willst du ohne einen Cent einen Monat lang über die Runden kommen?"
John Otis kratzte sich am Hals. "Ich besitze ein Schmuckstück. Eine goldene Armspange. Schätzungsweise hundert Dollar wert. Für fünfundsiebzig versetze ich sie. Besteht Interesse daran?"
Jack durchfuhr es wie ein Blitzstrahl. Eine goldene Armspange hatte er Naomi zur Hochzeit geschenkt. Ihre Mörder hatten sie ihr abgenommen. War es eine Fügung des Schicksals, die ihn nach Cheyenne getrieben hatte? Hatte ihn die Vorsehung zur richtigen Zeit an den richtigen Platz geführt?
Die heiße und grelle Flamme der Hoffnung, die in ihm hochloderte, sank jäh wieder in sich zusammen. Er glaubte plötzlich nicht mehr daran. Soviel Zufall konnte es nicht geben.
Der Mann, der das Schmuckstück verhökern wollte, starrte den Dicken fragend an. Dieser zog ein weißes Taschentuch hervor und tupfte sich damit die schweißglänzende Stirn ab. Jack hatte Zeit und Gelegenheit, das Gesicht des Burschen, der seinen letzten Cent verspielt hatte, eingehend zu betrachten. Es war ein unregelmäßiges, hartkantiges Gesicht mit tagealten Bartstoppeln und schillernden, unsteten Augen. Der brutale Zug, der um den Mund des Mannes lag, war nicht zu übersehen.
Ross Bannisters aufgeworfene, stets feuchte Lippen sprangen auseinander, er sagte: "Hol die Spange her, John, damit ich sie begutachten und schätzen kann. Dann sehen wir weiter."
Der stoppelbärtige Bursche erhob sich schnell. "Ich bin in zehn Minuten zurück", versprach er, dann eilte er davon.
Der Mann im Spielerhabit heftete seinen Blick auf Jack. "Spielchen gefällig?"
Jack winkte ab. "Ich kann mit Karten nicht umgehen".
Der Spieler zuckte mit den Achseln und griff nach dem Päckchen, schob die Karten ordentlich zusammen, dass die Kanten eine glatte Linie bildeten, dann mischte er. Es ging derart schnell, dass Jack mit den Augen kaum zu folgen vermochte.
Das Spiel ging an den Bankhalter. Das nächste an Bannister, das danach folgende ebenso. Und dann kehrte der Stoppelbärtige zurück. Die Armspange war in ein Stück Tuch eingebunden. Der Bursche nestelte am Knoten, und schließlich klimperte das Schmuckstück vor Ross Bannister auf den Tisch. Es glitzerte und gleißte im Lampenlicht.
Jack staute den Atem. Sein Herz übersprang einen Schlag. Eine jähe, Bruchteile einer Sekunde andauernde Blutleere im Gehirn ließ ihn schwindlig werden und taumeln. Vor seinen Augen verschwammen die Bilder.
Es war die Spange – es war jene Spange, die er Naomi zur Hochzeit geschenkt hatte. Ein fingerdicker, goldener Reif, den er gegen eine ganze Winterausbeute an Fellen eingetauscht hatte.
In langen, heißen Wogen pulsierte die Erkenntnis durch Jacks Verstand. Seine Hände zitterten plötzlich wie im Fieber, in seinem Innersten tobte ein wahrer Sturm, und nur wie aus weiter Ferne hörte er jemand sprechen: "Was ist mit Ihnen, Mister? Haben Sie irgendein Problem? Sie sehen plötzlich so krank aus."
Er fing sich. Sein Blick wurde klar und Jack erfasste wieder, was um ihn herum vor sich ging. Sein Verstand arbeitete wieder scharf und präzise. Vor ihm stand der Spieler. Jack spürte die Hand des Mannes auf seiner Schulter. "Es ist schon in Ordnung. Eine vorübergehende Übelkeit. Wahrscheinlich der Whisky, den ich nicht gewohnt bin."
Er heftete seinen flackernden Blick auf das Schmuckstück, das Ross Bannister in seinen klobigen Händen hin und her drehte. Und dann starrte er den Burschen an, der es verkaufen wollte. Jacks Augen übten regelrechten Druck auf ihn aus. Er zog den Kopf zwischen die Schultern, Nervosität befiel ihn, er schluckte krampfhaft. "Ist was, Mister?", entrang es sich ihm heiser, mit belegter Stimme. "Weshalb starren Sie mich so an?"
Es wurde ruhig um Jack und den Tisch herum. Sie erregten Aufmerksamkeit in ihrer unmittelbaren Umgebung. Der Spieler hatte seine Hand von Jacks Schulter genommen und war einen Schritt zur Seite getreten. Ross Bannister hatte seine Hände mit dem Armreif sinken lassen. Unter schweren Lidern hervor taxierte er Jack.
"Von wem haben Sie den Goldreif?" Jedes Wort schien tonnenschwer in Jacks Mund zu wiegen. Die Vergangenheit hatte mit furchtbar kalten Händen nach ihm gegriffen. Die Bilder, die vor seinem geistigen Auge den Nebeln der Vergangenheit entstiegen, ließen ihn erbeben. Zwingend starrte er den anderen an.
"Ich – ich habe es einem Burschen, der in der Klemme steckte, für fünfzig Bucks abgekauft. Den Namen des Mannes kenne ich nicht."
Der Mann verschluckte sich, hüstelte und verströmte jähe Unrast und eine nicht zu übersehende Unsicherheit.
"Wo waren Sie vor vierzehn Monaten, Mister?", klirrte Jacks Stimme.
"Was soll das?" So mischte sich nun Ross Bannister ein. Hart und forschend betrachtete er Jack. "Wenn Sie was zu sagen haben, Mister, dann spucken Sie's aus. Ansonsten verschwinden Sie. Wenn Sie sich nicht am Spiel beteiligen, stören Sie nur."
Auch an den entfernteren Tischen wurde es still. Anspannung machte sich breit. Die Atmosphäre schien wie mit Elektrizität aufgeladen zu sein. Es war eine erwartungsvolle, drohende Spannung, die den Raum erfüllte.
"Wo?" Das Wort sprengte die Stille wie ein Hammerschlag.
Der schwergewichtige Ross Bannister stemmte sich am Tisch in die Höhe. "Sag es ihm, Otis", befahl er mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete. "Sag ihm, wo du vor vierzehn Monaten warst, damit wir weiterspielen können. Das mit dem Armband geht übrigens in Ordnung. Ich gebe dir fünfundsiebzig Bucks dafür."
John Otis trat von einem Bein auf das andere. Er dachte nach. Schließlich erklärte er rau: "Ich lebte damals in Idaho. Zusammen mit ein paar Freunden suchte ich nach Gold. Als wir nichts fanden, verließen wir das Goldland. Vor etwa drei Monaten traf ich in Rock Springs auf den Burschen mit dem Armband. Er befand sich in einer ähnlichen Situation wie ich heute. Er bot mir den Schmuck zum Kauf an, und ich schlug zu. Für fünfzig Dollar empfand ich den Reif als geschenkt."
"Lassen Sie den Mann in Ruhe, Shannon!", peitschte hinter Jack ein grimmiges Organ.
Marshal Kenneth Jones schob sich heran, seine Hände hielten eine Shotgun quer vor seiner Brust, der Doppellauf wies hinauf zur Decke. An seiner linken Seite hing der schwere, langläufige 45er. Bei jedem seiner Schritte klatschte das Holster gegen seinen Oberschenkel.
Jack zwang sich zur Ruhe. Ohne John Otis aus den Augen zu lassen, rief er: "Ich stelle ihm nur ein paar Fragen, Marshal. Das ist das Recht jeden Mannes, der die Mörder seiner Frau sucht und der eine erste Spur gefunden hat."
Betroffenheit prägte die Gesichter ringsum nach dieser Eröffnung. Aller Augen richteten sich plötzlich auf John Otis. Die Männer am Spieltisch traten zurück. Es war offensichtlich, dass sich jetzt auch Ross Bannister von Otis distanzierte. Stuhlbeine scharrten, der Saloon war plötzlich voll vom Raunen und Flüstern, Stiefelleder knarrte. Die Gäste drängten aus der Schusslinie.
Wieder erhob Jack seine Stimme: "Dieses Armband, dass dieser Mister feilbietet, habe ich vor fünf Jahren meiner Frau zur Hochzeit geschenkt. Vor vierzehn Monaten wurde meine Frau vergewaltigt und ermordet." Sekundenlang drohte seine Stimme zu brechen. Die Erinnerung überwältigte ihn. "Vierzehn Monate, in denen ich nach irgendeinem Hinweis auf die Mörder meiner Frau suche – einen Hinweis, den ich nun gefunden habe."
Der Marshal baute sich neben Jack auf. "Er hat Ihre Frage beantwortet, Shannon. Er befand sich in Idaho, als ihre Frau ermordet wurde. Und er kennt den Burschen nicht, der ihm das Armband verkaufte."
Jack schien den Gesetzeshüter zu ignorieren. Mit harter, düsterer Stimme sagte er fordernd: "Beschreibe mir den Mann, von dem du das Schmuckstück hast, Otis."
John Otis kratzte sich unbehaglich am Hals. Jack verströmte etwas, das ihn frösteln ließ. Es war ein Strom von Härte und unerschütterlicher Entschlossenheit, der von ihm ausging, und der Otis wie ein eisiger Hauch streifte. John Otis krächzte: "So genau weiß ich auch nicht mehr, wie er aussah. Dunkelhaarig, groß, hager..." Er grübelte, dann entfuhr es ihm: "Heavens, er sah aus wie tausend andere Männer auch im Lande. Ich kann nicht mehr sagen. Lass mich in Ruhe, Shannon. Ich kann dir nichts sagen."
Neben Jack stieß der Marshal scharf die Luft durch die Nase aus. Er presste zwischen den Zähnen hervor: "Kommen Sie mit mir, Shannon. Gehen wir!"
Jack war vollkommen perplex. Er spürte die Hand des Marshals an seinen Oberarm. Jones zog ihn mit sanfter Gewalt fort. Draußen holte Jack tief Luft. Frische Luft füllte seine Lungen. Er musste das alles erst einmal verarbeiten. In seinem Kopf herrschte das absolute Chaos. Wie es schien, stand er am Anfang der Fährte, die er seit vielen Monaten aufzunehmen nicht in der Lage gewesen war. Er hörte den Gesetzesmannes sagen: "Gehen wir in mein Office, Shannon. Dieser John Otis ist mir bisher nie aufgefallen. Von seiner Sorte wimmelt es in dieser Stadt. Er arbeitet für Bannister. Bannister ist der Besitzer des Silver Star. Als ich mir jedoch Otis eben näher anschaute, da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Sein Name ist in Wirklichkeit Tom Murphy, und es ist jener Tom Murphy, der einige Jahre mit Slim 'Turkey' Stevens ritt. Die Bande verschwand vor einiger Zeit in der Versenkung, nachdem sie aus Montana zurückkehrte. Ich fresse meinen Hut, wenn ich von Murphy nicht einen Steckbrief in meinem Schreibtisch finde."
Wie im Trance folgte Jack dem Marshal.
*
DER MARSHAL HATTE DIE fünf Steckbriefe aus einem ganzen Packen Fahndungsmeldungen herausgesucht, die er in seiner Schreibtischschublade aufbewahrte. Im trüben Licht der Laterne, die den Raum nicht bis in die Ecken auszuleuchten vermochte, studierte Jack die Konterfeis der Kerle, die da abgebildet waren. Da war Slim 'Turkey' Stevens, ein Killer, Räuber und Frauenschänder. Seine Wiege stand in Colorado. Auf seinen Kopf waren tausend Dollar ausgesetzt. Tot oder lebendig...
Der Nächste der Bande hieß Sam Walker. Ein Bandit - tödlicher als Schlangengift. Seine bevorzugte Waffe war das Gewehr. Er war der Regierung siebenhundert Bucks wert.
Mit dem dritten Steckbrief wurde ein Mann namens Gordon Webster gesucht. Sein Wert lag ebenfalls bei siebenhundert Dollar. Besondere Kennzeichen gab es keine.
Die vierte Fahndungsmeldung lautete auf den Namen Graham McLaughlin. Gebrochenes Nasenbein, rotblonde Haare, stark wie ein Bär. Er hatte im Osten einen Mann mit den Fäusten erschlagen, floh vor dem Gesetz und schloss sich der Bande Slim Stevens an. Auf seinen Kopf waren fünfhundert Dollar ausgesetzt.
Der letzte im Bunde dieses mörderischen Quintetts war Tom Murphy. Ein bärtiger, finster dreinblickender Mister, der aus Missouri stammte und der vor Jahren eine Bank überfiel. Danach war es rapide mit ihm bergab gegangen. Er liebte das Spiel und den Whisky, war hinterhältig und skrupellos, und er erschoss in Riverton am Spieltisch einen Mann, der ihn des Falschspiels bezichtigte. Murphy entkam dem Sheriff und schloss sich Stevens an. Die Fangprämie für ihn betrug wie bei McLaughlin fünfhundert Dollar.
Der Marshal starrte das Bild von Murphy an. Er analysierte das Gesicht, stellte es sich ohne das Bartgestrüpp vor, kam zu einem Schluss und dehnte: "Ja, das ist er, Shannon. Denken Sie sich den Bart weg, und dann..."
Ein Schuss krachte. Die Kugel zerhieb die Fensterscheibe in dem Moment, in dem Marshal Kenneth Jones einen Schritt auf Jack zutrat, weil er ihm den Steckbrief von Tom Murphy reichen wollte. Der Knall stieß draußen über die Fahrbahn und gegen die Häuserfronten. Das Echo flatterte über die Dächer hinweg.
Kenneth Jones erhielt einen Stoß, der ihn halb über den Schreibtisch warf. Er kam noch einmal hoch, und er wollte schreien, aber er brachte nur ein klägliches Krächzen über die Lippen. Er tastete mit der Linken nach der rechten Seite, wo ihn die Kugel getroffen hatte. Noch spürte er den Schmerz seltsamerweise nicht. Wankend hielt er sich noch zwei – drei Herzschläge lang auf den Beinen und starrte Jack mit einem schrecklichen Ausdruck in den Augen an. Dann kreiselte er zu Boden und streckte sich. Ein letzter, seufzender Atemzug – die Gestalt erschlaffte.
Eine furchtbare Sekunde lang schien Jacks Wille gelähmt zu sein, dann aber kam Leben in seine Gestalt. Er ließ sich vom Stuhl fallen, riss dabei den Colt aus dem Holster, robbte zum Fenster und richtete sich daneben im Schutz der Wand auf. Aus einer der Zellen erklang es fassungslos: "Heiliger Rauch! Jemand hat durch das Fenster den Marshal erschossen."
Jack achtete nicht auf die entsetzten Worte. Er spähte hinaus auf die Straße, in die aus den Fenstern und Türen der Saloons Helligkeit fiel. Sie hatten es versäumt, den Vorhang zu schließen, ehe sie Licht anmachten und sich am Schreibtisch beschäftigten. Ein fataler Fehler, der dem Marshal zum Verhängnis geworden war.
In Jacks Faust lag der Colt. Der Hahn war gespannt. In den Schlagschatten der Nischen und Gassen auf der dem Office gegenüberliegenden Straßenseite war jedoch nichts zu sehen. Der Schuss lockte auch niemand auf die Straße. Geschossen wurde in Cheyenne fast stündlich – sei es aus Übermut oder in tödlicher Absicht. Es interessierte niemand.
Jack ahnte, dass die Kugel ihm gegolten hatte. Dass der Marshal in dem Moment, als der heimtückische Mörder schoss, auf ihn zutrat, rettete ihm das Leben. In Jacks Mundhöhle war plötzlich ein galliger Geschmack. Er fühlte sich nicht unschuldig am Tod des Gesetzeshüters. Jack biss die Zähne zusammen, dass es schmerzte. Sein Kinn wurde eckig. Er fragte sich, wo sich die Gehilfen des Marshals herumtrieben. Und er beschloss, den Mörder zu schnappen.
Jack ahnte, wo er nach ihm suchen musste. Und er wusste, wen er suchen musste. Hier in Cheyenne lebte der Schuft unter dem Namen John Otis. Sein richtiger Name war Tom Murphy.
Jack zog die Vorhänge vor das Fenster. Er wandte sich den beiden Gefangenen zu, die schon am Tag seiner Ankunft eingesperrt gewesen waren. "Berichtet seinen Deputys, was sich zugetragen hat. Und bestellt ihnen von mir, dass ich ihnen den Mörder bringen werde."
Er holsterte den Colt, nahm die Steckbriefe, faltete sie sorgfältig zusammen und schob sie in die Innentasche seiner Jacke. Dann löschte er das Licht und verließ das Office. Er stand noch voll und ganz im Banne des Geschehenen. Auf Schleichwegen erreichte er den Silver Star Saloon. Ohne zu zögern betrat Jack den Inn.
Am Tresen drängten sich nach wie vor die Männer in Doppelreihe. Es summte wie in einem Bienenkorb. Sicheren Schrittes durchquerte Jack den Schankraum. Er betrat den Spielsalon. Am Tisch Ross Bannisters saßen die Spieler von vorhin, nur John Otis fehlte.
Ruhe kehrte ein. Jacks Absätze hämmerten über die ungehobelten Dielenbretter. Jacks Gesicht schien zu Stein erstarrt. Bei jedem seiner Schritte streifte das Handgelenk den Coltknauf. Seine Stiefel hinterließen auf dem Fußboden Schlammspuren.
"Wollen Sie vielleicht doch ein Spielchen riskieren, Shannon?" So empfing ihn Bannister grinsend.
"Wo ist Otis?", fauchte Jack.
Schlagartig veränderte sich die freundliche Miene des Barbesitzers. Sein Gesicht wurde abweisend, ungeduldig stieg es aus seiner Kehle: "Er ist zu Bett gegangen. Was wollen Sie denn schon wieder von ihm? Wie er an das Armband kam, ist doch geklärt."
"Da bin ich anderer Meinung, Mister", versetzte Jack eisig, mit einer Stimme hart wie Stahl. "Sein richtiger Name ist Tom Murphy. Er ritt lange Jahre in der Stevens-Gang und ist ein gesuchter Verbrecher. Soeben hat er mit einem Schuss aus dem Hinterhalt den Marshal ermordet. Wo finde ich ihn, Bannister?"
Bannister war zusammengezuckt. Ringsum herrschte Atemlosigkeit. Ungläubigkeit und Fassungslosigkeit prägten die Gesichter. Bannister griff sich an die Stirn. Er schien Jacks Aussage nachzulauschen, und er hatte das Gehörte verstandesmäßig noch gar nicht richtig verarbeitet, als er schnappte: "Otis wohnt im Rückgebäude. Gleich neben dem Pferdestall. Hölle, Shannon, was..."
Jack war schon herumgewirbelt. Gleich darauf stand er im finsteren Hof. Auf der anderen Seite zeichneten sich gegen den Nachthimmel die Dächer zweier Gebäude ab. Aus dem Pferdestall drang Stampfen und Schnauben. Licht fiel durch die Ritzen zwischen den Brettern und die Astlöcher. Jack zog den Colt. Er sah sich um. Links war der Hof von einem mannshohen Bretterzaun begrenzt. Rechts führte ein breites Tor mit zwei Flügeln hinaus in eine Gasse, die in die Main Street mündete. Die Torflügel waren zugezogen. Ob sie verriegelt waren, war ungewiss. Leises Klirren sickerte durch das Stalltor. Jack entschloss sich von einem Moment zum anderen.
Er huschte in den Schlagschatten neben dem Tor zur Gasse. Es klickte leise, als er den Hahn spannte. Seine Faust umspannte den Coltknauf. Die Zeit verrann nur langsam. Es war kühl und Jack begann zu frösteln. Doch seine Geduld wurde auf keine allzulange Probe gestellt. Im Stall verlosch das Licht. Leise in den Angeln knarrend schwang das Stalltor auf. Aus der gähnenden Dunkelheit löste sich schemenhaft die Gestalt eines Mannes, dem ein Pferd folgte. Pochendes Hufgeräusch untermalte die Szene. Der Schemen näherte sich dem Tor und nahm Formen an. Das Pferd schnaubte. Der Mann bewegte sich leise wie ein großes Raubtier. Er erreichte das Tor, streckte den rechten Arm aus, um es zu öffnen, da sprang ihn aus der Finsternis das metallische Organ Jacks an:
"Bis hierher und nicht weiter, Murphy!"
Jack trat aus dem tintigen Schatten. Im unwirklichen Licht der Nacht glitzerte der Colt in seiner Faust matt.
"Und versuch lieber nichts. Ich werde nicht zögern, dir heißes Blei in den Schädel zu jagen, elender Mörder!"
Der Bandit stand da wie zur Salzsäule erstarrt. Jeglichen Willens, jeglichen Gedankens beraubt echoten Jacks Worte durch seinen Verstand wie die Glocken der Hölle. Lediglich ein erschreckter Ton entfuhr ihm – ein Ton, der im Kehlkopf erstarb.
Unerbittlich rammte ihm Jack die Coltmündung gegen die Rippen. Er zog den Colt des Banditen aus dem Holster und schleuderte ihn in die Finsternis hinein. Es klatschte, als das Eisen irgendwo im Schlamm landete.
Nun aber schüttelte John Otis alias Tom Murphy seine Erstarrung ab. Die Erkenntnis, dass er verloren war, wenn er das Blatt nicht augenblicklich zu seinen Gunsten änderte, fuhr ihm eiskalt in die Glieder. Und obwohl aus Jacks Colt jeden Moment der flammende Tod brechen konnte, warf er sich halb herum. Seine Gestalt krümmte sich nach vorn. Mit dem linken Unterarm schlug er die Colthand Jacks zur Seite. Jack war von dieser völlig unvermuteten, selbstmörderischen Aktion überrumpelt. Und ehe er sich versah, knallte ihm das Knie des Banditen in den Leib. Ein röhrender Laut brach aus Jacks aufklaffendem Mund, er machte eine unfreiwillige Verbeugung nach vorn, und bekam einen Faustschlag gegen den Kopf, der ihn fast umwarf. Vor seinen Augen schien die Welt zu explodieren. Benommenheit brandete gegen sein Bewusstsein an. Aber die Tatsache, dass der Bandit jetzt versuchte, ihm den Colt zu entwinden, riss ihn augenblicklich aus seiner Betäubung. Selbsterhaltungstrieb und der Wille, den Mann, der wahrscheinlich an der Ermordung seiner Frau beteiligt gewesen war, auf keinen Fall entkommen zu lassen, setzten sich bei ihm durch. Blindlings schlug Jack zu. Und er spürte Widerstand. Murphy schrie auf. Mit beiden Händen umklammerte er Jacks Colthand. Er versuchte das Gelenk so weit zu verdrehen, bis Jack vor Schmerz und Kraftlosigkeit die Waffe fahren ließ. Dabei stand er so, dass ihn ein sich lösender Schuss nicht treffen konnte. Sein heißer Atem streifte Jacks Gesicht.
Jack sah wieder klar. Murphy versuchte ihm von der Seite her das Knie gegen die Leberpartie zu wuchten. Aber Jack knallte ihm die linke Faust auf den Oberschenkel, und der Muskel verkrampfte sich in jähem Schmerz. Wieder brüllte der Bandit seine Not hinaus. Aber er ließ nicht locker. Mit aller Kraft drehte und zerrte er an Jacks Coltarm.
Da flog krachend die Hintertür auf. Licht flutete in den Hof und riss das Szenarium aus der Dunkelheit. Die Nachricht von der Ermordung des Marshals hatte im Saloon die Runde gemacht. Der Bann, den die Hiobsbotschaft auslöste, war von den Männern abgefallen. Sofort war der Schrei nach einem Strick für den Mörder laut geworden. Der Mob drängte zur Hintertür. Die Kerle behinderten sich gegenseitig.
Murphy riss sich los. Er versetzte Jack einen derben Stoß, der diesen gegen den Zaun warf. Der Bandit erreichte mit einem kraftvollen Satz das Tor, warf den Riegel aus der Halterung, riss den Flügel auf und stürmte hinaus in die Gasse. Er floh in die der Main Street abgewandte Richtung, und zwei Herzschläge später hatte ihn die Nacht aufgesogen, als hätte es ihn nie gegeben.
Jacks Muskeln spannten sich. Du musst seiner habhaft werden! durchpeitschte ihn eine ungnädige Stimme. Vorwärts, Jack! Er ist einer von Naomis Mördern!
Jack hetzte los. Das Schmatzen, das die Stiefel des Banditen im knöcheltiefen Schlamm verursachten, wies Jack den Weg. Das Geschrei der Meute aus dem Saloon holte ihn ein. Jack verdammte die Horde. Er rannte wie nie zuvor in seinem Leben. Seine Lungen fingen an zu pumpen. Obwohl es kalt war, brach ihm der Schweiß bald aus allen Poren. Nach einiger Zeit kam das Seitenstechen, aber Jack ignorierte es. Er versuchte gleichmäßig zu atmen. Seine Bronchien pfiffen und rasselten. Seine Schrittfolge wurde mühsamer, seine Geschwindigkeit verlangsamte sich.
Aber auch Murphy hatte dieses Problem. Er war Jack gegenüber sogar noch im Nachteil. Während Jack ein Mann der Wildnis war - hart, hager und zäh, hatte der liederliche Lebenswandel in den Saloons und Spielhöhlen den Banditen träge – um nicht zu sagen schwerfällig werden lassen.
Er rannte nach Süden, als säße ihm der Leibhaftige im Nacken, keuchte wie eine alte, ausrangierte Dampflok, spürte das Stechen seiner Lungen und das Hämmern seines Blutes in den Schläfen, und er hatte schon bald das Gefühl, der Schädel müsste ihm platzen, so sehr trieb die Anstrengung seinen Blutdruck in die Höhe.
Cheyenne blieb zurück. Offenes Land, vom Mond- und Sternenlicht versilbert, lag vor dem Banditen. Die Schwellen- und Gleisstapel am Endpunkt des Schienenstrangs waren sein Ziel, wo der Bauzug stand und die Union Pazifik die Zeltstadt für ihre Arbeiter errichtet hatte. Dort hoffte er untertauchen zu können, bis die Luft wieder einigermaßen rein war. Dort hoffte er auch, irgendeine Waffe zu ergattern, um sich im Falle des Falles mit Pulverdampf und Blei zur Wehr setzen zu können.
Sein Kehlkopf schmerzte. Bald taumelte er nur noch dahin. Herzschlag und Puls rasten. Und dann begann er die Gewalt über seinen Körper zu verlieren, brach in die Knie, in seinen Schläfen dröhnte es. Er war benommen, und es dauerte einige Sekunden, bis seine Gedanken wieder einigermaßen klar arbeiteten. Sein Blick erfasste eine schattenhafte Gestalt, die sich aus der Dunkelheit löste...
Jack sah den Banditen am Boden knien. Er verlangsamte seine Schritte und richtete den Sechsschüsser auf ihn. Haltlos baumelte der Kopf Tom Murphys vor der Brust. Er japste nach Luft wie ein Erstickender.
"Es war nicht klug von dir, durch das Fenster des Marshal's Office zu feuern, Murphy", schnappte Jack zwischen rasselnden Atemzügen. "Nicht nur, dass du am Mord an meiner Frau beteiligt warst, jetzt hast du auch einen Gesetzesmann auf dem Gewissen. Ich schätze, schon übermorgen wird man dich hängen."
Der lynchwütige Mob näherte sich in Windeseile. Das Geschrei brandete heran wie eine Botschaft von Tod und Verderben. Im nächsten Moment schon waren Jack und der Marshal-Mörder eingekreist. Das Geschrei legte sich, nur noch unheilvolles Flüstern und Raunen lag in der Luft.
Jack packte den Banditen am Jackenkragen und zerrte ihn auf die Beine. Er drückte ihm die Revolvermündung gegen die Wirbelsäule und zischte dicht neben Murphys Ohr: "Schwing die Hufe, Galgenvogel. Ich brauche dich. Wenn sie dich an Ort und Stelle aufknüpfen, nützt mir das gar nichts." Und an die Rotte gewandt rief Jack rau und zwingend: "Macht Platz, Leute, damit ich den Mörder ins Gefängnis bringen kann. Seid vernünftig!"
Er drängte Murphy einfach in den Pulk, und eine Gasse öffnete sich. Er hatte mit seiner Kaltblütigkeit die Meute regelrecht überrumpelt. Erst als er durch war, brüllte jemand: "Er gehört an den Strick! Verdammt, wir lassen uns den Bastard nicht einfach vor der Nase wegschnappen. Du solltest nicht versuchen, ihn davor zu bewahren, Stranger. Denn dann hängst du schneller neben ihm als du denken kannst."
Es wurde brenzlig. Der Strom des Vernichtungswillens, der von den Männer ausging, prallte gegen Jack wie etwas Stoffliches, etwas Greifbares. Hier entwickelte sich etwas, das für ihn absolut gefährlich werden konnte. Er hatte sich der Meute zugewandt. Seine Linke hielt den Banditen nach wie vor am Jackenkragen gepackt. Jack richtete den Colt auf die beifällig murrende Menge. Mit harter, düsterer Stimme, in der die tödliche Drohung mitschwang, gab er zu verstehen: "Ich brauche diesen Mann lebend. Nur aus seinem Mund kann ich erfahren, wo ich die anderen Mörder meiner Frau suchen muss. Und er wird es mir sagen. Dafür garantiere ich. Dann gehört er dem Gesetz. Also vergesst Richter Lynch. Jeder, der die Finger nach Murphy ausstreckt, schluckt heißes Blei."
"Eine ganze Menge heißes Blei, das verspreche ich euch, ihr Narren!" So ertönte es klirrend aus der Finsternis. "Euch geht es doch gar nicht um Recht oder Gerechtigkeit, euch geht es ausschließlich um die billige Sensation, um das makabre Schauspiel, einen Mann am Ende eines Strickes die letzten Zuckungen machen zu sehen. Wir zielen von drei Seiten mit Schrotgewehren auf euch. Und wenn wir durchziehen, dann gibt es bei euch nur noch Heulen und Zähneknirschen."
Es war schlagartig still geworden. Jemand knirschte eine lästerliche Verwünschung. Ein anderer fauchte böse: "Das ist Al Manypenny, der Vertreter des Marshals. Und der ist gewiss noch ein ganzes Stück kompromissloser als es Jones war. Warten wir eben, bis Otis – ich meine Murphy – nach Recht und Gesetz in die Hölle der Gehenkten geschickt wird."
Einige Männer lösten sich aus der Rotte und stiefelten davon. Nach und nach löste sich die Menge auf. Drei Männer näherten sich. An ihren Jacken glitzerten matt die Sterne. Einer sagte grimmig: "Ich verhafte dich wegen des Mordes an Marshal Kenneth Jones, Tom Murphy. Alles, was du von nun an sagst, kann vor Gericht gegen dich verwendet werden."
Tom Murphy schluckte trocken. Er steckte im Klammergriff einer grenzenlosen und überwältigenden Angst. Als er etwas sagen wollte, gehorchte ihm seine Stimme nicht. Er brachte nur ein unartikuliertes Krächzen zustande.
*
DER LEICHENBESTATTER und sein Gehilfe hatten den toten Marshal abgeholt. Tom Murphy saß in der linken der vier Zellen auf der Pritsche. Jack hatte Al Manypenny berichtet, wie sich der Mord an dem Marshal entwickelt und zugetragen hat. Er berichtete auch von der Ermordung seiner Frau und von seiner bisher wenig glücklosen Suche nach ihren Mördern. Weder der Vertreter des Marshals noch einer der anderen Deputys unterbrachen ihn. Erst als Jack endete, murmelte Manypenny: "Tragisch. Es schreit zum Himmel. Ihr Anliegen, die Mörder Ihrer Frau zur Strecke zu bringen, ist verständlich. Ich gebe Ihnen freie Hand, was Murphy anbetrifft, Shannon. Nehmen Sie ihn in die Mangel, schüren Sie ihm von mir aus ein Feuer unter dem Hintern. Wir werden Sie alleine mit ihm lassen."
Die beiden Deputys nickten zustimmend und grinsten kantig.
Manypenny ging zu den mit den beiden heruntergekommenen Kerlen belegten Zellen und schloss sie auf. "Verschwindet, ihr Suffköpfe. Wenn ihr euch noch einmal sinnlos betrinkt und dann zu randalieren anfangt, dann jage ich euch in Unterhosen aus der Stadt."
Die beiden beeilten sich, die Käfige zu verlassen. Gleich darauf waren sie verschwunden. Manypenny warf Jack den Schlüsselbund zu. Die Gesetzeshüter wandten sich zur Tür. Manypenny knurrte: "Aber lassen Sie noch etwas übrig für den Henker, Shannon. Nur wenn wir unerbittlich und knallhart hin und wieder ein Exempel statuieren, können wir dem Sammelsurium von Irren hier zeigen, dass es für sie irgendwo Grenzen gibt."
"Versteht sich", antwortete Jack. "Kommt bis in einer halben Stunde zurück. Wenn ich ihn bis dahin nicht weichgekocht habe, schaffe ich es wohl nicht."
Dann war er mit Murphy allein. Jack legte seinen Colt ab, schloss die Zelle auf, glitt hinein, drehte den Schlüssel, zog ihn ab und warf ihn zwischen zwei Stäben hindurch auf den Schreibtisch. Er hatte sich mit dem Banditen eingesperrt. So schloss er das Risiko aus, dass Murphy – für den Fall, dass er ihn überrumpelte -, fliehen konnte. Die Gefahr, dass Murphy ihn mit irgendeinem faulen Trick hereinlegte und er dem Banditen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war, nahm Jack auf sich. Er stellte sich sogar darauf ein, dass Murphys Hass auf ihn größer war als die Angst vor ihm, und dass dieser mörderische Hass den Banditen übermannte. Murphy hatte nichts mehr zu verlieren. Er konnte nur einmal sterben. Dieses Wissen machte ihn wahrscheinlich unberechenbar und tödlich gefährlich.
Murphy hatte sich von der Pritsche erhoben und war bis zur Wand zurückgewichen. Ein Blick in sein angespanntes Gesicht ließ Jack wieder an die Skrupellosigkeit, die Brutalität und die Grausamkeit des Banditen denken. Die Laterne auf dem Schreibtisch schickte nur düsteres Licht in die Zelle. Murphys Augen spiegelten das Licht wieder. Und sie zeigten noch mehr. In ihnen kamen irrsinniger Hass, irrlichternde Feindschaft, Mordlust und Teufelei zum Ausdruck.
Bevor Jack aber zum letzten Mittel griff, versuchte er es auf die gütliche Art. Er sagte ruhig und ohne jeden drohenden Unterton: "Okay, Murphy, du kannst schmerzlos aus dieser Nummer herauskommen, wenn du mir sagst, was ich wissen möchte. Du hast dem Verein Slim 'Turkey' Stevens angehört. Mit euch ritten Walker, Webster und McLaughlin. Waren Stevens und die anderen drei Kerle dabei in den Bergen, als ihr auf meine Ranch und auf Naomi gestoßen seid?"
"Geh zur Hölle, Shannon!", giftete Murphy. "Von mir erfährst du kein Wort." Er sah aus, als wollte er sich jeden Moment auf Jack stürzen. Seine Wangenmuskulatur vibrierte.
Jack trat noch einen halben Schritt auf ihn zu. Sanft – gefährlich sanft - sagte er: "Du stehst bereits mit einem Bein im Grab, Murphy. Sie kennen hier keinen Pardon, und spätestens in drei Tagen werden sie einige Fuß Erde über dich häufen..."
"Du dreckiger Hund!", kreischte Murphy und sprang Jack an. Aber Jack war gefasst. Er empfing den Banditen mit einem Schwinger, der diesen zurückschleuderte. Hart prallte sein Hinterkopf gegen die Ziegelwand. Murphy klebte regelrecht an der Mauer, die Arme vom Körper abgespreizt, die flachen Hände gegen das Mauerwerk gepresst. Sein flackernder Blick verriet, dass sein Gehirn nach einem Ausweg suchte.
Aber Jack ließ ihm nicht die Zeit, sich irgendeine Heimtücke auszudenken und in die Tat umzusetzen. Ein Schritt brachte ihn dicht vor den Outlaw hin, er hämmerte ihm die Faust gegen die kurzen Rippen, ein Schlag, der Murphy die Luft aus den Lungen drückte und nach Luft schnappen ließ, und als der Bandit in der Mitte einknickte, schoss Jacks Linke vor und legte sich wie eine Stahlklammer um seinen Kehlkopf. Und wieder krachte Murphys Hinterkopf gegen die Wand, sein Mund klaffte auf, ein Gurgeln entrang sich ihm, das in einem verlöschenden Röcheln endete.
"Sag es mir, Murphy", presste Jack zwischen den Zähnen hervor, zwingend und eindringlich. "Wer war dabei und wo finde ich die Schweine? Die Namen, Murphy."
Dem Banditen quollen unter dem gnadenlosen Druck um seinen Kehlkopf die Augen aus den Höhlen. Sein Gesicht lief dunkel an. Sein Kopf schmerzte, Schwäche kroch wie flüssiges Blei durch seinen Körper, eine Schwäche, die alle Muskeln und Sehnen in ihm gelähmt zu haben schien. Seine Augen wurden starr und glasig. Und plötzlich, als sich alles in ihm gegen das Abgleiten in die Besinnungslosigkeit auflehnte und ihn eine Welle der Todesangst überschwemmte, krächzte er mit allen Anzeichen des Entsetzens im verzerrten Gesicht: "All right, hör auf. Ich..."
Jack lockerte seinen Griff am Hals des Banditen. Befreit atmete dieser frische Luft ein. Er hüstelte und schluckte würgend. Jack ließ die Hand sinken und trat einen Schritt zurück. Die Wildheit wich von ihm. Die Anspannung, die jeden Muskel und jede Sehne seines Körpers erfasst hatte, löste sich. Murphy massierte sich den Hals. Er atmete stoßweise.
"Ich höre!" Fordernd und ungeduldig stieß Jack die beiden Worte aus.
Murphy leckte sich über die trockenen Lippen. Seine Stimme raschelte wie trockenes Laub im Herbstwind, als er begann: "Yeah, Slim Stevens, Walker, Webster und McLaughlin waren dabei. Verdammt, wir stießen auf die Ranch und sahen die Frau. Sie war schön. Seit Wochen waren wir auf der Flucht vor dem Gesetz gezwungen gewesen, Städte und Ansiedlungen zu meiden. Es war doch nur eine Squaw – eine Indianerin – so dachten wir. Sie – sie wehrte sich wie eine Wildkatze. Aber sie hatte keine Chance..."
"Nur eine Squaw!", fauchte Jack und verlor die Beherrschung auf's neue. Er prügelte Murphy bis in die Ecke und schlug ihn regelrecht zusammen. Als der Bandit am Boden kauerte und nur noch darauf bedacht war, mit den Armen seinen Kopf und sein Gesicht zu schützen, ließ Jack von ihm ab. Die Ernüchterung kam. Er spürte Abscheu vor sich selbst. Das war nicht seine Art. Aber die Ironie in der Wortwahl des Banditen hatte ihn alle Grundsätze der Fairness vergessen lassen.
"Wo finde ich deine Kumpane?", knirschte er.
"Soviel ich weiß hat sich 'Turkey' Slim, nachdem wir uns trennten, nach Colorado begeben, in die Nähe von Gunnison, auf die Blue Mesa Ranch. Sie gehört einem Onkel von ihm."
"Und die anderen?"
"Ich – ich weiß es nicht. Frag Slim nach ihnen, wenn du ihn findest."
Jack setzte sich auf den Rand der Pritsche. Colorado - Gunnison – Blue Mesa Ranch! Die drei Begriffe hallten in ihm nach. Er kannte jetzt mit letzter Gewissheit die Identität der Mörder Naomis. Vier Namen, die sich in sein Gehirn krallten wie mit glühenden Zangen: Slim Stevens, Gordon Webster, Sam Walker, Graham McLaughlin. Jack spürte, dass er innerlich erbebte. Und er wiederholte den Schwur, den er an Naomis Grab abgelegt hatte – den Schwur, die Mörder zur Rechenschaft zu ziehen, ihnen eine tödliche Rechnung zu präsentieren.
Die Zeit schleppte sich dahin. Dann kam Manypenny zurück. Zuerst schaute er verblüfft, als er feststellte, dass Jack sich zu dem Gefangenen in die Zelle gesperrt hatte, dann aber begriff er und er befreite Jack. Jetzt erst wagte sich Murphy aus der Ecke. Er wankte zur Bettstatt und warf sich darauf.
"Nun?", kam es erwartungsvoll von dem Assistant-Marshal.
"Es waren Slim 'Turkey' Stevens und seine Sattelwölfe", erwiderte Jack wie geistesabwesend. "Ich habe die Steckbriefe, und ich weiß, wo ich 'Turkey' Slim wahrscheinlich finde. Wenn Murphy in der Hölle schmort, reite ich."
*
DIE VERHANDLUNG GEGEN Tom Murphy fand schon am übernächsten Tag statt. Verhandlungsraum war einer der großen Saloons an der Main Street. Der Ausschank von Alkohol war während der Gerichtssitzung untersagt.
Der Schankraum war gerammelt voll. Drei Deputys brachten den Angeklagten. Er trug Handschellen. Der Richter hatte seinen Tisch auf der Bühne stehen. Unterhalb saßen die Geschworenen. Jack machte seine Aussage, nachdem Al Manypenny als Ankläger vorgetragen hatte, wessen Tom Murphy beschuldigt wurde. Schon zwanzig Minuten später war die Jury zu einem einstimmigen Schuldspruch gekommen, und der Judge hämmerte dreimal auf den Tisch. Es wurde still. Der Richter rief: "Murphy, erheben Sie sich. – Gut so. – Well, der Angeklagte wird des Verbrechens des Marshalmordes für schuldig befunden." Sein stechender Blick heftete sich auf das Gesicht Murphys, in dem die Nerven zuckten. "Darauf kennt das Gesetz nur eine Antwort, Angeklagter – den Tod. Man wird Sie am Halse aufhängen, bis Sie tot sind. Das Urteil wird morgen bei Sonnenaufgang vollstreckt. – Die Verhandlung ist geschlossen."
Noch einmal sauste der Holzhammer auf die Tischplatte herunter, dann brach im Saloon unbeschreiblicher Tumult los. Die Zuschauer stürmten den Schanktisch, rauhe Stimmen brüllten nach Schnaps oder Bier.
Die Deputys bugsierten Murphy aus dem Inn und trieben ihn vor sich her zurück zum Jail. Vom Vorbau aus blickte ihnen Jack hinterher. Ohne von einem bewussten Willen geleitet zu werden griff er in die Innentasche seiner Jacke. Seine Fingerkuppen ertasteten die zusammengefalteten Steckbriefe. Der Kampf, der sich in seinem Bewusstsein abspielte, war von seinen gestrafften Zügen abzulesen. Morgen früh würden sie Tom Murphy aufknüpfen. Damit war der erste der Verbrecher, die Naomi auf dem Gewissen hatten, seiner gerechten Bestrafung zugeführt. Aber das würde Naomi nicht wieder zum Leben erwecken. Er hatte sie verloren – für immer. Nichts auf der Welt konnte sie ihm zurückgeben. Es wälzte sich durch seinen Verstand und legte sich wie mit tonnenschweren Gewichten auf ihn.
Neben ihm schniefte jemand, dann wurde er angesprochen. Sein Kopf ruckte herum, wie ein Erwachender starrte er den Sprecher an. Es war Ross Bannister, den er schon vom Spieltisch her kannte. Bannister sagte mit geheuchelter Freundlichkeit: "Jeder Mann in Ihrer Stelle würde triumphieren, wenn er einen der Mörder seiner Frau dem Henker ausgeliefert hätte, Shannon."
Jack zuckte mit den Achseln. Und ohne weiter auf die Worte des Saloonbesitzers einzugehen versetzte er kratzend: "Sie besitzen die Spange meiner Frau, Bannister. Ich hätte sie gerne zurück. Sie ist mein Eigentum."
Der Salooner kniff die Augen eng, ein abwehrender Zug huschte über sein feistes Gesicht, plötzlich aber zeigte er ein erzwungenes Grinsen, und er sagte: "Natürlich, Sie bekommen Ihr Eigentum zurück, Shannon. Besuchen Sie mich im Silver Star. Ich werde Ihnen dann das Schmuckstück aushändigen."
"Ich komme", murmelte Jack und war mit seinen Gedanken schon wieder bei den Banditen, deren Steckbriefe in seiner Tasche steckten. Gunnison – Colorado – Blue Mesa Ranch! Auf nichts anderes mehr konnte Jack sich im Augenblick konzentrieren. Die drei Begriffe geisterten durch seinen Verstand und ließen kaum einen anderen Gedanken zu.
Er ging davon. Gedankenvoll starrte der Salooner hinter ihm her. Sein Gesicht wirkte auf seltsame Art verkniffen. Er nagte an seiner Unterlippe herum, dann knurrte er vor sich hin: "Und das alles wegen einer dreckigen Dakota-Squaw."
Dass es sich bei der Ermordeten um eine Indianerin gehandelt hatte, das hatte in der Zwischenzeit in der Town die Runde gemacht.
Einige Männer gesellten sich zu dem Salooner. Die Gruppe entfernte sich in Richtung des Silver Star Saloons.
Jack ging ins Hotel, wo er sich ein Zimmer gemietet hatte. Er warf sich aufs Bett und starrte hinauf zur Decke. Bis nach Gunnison waren es über zweihundert Meilen. Er würde gut und gerne eine Woche unterwegs sein. Und wenn er Pech hatte, dann war Slim Stevens gar nicht mehr auf der Ranch seines Onkels.
Über seinen Gedanken schlief Jack ein. Als er die Augen wieder aufschlug, war es Nacht. Cheyenne war zur Lasterhaftigkeit erwacht. Jack erhob sich. Mit den gespreizten Fingern strich er sich durch die Haare. Er schaute auf die Straße hinunter. Ein Strom aus Männern flutete durch die Main Street. Zu achtzig Prozent waren es die irischen Arbeiter, die die Union Pacific beschäftigte. Jack machte Licht. In einem halbblinden Spiegel, der an der Wand über dem Gestell mit der Waschschüssel hing, betrachtete er sein Gesicht. Auf seinem Jochbein zeigte sich eine geschwollene, blauunterlaufene Stelle, die von dem Schlag herrührte, den ihm Tom Murphy im Hof des Silver Star versetzt hatte.
Wenig später verließ Jack das Hotel. Er ließ sich in dem Strom aus Leibern treiben, bis er in die Nähe des Silver Star kam. Gleich darauf betrat er den Inn. Von Bannister war nichts zu sehen. Er begab sich in den Spielsalon. Bannister saß an einem der grünbezogenen Tische. Er sah Jack und erhob sich. Zwischen den Tischen trafen die beiden Männer aufeinander. "Ich habe das Schmuckstück oben in meiner Wohnung", erklärte Bannister und wies auf eine Tür, hinter der Jack die Treppe zum oberen Stockwerk vermutete...
*
DER JÜNGSTE DEPUTY, Johnny Bannon, hielt im Office die Nachtwache. Er saß am Schreibtisch. Der Docht der Lampe war weit heruntergedreht, so dass schon zwei Schritte von der Lichtquelle entfernt die Helligkeit endete. Die Zellen lagen im Dunkeln. Johnny lümmelte auf dem Stuhl mit den Armlehnen, lag mehr auf ihm als er saß. Die Füße hatte er auf dem Schreibtisch liegen. Al Manypenny und die anderen Gehilfen waren in der Stadt unterwegs, um Ruhe und Ordnung einigermaßen aufrecht zu erhalten.
Johnny döste vor sich hin. In der Zelle lag Tom Murphy auf der Pritsche. Er hatte die Hände hinter dem Kopf verschränkt und starrte hinauf zur Decke. Nicht einmal mehr sechs Stunden sollte er leben. Bei aller Kaltblütigkeit und Härte – wenn es ans Sterben ging, dann war diese Sorte sehr sensibel. Der Gedanke an den Strick ließ den Banditen innerlich erbeben und raubte ihm den Schlaf.
In der Zelle rechterhand schnarchte ein Betrunkener, der vor einer Stunde eingeliefert worden war, weil er sich das Geld, das er am Spieltisch verloren hatte, mit dem Colt in der Faust zurückholen wollte.
Murphy durchlebte grässliche, entsetzliche Stunden, und die Zeit schien in dieser Nacht für ihn schneller voranzuschreiten als je zuvor. Sein Gesicht war grau, tiefe Linien hatten das Grauen und die Angst vor dem Morgen darin eingegraben.
Es riss ihn hoch. Sie fiebernder Verstand suchte nach einem Ausweg. Er trat an die Gitterwand heran, seine Hände legten sich um zwei der zolldicken Stäbe. "Johnny, heh, Johnny", wand es sich heiser über seine Lippen, "ich möchte rauchen. Gib mir Papier und Tabak."
Johnny Bannon schüttelte seine Trägheit ab. Sein Kopf ruckte hoch, er schwang die Beine vom Schreibtisch und wandte sich dem Banditen zu.
Murphy rüttelte an den Stäben. "Du hast doch Rauchzeug bei dir, Johnny", krächzte er mit trockenen Stimmbändern.
Johnny nickte. Er dachte sekundenlang nach, dann gab er zu verstehen: "Sicher, Murphy. Ich drehe dir eine Zigarette."
Er holte den Tabaksbeutel aus der Tasche. Zwei Minuten später trat er mit der Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger vor Murphy hin, dessen flackernder Blick ihn warnen hätte müssen. Er hob die Hand mit dem Tabakröllchen. Murphys Hand schob sich zwischen den Eisenstangen hindurch.
Johnny war wachsam. Irgendeine Heimtücke hatte Murphy im Sinn. Das spürte er ganz deutlich. Als die Hand kam, trat er schnell wieder einen Schritt zurück. Murphy erstarrte mitten in der Bewegung, seine Hand blieb reglos in der Luft hängen. "Was ist, verdammt?", maulte der Bandit.
"Ich traue dir nicht, Murphy", entgegnete Johnny. "Schließlich hast du nichts mehr zu verlieren, nicht wahr? – Fang!"
Er warf Murphy die Zigarette zu. Murphys Rechte schnappte nach dem Stäbchen, erwischte es aber nicht richtig. Es prallte ab und fiel zu Boden, rollte von der Gitterwand weg und blieb einen Yard von ihr entfernt liegen.
"Tolpatsch!", knurrte Johnny grimmig, trat etwas vor und stieß die Zigarette mit der Stiefelspitze an. Sie rollte in Murphys greifbare Nähe. Der Bandit bückte sich, ohne Johnny aus den Augen zu lassen. Ein kaltes Gefühl beschlich den großen Jungen unter diesem Blick – ein Gefühl, das ihm körperliches Unbehagen bereitete.
Murphy richtete sich wieder auf. Er klemmte sich die Zigarette zwischen die Lippen. "Gib mir Feuer, Johnny", murmelte er. "Bitte."
Der Deputy fingerte sein Feuerzeug aus der Tasche. Es war ein Sturmfeuerzeug, wie es schon im Krieg Verwendung gefunden hatte. Jetzt lag es auf Johnnys Handfläche. Die Rechte senkte sich auf den Coltknauf. "Nimm es", sagte der Junge. "Und wenn die Zigarette brennt, dann wirf es mir zu. Versuch lieber keine faulen Tricks, Murphy. Ich würde nicht fackeln..."
Den Rest ließ der Deputy unausgesprochen. Aber die Warnung, die gerade in seinem Schweigen lag, erreichte den Banditen. Dieser zeigte ein Lächeln, das aber zur hässlichen Grimasse verrutschte. Langsam näherte sich seine Hand der Johnnys. Sie berührten sich. Murphy nahm das Feuerzeug. Johnny trat schnell zurück. Das Stahlrädchen ratschte über den Feuerstein, die Flamme holte das Gesicht des Banditen aus der Düsternis, dann leuchtete der Glutpunkt der Zigarette auf. Das Feuerzeug erlosch, tief inhalierte Murphy den Rauch. Dann machte er kehrt und ging zur Pritsche.
"Das Feuerzeug!", rief Johnny drängend. "Wirf es mir zu. Vorwärts!"
Murphy lachte scheppernd, griff nach der Decke, stopfte sie unter die Lagerstatt und ließ das Feuerzeug aufflammen. Seine Absicht lag offen. Dennoch rief Johnny schrill: "Was soll das werden, Murphy? By Gosh, bist du verrückt geworden? Willst du dich selbst bei lebendigem Leibe rösten?"
"Wie du schon sagtest, Johnny. Ich habe nichts mehr zu verlieren." Murphy hielt die Flamme an die Decke. Der Stoff fing an zu glimmen, es begann nach verschmorter Wolle zu riechen, und dann züngelte eine kleine Flamme aus dem Deckenknäuel. Murphy trat mit dem Ausdruck einer tiefen Genugtuung in den Zügen zurück.
Gebannt stand Johnny auf der Stelle. Das Dach des Gefängnisses war aus Balken zusammengefügt. Sie waren trocken wie Zunder. Wenn erst die Bettstatt brannte, würden die Flammen hochschlagen und das Gebälk würde Feuer fangen. Vom Office aus konnte das Feuer auf die angrenzenden Gebäude übergreifen, und wenn der Wind günstig stand, würde die halbe Stadt ein Raub der Flammen werden.
Die Absicht des todgeweihten Banditen war ebenso selbstmörderisch wie teuflisch. Murphy setzte alles auf eine Karte, darauf bauend, dass Johnny nicht zuschaute, wie sich Jail und Office in eine Flammenhölle verwandelten.
Schnell flackerte das Feuer höher. Es leckte bereits über den hölzernen Rand der Pritsche. Der Strohsack, der als Matratze diente, würde brennen wie Zunder. Qualm breitete sich aus. In der Zelle nebenan drehte sich der Betrunkene herum. Sein Schnarchen brach ab, er gurgelte, verschluckte sich, ein Hustenanfall befiel ihn, er kam hoch. "Was, zum Teufel..."
Er sah das Feuer in der Nebenzelle, das Wechselspiel von Licht und Schatten an den Wänden und auf dem Fußboden, und schlagartig schien er nüchtern zu sein. Mit einem Satz war er von der Pritsche und an der Gitterwand. "Mein Gott, Deputy, willst du zusehen, wie wir hier drin schmoren?", hechelte er.
Johnny überwand seine Fassungslosigkeit. In fieberhafter Eile holte er die Zellenschlüssel aus der Schreibtischschublade. Als er Murphys Zelle aufschloss, lag in seiner Faust der Colt. "An die Wand, Murphy, Hände in die Höhe, und rühr dich nicht, sonst schieße ich dir den Kopf von den Schultern."
Er glitt in die Zelle. Als Murphy nicht sofort reagierte, spannte er den Hahn. Mit einem Klicken rotierte die Trommel um eine Kammer weiter. Matt schimmerten die runden Bleiköpfe der Patronen in den Kammern. Johnnys Absicht war es, die Decke vom Bett wegzuzerren und die Flammen auszutreten. Und dann wollte er Murphy zwingen, ihm das Feuerzeug zurückzugeben.
Aber Murphy war ein ausgekochter, mit allen schmutzigen Wassern gewaschener Outlaw, den das Leben jenseits von Recht und Ordnung geformt und der aus tausend Erfahrungen seine Lehren gezogen hatte. Jetzt handelte er eiskalt und mit klarem Verstand. Mit dem Fuß gabelte er die brennende Decke vom Boden weg, und mit dem nächsten Atemzug flog das flackernde und qualmende Bündel auf Johnny zu. Gleichzeitig wich Murphy einen Schritt zur Seite.
Johnnys Verstand war ausgeschaltet. Instinktiv krümmte er den Finger. Der Schuss krachte und drohte den Raum aus allen Fugen zu sprengen. Die Kugel schmetterte gegen die Wand, meißelte Kalk und Gesteinsplitter los, und heulte als Querschläger durch den Raum.
Das Deckenknäuel prallte gegen Johnny. Der Junge vollführte eine abwehrende Armbewegung. In diesem Moment sprang ihn der Bandit an. Er rammte Johnny die linke Schulter gegen die Brust und schmetterte ihm die rechte Faust mitten ins Gesicht. Der Deputy stolperte rückwärts und prallte mit dem Rücken gegen die Gitterwand. Murphys Bein schnellte hoch und traf ihn in den Leib. Mit einem verzweifelten und gepeinigten Aufschrei kippte Johnny nach vorn, mit der Wucht eines Eselstrittes knallte noch einmal Murphys Faust von der Seite her gegen seine Schläfe, und dann stürzte Johnny in eine bodenlose Leere. Um ihn herum versank der Raum in absoluter Finsternis.
Murphy entriss ihm den Colt. Sein triumphierendes Gelächter erklang. Er lief ins das Office, verriegelte die Eingangstür, schob sich den Colt in den Hosenbund und holte sich ein Gewehr aus dem Schrank. Er überzeugte sich, dass das Magazin voll war, dann nahm er die Lampe vom Tisch, lachte noch einmal wie irr und schleuderte die Laterne gegen die Gitterwand. Klirrend zerbarst der Zylinder. Die Lampe rollte über den Boden. Petroleum sickerte aus dem Tank. Aus der Decke am Boden stieg dunkler, beißender Rauch.
Murphy lief zur Hintertür. Der Mann in der Zelle brüllte überschnappend: "Lass mich raus, bei allen Heiligen, öffne meine Zelle. Wenn das Petroleum..."
Hinter Murphy schlug die Tür zu. Der Mann rüttelte wie besessen an den Gittern.
*
"IM MARSHAL’S OFFICE ist geschossen worden!", brüllte auf der Main Street ein Passant. Er lief zur Tür und versuchte sie zu öffnen. Der Ruf pflanzte sich mit Windeseile fort.
Al Manypenny hetzte die Straße herauf. Als er das Gebäude erreichte, flog krachend die Eingangstür auf. Der Mann, der den Schuss vernahm, hatte sie mit wuchtigen Tritten eingetreten. Feuerschein ergoss sich über die Menge. Rücksichtslos bahnte sich der Assistant-Marshal einen Weg. Im Office befanden sich schon drei – vier Männer. Einer trampelte auf der Decke herum, um die Flammen auszutreten. Zum Glück hatte das ausgelaufene Petroleum noch kein Feuer gefangen.
"Er ist durch die Hintertür geflohen!", brüllte der Gefangene.
"O verdammt, da liegt Johnny!", entfuhr es Manypenny.
Er war mit drei Schritten bei dem Besinnungslosen, kniete ab und drehte ihn auf den Rücken. Johnnys Lider zuckten. Er trieb im Stadium zwischen Ohnmacht und Erwachen, und als er die Augen öffnete, schaute er mit dem Ausdruck des törichten Nichtbegreifens in das besorgte Gesicht Manypennys.
Weitere Männer drängten herein.
Die Nachricht von der Flucht des Todeskandidaten ging mit der Geschwindigkeit eines Steppenbrandes durch die Stadt. Und sie erreichte auch Jack, der sich im Saloon befand.
Jack warf zwei Dollar auf den Tisch und strebte dem Ausgang zu. Eiligen Schrittes begab er sich zum Jail. Dort drängten sich die Gaffer. Ihr Geschrei staute sich zwischen den Häusern und wurde von den Wänden zurückgeworfen. Im Office war zwischenzeitlich die Brandgefahr gebannt. Die angekohlte Decke lag im Straßenschlamm. Jack hatte Mühe, sich einen Weg durch den dichtgedrängten Haufen der Neugierigen zu bahnen. Der Geruch von Petroleum stieg ihm in die Nase, als er das Büro betrat. Soeben ertönte Manypennys Organ: "Wir durchkämmen jeden Winkel und jede Ecke der Stadt und des Arbeitercamps. Jeder Mann, der sich uns freiwillig anschließt, ist hiermit zum Hilfsmarhsal ernannt. Er hat alle Befugnisse eines vereidigten Deputys. Wer Murphy einfängt, kassiert die Belohnung, die auf ihn ausgesetzt ist, und dazu noch weitere zweihundert Dollar, die ich im Namen der Stadt für seine Ergreifung aussetze."
Irgendwo aus einer Seitenstraße brandete Geschrei in die Main Street, und dann erreichte die Hiobsbotschaft das Office, dass Murphy aus dem Corral des Mietstalles ein Pferd gestohlen habe.
Jack entschloss sich von einer Sekunde zur anderen. Ohne mit Manypenny ein Wort gewechselt zu haben rannte er aus dem Office. Er erreichte das Hotel. Dem Clerk trug er auf, sein Pferd satteln zu lassen. In fliegender Eile packte er seine wenigen Habseligkeiten zusammen, dann beglich er seine Rechnung, und dann rannte er in den Hof. Sein gesatteltes und gezäumtes Pferd wurde gerade aus dem Stall geführt.
Jack führte das Pferd hinaus auf die Straße. Weit unten, beim Marshal's Office, standen die Menschen Schulter an Schulter. Es war eine wahrhaftige Wand aus Leibern, und ein Durchkommen war fast unmöglich. Jack beschloss, Cheyenne auf Schleichwegen zu verlassen.
*
JACK WAR AUF DEM TRAIL. Die lärmende, sündhafte Stadt versank hinter ihm in der Nacht. Als er sich einmal umwandte, um zurückzublicken, konnte er nur noch am Widerschein der Lichter, die den Nachthimmel erhellten, einen Hinweis auf ihre Lage wahrnehmen.
Bis Fort Collins konnte Jack noch die Poststraße benutzen. Dann wollte er sich nach Südwesten wenden, um quer durch die Unwegsamkeit der Berge über Leadville nach Gunnison zu gelangen.
Jack ließ das Tier im Schritt gehen. Tom Murphy mochte eine halbe Stunde Vorsprung haben. Gewiss hatte der Bandit das gestohlene Pferd halb zuschanden geritten, um möglichst viele Meilen zwischen sich und Cheyenne zu bringen, wo die Schlinge schon geknüpft gewesen war, die sie ihm um den Hals legen wollten.
Der Braune trug Jack durch die Nacht. Als der Morgen graute, hatten Pferd und Reiter etwa zehn Meilen zurückgelegt. Im Osten verfärbte sich der Himmel, die Morgenröte zog herauf. Jack tränkte das Pferd an einem Bach. Er selbst wusch sich die Müdigkeit aus dem Gesicht, trank von dem frischen Wasser und aß etwas Pemmican, den er immer in der Satteltasche mit sich führte. Der Braune begann zu weiden. Jack stieg auf einen Hügel, auf dessen Kuppe sich ein turmartiger Fels erhob, und schaute in die Runde. Soweit sein Auge reichte sah er nur unberührte Wildnis. Im Westen buckelten schwarz und wie eine ununterbrochene Hügelkette anmutend die Ausläufer der Berge vor der fernen Kulisse des erhabenen, majestätischen Felsengebirges.
Jack ahnte, dass er sich bereits in Colorado befand. Er setzte sich an einen Baum, lehnte sich bequem zurück und schloss die Augen. Eine Viertelstunde schlief er in dieser Haltung tief und fest, fünfzehn Minuten, die ihn mit frischer Energie ausstatteten.
Dann setzte Jack seinen Weg fort.
Zu selben Zeit etwa brach auch Tom Murphy sein Nachtlager ab. Der Bandit war nach seiner Flucht aus Cheyenne auf dem gestohlenen Pferd nach Süden gedonnert, als säße ihm der Teufel im Genick. Als sein Pferd nur noch dahintaumelte, verkroch er sich in der Wildnis, doch die Angst vor Verfolgern und die betrübliche Aussicht, bei Tagesansbruch zu hängen, wenn er ihnen nicht entkam, raubten ihm den Schlaf. Immer wieder schreckte er hoch. Und als er jetzt seine Flucht fortsetzte, fühlte er sich wie gerädert.
Er ritt durch hügeliges Terrain. Es war längst Tag. Weit im Westen, vor den bizarren Schroffen und Zinnen der Berge, ballten sich dunkle Wolken. Murphy hatte Hunger. In den Satteltaschen gab es nichts Essbares. Sich ein Stück Wild zu schießen wagte er nicht, da das Echo eines Schusses mögliche Verfolger anziehen konnte. Außerdem fürchtete er sich vor streunenden Indsmen, die oftmals mit Weißen kurzen Prozeß machten. An einem kleinen Creek füllte er sich den Magen mit Wasser. Als es auf Mittag zuging, suchte er sich einige essbare Wurzeln und kaute sie.
Um die Mitte des Nachmittags lag Fort Collins vor ihm. Das Palisadentor war geöffnet. Auf den Wehrgängen patrouillierten Soldaten. Die Wache am Tor stellte Murphy einige beiläufige Fragen, dann ließ man ihn passieren. Im Fort hielten sich Reisende auf, einige friedliche Indianer lungerten herum, auf dem Paradeplatz genoss eine Gruppe von Infanteristen gerade Formalausbildung. Träge bewegte sich das Sternenbanner im frischen Westwind. Murphy registrierte, dass das Fort fast schon einen städtischen Chararakter aufwies. Es gab einen General Store, einige andere Geschäfte, einen Mietstall und einen Saloon. Der Bandit ritt zum Mietstall und saß ab. Vom Exerzierplatz her erklangen die schnarrenden Befehle des Ausbilders. Der Stallmann schlurfte heran, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben, Murphy teilnahmslos musternd. Näselnd fragte er: "Bleiben Sie länger, Fremder? Oder..."
"Nein, ich reite innerhalb der nächsten Stunde weiter." Mit dem typisch unsteten aber dennoch wachsamen Blick des Gesetzlosen, des seit Jahren Gehetzten, schaute Murphy sich um. Die Pferde, die er sah, waren nicht abgetrieben. Also hatte ihn kein etwaiger Verfolger überholt und wartete schon auf ihn. Er dachte dabei in erster Linie an Jack Shannon...
"Man hat mich bestohlen", log er. "Mein ganzes Geld – ist futsch." Er deutete auf den Sattel, der auf dem Rücken seines Pferdes lag. "Er ist ziemlich neu. Eine prächtige Arbeit. Sicher haben Sie ein älteres Exemplar für mich. Ich überlasse Ihnen diesen Sattel gegen einen alten, gebrauchten und Zuzahlung von fünfundzwanzig Dollar."
Der Stallbursche schaute skeptisch drein. Sein geschärfter Instinkt, den er einer in langen Jahren erworbenen Menschenkenntnis zu verdanken hatte, sagte ihm, dass er einen Gejagten vor sich hatte. "Sie haben es ziemlich eilig, wie?", dehnte er, und ein wissendes Grinsen kerbte sich in seine Mundwinkel. "Fünfzehn Dollar", schlug er dann vor.
Murphy starrte ihn zornig an. "Das ist..."
Der Oldtimer unterbrach ihn respektlos: "Das ist Geschäft, Stranger. Ich will nicht wissen, warum Sie es so verdammt eilig haben, ich will auch nicht wissen, ob Ihre Geschichte mit dem Diebstahl stimmt. Sie brauchen Geld – und ich biete Ihnen fünfzehn Bucks für den Sattel, dazu ein älteres Stück. Sie können annehmen oder auch nicht."
Falkenäugig und streitbar starrte er in Murphys Gesicht. Der Bandit knirschte mit den Zähnen, dann stieß er hervor: "Gib mir das Geld, alter Schurke, und ersticke irgendwann an deiner Habgier."
Die Miene des Stallmannes veränderte sich schlagartig. "Nicht in diesem Ton, Mister. Sie sind zu mir gekommen, weil Sie etwas wollen. Ich war bereit, mit ihnen ein Geschäft zu machen. Statt mir dankbar zu sein beleidigen Sie mich. Ich pfeife auf den Sattel. Versuchen Sie ihr Glück anderswo hier im Fort."
Er wollte sich abwenden. Murphy hielt ihn fest. "Es war nicht so gemeint", versicherte er hastig. "Aber Sie werden verstehen, dass ich nicht begeistert bin über Ihr Angebot. Der Sattel hat fast hundert Dollar gekostet. Sie machen das Geschäft Ihres Lebens."
Der Stallmann musterte ihn griesgrämig, versuchte, in seinen Zügen zu lesen, schließlich wurde die Gier stärker als jedes seiner Prinzipien, und er sagte: "Ich fasse es als Entschuldigung auf. Okay, Fremder. Das Geschäft gilt. Folgen Sie mir."
In Murphys Blick glitzerte es unheilvoll und heimtückisch, als er – das Pferd am Zügel führend -, dem Oldtimer in den Pferdestall folgte.
*
SIE BETRATEN DAS BÜRO des Alten. Aus einer Schreibtischschublade fischte er eine verbeulte Schachtel. Als er sie öffnete, kamen einige zusammengefaltete, verknitterte Geldscheine und silbern glänzende Münzen zum Vorschein. Der Stallmann hatte Murphy den Rücken zugewandt. Jetzt drehte er sich zu dem Banditen um, fünfzehn Dollar in der Hand – und seine Augen weiteten sich vor Schreck.
Murphys Hand mit dem Colt zuckte nach unten. Mit ungebremster Wucht bekam der Oldtimer den Schlag auf den Schädel. Um ihn herum schien das Stall zu explodieren, sein Denken riss, er sackte zusammen. Ein Silberdollar rollte über den Boden. Murphy stieß den Colt ins Holster, entriss dem Alten das Geld, nahm auch das aus der Schachtel und stopfte es in seine Tasche, dann packte er den Besinnungslosen unter den Achseln und schleppte ihn in den Stall. In einer leeren Box fesselte und knebelte er ihn, dann legte er ihn in eine Futterkiste, schloss den Deckel und warf einen alten Sattel darauf.
Murphy lief zum Tor, um sich ein Bild zu machen. Auf dem Paradeplatz kommandierte nach wie vor der ergraute Feldwebel eine Gruppe junger Soldaten herum. Von den Pferdeställen der Kavallerie her erklangen klirrende Hammerschläge.
Zehn Minuten später lag der Sattel, den Murphy in Cheyenne gestohlen hatte, auf dem Rücken eines hochbeinigen Hengstes mit breiter Brust, was Schnelligkeit und Ausdauer verriet. Im Büro fand Murphy auch ein Stück Trockenfleisch und eine Kante Brot. Er stopfte das Zeug in die Satteltasche, dann saß er auf und ritt wie ein Mann, der nichts zu verbergen hatte, auf die Wache beim Tor zu.
Niemand stellte Fragen, niemand schöpfte Verdacht. Ungehindert verließ der Bandit Fort Collins.
Den Soldaten wurden erst die Augen geöffnet, als nicht ganz eine halbe Stunde später Jack ankam und sie über Tom Murphy aufklärte. Der Wachhabende stieß erregt hervor: "Hölle, er verließ mit einem frischen Gaul das Fort. Von Larry Brown war seitdem nichts mehr zu sehen. – Trooper Palmer, sehen Sie nach. Gütiger Gott, wenn dieser Schuft dem Oldtimer ein Leid zugefügt hat!"
In seinen letzten Worten lag ein düsteres Versprechen. Es war die Aufgabe der Armee, nicht nur die Indianer ruhig zu halten, sondern auch das Banditentum in diesem Land, in dem das Gesetz noch nicht so richtig Fuß gefasst hatte, zu bekämpfen.
Der Kavallerist eilte davon. Jack, den die Soldaten nicht mehr beachteten, folgte ihm langsam. Er hörte ihn nach Larry rufen, und in dem Moment, als Jack sein Pferd vor dem Stalltor anhielt, hörte er das rostige Quietschen von Scharnieren, und dann die entsetzte Stimme des Soldaten: "Er hat Larry gefesselt und geknebelt und in die Futterkiste gelegt. Mein Gott, Larrys Gesicht ist über und über voll Blut. Aber Larry lebt. Kümmern Sie sich um ihn, Mister, nehmen Sie ihm den Knebel ab. Ich hole Hilfe."
Larry kam zu sich. Sie hatten ihn aus der Futterkiste gehoben. Vom Knebel und von seinen Fesseln hatte ihn Jack schon befreit. Das Blut in Larrys Gesicht stammte von einer Platzwunde an der Stirn. Der Feldscher war da und verarztete Larry. Er saß dabei auf der Futterkiste, in die ihn Murphy gelegt hatte. Ausführlich berichtete er, was vorgefallen war. Ein Captain rief: "Sergeant Miller, lassen Sie ein Dutzend Männer ihre Pferde satteln. In zwanzig Minuten reiten wir. Als Fährtenleser nehmen wir Flying Horse mit."
Jack verließ den Stall. Er schwang sich auf sein Pferd und ritt aus dem Fort. Es wurde kaum registriert.
Der Abend kam, und dann die Nacht.
Murphy hatte in den vergangenen Stunden das Pferd geschont. Dörrfleisch und Brot hatten seinen Hunger gestillt. Er besaß Geld und konnte sich in der nächsten Ortschaft, auf die er stieß, mit Proviant versorgen. Die Armee fürchtete er nicht. Sicher, man hatte im Fort den Stallburschen sicherlich längst gefunden, und man würde eine Patrouille hinter ihm hergeschickt haben. Aber er verstand es, seine Spur zu verwischen, und als einzelner Reiter war er in diesem Land viel beweglicher als eine ganze Reitergruppe.
Er brauchte Schlaf. Andernfalls hielt er nicht durch. Seit 36 Stunden hatte er kaum ein Auge zugemacht. Das Warten auf den Henker, seine Flucht aus dem Jail und der Stadt, die Meilen nach Fort Collins, die Stunden im Sattel, seit er das Fort verlassen hatte – das alles hatte ihn ausgehöhlt und ausgebrannt, und so beschloss der Bandit an einem schmalen, namenlosen Fluss zu lagern.
Er schlief sofort ein.
Irgendwann erwachte er. Murphy hatte keine Ahnung, wieviel Zeit vergangen war, seit er sich in seine Decke gewickelt und die Augen geschlossen hatte. Sein Pferd war hochgeruckt. Er hatte es nur wenige Schritte von sich entfernt angeleint. Nun stampfte das Tier unruhig auf der Stelle, schnaubte, und plötzlich stieß es ein trompetendes Wiehern aus. Der Laut trieb durch die Nacht und versickerte zwischen den Hügeln und in den Wäldern.
Murphy warf die Decke von sich, zog den Colt, kroch hinter einen Strauch und kam auf die Knie. Er war hellwach. Entweder war es ein wildes Tier, das sein Pferd erschreckt hatte, oder es hatte die Witterung von Artgenossen aufgenommen.
Murphy spürte deutlich die zittrige Anspannung seiner Nerven. Ringsum rührte sich nichts. Dennoch sagte ihm sein Sinn für die Gefahr, dass er nicht alleine war.
Und dieser Sinn trog ihn nicht.
Jack hatte das Wild, das er jagte, eingeholt. Spätestens, als Murphys Pferd wieherte, wusste er Bescheid. Er zog das Gewehr aus dem Scabbard und glitt aus dem Sattel. Er befand sich auf der Sohle eines Hügeleinschnitts. Linkerhand zog sich Wald die Hügelflanke hinauf, rechts wucherten Büsche und Gras am Abhang. Der Hang war weiter oben von einer etwa fünf Yard hohen, steilen Felswand unterbrochen. Oberhalb dieser Wand, die sich wie ein Gürtel halb um den Hügel zog, standen riesige, von den Herbst- und Winterstürmen zerzauste Kiefern.
Das Wiehern war aus südlicher Richtung gekommen. Jack leinte sein Pferd an den armdicken Ast eines Strauches, lud die Henrygun durch und pirschte davon. Die Hügellücke endete, Wald begann. Der Anblick der schwarzen Wand aus Bäumen und Unterholz ließ in Jack die Alarmglocken anschlagen. Monotones Rauschen lag in der Luft. Der Nachtwind verursachte es in den Kronen der Bäume.
Jack schlug sich zwischen die ersten Stämme. Dünne Zweige peitschten, Dornen zerrten an seiner Jacke. Er schmiegte sich eng an einen mannsdicken Stamm und konzentrierte sich. Außer dem monotonen Rauschen war nichts zu hören. Jack pirschte weiter. Er hatte es mit einem skrupellosen Banditen zu tun, dem die Gesetze der Fairness unbekannt waren, der keinen Ehrenkodex kannte, dem jedes Mittel recht war, um seine Haut zu retten. Und das veranlasste ihn zu besonderer Wachsamkeit und mahnte zur Vorsicht.
Jack huschte von Baum zu Baum. Manchmal knackte ein dürrer Ast unter seinen Sohlen. Das Geräusch seiner Schritte jedoch schluckte der dicke Teppich aus abgestorbenen Tannen- und Fichtennadeln. Unter den Baumkronen war es finster wie in einer Gruft. Aber Jack bewegte sich trotz aller Handicaps mit traumwandlerischer Sicherheit.
Seine Instinkte arbeiteten auf Hochtouren. Er lehnte an einem rauhen Stamm. Nur wenige Schritte von ihm entfernt lag im fahlen Mondlicht ein schmaler Fluss. Das Wasser glitzerte zwischen den Baumriesen hindurch, das Gurgeln und Glucksen der Strömung mit ihren Strudeln und Wirbeln wehte an Jacks Gehör.
Wo hielt sich Murphy versteckt? Irgendwo an diesem kleinen Creek war sein Nachtlager. Wo schlich er herum, lautlos wie ein Puma, voll tödlicher Entschlossenheit, mit Hass und Mordgier im Herzen?
Ein Stück von Jack entfernt war das Peitschen eines dünnen Astes. Das Geräusch war aus der Masse der anderen Laute, die den nächtlichen Wald wie mit Geisterstimmen erfüllten, fast nicht herauszuhören. Aber Jacks geschultes Gehör nahm es auf und deutete es. Er schob sich weiter. Zehn Yards, zwanzig Yards legte er zurück, immer im Schutz der dicken Bäume, angespannt bis in die letzte Faser seines Körpers, darauf gefasst, dass etwas geschah.
Er vernahm ein Schnauben. Ein Pferd scharrte mit dem Huf. Jack befand sich in der unmittelbaren Nähe von Murphys Lagerplatz. Seine Sinne arbeiteten mit doppelter Schärfe.
Und plötzlich sah Jack gegen das Glitzern der Wasseroberfläche die schattenhafte Kontur eines Mannes, die um einen Baum herumkam und geduckt verharrte. Langsam nahm Jack das Gewehr an die Hüfte. Sein Zeigefinger legte sich um den Abzug. Mit klarer, präziser Stimme rief er: "Ich habe dich vor der Mündung, Murphy. Wirf die Waffe weg und heb die Hände."
Der Outlaw dachte nicht daran. Sein Colt begann zu donnern. Seine Geschosse fetzten Rinde von den Bäumen, schlugen in die Stämme ein, erschütterten sie und ließen absterbende Nadeln zu Boden rieseln. Der Wald schien die Detonationen festzuhalten. Sie hallten wider und wider. Bei Murphy entlud sich eruptiv der aufgestaute Hass in einem wahren Stakkato von Schüssen. Jack hatte sich aber längst in Sicherheit gebracht. Keine der böse sirrenden Kugeln wurde ihm gefährlich. Und als bei Murphy die Waffe verstummte, weil der letzte Schuss aus der Trommel war, rannte er los, direkt auf den Banditen zu.
Aber Murphy hatte keinen Sekundenbruchteil verstreichen lassen. Er war sofort herumgewirbelt und hetzte zu seinem Pferd, dem er den Sattel nicht abgenommen hatte. Er hatte lediglich den Bauchgurt etwas gelockert. Das Gewehr aus dem Sattelschuh zu ziehen und durchzuladen geschah in einer einzigen, fließenden Bewegung. Murphy rannte nach links.
Zwischen den Bäumen blitzte es auf. Eine Feuerblume platzte. Entsetzt registrierte der Bandit ein heißes Brennen auf dem Oberarm. Er warf sich flach auf den Boden und schoss auf die Stelle zwischen den Bäumen, wo soeben das Mündungsfeuer die Nacht zerschnitten hatte.
Aber Jack ruhte nicht. Während der Bandit blindlings sein Blei verschoss, lief er zum Fluss, pirschte vor dem Ufergebüsch in die Richtung, in der er Murphys Pferd wusste, und als er die Umrisse des Tieres ausmachen konnte, ging er neben dem Gestrüpp in Deckung.
Ebenso jäh, wie es eingesetzt hatte, brach der Bandit sein Feuer ab. Er hatte wohl begriffen, dass er nur seine wertvolle Munition vergeudete. Er hatte Angst. Schleichende Kälte kroch von seinen Zehenspitzen hoch, in die Beine und bis in seine Eingeweide. Die Beklemmung legte sich wie ein eiserner Ring um seine Brust und schnürte sie zusammen. Im Magen spürte er ein flaues Gefühl. Dass es sich bei dem nächtlichen Gegner um Jack Shannon handelte, dessen war sich Murphy absolut sicher. Und er beschloss, zu fliehen.
Er wagte kaum zu atmen, als er zu seinem Pferd schlich. Er erreichte es, stieß das Gewehr ins Sattelholster, griff nach dem Bauchgurt, um ihn straffzuziehen, als ihn Jacks unerbittliche Stimme erstarren ließ: "Aus der Traum, Murphy. Ich stehe drei Schritte hinter dir. Eine absolut tödliche Entfernung. Rühr dich jetzt nicht."
Er glitt an den Banditen heran und zog ihm den Colt aus dem Futteral. Das Eisen schleuderte er in den Fluss. Das Gewehr folgte. Murphy ergab sich in sein Schicksal. Seine Widerstandskraft war erschöpft. Ein Zittern durchlief ihn. Er duckte sich unwillkürlich unter dem Anprall der Erkenntnis, dass er verloren, dass er sich mit seiner Flucht nur eine kurze Galgenfrist verschafft hatte.
Jack sagte abgehackt: "Ich hätte dich auch erschießen können, Bandit. Aber du sollst hängen. Leg jetzt die Hände auf den Rücken."
*
JACK FÜHRTE DAS PFERD mit dem Banditen an der Longe. Er ritt nach Norden, der Patrouille aus Fort Collins entgegen. Der Lärm, der vor der Kavalkade her durch die Nacht rollte, war nicht zu überhören und wies Jack die Richtung.
Die Posse aus dem Fort unter der Führung des Captains hatte es also noch nicht aufgegeben, den Banditen zu verfolgen.
Als sich die beiden Reiter aus der Finsternis schälten, erschallte ein Befehl. Sofort löste sich die Marschordnung auf, die Kavalleristen schwärmten auseinander, Karabiner wurden durchgeladen, dann wurde es – abgesehen vom Stampfen der Pferde, die auf der Stelle traten -, ruhig.
"Wer seid ihr?", tönte es Jack ungeduldig und misstrauisch entgegen.
"Jack Shannon! Ich bringe Tom Murphy, den Banditen, der in Cheyenne dem Tod im letzten Moment von der Schaufel sprang und der im Fort den Stallmann Larry fast erschlagen hat."
"Sie, Shannon?", kam es überrascht und erleichtert zurück. "Sie waren im Fort so plötzlich verschwunden. Sind Sie in Ordnung?"
"Yeah. Kann ich euch den Gefangenen übergeben?"
"Gewiss. Wir werden einen Boten nach Cheyenne schicken und dem dortigen Marshal mitteilen lassen, dass er seinen Todeskandidaten abholen kann."
"Es wäre sicherer, die Armee brächte ihn nach Wyoming", erwiderte Jack skeptisch.
"Wir werden es sehen."
Der Captain und ein Sergeant hatten ihre Pferde angetrieben und verhielten jetzt vor Jack und dem Banditen. Jack übergab dem Sergeanten die Leine des Banditenpferdes. "Lassen Sie ihn nicht entwischen", sagte er. "Der Bastard hat den Tod x-mal verdient."
"Keine Sorge."
"Warum bringen Sie ihn nicht selbst nach Cheyenne?", fragte der Captain, einer plötzlichen Eingebung folgend. Seine Schulterstücke funkelten matt im fahlen Licht.
"Weil noch vier Kerle, die zusammen mit Murphy meine Frau schändeten und ermordeten, auf freiem Fuß sind", erklärte Jack mit stählerner Härte im Tonfall. "Ich werde erst ruhen, wenn der letzte der vier tot vor mir liegt." Er drehte sein Gesicht dem Banditen zu. "Ich werde nicht dabei sein, wenn sie dich hängen, Murphy. Eigentlich schade. Halte vier Plätze frei in der Hölle. Denn du wirst sehr bald Gesellschaft kriegen da unten."
Er zerrte an den Zügeln. Das Pferd unter ihm tänzelte herum. Jack kitzelte es mit den Sporen. "So long", rief Jack und hob grüßend die Rechte.
"Farewell!", kam es von dem Captain. "Und seien Sie versichert, Shannon, dass wir Murphy hüten werden wie unseren Augapfel. Er entgeht dem Strick nicht mehr."
Pferd und Reiter verloren an Kontur, dann verschluckte sie die Nacht. Der Hufschlag entfernte sich.
"Wendet die Pferde und nehmt Marschordnung ein!", befahl der Captain seinen Männern. "Trooper Jackson und Trooper McGuire – ihr übernehmt den Gefangenen."
Unbeirrbar zog Jack nach Südwesten. Und am achten Tag nach seinem Aufbruch in Cheyenne kam Jack in Gunnsion an. Die Stadt lag an der Mündung des Taylor River in den Gunnison River. Eine Holzbrücke führte über den Gunnison River, dessen braune Fluten sich träge nach Westen wälzten.
Jack war am Ziel. Und er brauchte nicht zu befürchten, von einigen heißen Eisen erwartet zu werden.
Gunnison war eine ruhige und friedliche Town. Hinter den Häusern waren Gemüsegärten angelegt. Alles hier schien sauber und ordentlich. Es war warm. Da es in den vergangenen Tagen nicht mehr geregnet hatte, war der Straßenschlamm getrocknet und wieder zu Staub zerfallen. Der Geruch von aufblühendem Salbei lag in der Luft. In den Gärten blühten die Obstbäume.
Vor dem Saloon standen zwei Pferde am Haltebalken. Sie ließen die Köpfe stoisch hängen und peitschten mit den Schweifen nach den blutsaugenden Bremsen an ihren Flanken. Jack machte ein großes Schild über einem hohen Tor aus, dessen Aufschrift er entnahm, dass hier der Mietstall zu finden war. Ein Stück die Straße hinunter spielten einige Jungen am Rande der Fahrbahn. Ein brauner Hund mit langen, verfilzten Haaren lag im Schatten und döste.
Jack lenkte sein Pferd in den Wagen- und Abstellhof des Mietstalles, saß ab, spürte die Steifheit in seinen Beinen und schritt mit hölzern anmutenden Bewegungen, das Pferd am Kopfgeschirr mit sich ziehend, auf das Stallgebäude zu. Rechts davon tummelten sich in einem kleinen Corral ein halbes Dutzend Pferde.
"Hallo, Stall!", rief Jack mit heiserer, von den Strapazen der vergangenen Tage angegriffener Stimme. Das Stalltor war offen. Jack führte das Pferd über die Lichtgrenze, Düsternis empfing ihn. Auf dem festgestampften Mittelgang hielt Jack an. Es standen nur wenige Pferde hier. Die meisten der Boxen waren leer. Jack zuckte die Achseln und machte sich daran, dem Pferd den Sattel abzunehmen. Als er fertig war, kam der Stallbursche. Er schob eine Schubkarre, auf der eine schmutzige Forke lag, und Jack schätzte, dass er Pferdemist auf den Haufen irgendwo hinter dem Stallgebäude gekarrt hatte.
Der Boy war höchstens zwanzig Jahre alt. Er stellte die Karre ab, wischte sich an seinem blauen Overall Schmutz und Schweiß von den Händen, und kam dann – Jack neugierig fixierend -, näher.
Jack hob den Sattel vom Pferderücken und legte ihn auf den eigens dafür vorgesehen Balken, auf dem schon mehrere Sättel lagerten. "Hallo, Junge", grüßte er, "ich sah niemand und habe deshalb angefangen, mein Pferd selbst zu versorgen. Ich möchte es gerne für einige Tage hier unterstellen. Wie lange ich bleibe weiß ich noch so genau. Aber das kann dir im Endeffekt ja egal sein."
Der Bursche nickte. "Es kommen selten Fremde nach Gunnison. Seit sie oben im Norden die Eisenbahn bauen, ist hier nichts mehr los. – Sind Sie fremd in der Gegend?"
"Ja. Mein Name ist Jack Shannon."
"Was treibt Sie nach Gunnison, Shannon?", fragte der Junge neugierig. "Sieht nicht so aus, als wären Sie nur auf dem Durchritt. Das schließe ich aus Ihrer Äußerung, nicht genau zu wissen, wie lange Sie bleiben. In diesem Nest liegt der Hund begraben. Nur zwei- oder dreimal im Monat ist hier etwas los, wenn die wilden Burschen von der Blue Mesa Ranch in die Stadt kommen. Meistens nur an den ersten beiden Samstagen im Monat. Dann haben sie ihren Lohn mit vollen Händen ausgegeben und warten darauf, dass das Monat endet, damit sie hier wieder den Teufel aus dem Sack lassen können."
Der Bursche grinste.
"Wem gehört die Blue Mesa Ranch?", wollte Jack wie beiläufig wissen.
"Jeremy Stacy", antwortete der Stallbursche. "Man nennt ihn aber nur Big Jeremy." Er hängte das Kopfgeschirr an einen Nagel und führte den Braunen in die Box.
"Was ist Stacy für ein Mann? Einer von jenen Reichen und Mächtigen, die ganze Landstriche mit eiserner Faust nach ihren eigenen Gesetzen regieren?"
"Eigentlich nicht", murmelte der Boy.
"Was ist heute für ein Tag, Junge?"
"Donnerstag. Übermorgen ist der erste Samstag im Monat. Wenn Sie dann noch hier sind, Shannon, dann werden Sie erleben, wie die Burschen von der Blue Mesa Ranch die Town auf den Kopf stellen."
Jack griff in die Tasche, warf dem Boy einen halben Dollar zu, den dieser geschickt auffing, dann nahm er das Gewehr und seine Satteltaschen und verließ den Mietstall, um im Hotel ein Zimmer zu mieten.
Seine Gedanken kreisten um Slim 'Turkey' Stevens, um die Blue Mesa Ranch und um den Samstagabend, wenn die Ranch so gut wie verwaist war.
Er war entschlossen, nachzusehen, ob sich Slim Stevens noch auf der Blue Mesa Ranch vor dem Gesetz versteckte. Wenn ja, dann würde er ihn sich holen.
*
ES WAR EINE GROSSE RANCH. Das Haupthaus war stöckig und aus Bruchsteinen erbaut. Vor den Fenstern waren die Blendläden geschlossen. Durch die Ritzen zweier dieser Blendläden fielen Lichtstreifen. Im rechten Winkel zum Haupthaus war die Mannschaftsunterkunft errichtet worden. Es war ein langgezogener, flacher Bau mit einem Dutzend kleiner, schießschartenähnlicher Fenster in der Vorderfront. Daneben gab es Stallungen, Scheunen, Schuppen, Corrals und eine Remise, in der ein offener Buggy und zwei flache Farmwagen mit niedrigen Bordwänden abgestellt waren.
Auch aus den Fenstern der Mannschaftsunterkunft fiel trüber Lichtschein. Zeichen dafür, dass nicht alle Cowboys in die Stadt geritten waren.
Südlich der Ranch zog sich wie ein glitzerndes Band der Gunnison River von Osten nach Westen. Manchmal waren seine Ufer flach, dann fielen sie wieder steil ab. Hier und dort wuchsen Büsche und Bäume, an manchen Stellen, vor allem in den Biegungen, waren breite Sandbänke auszumachen. Fledermäuse zogen gespenstisch ihre lautlose Bahn durch die Finsternis. Auf der Ranch war es ruhig.
Jack ritt das letzte Stück, lenkte sein Pferd durch das Tor und überquerte den staubigen Hof. Bei der Veranda des Ranchhauses zügelte er. Das dumpfe Pochen der Hufe verklang. Die Haustür wurde aufgezogen. Eine fragende Stimme ertönte: "Wer ist da?"
Jacks Blick huschte über die Frontseite des Hauses, in der Erwartung, von einem der Fenster aus mit einem Gewehr bedroht zu werden. Rechter Hand knarrte die Tür des Bunkhouse. Zwei Männer traten ins Freie. Sie hielten Gewehre in den Fäusten.
Jack antwortete: "Ich bin fremd in der Gegend. In Gunnison erkundigte ich mich nach Arbeit, und man verwies mich an die Blue Mesa Ranch. Außerdem bin ich hungrig und durstig."
Mit seinem letzten Satz berief sich Jack auf das ungeschriebene Gesetz der Gastfreundschaft, das im Westen die allergrößte Bedeutung genoß. So hoffte er, nicht kurzerhand weggeschickt zu werden.
"Was können Sie denn?", fragte der Mann im Hausflur.
"Ich habe als Cowboy in Texas gearbeitet, nach dem Krieg trieb ich Longhorns von Texas zu den Verladebahnhöfen in Kansas, und zuletzt half ich, die Schienen der Union Pacific zu verlegen. Doch ich bekam Ärger mit einem der Vorarbeiter, und man jagte mich zum Teufel. Jetzt ist mein Geld alle, und ich brauche einen Job."
Glatt flossen die Worte über Jacks Lippen. Er hatte sich diese Story zurechtgelegt, und nun konnte er die Fragen ohne zu zögern beantworten.
"Sie sind also Rindermann!"
"Yeah. Und darum war ich auch nicht böse, als ich den Job bei der Bahn verlor."
"Okay, kommen Sie herein. Meine Tochter und ich sind alleine - abgesehen von den beiden Burschen im Bunkhouse. Mein Sohn ist mit der Mannschaft in die Stadt geritten." Die Stimme des Mannes hob sich. "Gary, kümmere dich um sein Pferd."
Jack saß ab. Im Hausflur wurde ein Streichholz angerissen. Gleich drauf brannte eine Lampe. Das Licht umfloss die Gestalt des Hausherrn. Er war in großer, breitschultriger Mann um die sechzig, dessen wettergegerbtes, zerfurchtes Gesicht von vollen, aber schneeweißen Haaren eingerahmt wurde. Eine imposante Erscheinung, die natürliche Autorität verströmte und Respekt abtrotzte.
Neugierig betrachtete er Jack. Es war ein Abschätzen, ein Einstufen, ein scharfes, durchdringendes Taxieren, und Jack hatte das Gefühl, unter dem prüfenden Blick dieser pulvergrauen Adleraugen offenbarten sich dem anderen seine geheimsten Gedanken. Ja, dieser Mann war von jenem Schlage, die andere befehligte und führte. Im Tonfall seiner Stimme hatte die ganze Sicherheit gelegen, die ihn beseelte, die Vertrauen einflößte und die ihm Stärke verlieh.
Kaum zu glauben, dass Big Jeremy auf seiner Ranch einem steckbrieflich gesuchten Mörder und Vergewaltiger Asyl gewährte.
Als sie die Wohnstube betraten, verschlug es Jack zunächst einmal den Atem. Er war wie gebannt beim Anblick der Frau, die sich jetzt erhob und um deren klassisch geschnittenen Mund ein freundliches Lächeln spielte. Sie war etwa Mitte Zwanzig, schlank, mittelgroß und braungebrannt. Ihr blondes Haar erinnerte an reifen Weizen, ihre Augen leuchteten wie Smaragde und waren unergründlich wie Bergseen. Durch das Lächeln gaben ihre Lippen ebenmäßige, weiße Zähne frei, die einen scharfen Kontrast zu ihrem gebräunten Teint bildeten.
"Willkommen auf der Blue Mesa Ranch, Fremder", begrüßte sie ihn.
Jack nahm mit linkischer Geste seinen Hut ab, drehte ihn verlegen in den Händen, schluckte, löste sich gewaltsam aus dem Bann, den ihre Erscheinung auf ihn ausübte, und erwiderte mit belegter Stimme: "Ich danke Ihnen und Ihrem Vater für Ihre Gastfreundschaft, Ma'am."
Sie deutete auf einen der Sessel. Jack setzte sich. Big Jeremy sagte: "Mach ihm etwas zu essen, Carol, und gib ihm zu trinken." Das Mädchen nickte, lächelte Jack noch einmal zu, dann verließ es den Raum. Gleich darauf vernahm Jack in einem entfernteren Teil des Haus das Klappern von Töpfen oder Pfannen.
Big Jeremy setzte sich ihm gegenüber. "Wenn Sie einen Monat früher gekommen wären, Mister ..."
Er verstummte und sah Jack herausfordernd an.
"Shannon – Jack Shannon", sagte dieser. Er hatte keinen Grund, seinen wahren Namen zu verschweigen. Selbst wenn sich Slim Stevens auf der Ranch verkrochen hatte. Von der Existenz eines Jack Shannon hatte der Mörder gewiss keine Ahnung. Davon war Jack überzeugt – nichtsahnend, dass diese Vermutung einen tödlichen Fehler beinhaltete.
"Also, Shannon, vor einem Monat, als der lange Winter endlich vorbei war, stellte ich über ein Dutzend Cowboys und Helfer für das Frühlings-Round up ein. Jetzt habe ich keinen Bedarf mehr. Tut mir leid."
Wie bedauernd hob Big Jeremy die Hände, ließ sie wieder sinken und murmelte: "Sie können aber gerne auf der Ranch übernachten, Shannon. Sie hätten mich auch nicht auf die Regeln der Gastfreundschaft hinweisen müssen, junger Freund. Gastfreundschaft ist in unserem Hause praktiziert worden, seit ich denken kann."
"Es tut mir leid", versicherte Jack. Er sah sich im Raum um, suchte nach einem Hinweis, der ihm verriet, dass sich außer Big Jeremy und Carol eine dritte Person hier aufgehalten hatte, ehe er ankam, doch er konnte nichts entdecken.
Big Jeremy beobachtete ihn scharf. Sie führten ein belangloses Gespräch, bis Carol mit einem Tablett kalten Bratens, einer dicken Scheibe Brot und einem Krug voll Bier zurückkehrte. Als sie das Tablett vor Jack auf den Tisch stellte, kreuzten sich ihre Blicke. In Jack erwachte unvermittelt etwas, das er kannte, das er aber seit Naomis Tod nicht mehr verspürt hatte. Carol schien es zu spüren, errötete und wandte sich schnell ab.
Da knarrte über ihnen eine Diele. Das trockene Geräusch war deutlich zu vernehmen. In Big Jeremys pulvergrauen Augen blitzte es zornig auf. Er erhob sich im selben Moment abrupt und ging zu einem Schrank. "Trinken Sie einen Whisky vor dem Essen, Shannon", sagte er, und es war deutlich, dass er von dem Geräusch von eben ablenken wollte. Er nahm eine Flasche und Gläser heraus.
Jack sagte gedehnt: "Sagten Sie nicht, dass Sie und Ihre Tochter alleine zu Hause wären?"
"Wir sind alleine!", versetzte Big Jeremy schroff.
Jack sah Carol an, aber das Mädchen wich seinem Blick schnell aus.
Das Knarren wiederholte sich nicht. Big Jeremy kam zurück, stellte die Gläser auf den Tisch und schenkte ein.
Zwischen ihnen war unvermittelt etwas, eine Kluft, und Jack merkte ganz deutlich, dass er Big Jeremy plötzlich lästig war. Der Rancher legte eine kühle Reserviertheit an den Tag.
Es ist also tatsächlich der Fall, dass Big Jeremy auf seiner Ranch einen steckbrieflich gesuchten Verbrecher vor dem Gesetz versteckt!, durchfuhr es Jack siedend. Und auch Carol weiß Bescheid! Enttäuschung befiel ihn. Er wusste nicht, was er davon halten sollte. Musste er die beiden Menschen, die ihm vom ersten Augenblick an sympathisch gewesen waren, mit Slim 'Turkey' Stevens auf eine Stufe stellen?
Was steckte dahinter?
Jack schwor sich, das Geheimnis zu ergründen.
Schon bald verabschiedete er sich. Carols Hand hielt er einen Augenblick länger fest als notwendig war, um einen Händedruck auszutauschen. Als sich sein Blick in den ihren bohrte, senkte sie wie schuldbewusst die Lider und schlug die Augen nieder ...
Als Jack vom Hof ritt, stand Big Jeremy mitten im Raum, die Hände zu Fäusten geballt, das Gesicht verkniffen, und er presste zwischen den Zähnen hervor: "Er ist ein verdammter Schnüffler, Carol. Als er erzählte, dass er bis vor kurzem bei der Union Pacific arbeitete, dann war das gelogen. Seine Hände wiesen lediglich ein paar alte Lassonarben auf. Körperliche Arbeit haben diese Hände schon lange nicht mehr verrichtet."
"Irgendwann musste es einmal durchsickern, dass sich seit fast einem Jahr dein verbrecherischer Neffe auf der Ranch verborgen hält. Warum hast du ihn nicht längst zum Teufel gejagt, Dad? Ach was!" Carols Hand pfiff mit wütender Geste durch die Luft. "Du hättest erst gar nicht zulassen dürfen, dass sich Slim auf der Ranch einnistet."
"Ich habe es meinem Bruder vor vielen Jahren am Totenbett versprochen, mich um seinen Sohn zu kümmern, Carol. Das weißt du. Und als Slim hier auftauchte, brachte ich es nicht fertig, ihm die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Es war ein Fehler, ich weiß. Aber es ist nun einmal so."
"Man wird eines Tages auch uns deswegen zur Rechenschaft ziehen, Dad", gab Carol zu bedenken.
"Er wird wieder verschwinden, wenn Gras über seine ... hmm, Schandtaten gewachsen ist."
"Schandtaten? Du meinst seine Verbrechen!", entrüstete sich Carol und verließ wütend die Wohnstube.
"Aber..." Big Jeremy brach ab. Es war niemand mehr anwesend, dem er seine Einwände, seine Rechtfertigungen vortragen hätte könne. Er fuhr sich mit der Hand über die Augen.
Big Jeremy war plötzlich zutiefst beunruhigt. Es war, als spürte er das bevorstehende Unheil tief in der Seele.
*
JACK DIRIGIERTE DEN Braunen zum Tor hinaus und lenkte ihn auf den ausgefahrenen Reit- und Fahrweg, der den Windungen des Gunnison-River folgte, als ihn aus einer Gruppe von Büschen eine zynische Stimme erreichte und bewog, dem Pferd die Schenkel anzulegen und es in den Stand zu zwingen.
"Du musst schon eine besondere Nase haben, Shannon! Oder welchem Umstand habe ich es sonst zu verdanken, dass du mich aufgespürt hast?"
Den Worten folgte ein hartes Knacken, als der Hahn eines Colts zurückgezogen wurde und die Spannfeder einrastete.
Darauf war Jack nicht gefasst gewesen. Außerdem war er mit seinen Gedanken bei Big Jeremy und Carol. Der Schreck, der ihn befiel, ging tiefer als er es je für möglich gehalten hatte. Das Begreifen, dass er einen schlimmen Fehler – vielleicht sogar tödlichen Fehler -, begangen hatte, kam mit schmerzhafter Schärfe.
Slim Stevens sprach mit klirrender Kälte im Tonfall weiter: "Durch den Kamin konnte ich jedes Wort, das du mit meinem Onkel gewechselt hast, so deutlich verstehen, als hätte ich mich bei euch in der Wohnstube befunden, Shannon. Es war dumm von dir, deinen richtigen Namen zu nennen."
In Jack legte sich der Aufruhr seiner Empfindungen. Er zwang sich zur Ruhe, versuchte, mit den Augen die Finsternis zu durchdringen, doch es war ein sinnloses Bemühen. Da war nur die schwarze, undurchdringlich anmutende Wand der Büsche.
"Wie hast du mich gefunden, Shannon?"
"Dein Freund Murphy hat mir dein Versteck verraten, Stevens. Dein Kumpan ist zwischenzeitlich in die Hölle der Gehenkten eingegangen. Ich erwischte ihn oben in Cheyenne. Aber jetzt verrate mir, woher du meinen Namen kennst, Stevens. Als ihr meine Frau vergewaltigt und anschließend ermordet habt, fragtet ihr sie doch sicher nicht nach ihrem Namen."
Der Bandit lachte fast amüsiert auf. "Nein, sicher nicht, Shannon. Nach ihrem Namen nicht, aber nach dem ihres Mannes. Sie nannte ihn uns: Jack Shannon. Er hat sich mir unauslöschlich eingeprägt."
Ja, er hatte einen fatalen Fehler begangen, als er annahm, dass er im Hause Big Jeremys gefahrlos seinen richtigen Namen nennen durfte. Die Erkenntnis schoss wie ein eisiger Strahl durch Jacks Verstand.
Jacks Rechte löste sich vorsichtig von der Zügelleine und tastete zum Holster an seinem rechten Oberschenkel. Er schaute dem Tod ins unheimliche Antlitz. Und er gab sich keinen Illusionen hin. Slim Stevens war ein skrupelloser Mörder, eine den niedrigsten Trieben gehorchende Bestie. Ein Fingerdruck genügte, um ihn, Jack, vom Pferd zu putzen. Seine Gestalt hob sich wahrscheinlich scharf wie ein Scherenschnitt gegen den helleren Hintergrund ab. Der Bandit konnte ihn gar nicht verfehlen.
Krampfhaft überlegte Jack, wie er der tödlichen Gefahr begegnen konnte. Seine Fingerspitzen berührten den glatten Revolverknauf. Er musste Zeit gewinnen. Über seine Lippen strömte es heiser: "Wieso deckt Big Jeremy einen Halsabschneider wie dich, Stevens? Und nicht nur Big Jeremy. Auch sein Sohn und Carol. Wie rechtfertigten sie der Mannschaft gegenüber die Anwesenheit eines steckbrieflich gesuchten Verbrechers?"
"Der Alte versprach meinem Vater – seinem Bruder also –, auf dem Sterbebett, sich meiner anzunehmen, wenn ich einmal in Not gerate." Wieder ertönte das rasselnde, hohntriefende Lachen des Banditen. Es ging Jack durch und durch. "Ich war schon immer das schwarze Schaf der Familie. Und als ich vor einem Jahr etwa hier ankam, um mich zu verkriechen, wussten sie hier auf der Ranch nur Bruchteile von dem, was ich wirklich auf dem Kerbholz hatte. Ich verstand es, Onkel Jeremys Mitleid zu erregen. Der Mannschaft gegenüber stellte er mich als seinen schwindsüchtigen Neffen vor, dem ein Arzt im Osten das trockenere Klima im Mittelwesten empfohlen hatte und der sich hier auskurieren wollte. Ich hielt mich von der Mannschaft und überhaupt von der Öffentlichkeit fern, und so kam niemand auf die Idee, über mich nachzudenken. Im Herbst dann entließ der Alte die Crew. Die neue Mannschaft, die er im Frühling einstellte, interessierte sich nicht für mich. Auch von ihr hielt ich mich fern. Für diese primitiven Kerle war ich ganz schlicht und einfach ein Mitglied der Familie."
"Wissen Sie jetzt Bescheid über das wahre Ausmaß deiner Verbrechen?", erkundigte sich Jack.
"Nein." Stevens lachte ein weiteres Mal. Es war ein ironisches, in gewisser Weise auch triumphierendes Lachen, das Jacks Blut zur Wallung brachte. "Für sie bin ich ein Dieb, ein Satteltramp, einer, der der andere um die Früchte ihrer Arbeit bringt und dem bestenfalls einige Jahre Zuchthaus drohen. Dass wir diese dreckige Indianersquaw..."
Jack explodierte geradezu. Seine Finger schlossen sich um den Coltkolben. Er riss das Eisen aus dem Holster, zugleich drosch er dem Pferd die Sporen in die Seiten. Rücksichtnahme konnte er sich in dieser Sekunde nicht leisten. Sie wäre tödlich gewesen. Mit einem Ruck stieg der Braune erschreckt wiehernd auf die Hinterhand. Seine Vorderhufe vollführten einen wilden Trommelwirbel durch die Luft. In sein fanfarenhaftes Gewieher hinein peitschte der Coltschuss. Im Gebüsch glühte es auf, ein grellgelbes Mündungslicht stieß auf Jack zu, wie ein Peitschenhieb strich die Kugel über seine Rippen. Jacks Colt spie eine armlange Mündungsflamme in das Gestrüpp, doch die Kugel traf nicht.
Das Pferd kam vorne wieder auf den Boden. Die Hufe krachten auf den harten Untergrund. Das Tier wollte ausbrechen, aber Jack presste ihm mit den Oberschenkeln die Luft aus den Lungen und zwang es auf die Stelle. Die Schüsse verschmolzen ineinander. Der Donner rollte auseinander und erfüllte die Nacht. Krachend flogen auf der Ranch Türen auf. Licht strömte in den Hof.
Und wieder brüllten die Colts auf. Jack ließ sich vom Pferd kippen, schlug hart auf, spürte einen schmerzhaften Stich in der linken Schulter und biss die Zähne zusammen, dass der Schmelz knirschte. Heisses Blei pfiff über seinen leeren Sattel hinweg. Zweige peitschten in den Büschen, Blattwerk raschelte. Es roch nach verbranntem Pulver. Unter hastigen Schritten zerbrach ein trockener Ast. Jack rollte herum. Aber von Seiten des Banditen fiel kein Schuss mehr. Entweder wechselte er die Stellung, oder er hatte es vorgezogen, zu fliehen.
Jack jagte noch zwei Schüsse in die Büsche. Blätter und Zweige wurden zerfetzt, Erdreich spritzte, wo sich die Projektile in den Boden bohrten. Wie von Furien gehetzt brach der Bandit durch die Büsche. Ständig wechselte er die Richtung. Erst, als die Schüsse verstummten, hielt er an. Hinter dem Stamm einer alten Pappel am Flussufer richtete er sich schweratmend auf. Er begann, seinen Colt nachzuladen. Geschrei erschallte, Schritte trampelten. Von dort, wo er Jack aufgelauert hatte, erklangen wenig später Stimmen.
Eine Woge des ungezügelten Hasses spülte durch das Bewusstsein des Banditen. Die Zeit, in der er sich auf der Ranch seines Onkels vor dem Gesetz verkriechen hatte können, war vorbei. Denn nun würde Shannon die ungeschminkte Wahrheit über ihn preisgeben, und für einen Frauenschänder und –mörder würde Big Jeremy trotz des Versprechens, das er seinem sterbenden Bruder gegeben hatte, kaum Verständnis aufbringen.
Er brauchte ein Pferd, musste sich bewaffnen und Proviant beschaffen, und vor allen Dingen benötigte er Geld.
Schleichende Schritte näherten sich ihm. Er schloss die Revolvertrommel. Geduckt lief der Bandit am Ufer entlang. Links von ihm waren die Gebäude der Ranch durch die Dunkelheit zu sehen. Er erreichte die Rückseite eines Schuppens und kauerte keuchend nieder. Und erneut vernahm er Stimmen. Sie näherten sich der Ranch, verstummten, ertönten auf's neue.
Carol erwartete die Männer auf der Veranda des Haupthauses und rief sorgenvoll: "Wer hat geschossen? Ist jemand verletzt?"
"Slim hat Shannon aufgelauert", gab Big Jeremy zurück, und seine Stimme kam über den Hof wie Donnergrollen. "Wir kommen ins Haus, Carol. Ich glaube, wir werden gleich ein paar Dinge über meinen Neffen hören, die dich und mich gleichermaßen entsetzen werden. Die wenigen Andeutungen, die ich soeben aus Shannons Mund vernahm, lassen den Schluss zu, dass wir einem personifizierten Teufel in unserem Haus Unterschlupf gewährten. Jetzt scheint sich der Hundesohn in Luft aufgelöst zu haben. – Wir brauchen Verbandszeug, Carol. Eine Kugel hat Shannon eine tiefe Furche über die Rippen gezogen."
Im Mondlicht, das in den Hof fiel, nahmen die Gestalten, die sich aus der Dunkelheit lösten, schnell Kontur an. Es waren Big Jeremy, Jack, der sein Pferd am Zügel führte, und die beiden Cowboys. Die Metallteile ihrer Waffen funkelten matt.
Slim Stevens hob die Faust mit dem Colt und zielte. Aber er zog den Stecher nicht durch, so sehr es ihm auch in den Fingern juckte. Er senkte die Revolverhand und wartete, bis die Tür des Haupthauses zuschlug. Einer der Cowboys zog sich in den Schlagschatten zwischen Pferdestall und Heuschober zurück. Der andere nahm Jacks Pferd am Zügel und führte es zu dem Corral, in dem sich nach den Schüssen beim Fluss ein gutes Dutzend Pferde nervös zusammendrängten.
Slim Stevens hüllte sich in Geduld.
Zwei Stunden verstrichen. Im Haupthaus verloschen die Lichter. Der andere Cowboy übernahm die Wache. Jener Mann, der bisher gewacht hatte, verschwand in der Mannschaftsunterkunft. Die Stunde des Banditen war angebrochen...
*
DAS KLAPPERN DES WINDRADES beim Brunnen übertönte das Knarren des Stiefelleders. Der knöcheltiefe Staub knirschte kaum wahrnehmbar unter den schleichenden Schritten. Der Cowboy patrouillierte mit seinem Gewehr im tiefen Schatten zwischen Pferdestall und Wohnhaus auf und ab. Er fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Denn dass der Bandit irgendwo in der Nähe steckte und wahrscheinlich zurückkam, um sich ein Pferd und einige andere überlebensnotwendige Dinge zu besorgen, dessen war man sich auf der Ranch bewusst. Der Mann war ein Bündel gespannter Aufmersamkeit. Immer wieder hielt er an, um zu lauschen. Seine überreizten Sinne gaukelten ihm Geräusche vor, die es nicht gab. Das Beklemmende, das in der Luft lag, glaubte er fast körperlich zu spüren...
Slim Stevens war ein in hundert Gefahren erprobter Bandit, gerissen, gefährlich und geschmeidig wie ein Raubtier. Die schwarzen, undurchdringlichen Schatten waren seine Verbündeten. Der Cowboy hörte nichts. Seine Instinkte nahmen die unmittelbare Gefahr nicht wahr. Und als sich ihm von hinten ein Arm um den Hals legte und sich im nächsten Moment scharfer Stahl zwischen seine Rippen bohrte, kam er nicht einmal dazu, überrascht zu sein. Der Tod war schneller. Der Cowboy sackte mit einem ersterbenden Seufzer haltlos in sich zusammen. Der Bandit fing ihn auf und schleppte ihn hinter den Stall. Er steckte das Messer in den Stiefelschaft und huschte davon. Das Stalltor knarrte verhalten, als er es gerade soweit aufzog, dass er seine hagere Gestalt durch den Spalt zwängen konnte. Vorsichtig schloss er das Tor wieder.
Im Stall konnte er nicht einmal die Hand vor den Augen sehen. Er tastete sich an den Boxen entlang. Als er sich tief genug im Innern befand, wagte er es, ein Streichholz anzuzünden. Schnell orientierte er sich. Er ließ das Hölzchen fallen. Im Finstern sattelte und zäumte er ein Pferd. Er führte es zum Ausgang, leinte es an einem der Tragebalken an, schlüpfte ins Freie und drückte hinter sich den Torflügel zu.
Kurze Zeit verharrte der Bandit, dann pirschte er zur Giebelseite des Haupthauses. Hinter dem Fenster im Obergeschoss lag sein Zimmer. Die armdicken Äste eines alten Apfelbaumes reichten bis dicht an die Hauswand heran. Stevens stieg gewandt auf den Baum. Das Fenster ließ sich ohne Mühe und lautlos hochschieben. Der Bandit schwang sich über die Fensterbank und stand im Zimmer. In ihm war eine fiebrige Unrast. Sie brachte seine Nerven zum Schwingen. Wieder riss er ein Streichholz an. Der vage Lichtschein huschte auseinander und erreichte einen Tisch und einen Stuhl. Und er fiel auf Jack, der halb verdeckt durch einen Kleiderschrank an der Wand lehnte und seinen Colt auf den Banditen gerichtet hatte.
Stevens stand starr wie ein Pfahl. Sein vom panischen Schrecken erfasster Verstand wirbelte. Von Jack ging eine absolut tödliche Verheißung aus. Auch Jack riss ein Streichholz an. Die Mündung seines Colts deutete dabei unverrückbar auf die Gestalt des Outlaws. Dieser verbrannte sich an seinem Schwefelhölzchen die Fingerkuppen und ließ es fallen. Die kleine Flamme verlosch. Aber Jack zündete bereits die Lampe an, die auf dem Tisch stand. Die Flamme rußte und flackerte, als er aber mit der Linken den Glaszylinder darüber stülpte, brannte der Docht ruhig. Das Lampenlicht umfloss ihre Gestalten und warf ihre Schatten groß und verzerrt gegen die Wände.
In Jacks Augen tanzten kalte Lichter, als er sagte: "Dein blutiger Trail hat ein Ende gefunden, Mörder. Heb die Hände und dreh dich um. Du hast verloren."
Der Bandit überwand seine Betroffenheit. Hart atmete er aus, dann stieß er mit vom Hass verdunkelter Stimme hervor: "Ich hätte dich vorhin ohne jede Warnung erschießen sollen, Shannon. Denn du bist gefährlicher als ein Puma."
"Nimm vorsichtig den Colt aus dem Futteral und wirf ihn aus dem Fenster. Morgen früh schaffe ich dich nach Gunnison zum Sheriff."
"In Colorado werde ich nicht gesucht", knurrte der Bandit.
"Man wird dich nach Wyoming ausliefern", konterte Jack. "Dort wartet schon voll Ungeduld der Henker auf dich. Und nun weg mit der Kanone!"
Jacks letzte Aufforderung kam scharf und ungeduldig.
Achselzuckend ergab sich Stevens in sein Schicksal. So sah es zumindest aus. Mit zwei Fingern fischte er seinen Sechsschüsser aus dem Futteral. Unter halb gesenkten Lidern hervor starrte er aus kalten Reptilienaugen auf Jack. Den Rücken hatte der Outlaw dem Fenster zugewandt. Er drehte sich so, dass er Jack die linke Seite zuwandte. Es ging alles blitzschnell. Jack konnte die Entwicklung nicht mehr verhindern. Eine derart selbstmörderische Kaltschnäuzigkeit hatte er auch gar nicht erwartet. Wie hineingezaubert lag der Colt plötzlich fest in der Rechten Slim Stevens'. Er wirbelte halb herum, seine Gestalt krümmte sich, er riss den abgewinkelten linken Arm hoch und schoss unter ihm hindurch auf Jack.
Jack reagierte einen Lidschlag zu langsam. Er spürte den fürchterlichen Schlag gegen die rechte Brustseite, drückte instinktiv ab, aber durch den Treffer war sein Oberkörper etwas zur Seite gependelt und seine Colthand aus der Richtung gekommen, so dass sein Geschoss nur in die Wand neben dem Fenster hieb. Jack fühlte den glühenden Schmerz, der wie ein heißer Wind durch sein Gehirn raste und kämpfte verzweifelt gegen die Ohnmacht an, die ihn zu umfangen drohte. Es war eine Schwäche, die tief aus seinem Innersten kam und der er letztendlich nichts entgegenzusetzen hatte.
Langsam, fast zeitlupenhaft langsam rutschte er an der Wand zu Boden. Er registrierte nicht mehr, dass sich der Bandit herumwarf und aus dem Fenster sprang. Eine schwarze Wolke schlug über Jack zusammen und trug ihn fort.
Rasender Hufschlag kam auf und entfernte sich schnell. Zwei Minuten verstrichen. Dann stürzten Carol und Big Jeremy in das Zimmer. Die Lampe in der linken Hand des Ranchers ergänzte das Licht, das die Laterne auf dem Tisch spendete. In der Rechten Big Jeremys lag ein Colt. In Carols Zügen spiegelten sich kaltes Grauen und blankes Entsetzen wider. Sie kniete bei Jack ab. Ihr Vater war zum Fenster gelaufen und starrte in die Finsternis hinaus. Vom Hof herauf erklang es erschüttert: "Guter Gott, da liegt Jesse. Er ist tot – erstochen!"
Lichtschein geisterte aus der Passage zwischen Haupthaus und Pferdestall.
"Shannon lebt", entrang es sich Carol mit brüchiger Stimme. "Aber er ist schwer angeschossen. Die Kugel steckt in seiner rechten Seite. Wir müssen ihn sofort zum Arzt nach Gunnison bringen."
Mit eckigen Bewegungen wandte sich der Rancher vom Fenster ab. "Dieser schmutzige Bastard", flüsterte er mit zuckenden Lippen. Er beugte sich über den Besinnungslosen. "Hast du es gehört, Carol, er hat auch Jesse ermordet. Ich hätte ihn mit einem Knüppel erschlagen sollen wie einen tollwütigen Hund, als er damals auf die Ranch kam."
Er sprach es mit dem Tonfall eines Mannes, in dem in dieser Stunde der Glaube an das Gute und Edle abgestorben war.
"Sich in Selbstvorwürfen zu ergehen ist sinnlos und bringt uns nicht weiter, Dad", drängte Carol. "Wir müssen Shannon so gut es geht versorgen. Indes soll Cash anspannen. Hilf mir, Shannon auf das Bett zu legen."
In den Rancher kam Leben...
Als der Morgen graute, war Jack operiert. Er lag in einem Bett in dem Krankenzimmer, das der Arzt von Gunnison in seinem Haus zur Verfügung stellte. Er hatte Glück im Unglück. Die Kugel war von vorne schräg in seine rechte Brust eingedrungen und an der Seite unter den Rippen stecken geblieben. Er war bei Bewusstsein. Carol war in der Stadt geblieben. Big Jeremy, sein Sohn und die Blue Mesa-Mannschaft waren sofort zur Ranch geritten. Der Sheriff hatte sie begleitet. Brad Stacy und die Crew hatten sich ihm für eine Posse zur Verfügung gestellt.
Als der Sheriff am Abend in die Stadt zurückkehrte, war Jack bei Besinnung. Carol saß an seinem Bett, als der Sheriff das Krankenzimmer betrat. Der Gesetzeshüter nahm den Hut ab und sagte mit angegriffener, staubheiserer Stimme: "Wir haben seine Fährte verloren. Der Bandit ist über alle Berge. Ich werde einen Bericht in die Hauptstadt schicken, und schon bald wird überall in Colorado sein Steckbrief aushängen. Dem Schuft wird der Boden ziemlich heiß werden unter den Füßen hier in Colorado. Er wird wohl den Staat verlassen. – Wie geht es Ihnen, Shannon?"
"Nicht so gut", knirschte Jack. "Denn ich bin wieder genauso weit wie vor fünfzehn Monaten, nachdem ich Naomi tot auffand und kreuz und quer durchs Land zog in der Hoffnung, irgendeinen Hinweis auf ihre Mörder zu finden. Als ich in Cheyenne die Spur aufnehmen konnte, war das nichts als eine riesige Portion Glück und purer Zufall. Und ein zweites Mal werden Glück und Zufall gewiss nicht Schicksal spielen."
Sein Gesicht wirkte bleich und eingefallen. Die Augen lagen tief in den Höhlen und glitzerten wie im Fieber. Schmerz und Blutverlust hatten unübersehbare Spuren in seinem Gesicht hinterlassen. In seiner Stimme lagen Resignation und Hoffnungslosigkeit. Fahrig zuckten seine Hände über die weiße Bettdecke.
Carol sagte: "Sie sollten sich jetzt nicht auf Ihre Rache konzentrieren, Jack. Im Moment gilt es für Sie, wieder gesund zu werden. Mein Cousin wird seiner gerechten Strafe nicht entgehen. Der Krug geht solange zum Brunnen, bis er bricht. Es ist ein altes Sprichwort, aber es bewahrheitet sich immer wieder. Jedem Banditen schlägt einmal die Stunde."
"Ich war schon so nahe dran", murmelte Jack lahm. "Jetzt aber..."
Er schloss die Augen. Die Enttäuschung schnürte ihm den Hals zu. Carol nahm seine Hände in die ihren. Er glaubte einen Augenblick lang, Naomis weiche Haut zu spüren. Es durchrieselte ihn heiß, doch dann wurde ihm bewusst, dass an seinem Bett nicht Naomi, sondern Carol saß. Sein Atem ging schneller.
*
ZWEI TAGE SPÄTER, ES war Abend, kam Slim 'Turkey' Stevens in Alamosa an. Alamosa war ein Nest in den westlichen Ausläufern der Sangre de Cristo Mountains. Einen Tagesritt weiter südlich begann New Mexiko.
Der Bandit verhielt sein Pferd bei einem kleinen, verwahrlosten Haus am östlichen Stadtausgang und saß ab. Aus einem der kleinen Fenster fiel Licht und malte ein gelbes Rechteck auf den Boden. Stevens pochte gegen die Tür, hart und fordernd. Drin rührte sich eine ganze Zeit nichts, dann erklang es rau: "Was ist? Wer ist draußen?"
"Mach auf, Sam, ich bin es, Slim."
Der Mann im Haus murmelte etwas, das wie eine Verwünschung klang. Fußbodenbretter knarrten, dann huschte trüber Lichtschein unter der Tür hindurch und stieß gegen Stevens' Stiefelspitzen, und schließlich war rostiges Knirschen zu hören, als ein Riegel aufgeschoben wurde. Die Tür schwang eine Hand breit auf. Vom Licht geblendet blinzelte Stevens.
Angefüllt mit unheilvollen Ahnungen stieß Sam Walker kehlig hervor: "Was treibt dich nach Alamosa, Slim. Wir wollten doch..."
Walker verstummte, als Stevens die Haustür aufdrückte und in den Flur kam. Er trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Stevens knurrte: "Erinnerst du dich an die Indianerin, im Januar vergangenen Jahres, als wir von Montana herunterkamen und in den Big Horn Bergen auf die kleine Ranch stießen?"
Walker schnitt ein Gesicht, als hätte er Essig getrunken. Wie unter einem inneren Zwang wandte er den Kopf und starrte mit unruhigem Ausdruck auf die Tür am Ende des kleinen Flurs. Er zischelte: "Ja, verdammt. Aber sprich hier nicht von ihr. Mona darf nichts davon..."
Stevens vollführte eine wegwerfende Handbewegung. "Vergiss Mona, Amigo", herrschte der Bandit seinen ehemaligen Kumpan an. "Jetzt, über ein Jahr danach, ist der Mann dieser dreckigen Squaw aufgekreuzt. Er hat mich auf der Ranch meines Onkels aufgestöbert, und ich konnte nur mit Mühe und Not entkommen. Dort wissen sie jetzt Bescheid über mich. Ich musste einen Mann töten, und nun bin ich wieder auf der Flucht. Zurück kann ich nicht mehr."
"Reitet er etwa auf deiner Fährte?", entfuhr es Walker bestürzt.
Stevens schüttelte den Kopf. "No. Ich habe Shannon niedergeschossen. Ich sah ihn fallen. Allerdings hatte ich nicht die Zeit, mich davon zu überzeugen, ob ich ihn auch gut genug getroffen habe. Ich habe also keine Ahnung, ob Shannon in der Hölle schmort. Sollte er aber noch leben, wird er die Suche nach uns fortsetzen. Und..."
Ein Schatten fiel aus der Tür am Ende des Korridors auf den Fußboden und gegen die Wand auf der anderen Seite. Die rauchige Stimme einer Frau erklang: "Wer ist gekommen, Sam?"
Die Frau erschien. Sie war nicht mehr die Jüngste. Ihre Haare waren blond gefärbt. Das Gesicht war bleich und teigig und verriet einen ungesunden Lebenswandel. Sie hatte sich Gesicht und Lippen geschminkt. Ihr roter Mund leuchtete wie eine blutende Wunde. Sie gehörte zur Sorte jener Frauen, die im Tingeltangel zu Hause waren, denen der Hauch des Verruchten anhaftete, die vorgealtert und verbraucht wirkten.
Als sie Slim Stevens sah, gefror das Lächeln, das ihren Mund umspielte. Ein herber Zug kerbte sich in ihre Mundwinkel. In ihre braunen Augen trat ein kalter Schimmer. Über ihre Lippen platzte es: "Wenn du auftauchst, dann bedeutet das nichts Gutes, Slim."
Rastlosigkeit prägte Sam Walkers Züge. Er knurrte unfreundlich: "Geh zurück ins Zimmer, Mona. Was Slim und ich zu besprechen haben geht dich nichts an."
So etwas wie Schwermut zeichnete sich in ihrer Miene ab, sie wirkte plötzlich ängstlich und bekümmert. Fast weinerlich gab sie zu verstehen: "Reite nicht wieder mit ihm fort, Sam. Er taugt nichts, und eines Tages gehst du mit ihm jämmerlich zu Grunde. Hier, bei mir, hast du es gut. Denk daran, wenn er..."
"Verschwinde!", fauchte Sam Walker jähzornig, den die Eröffnung seines Kumpanen, dass ein gnadenloser Jäger aufgetaucht war, wie schleichendes Gift durchrann.
Mona zuckte zusammen. Sekundenlang herrschte betretenes Schweigen. Die Lippen der Frau zuckten, schließlich würgte sie hervor: "Wenn du wieder mit ihm reitest, Sam, dann brauchst du nie wieder zurückzukehren. Dann ist meine Tür für dich für alle Zeiten verschlossen. Nie wieder – hörst du? Du musst dich jetzt zwischen ihm und mir entscheiden."
Sie schoss Slim Stevens einen vernichtenden Blick zu – einen Blick, in dem sich Abscheu, Widerwillen, Abneigung und tiefe Verachtung, vielleicht sogar so etwas wie Hass vermischten. Und dann machte sie kehrt und verschwand in dem Raum, aus dem sie gekommen war. Die Tür klappte hinter ihr ins Schloss.
"Tom Murphy hat er oben in Cheyenne erwischt", sagte Stevens zwischen den Zähnen und goß damit Öl in das Feuer der Unruhe und der Unentschlossenheit, das in Sam Walker loderte.
"Ist Murphy tot?", erkundigte sich Walker mit brüchiger Stimme. Die Geister der Vergangenheit griffen mit grausam kalten Händen nach ihm.
"Yeah. Er fuhr mit einer soliden Hanfkrawatte um den Hals zum Satan", versetzte Slim Stevens mit verbaler Brutalität.
Aus Walkers Zügen schien der letzte Blutstropfen zu weichen. Er schluckte trocken und krampfhaft. "Verdammt, Slim, wir können uns nicht in Sicherheit wiegen, solange wir nicht hundertprozentig davon ausgehen können, dass Shannon vor die Hunde gegangen ist. Wenn er einmal in der Lage war, unsere Spur aufzunehmen, dann wird es ihm auch ein zweites Mal gelingen."
"Sicher. Vor allem weiß er jetzt, wer hinter dem Mord an seiner Squaw steckt. – Wir müssen Webster und McLaughlin mobilisieren. Weißt du, so sich die beiden herumtreiben?"
Sam Walker nickte. "In Dodge City, Kansas."
"Worauf warten wir noch, Sam? Bis Dodge ist es ein höllisch weiter Weg."
*
ZWEI WOCHEN WAREN VERGANGEN, seit Jack um ein Haar der Kugel des Banditen zum Opfer gefallen wäre. Die Wunde war gut verheilt. Jack war wieder einigermaßen bei Kräften und fast wieder der alte. Seit einer Woche lebte er auf der Blue Mesa Ranch. Carol hatte sich während der ersten Woche, in der Jack im Haus des Arztes des Bett hüten musste, in der Stadt ein Zimmer gemietet und sich rührend um ihn gekümmert. Er und Carol waren sich in der kurzen Zeit sehr nahe gekommen. Jack empfand mehr für sie als er sich eigentlich eingestehen wollte. Sich in eine Frau zu verlieben empfand er als Verrat an Naomi. Aber er war ein Mann, und so sehr er sich auch bemühte, seine Gefühle für Carol zu verdrängen, es gelang ihm nicht.
Aber es durfte nicht sein!
Er hatte noch einen Schwur zu erfüllen. Solange Naomis Mörder lebten, durfte es für ihn keine andere Frau geben.
Jack beschloss, die Blue Mesa Ranch zu verlassen, um sich auf die Suche nach Slim Stevens zu machen. So sehr Carol ihn auch beschwor, zu bleiben, sich von der düsteren Vergangenheit zu lösen, seine Rache zu vergessen und ein neues Leben anzufangen – Jack blieb hart, wenn es ihn auch alle Überwindung kostete.
"Ich liebe dich", sagte Carol, "und du erwiderst meine Empfindungen. Wenn du auch versuchst, es zu verbergen - ich fühle es. Was ist, wenn du Slim erneut aufspürst und er dich tötet? Wäre das der Preis für deine Rachsucht, für die Erfüllung eines Versprechens, das du einer Toten gegeben hast? Wäre es das wert? Mein Gott, Jack, Naomi ist tot. Sie würde gewiss nicht wollen, dass du eines Schwurs wegen, der aus Verzweiflung und im blinden Hass abgelegt wurde, dein Leben wegwirfst. Auch wenn ihre Mörder eines Tages tot sein sollten: Naomi wird nicht wieder lebendig. Und was ist dann? An deinen Händen wird Blut kleben. Es wird dich bis ins Grab verfolgen, Jack. Auch wenn die Verbrecher den Tod verdient haben: Du bist nicht der Mann, den es kalt lässt, dass er ihr Leben auslöschte. Bleib auf der Blue Mesa Ranch, Jack, und komm mit dir selbst ins Reine. Und dann ..."
Jack nahm sie in die Arme. Sie verstummte. Beschwörend sah sie in sein hohlwangiges Gesicht. Der Duft ihres Haares stieg ihm in die Nase. Ihre Blicke versanken ineinander. Carol schwieg jetzt. Jack kniff voll Verbitterung einen kurzen Moment die Lippen zusammen, so dass sie nur noch einen dünnen Strich bildeten. Es sah aus, als musste er seine Antwort erst gedanklich in Worte kleiden, ehe er sie aussprach. Schließlich sagte er grollend: "Ich komme wieder, Carol. Ich verspreche es. Aber erst muss ich den Schwur, den ich an Naomis Grab abgelegt habe, erfüllen. Bitte, Carol, versuch es zu verstehen. Seit einem Jahr und fast vier Monaten gibt es für mich nur noch die Erinnerung an Naomi, den Hass auf ihre Mörder und den Gedanken an Vergeltung. Ich ging jeden Abend damit schlafen und wachte am Morgen damit wieder auf. Ich kann das nicht einfach abstreifen wie eine zweite Haut. Die Mörder müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Solange sie nicht für ihr schäbiges Verbrechen gebüßt haben, komme ich nicht zur Ruhe. Tag und Nacht würde es mich verfolgen. Eine Frau hätte wahrhaftig wenig Freude an mir, an einem Mann, der sich selbst nicht mehr gut ist."
Er spürte, wie sie in seinen Armen versteifte. "So sehr ich mich bemühe, Jack, ich kann es nicht verstehen." Entschieden, klar und präzise und mit kühler Sachlichkeit strömte es über Carols Lippen. Auf dem Grund ihrer smaragdgrünen Augen glaubte er so etwas wie Enttäuschung und Wehmut wahrzunehmen.
Aber Jack war nicht der Mann, der sich von dem einmal eingeschlagenen Weg abbringen ließ. Ja, er liebte Carol. Und das sagte er ihr auch: "Es stimmt, ich liebe dich, Carol. Und gerade weil das so ist, muss ich die Geister der Vergangenheit bannen, ehe ich dich frage, ob du mir in die Unwirtlichkeit der Big Horn Berge zu meiner Ranch folgen willst. Erst wenn ich weiß, dass Naomis Tod gesühnt ist, will ich den Blick nach vorne richten und an die Zukunft denken. Es darf kein Schatten auf unsere Beziehung fallen, wenn sie Bestand haben soll."
Verwirrt schaute sie ihn an. Er neigte seinen Kopf zu ihr hinunter, dann küsste er sie. Es war der erste Kuss, und er war für beide wie ein Verlöbnis. "Ja, Jack", hauchte sie, als sich ihre Lippen voneinander lösten, "ich folge dir in die Big Horn Berge. Nicht, um Naomis Platz einzunehmen, sondern um mir einen eigenen Platz dort oben zu schaffen."
Nach diesem Versprechen fanden sich ihre Lippen zu einem zweiten Kuss...
*
JACK WAR WIEDER AUF dem Trail. Er zog eine Zickzack-Fährte durch Colorado, kam bis nach New Mexiko, zog im westlichen Kansas wieder nach Norden und kam Anfang Juli nach Cheyenne. Die Union Pacific war längst weitergezogen. Auf ihrem Weg nach Westen waren neue Städte wie Laramie und Benton entstanden. Jack suchte Al Manypenny auf. Manypenny trug jetzt den Marshalstern. Die Stadtväter Cheyennes hatten ihn zum Nachfolger des ermordeten Kenneth Jones gewählt.
Von Manypenny erfuhr Jack, dass eine Eskorte aus Fort Collins den Banditen Tom Murphy nach Cheyenne überführte, und dass Murphy dem Richterspruch entsprechend gehängt wurde.
Jack zerriss Murphys Steckbrief. Er verließ Cheyenne wieder. Er lenkte das Pferd nach Süden. Müde Resignation begann ihn zu beschleichen. Denn er spürte, wie sehr er zwischen Gegenwart und Vergangenheit hin und her gerissen wurde. Mehr und mehr begann das Bild Naomis in seiner Erinnerung zu verblassen. Ein schmales, gebräuntes Gesicht, das von wallenden blonden Haaren eingerahmt und von einem smaragdgrünen Augenpaar beherrscht wurde, schob sich in den Vordergrund. Seine Hoffnungen, noch einmal die Spur der Mörder Naomis aufzunehmen, verflüchtigten sich mit jedem Tag mehr. Täglich nahm das Bewusstsein um seine Einsamkeit zu, und er begann, seine Sache für verloren zu halten.
Jack entschloss sich schweren Herzens, aufzugeben. In Lakewood machte er Station. Er schrieb einen Brief an Carol und trug ihn zum Postoffice. Und zwei Tage später brach er auf. Die Blue Mesa Ranch war sein Ziel. Und es war wohl eine Fügung des Schicksals, die ihn ausgerechnet jetzt diesen Entschluss fassen ließ ...
*
ES WAR HEISS. SENGENDE, lähmende Hitze lag über dem Land und verwandelte es in einen Glutofen. Die Luft schien zu kochen und zu vibrieren. Fünf Reiter zogen am Gunnison River entlang. Sie waren von Nordosten gekommen und am Fluss nach Westen eingeschwenkt. Ihre Pferde waren verschwitzt und verstaubt, zogen die Hufe müde über den Boden und ließen die Köpfe hängen. Die Sonne hatte das Gemisch aus Staub und Schweiß in den hageren Gesichtern der Reiter zu einer rötlichen Schmutzschicht erstarren lassen.
Die Kerle muteten heruntergekommen und abgerissen an. Ihre Augen waren entzündet. Feiner Staub, den der heiße Südwind mit sich brachte, knirschte zwischen ihren Zähnen und scheuerte unter ihrer Kleidung auf der Haut. Einer krächzte: "Wie weit noch, Slim? Ich kann schon nicht mehr sitzen. O verdammt, warum haben wir nicht die Stagecouch benutzt?"
Slim Stevens schoss ihm nur einen warnenden Blick zu. Seine Bande war – abgesehen von Tom Murphy -, wieder vollzählig. Murphys Platz hatte ein Freund von Graham McLaughlin eingenommen, ein Bursche mit rattenhafter Physiognomie und einer ganzen Reihe von Verbrechen auf dem Kerbholz. Seine Beweggründe waren ausgesprochen niedrig anzusetzen. Sein Name war Ben Saddler.
Webster hatten Stevens und Sam Walker in Dodge City aufgegabelt. McLaughlin hatte zwei Wochen vorher die wilde Stadt am Ende des Cattle Trails verlassen, und sie mussten bis nach Nebraska reiten, genau genommen nach North Platte, um Graham McLaughlin aufzustöbern. Ben Saddler, der Gefährte McLaughlins, schloss sich ihnen ohne zu zögern an.
Und jetzt waren sie auf dem Weg zur Blue Mesa Ranch.
Slim Stevens war voll Hass. Und dieser Hass galt nicht nur Jack Shannon, der ihn vor einigen Wochen zurück auf den schmalen und gefährlichen Pfad der Gesetzlosigkeit trieb. Der Hass schloss auch seinen Onkel, Big Jeremy Stacy, ein, und er richtete sich gegen Brad Stacy und gegen Carol. Sie hatten Shannon in ihrem Haus aufgenommen und ihn, Slim Stevens, gezwungen, wie ein Bettler und mit einem weiteren Mord auf dem Konto aus dem Landstrich zu fliehen. In Colorado hing sein Steckbrief zwischenzeitlich aus. Er war vogelfrei. Jeder, der ihn erkannte, durfte ihn ohne Vorwarnung erschießen. Und das gab seiner tödlichen Leidenschaft Nahrung.
Als die Sonne ihren höchsten Stand überschritten hatte, lag die Blue Mesa Ranch vor ihnen im Sonnenglast. Die Umrisse der Gebäude verschwammen in der flirrenden Luft. Das Leben auf der Ranch schien in der mörderischen Hitze erstarrt zu sein.
"Wir sind da", presste Slim Stevens hervor und fiel seinem Pferd in die Zügel. Die anderen folgten seinem Beispiel. Die Tiere traten nicht einmal auf der Stelle. Sie waren viel zu erschöpft und am Ende.
"Hoffentlich trifft deine Vermutung zu, dass der Großteil der Mannschaft mit einer Herde auf dem Weg nach Kansas ist, Slim", gab Sam Walker zu bedenken. "Andernfalls rennen wir womöglich gegen ein Dutzend oder mehr Gewehre an."
"Keine Sorge", versetzte Stevens kratzig und ließ seinen Blick zwischen engen Lidschlitzen hervor über die wie ausgestorben daliegenden Gebäude gleiten. "Reiten wir hin!", stieß er nach einiger Zeit des stummen Beobachtens hervor und trieb sein Pferd an. "Lasst aber eure Waffen stecken."
Sie setzten die teilnahmslosen Tiere in Gang. Die Hufe rissen kleine Staubfahnen in die glühende Luft. Das Pochen trieb vor ihnen her zwischen die Schuppen, Scheunen und Stallungen und erreichten das Gehör der wenigen Menschen, die die Ranch bevölkerten.
Big Jeremy verließ das Haupthaus und erwartete die Reiter auf dem Vorbau. Aus der Schmiede trat ein Mann mit rußgeschwärzten Händen, aus dem Pferdestall kamen zwei Männer mit nacktem Oberkörper. Einer von ihnen hielt eine Forke in den Fäusten. An einem der Fenster des Haupthauses zeigte sich Carol.
Ein verblüffter Ton entrang sich ihr, als sie ihren Cousin an der Spitze des Pulks erkannte. Und böse Ahnungen erwachten schlagartig in ihr. In den rumorenden Hufschlag hinein rief sie fast hysterisch:
"Das ist Slim, Dad! Mein Gott, und er bringt eine ganze Bande von Sattelstrolchen mit. – Ins Haus, Dad, schnell!"
Aber Big Jeremy stand da wie zu Stein erstarrt. Seine Hände umkrampften den Querbalken des Vorbaugeländers. Er hatte den Mund zusammengepresst, scharf traten seine Backenknochen hervor. Sein Gesicht hatte sich finster verschlossen.
Carol rannte zu einem Schrank, öffnete ihn und nahm ein Gewehr heraus. Sie prüfte die Ladung, lud durch und eilte zum Fenster zurück. Die beiden Helps beim Pferdestall waren verschwunden. Der Schmied zog sich gerade zurück. Das verwahrloste Rudel hatte beim Brunnen angehalten. Die Kerle rutschten von den Pferden. Und während seine Männer sich Staub und Schweiß aus den Gesichtern wuschen, stakste Slim Stevens langsam auf das Haupthaus zu. Ein schiefes, hämisches Grinsen zog seinen Mund in die Breite. Schweiß rann über seinen langen Hals und wurde vom Stoff seines Hemdes aufgesogen.
"Hallo, Onkel", grüßte er mit höhnischem Unterton und tippte mit dem Zeigefinger seiner Linken lässig gegen die Krempe seines Hutes, die sein Gesicht beschattete. Dann stemmte er beide Arme in die Seiten, er legte den Kopf etwas zurück und rief mit einer Stimme, die ebenso herausfordernd war wie seine ganze Haltung: "Dass ich noch einmal zurückkehre hast du dir wohl nicht träumen lassen, wie? Nun, ich bin da, und ich bin gekommen, um abzurechnen."
Carol zog das Gewehr an die Hüfte, der Lauf lag auf der Fensterbank und deutete auf den Banditen. Carols Zeigefinger krümmte sich um den Abzug. Das Mädchen rief eisig: "Du bist ein Frauenschänder und gemeiner Mörder, Slim! Als du vor etwa anderthalb Jahren hier ankamst, wussten wir zwar, dass du ein Taugenichts bist und vom Gesetz gejagt wirst, aber von deinen wirklichen Schandtaten hatten wir nicht den Hauch einer Ahnung. Jetzt wissen wir Bescheid. Für dich gibt es hier keinen Platz mehr. Also verschwinde samt deinem Anhang."
Der Bandit ließ ein zynisches Lachen vernehmen. "Leg das Gewehr weg, Carol!", befahl er dann mit schneidender Stimme. Seine Züge hatten sich erschreckend verändert. Sie waren Spiegelbild von Niedertracht und Gnadenlosigkeit, die sich in dem Outlaw vereinten. Seine stechenden Augen zeigten eine unheimliche Drohung. "Solltest du aber das Bedürfnis haben, abzudrücken, dann lass dir gesagt sein, dass dein Vater das Ergebnis deines Schusses nicht mehr erleben wird."
"Brad und die Mannschaft werden..."
Schroff fiel der Bandit ihr ins Wort: "Erzähl mir nichts, Cousinchen. Dein Bruder und drei Viertel der Crew sind mit einer Rinderherde auf dem Weg nach Kansas, wie jedes Jahr um diese Zeit. Und die Handvoll Cowpuncher, die nicht mit ihnen auf den Trail gegangen sind, sind irgendwo draußen auf der Weide und bewachen eure Rinder.
"Was willst du?" Abgehackt kam die Frage aus Big Jeremys Mund.
"Zunächst will ich wissen, ob dieser Shannon in der Hölle schmort. Ich habe ihn getroffen mit meiner Kugel, als er mir in der Nacht meiner Flucht hier im Haus auflauerte. Ich weiß nur nicht, ob ich ihn gut genug erwischt habe."
"Er ist – tot." Nicht ganz glatt kam die Lüge über Big Jeremys Lippen.
Es lag etwas in der Art, wie er es ausgesprochen hatte, vielleicht auch in seinem Zögern, das den Banditen misstrauisch reagieren ließ. Stevens dehnte drohend: "Lüg mich besser nicht an, Onkel. Ist er tot oder nicht?" Und als keine Antwort kam, sank seine Stimme herab und ein unheilvoller Unterton mischte sich in sie. "Ich finde es heraus. Wenn ich einen meiner Freunde nach Gunnison schicke, weiß ich heute Abend Bescheid. Und solltest du mich belogen haben, dann Gnade dir Gott."
Sein stechender Blick übte regelrechten Zwang auf Big Jeremy aus. Der Rancher schürzte die Lippen. "Was willst du sonst noch?"
"Du bist ein reicher Mann, Onkel. Ich bin ein Gejagter, ein Verfemter, auf dessen Kopf eine nicht unbeträchtliche Summe ausgesetzt ist, ein Mann, der nie sicher sein kann, ob er den Abend noch erlebt, solange in diesem Land jeder Dummkopf ohne Warnung auf mich schießen und sich das Kopfgeld verdienen darf."
"Du willst also Geld!"
"Nicht nur, Onkel." Der Bandit schob die Hände flach hinter seinen Patronengurt. "Du hast mich fallen lassen wie eine heiße Kartoffel, nachdem Shannon auftauchte und dir reinen Wein einschenkte. Ich habe geschworen, dir das heimzuzahlen. Ich bin nämlich höllisch nachtragend. Und wenn ich von hier wieder fortreite, dann wirst du nicht nur ein armer Mann, sondern auch ein gebrochener sein. Mein Wort drauf."
Der Bandit dehnte die Worte auf eine Art, die in ihrer Unmissverständlichkeit erschreckend war.
Die Angst griff mit knöcherner Klaue nach Carol. Und auch Big Jeremy spürte die eiserne Klammer der Furcht in sich. Es gelang ihm nur mit eiserner Disziplin, dagegen anzukämpfen.
Die anderen vier Sattelstrolche schlenderten näher. Sam Walker stieß hervor: "Er soll die Helps, die wir vorhin sahen, anweisen, unsere Gäule zu versorgen." Walkers Blick saugte sich an Carol fest, ein gieriges Glitzern erschien in seinen Augen, er leckte sich über die Lippen und sagte mit einer wilden Vorfreude im Unterton: "Du hast nicht übertrieben, Slim. Deine Cousine ist tatsächlich ein Weib, das das Herz eines jeden Mannes höherschlagen lässt. Ich denke, wir werden eine Menge Freude mit ihr haben."
"Ähnliche Freude wie mit Shannons Frau, ihr hundsgemeinen Schufte, wie?"
Big Jeremy machte aus seinem Herzen keine Mördergrube. Seine Zunge war schneller als sein Verstand. Ehe er die Anspielung auf den Mord in den Big Horn Bergen verhindern konnte, war sie schon aus seinem Mund.
Die Mienen der Banditen, die dabei gewesen waren, veränderten sich auf erschreckende Weise.
Unwillkürlich duckte sich der Rancher unter der Wucht des Begreifens, dass er einen folgenschweren Fehler begangen hatte.
Carol hielt die Luft an.
*
"DU HÄTTEST UNS NICHT daran erinnern sollen, Onkel", zischte Slim Stevens, und seine Miene verhieß nichts Gutes.
Die Kerle verströmten etwas Bedrohliches, Gefährliches – etwas Animalisches. Ihre Hände hingen in der Nähe der Revolverknäufe, die Bereitschaft zum Töten stand jedem von ihnen auf die Stirn geschrieben.
"Verschwindet!", fauchte Carol und stieß einen Schwall verbrauchte Atemluft aus. Sie ließ das Gewehr über die Reihe der Banditen pendeln.
Plötzlich hielt Slim Stevens den Colt in der Faust. Es war eine mit den Augen kaum wahrzunehmende Bewegung von Hand, Arm und Schulter. Die Mündung wies auf Big Jeremy. Der Daumen des Banditen lag quer über der Hammerplatte. Aufreizend langsam, fast bedächtig spannte er den Hahn. Es knackte trocken. "Selbst mit einer Kugel im Kopf finde ich noch die Zeit, abzudrücken, Cousinchen", versprach der Bandit ironisch und absolut unbeeindruckt. Und scharf fügte er hinzu: "Weg mit dem Gewehr jetzt! Ich habe es satt, vor deiner Mündung herumzutanzen. Ich kann auch anders - ganz anders."
Big Jeremy drehte den Kopf in die Richtung des Fensters, hinter dem Carol stand. Rau stieß er hervor: "Tu was er sagt, Carol. Dass sie sich nicht scheuen, auf Frauen loszugehen, haben sie bewiesen. Es ist sinnlos, etwas herauszufordern und gegen brutale Gewalt anschwimmen zu wollen. Nimm das Gewehr weg, Carol."
Carol zögerte. Schließlich ließ sie das Gewehr sinken. Sie lehnte es an die Wand. Heiß stieg es in ihr auf. Sie dachte an Naomi und an das Schicksal der Indianerin. Mutlosigkeit befiel sie. Und das war fast noch schlimmer als die Angst vor den Banditen. Dazu gesellte sich das bittere Gefühl von Verlorenheit.
Slim Stevens schnippte wie triumphierend mit Daumen und Mittelfinger, dann gab er Webster einen Wink und sagte halblaut über die Schulter: "Gordon, nimm ihr den Schießprügel weg."
Der Gerufene setzte sich in Bewegung.
Big Jeremys Organ grollte warnend: "Er soll seine schmutzigen Finger von Carol lassen, Slim. Andernfalls breche ich ihm eigenhändig das Rückgrat."
Der Rancher hatte die Worte regelrecht in Silben zerlegt. Sie waren Warnung und Drohung zugleich, aber angesichts des Kräfteverhältnisses wirkte das absurd. Big Jeremy nahm eine sprungbereite Haltung ein und hob die Hände, und es sah aus, als wartete er nur darauf, dass Webster in seine Nähe kam, um sich auf ihn zu stürzen und seine Warnung in die Tat umzusetzen. Seine Haltung war ebenso grotesk wie seine Drohung, und so stockte Gordon Webster nicht einmal im Schritt.
"Du scheinst noch immer nicht begriffen zu haben, Onkel", stieg es unheilvoll aus Slim Stevens Kehle. "Den Ton geben jetzt wir hier an. Deine Großmäuligkeit ist ja geradezu sprichwörtlich. Worauf beruht sie? Auf dümmlicher Arroganz, auf echtem Mut oder falschem Stolz, oder überspielst du damit nur die jämmerliche Angst, die dich zu zerfressen droht? Es wird Zeit, dass ich dich auf deine richtige Größe zurechtstutze. – Graham, Saddler, holt den alten, großmäuligen Narren vom Vorbau."
Mit einem Satz überwand in diesem Moment Gordon Webster die vier Stufen zur Veranda hinauf. Big Jeremy stand ihm im Weg. Der Rancher dachte nicht daran, zur Seite zu treten. Der Bandit war einen halben Kopf kleiner als er. Aber Big Jeremy war gut und gerne dreißig Jahre älter. Und der Bandit kannte keine Hemmungen. Er schickte seine Faust auf die Reise. Der Schlag kam ansatzlos und aus der Hüfte, und der Rancher reagierte nicht schnell genug. Er bekam Websters Schwinger mit voller Wucht in den Magen und krümmte sich erschreckt und voll Not aufbrüllend nach vorn. Das Knie Websters zuckte hoch, es klatschte grässlich, als es mitten in Big Jeremys Gesicht knallte. Der Rancher wurde wieder aufgerichtet. Blut rann aus seiner Nase und tropfte von seiner aufgeplatzten Unterlippe. Webster packte ihn mit beiden Händen an der Hemdbrust, wirbelte ihn herum und schleuderte ihn McLaughlin und dem rattengesichtigen Ben Saddler entgegen, die gerade unterhalb des Vorbaus ankamen.
Das Geländer zerbrach, der Rancher stürzte der Länge nach in den Staub, der unter seinem aufschlagenden Körper auseinander wallte, direkt vor die Füße McLaughlins und Ben Saddlers. McLaughlin stellte seinen linken Fuß zwischen Big Jeremys Schulterblätter und drückte ihn gegen den Boden.
"Ihr gemeinen Schufte!", schrie Carol entsetzt und verzweifelt und wollte nach dem Gewehr greifen, aber da war Webster schon beim Fenster, versetzte ihr einen derben Stoß und angelte sich das Gewehr. Er lachte böse.
"Es ist gut, Graham", zischte Stevens. McLaughlin nahm seinen Fuß von Big Jeremys Rücken und trat einen halben Schritt zurück. Big Jeremy drückte sich hoch und lag auf allen vieren. Slim Stevens, Sam Walker, Graham McLaughlin und Ben Saddler standen um ihn herum. Ohne jede Gemütsregung fixierten sie ihn. Das Menschliche in ihnen war längst abgestorben.
"Zum letzten Mal, Onkel", presste Stevens hervor, "hat meine Kugel Shannon getötet oder lebt er?"
Die Flamme des Widerstandes in Big Jeremy verlosch. Ein dumpfer Laut, ein Stöhnen, ein Aufbäumen gegen das Begreifen, dass er keine Chance hatte, entrang sich ihm. Er keuchte: "Shannon lebt, aber er ist längst fortgeritten. Er zieht kreuz und quer durchs Land auf der Suche nach dir. Heavens, Slim, ich gebe dir alles Geld, das ich besitze, wenn ihr uns in Ruhe lasst und weiterreitet. Es sind mehr als zehntausend Dollar. Verlass Colorado und gehe nach Mexiko. Mit dem Geld..."
Der Bandit versetzte ihm einen brutalen Tritt. "Das Geld kriege ich sowieso, Onkel. Wie ich schon sagte: Du hast eine Rechnung bei mir offen. – Hol mein Pferd her, Ben."
Webster war zwischenzeitlich durch das Fenster ins Haus gestiegen. Carol war bis an die Wand zurückgewichen. In ihr stritten sich die Gefühle. Zum einen regten sich Widerstandsgeist und Selbsterhaltungstrieb, zum anderen würgte sie die Angst, dass die Banditen auf jede noch so kleine Herausforderung mit teuflischer Brutalität reagieren würden. Und alles in ihr bäumte sich auf gegen den Gedanken, dass irgend jemand auf der Ranch ihretwegen Opfer des Jähzorns und der Unberechenbarkeit dieser gewissenlosen Schurken wurde.
"All right, Honey", sagte Webster mit einem niederträchtigen, anzüglichen Grinsen um den Mund. "Wenn sie jetzt deinem Dad das Fell über die Ohren ziehen, wirst du dich brav zurückhalten. Ich werde lieb und freundlich zu dir sein, solange du nicht verrückt spielst. Ich kann aber auch höllisch ungemütlich werden, wenn du nicht spurst."
"Was – habt – ihr vor mit Dad?", entrang es sich Carol, die Angst um ihren Vater schnürte ihr den Hals zu, ihre Stimme klang brüchig, ihre Worte fielen stoßweise.
Draußen pochten Hufe. Nichts mehr hielt Carol auf ihrem Platz an der Wand. Sie hastete zum Fenster. Webster trat hinter sie. Sein schlechter Atem streifte ihren Nacken. Slim Stevens schwang sich gerade aufs Pferd. Big Jeremy stand zwischen Walker und McLaughlin. Sie hielten seine Arme gepackt und hatten sie leicht auf den Rücken gedreht. Wirr hingen dem Sechzigjährigen die grauen Haare in die zerfurchte Stirn.
Slim Stevens nahm das Lasso vom Sattel. Er drängte das Pferd einige Schritte zurück. Spielerisch schüttelte er die Lassoschlinge aus, und im nächsten Moment warf er sie. Für die Spanne eines Herzschlages schien die Schlinge über Big Jeremys Kopf in der Luft zu stehen, dann fiel sie herab und als sie auf der Höhe seiner Oberarme war, zog sie der Bandit mit einem Ruck fest.
"Nein!" Carols Stimme überschlug sich. "Mein Gott, Slim, das..."
Stevens' Gesicht wies einen bösartigen, sadistischen Zug auf. Die triebhafte Mordgier in seinen glitzernden Augen traf Big Jeremy wie ein eisiger Guss. Es war, als berührte ihn eine eiskalte Hand zwischen den Schulterblättern. Die atemberaubende Angst kam kalt und stürmisch wie ein Blizzard. Mit müde hängenden Schultern und bleich bis in die Lippen stand er zwischen den Banditen, noch baumelte das Lasso schlaff von seinem Körper und lag zwischen ihm und dem Banditen im Staub. Der panikartige Aufschrei Carols erreichte nur den Rand seines Bewusstseins. Er war nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen.
Stevens schlang das Lassoende um den Sattelknauf, zerrte sein Pferd herum und feuerte es unvermittelt mit einem scharfen Zuruf und einem Schenkeldruck an. Das Tier streckte sich. Mit einem Ruck spannte sich das Lasso. Der Rancher wurde mit unwiderstehlicher Gewalt von den Beinen gerissen. Die Banditen ließen ihn los und sprangen zur Seite.
Big Jeremy wurde hinter dem Pferd hergeschleift. Die Arme wurden ihm gegen den Körper gepresst. Staub wallte, der Körper des Rancher hinterließ eine tiefe Spur. Carol schrie wie von Sinnen. Mit wehendem Rock rannte sie aus dem Zimmer, kam ins Freie, überquerte die Veranda und sprang in den Hof. Webster folgte ihr, konnte sie packen und hielt sie fest. Das Mädchen wand sich, schrie, warf sich hin und her, aber die Arme des Banditen waren wie Stahlklammern.
Der rauhe Untergrund zerfetzte die Kleidung Big Jeremys und schürfte seine Haut bis ins Fleisch auf. Ungerührt trieb Slim Stevens sein Pferd im Kreis herum. Der Rancher wimmerte. Er wurde herumgeschleudert wie ein Sack voll Lumpen, mal sah er über sich den blauen Himmel dahinhuschen, dann lag er mit dem Gesicht wieder im Staub, dann waren da wieder die Ranchgebäude, die an ihm vorbeizufliegen schienen. Sein Mund war voll Sand. Er bekam kaum noch Luft. Schmerzen spürte er schon bald nicht mehr. Er konnte keinen Gedanken mehr fassen. Da war nicht einmal mehr Todesangst. In ihm war nur noch eine fatale Gleichgültigkeit. Und dann versank alles um ihn herum.
Da donnerte ein Schuss. Der rattenhafte Ben Saddler erhielt einen Stoß, brach auf das linke Knie ein, presste seine rechte Hand gegen die Schulter und stöhnte. Im Tor der Schmiede stand der große Mann mit den rußverschmierten Händen. Aus der Mündung seiner Henrygun kräuselte ein feiner Rauchfaden. Er riegelte eine Patrone in den Lauf. Bei Walker und McLaughlin flirrten die Colts aus den Futteralen, die Eisen bäumten sich auf, als sie sich mit ohrenbetäubendem Wummern entluden.
Die Kugeln trieben den Mann gegen die Wand der Schmiede, nagelten ihn förmlich fest, und als schon längst kein Leben mehr in ihm war, brach er zusammen.
Er hatte es nicht mehr mit ansehen können, wie sie seinen Boss misshandelten und quälten, und nun war er tot. Er war für seine Treue gestorben.
Die Detonationen verhallten mit geisterhaftem Geflüster in der Weite der Prärie. Slim Stevens war seinem Pferd in die Zügel gefallen. Er knüpfte das Lasso vom Sattelhorn, ließ es einfach fallen, ritt zum Brunnen und saß ab. Seine Hand lag auf dem Coltknauf, als er zu Big Jeremys schlaffer Gestalt ging. Jetzt gelang es Carol, sich aus Webster Griff zu befreien. Sie rannte auf Stevens zu. Fluchend griff ihr Gordon Webster hinterher, aber seine Hände fuhren ins Leere.
Carol erreichte den Banditen und sprang ihn an. Nicht auf diesen Angriff vorbereitet ging Stevens zu Boden. Carol warf sich neben ihm auf die Knie und griff nach seinem Colt. Sie bekam ihn aus dem Holster, ehe sie ihn aber anschlagen konnte, war Sam Walker da. Er schlug ihr seinen Coltlauf quer über den Unterarm. Der Schmerz tobte bis unter ihre Hirnschale, der unerbittlich harte Schlag prellte ihr das Eisen aus der Hand. Und dann packte Walker das Mädchen an der Bluse und schleuderte es mit einem kraftvollen Ruck in den Staub. Der Stoff riss krachend und gab Carols Schulter frei. Carol kroch schluchzend zu ihrem Vater hin, der rasselnd atmete und dessen Atemzüge von Röcheln und Gurgeln begleitet waren.
Slim Stevens kam schnell hoch. Der leidenschaftliche Hass wühlte in seinem Geiergesicht, in seinen Augen glomm eine mörderische Besessenheit. Er hob seinen Colt auf, blies den Staub ab, fuchtelte wild mit dem Eisen herum und über seine Lippen quoll es: "Ich sollte euch alle erschießen! Bei Gott, das sollte ich." Aber er beruhigte sich schnell wieder. "Hat es Ben schlimm erwischt?", fragte er.
"Die Schulter", versetzte Webster. "Die Kugel ist steckengeblieben."
"Okay, bringt Ben ins Haus. Hoch mit dir, Cousinchen. Du verstehst dich auf Wundbehandlung. Verarzte meinen Freund. Du, Gordon, passt auf. Sie ist eine Wildkatze, und wir werden ihr die Krallen ziehen müssen. Graham, kümmere du dich um die beiden Helps, die sich im Pferdestall verkrochen haben. Nicht dass diese Narren auch noch anfangen, die Helden zu spielen. Sie sollen endlich unsere Pferde versorgen. - Sam, wir beide wollen uns ein wenig im Haus umsehen. Ich verwette meinen Kopf, dass der gute Onkel mehr Geld zu Hause hat als nur etwas über zehntausend Bucks."
Nichts schien den Strudel aus Gewalt und Terror aufzuhalten, in den die Handvoll Menschen auf der Blue Mesa Ranch hineingerissen worden waren. Ein Hauch von Tod und Verderben wehte über den Ranchhof.
Der Hass Slim Stevens' kannte keine Zugeständnisse und keine Versöhnung.
*
DIE BEIDEN HELPS MUSSTEN ein Grab für den Schmied ausheben. Graham McLaughlin stand mit dem Gewehr in den Händen dabei. Ihre Pferde waren versorgt. Sie hatten Ben Saddler und Big Jeremy ins Haupthaus getragen. Gordon Webster hatte rittlings auf einem Stuhl Platz genommen, seine Arme lagen auf der Stuhllehne, mit gierigem Ausdruck verfolgte er jede Bewegung Carols.
Carol hatte Saddlers Wunde gesäubert, mit Peroxyd desinfiziert und den Wundkanal mit einem Mullpfropfen zugestopft. Dann legte sie dem gequält stöhnenden Banditen einen weißen Verband an, und nun lag Saddler auf der Couch und hatte die Augen geschlossen. Das Mädchen kümmerte sich um Big Jeremy. Er lag auf dem Tisch. Carol hatte ihm ein Kissen unter den Kopf geschoben. Mit heißem Wasser wusch sie seine tiefen Schürfwunden aus. Der Rancher dämmerte auf der Schwelle der Besinnungslosigkeit dahin. Manchmal brach ein würgendes Gurgeln aus seiner Brust.
Auf dem Tisch stand eine Flasche Whisky. Gordon Webster hatte sie aufgespürt. Er hatte schon einige Male getrunken. Der Alkohol entfaltete zusammen mit der Erschöpfung nach einem langen und harten Ritt schnell seine Wirkung. Die Augen des Outlaws wurden wässrig und röteten sich.
Nun langte er wieder nach der Flasche. Kichernd setzte er sie sich an die Lippen, er legte den Kopf weit in den Nacken. Glucksend rann die scharfe Flüssigkeit aus der Flasche. Der Bandit schluckte, nahm die Flasche herunter, schmatzte abstoßend, wischte sich mit dem Handrücken seiner Linken über die Lippen und sagte mit alkoholschwerer Zunge: "Du bist eine verdammt hübsche Frau, Honey. Weißt du, wie lange ich schon darauf gewartet habe, einer Frau wie dir zu begegnen. Sicher, die Indianersquaw in den Big Horn Mountains war auch nicht ohne. Auch sie war eine Wildkatze, und sie wehrte sich wie eine Löwin. Gegen dich aber..."
"Sie sind widerlich!", entfuhr es Carol. Die Abscheu vor der Verworfenheit des Banditen drückte sich in jedem Zug ihres Gesichts aus.
Mit einem Ruck erhob sich Webster. Er kam auf Carol zu. Sie nahm Front zu ihm ein. Feixend hielt er einen Schritt vor ihr an. "Ja", stieß er heiser hervor, "du bist gewiss zwei Klassen besser als die Rothaut. Ich werde dir nun..."
Krachend flog die Tür auf. Slim Stevens erschien. Er hielt ein Blatt Papier in der Hand. Mit einem Blick erfasste er die Situation. Sein Mund verkniff sich. Er zischte: "Lass die Finger von ihr, Webster! Noch habe ich keinem von euch Kerlen freie Hand gegeben." Er packte den angetrunkenen Burschen an der Schulter und zog ihn von Carol weg. Und ehe Webster bösartig reagieren konnte, gab er zu verstehen: "Du kriegst schon noch, was du willst, Amigo. Du kommst noch zu deinem Vergnügen. Vorher aber..."
Er brach ab und trat vor Carol hin. Er hielt das Blatt Papier hoch und sagte: "Ein Brief von Shannon. Ich habe ihn in der Kommode in deinem Zimmer gefunden. Er hat ihn vor zehn Tagen in Lakewood abgesandt und kündigt damit seine Rückkehr an. Du und er – ihr seid wohl ein Paar geworden in der Zeit, in der er auf der Blue Mesa Ranch weilte, um seine Wunden zu lecken, wie?"
Zwingend fixierte er sie.
"Ja", bestätigte Carol und fügte hinzu: "Und er wird euch für das, was ihr an ihm, an Naomi und an uns verbrochen habt, zur Rechenschaft ziehen."
Slim Stevens knüllte den Brief zusammen und ließ das Papierknäuel achtlos zu Boden fallen. Er presste mit zusammengebissenen Zähnen hervor: "Wenn er kommt, stirbt er. Wir warten auf der Ranch auf diesen Narren. Er wird tot sein, ehe er zum Denken kommt. Wenn er tot vor mir liegt, wenn ich auf seinen Kadaver gespuckt habe, überlasse ich dich meinen Männern, Cousine. Und du wirst dir wünschen, so tot zu sein wie Naomi und dein geliebter Jack."
Carol spürte, wie von ihrem Magen aus Übelkeit in ihr hochkroch. Das Herz drohte ihr in der Brust zu zerspringen. Tonfall und Gesichtsausdruck des Banditen ließen keinen Zweifel an der Ernsthaftigkeit seiner niederträchtigen Prophezeiung aufkommen. Ein Taumel erfasste Carol. Es war, als würde ihr jemand den Fußboden unter den Füßen wegziehen. Und als das Schwindelgefühl wich, war Stevens schon wieder bei der Tür. Sie presste die Hand auf den Halsansatz und erbebte beim Gedanken daran, dass Jack ahnungslos in den Ranchhof und vor die Waffen der Banditen reiten würde.
Und während sie tief in Mutlosigkeit und Verzweiflung zu versinken drohte, knurrte hinter dem Heuschober Graham McLaughlin: "Das ist tief genug. Legt ihn hinein und häuft Erde über ihn."
Da ertönte es hinter seinem Rücken: "Sie werden dich hineinlegen, Schuft, und Erde über dich häufen. Der Mann aber, den ihr ermordet habt, wird ein richtiges Begräbnis erhalten."
McLaughlins Gestalt hatte sich regelrecht zusammengezogen. Er federte herum, der Gewehrkolben flog an seine Hüfte. Dicht an der Scheunenwand, direkt an der Ecke, stand im Schatten Jack Shannon. In seiner Rechten lag ein schweres Messer. Er hatte den Arm zum Wurf erhoben. Und jetzt schleuderte er den Dolch. Blitzend wirbelte er durch die Luft. McLaughlin war total perplex und zu keiner Reaktion fähig. Und als er begriff, war es für ihn zu spät. Mit einem dumpfen Schlag bohrte sich die breite Klinge bis zum Heft in seine Brust. Seine Hände öffneten sich, das Gewehr fiel zu Boden. McLaughlin wankte zwei – drei Schritte rückwärts, seine Hände umklammerten den Messergriff, der aus seiner Brust ragte. Glühender Schmerz entstellte sein Gesicht. Sein Mund klaffte auf, seine Lippen formten tonlose Worte, er stolperte über den Haufen Erde, den die Helps angehäuft hatten, drehte sich halb um seine Achse, kippte über seine Absätze nach hinten und fiel. Sein Oberkörper hing in das Grab, das für den Schmied der Blue Mesa Ranch ausgehoben worden war. Seine Hände lösten sich vom Messergriff, die Arme rutschten auseinander. Ein letztes unkontrolliertes Zucken durchlief die Gestalt, dann lag sie reglos.
Jack kam langsam näher. In seiner Faust lag jetzt der Colt. "Steht nicht herum wie die Ölgötzen!" Die beiden Helps zuckten zusammen, als hätte er sie mit einem glühenden Eisen berührt. Jack holte sein Messer, wischte das Blut im Gras ab und verstaute es im Stiefelschaft. Er hatte den Banditen nicht mit einem Schuss getötet, denn die Detonation hätte die Schufte in den Gebäuden augenblicklich in Alarm versetzt. Und in ihrer Gewalt befanden sich Carol und Big Jeremy. Sie wollte Jack auf keinen Fall über die Gebühr gefährden. "Nehmt seine Waffen und helft mir, die Bande auszuschalten."
Der Bann brach. Einer der Helps holte sich McLaughlins Gewehr, der andere seinen Colt. Jack war bei dem toten Banditen. Er hielt seinen Steckbrief in der Hand. Jetzt riss er ihn in zwei Teile. Die beiden Papierfetzen schwebten nieder und landeten neben dem leblosen Outlaw am Boden. Ein sachter Windstoß wirbelte sie wieder hoch und trieb sie vor sich her zwischen Scheune und Stall.
"Postiert euch so, dass ihr auf sie schießen könnt, wenn sie das Haupthaus verlassen", befahl Jack den beiden Helps. Dann huschte er davon, und ein Schuppen entzog ihn schon im nächsten Moment ihren Blicken.
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JACK BEFAND SICH AN der Giebelseite des Haupthauses. Er spähte hinüber zu der Scheune, hinter der die Helps ein frisches Grab ausgehoben hatten. Von den Ranchhelfern war nichts zu sehen. Jack ließ seinen Blick wandern. Es sah aus, als hätten die beiden sich in Luft aufgelöst.
Aus dem hochgeschobenen Fenster der Wohnstube wehte der Klang von Stimmen. Dazwischen konnte Jack Röcheln, Stöhnen und Ächzen vernehmen. Er schob sich um die Ecke, arbeitete sich bis an die Kante der Veranda heran und vernahm Slim Stevens Organ: "...du wirst dir wünschen, so tot zu sein wie Naomi und dein geliebter Jack."
Die Bilder der Vergangenheit drängten mit Macht und fotographischer Schärfe in Jacks Bewusstsein - Bilder, die seinem Hass neue Nahrung gaben. Zwischen engen Lidschlitzen spiegelten sich Hass, Mitleidlosigkeit und Entschlossenheit ...
Eine Tür fiel ins Schloss. Jack kletterte unter dem Geländer hindurch auf den Vorbau. Unter dem Fenster kam er hoch. In seiner rechten Hand hielt er wieder das Messer. Seine Gestalt verdunkelte die Öffnung. Von Carols Lippen löste sich ein verblüffter Laut. Gordon Webster, der auf die Tür starrte, die sich hinter Stevens geschlossen hatte, nahm trotz seines angetrunkenen Zustandes die Veränderung der Lichtverhältnisse im Raum wahr, er dachte aber nicht an eine unmittelbare, tödliche Gefahr, als er den Kopf wandte, um nachzusehen, wer am Fenster stand.
Vor allen Dingen erkannte er den Mann nicht, dessen Oberkörper die Fensteröffnung ausfüllte. Zum einen lag sein Gesicht im Schatten, zum anderen hatte der Bandit Jack vorher niemals gesehen. Und sein vom Alkohol umnebelter Verstand arbeitete nur träge.
"He, was..."
Etwas raste schattenhaft lautlos auf ihn zu, traf ihn mit einem harten Schlag und löste explosionsartig eine Welle des Schmerzes in seiner Brust aus. Sein Oberkörper schien in einem Flammensturm zu zerplatzen, und es kostete ihm ungeheure Anstrengung, auf den Beinen zu bleiben. Die Todesangst wehte wie ein heißer Wind durch seinen Verstand. Und dann riss sein Denken. Er sank sterbend zusammen und streckte sich auf den Fußbodendielen.
Ben Saddler, der alles alptraumhaft und am Rande der Besinnungslosigkeit treibend erlebt hatte, wollte sich aufrichten. Schnell kletterte Jack durch das Fenster in die Wohnstube. Schreck und Überraschung verschlossen Carols Mund. Sie starrte Jack an wie eine übernatürliche Erscheinung. Ihr Verstand hatte die Tatsache, dass er da war, noch nicht verarbeitet. Es überstieg im Moment noch ihr Begriffsvermögen. Aus weitgeöffneten Augen, in denen sich Verwirrung und Fassungslosigkeit vermischten, verfolgte sie jede seiner Bewegungen.
Jack glitt zu Ben Saddler hin. Wie einen riesigen Schatten sah ihn der Bandit vor sich auftauchen. Dieses spitze Gesicht mit den tiefliegenden Augen und vorstehenden Zähnen kannte Jack nicht. Saddlers Mund öffnete sich zu einem Schrei. Sein Unterbewusstsein sagte dem Outlaw, dass er seine Kumpane warnen musste. Aber der Schrei erstarb im Ansatz. Jack traf mit dem Coltlauf den Kopf des Burschen. Er fiel zurück. Die Sinne schwanden ihm.
Carol gelang es, ihre Fassungslosigkeit abzuschütteln. "Dich schickt der Himmel, Jack!", brach es aus ihr heraus. "Mein Gott, der Lump hat Dad halb tot geschleift. Smithy haben sie kaltblütig erschossen. Es sind noch drei..."
"Zwei, Darling", verbesserte Jack. "Hinter der Scheune liegt McLaughlin. Es gibt nur noch Slim Stevens und Sam Walker. Und diese beiden hole ich mir innerhalb der nächsten zehn Minuten."
Er trat auf sie zu. Sie kam ihm einen Schritt entgegen. Und plötzlich lag sie in seinen Armen. "O Jack", murmelte sie, und ihre Stimme war schwach wie ein Windhauch. "Es – es ist alles so furchtbar, so schrecklich. Was haben wir nur verbrochen, weil uns der Himmel derart hart bestraft?"
"Nichts, Darling, ihr habt nichts verbrochen. Und es ist auch nicht der Himmel, der euch straft. Es ist Menschenwerk. Das Werk einer Bande gewissenloser Verbrecher. Aber glaube mir, Carol, es wird wieder alles gut werden. Einige Dinge können leider nicht mehr ungeschehen gemacht werden."
Sie drängte sich eng an ihn. Vom Tisch her stammelte Big Jeremy: "Jack, sind Sie das?" Tonlos brachen die Silben aus seiner pulvertrockenen Kehle. Die Worte waren fast nicht zu verstehen. Es war mehr ein unzusammenhängendes Gestammel.
Sanft befreite sich Jack von Carol. Er trat neben den geschundenen, aus unzähligen Wunden blutenden Mann hin, und er spürte bei seinem erbarmungswürdigen Anblick, wie eine Welle des Hasses und der Leidenschaft gegen seinen Verstand anbrandete. Entschlossene Härte legte sich wie eine Maske über sein Gesicht.
"Ja, Big Jeremy, ich bin zurückgekehrt, und wie mir scheint, kam ich gerade noch rechtzeitig. Es tut mir leid, dass ich Ihnen derart viel Verdruss ins Haus brachte, dass ich sozusagen der Auslöser für Gewalt und Tod war, die auf der Blue Mesa Ranch Einzug gehalten haben. Aber..."
Der Rancher winkte mit einer lahmen Handbewegung ab. "Töte diese wilden Tiere, Junge", keuchte er, und das Sprechen strengte ihn an. "Sie haben ihr Leben verwirkt. Der Tod ist für sie die gerechte Strafe."
Sein Kopf fiel zur Seite. In seinen Mundwinkeln zuckte es. Sein Atem rasselte.
"Sicher gibt es hier im Raum eine Waffe, Carol. Bewaffne dich, mach das Fenster zu und schließ hinter mir die Tür. Rühr dich nicht aus dem Zimmer. Was auch immer geschieht. Und schieße auf jeden, der versucht, mit Gewalt einzudringen."
"Großer Gott, Jack, versprich mir, dass du..."
Voll Entschiedenheit zog er seinen Colt. Sie verstummte erschreckt. Es waren noch zwei Banditen. Er musste nicht mehr lautlos töten, um ihre Übermacht zu dezimieren.
Jack stand in der Düsternis des Hausflurs. Oben hörte er Rumoren. Dazwischen erklang eine Stimme. Vor Jack schwang sich die Treppe hinauf zum Obergeschoss. Vorsichtig setzte er seinen Fuß auf die unterste Stufe. Das Holz knarrte leise unter seinem Gewicht. Stufe um Stufe schob er sich nach oben. Und dann stand er im Korridor des oberen Stockwerkes. Die Geräusche sickerten aus dem Schlafzimmer des Ranchers. Etwas klirrte. Jack hörte Slim Stevens sagen: "Ich schätze, wir haben das Haus bis in den letzten Winkel durchsucht. Der alte Dummkopf hatte tatsächlich nur etwas mehr als zehntausend Bucks auf der Ranch. Aber er hat Geld auf der Bank. Ich weiß das. Er ist steinreich. Tja, wer werden ihm wohl noch einmal ein wenig Dampf machen müssen. Schließlich haben wir Carol. Sie wird das beste Druckmittel sein, um den Alten weichzuklopfen. Er würde wahrscheinlich alle Besitztümer der Welt aufgeben, um seine Tochter vor Leid zu bewahren."
Ein widerliches Lachen voll Spott und Siegessicherheit erklang.
Wie ein Fels in der Brandung stand Jack am Ende des Flurs. Seine Miene war ausdruckslos, wie versteinert, er war kalt wie ein Eisblock.
Sam Walker verließ das Zimmer. Er sah die Gestalt, konnte aber infolge der Düsternis im Flur keine Einzelheiten erkennen, und tippte im ersten Moment darauf, dass McLaughlin einen der Helps mit einer Botschaft ins Haus geschickt hatte. Dennoch blieb er abrupt stehen. Slim Stevens, der ihm auf dem Fuße folgte, prallte gegen ihn. Der Anprall stieß Walker einen Schritt nach vorn. Und jetzt sah er den Colt in der Faust des anderen.
Ein Fluch entfuhr ihm, seine Rechte stieß wie der Kopf einer Klapperschlange zum Knauf des Sechsschüssers.
Slim Stevens begriff nicht sogleich. "Was..."
Der Rest ging im Donnern eines Schusses unter. Das Mündungsfeuer warf huschende Reflexe gegen die Wände. Walkers Colt polterte auf die Dielen. Walker fiel gegen die Wand. Die Detonation schien an den Wänden zu beiden Seiten zu rütteln und sich unter der Decke zu stauen.
Wieder feuerte Jack. Aber Slim Stevens war schon in den Raum zurückgesprungen. Krachend flog die Tür zu. Der Schlüssel knirschte im Schloss. Jack war mit drei kraftvollen Sätzen bei der Tür und jagte eine Kugel durch das Türblatt. Von drin aber antwortete der Bandit nur mit einem teuflischen Kichern.
"Die kriegst mich nicht, Shannon!", tönte es, und die Tatsache, dass Stevens Organ hysterisch schrill klang, verriet Jack, dass den Banditen sein unvermutetes Auftauchen ziemlich aus der Fassung gebracht hatte.
Holz knirschte. Jack konnte das Geräusch deuten. So klang es, wenn ein Fenster hochgeschoben wurde, dessen Holzrahmen im Laufe der Jahre von der Witterung verzogen war und der deshalb in der Führung nicht mehr glatt lief.
Jack begab sich leise zurück zur Treppe und stieg sie hinunter, erreichte die Haustür und öffnete sie einen Spalt.
Da peitschten Schüsse über den Ranchhof. Jack äugte hinüber zum Pferdestall und zur Scheune, wo die Waffen aufgebrüllt hatten, und er konnte in den Schatten die beiden Helps ausmachen. Es knirschte und klirrte, als sich ihre Kugeln in die Hauswand bohrten beziehungsweise das Fenster im Obergeschoss zerschlugen.
Ein erschreckter Aufschrei erklang, dem eine Verwünschung folgte, und dann krachte es oben, als die Tür aufflog, und schließlich waren tapsende Tritte zu vernehmen, die sich der Treppe näherten.
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DIE KUGELN DER HELPS hatten Stevens gehindert, aus dem Fenster in den Hof zu springen. Er zog sich schnell zurück, öffnete die Tür und warf sie auf. Er befand sich im Schutz der Wand daneben und wartete darauf, dass er mit heißem Blei eingedeckt wurde.
Als nichts geschah, spähte er vorsichtig hinaus auf den Flur. Die Luft hier oben schien rein zu sein. Er wagte es, das Zimmer zu verlassen. Seine Ahnung, dass er von seinen Kumpanen keine Hilfe mehr zu erwarten hatte, war inzwischen zur Sicherheit geworden. Er war auf sich allein gestellt, ein in die Enge getriebener Wolf, der wild um sich biss.
Als er die Treppe erreichte, verhielt er im Schutz der Wand und rief nach unten: "Zeig dich, Shannon. Ich weiß, dass du irgendwo unten im Flur steckst und nur darauf wartest, dass ich hinunter komme. Einer von uns beiden ist zuviel auf dieser Welt. Darum zeig dich, damit wir es hinter uns bringen können."
"Sicher, Stevens, wir bringen es hinter uns." Jack stand unten in einer Türnische. Er hielt die Faust mit dem Colt nach oben, der Lauf wies nur eine Hand breit vor seinem Gesicht hinauf zur Decke. "Denn dich zu bewegen, aufzugeben, dürfte wohl Zeitverschwendung sein. Ihr hättet damals einen weiten Bogen um meine Ranch machen sollen. Fang an zu beten, Bandit."
"Sei dir nur nicht so sicher, Shannon."
Langsam stieg Stevens nach unten. Er vertraute darauf, dass Jack trotz seines Hasses fair blieb. Auf jeder Stufe verharrte Stevens einen Lidschlag lang. Er ließ den Arm mit der Colthand locker nach unten hängen. Nichts verriet die zittrige Anspannung, die an seinen Nerven zerrte.
Dann hatte er die halbe Treppe überwunden.
Unten zeigte sich Jack. Er stand plötzlich am Fuß der Stiege, war aufgetaucht wie aus dem Nichts, die Blicke der beiden Männer kreuzten sich wie Degenklingen, und dann schlugen sie die Colts aufeinander an.
Der Krach drohte das Haus in seinen Fundamenten zu erschüttern. Pulverdampf hüllte die beiden Männer ein. Fahrig griff Stevens mit der Linken nach dem Geländer, als suchte er Halt. Er wankte, machte einen Schritt nach unten, wollte noch einmal abdrücken, aber da stieß ihm aus Jacks Colt eine zweite Feuerlohe entgegen, und diese Kugel fällte den Banditen. Er stürzte die Treppe hinunter, überschlug sich zweimal, und blieb unten verkrümmt liegen. Seine Augen brachen.
Jacks Rache war erfüllt.
Aber er spürte keinen Triumph. Nicht einmal Genugtuung wollte aufkommen. Ein bitteres Kapitel in seinem Leben war abgeschlossen. Der Vorhang war gefallen. Die Tragödie, die vor vielen Monaten in den Big Horn Mountains in Wyoming ihren Anfang nahm, hatte ein blutiges Ende gefunden.
Als Carol aus der Tür trat, als Jack die Welle von Gemütsbewegungen wahrnahm, die ihr bleiches Gesicht überlief, da ließ er seinen Colt einfach fallen, stieg über den toten Banditen hinweg und nahm sie in die Arme. Und es bedurfte keiner Worte, um ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Sie hielten sich einfach nur fest. Und das war wie ein Versprechen für die Ewigkeit.
Ende