Читать книгу Außer Gefecht gesetzt - Peter Beuthner - Страница 3
Dienstag
ОглавлениеPlötzlich lag er da, regungslos. Leute eilten herbei – manche aus Besorgnis um den Gestürzten, andere aus reiner Neugier. Schnell stand eine Menschenansammlung um den auf dem Bauch liegenden Mann im Kreis herum.
„Was ist passiert?“ „Was hat er denn?“ „Ist er tot?“ Fragen, die keiner beantworten konnte. Zwei Männer knieten zu ihm nieder, drehten ihn in die Rückenlage, prüften seinen Puls, spürten sein Atmen, klatschten ihm auf seine linke und rechte Wange, aber der Liegende zeigte keinerlei Regung. Sein Gesicht war blutverschmiert, die Augen geöffnet, der Blick starr.
„Ruft doch endlich mal jemand einen Krankenwagen“, erregte sich eine Frau in der Menge laut und fordernd. „Ja, ruft einen Arzt, schnell“, stimmte eine andere Frau ein. Mehrere der Umstehenden zogen ihr Handy heraus und telefonierten, andere fotografierten den Liegenden und wieder andere machten gleich ein Video von der ganzen Szenerie.
Zehn Minuten mochten bereits vergangen sein, die Menge der Schaulustigen war inzwischen deutlich angewachsen. Jetzt überwogen offenbar die Neugierigen, die Gaffer, die von jeder Menschenansammlung magisch angezogen werden. Mit Ellenbogeneinsatz drängelten sich mehrere durch die dichter gewordenen Reihen, um das Objekt der Begierde endlich zu Gesicht zu bekommen.
Plötzlich hörte man Martinshörner und sah auch schon das Blaulicht. Ein Notarzt- und ein Krankenwagen kamen angebraust. Die Sanitäter sprangen aus dem Wagen und versuchten eine Gasse durch die Menschenmenge aufzumachen, der Arzt folgte. Er beugte sich runter zu dem Liegenden, prüfte Puls und Atem, dann leuchtete er mit einer Taschenlampe in die weit geöffneten Augen. Keine Reaktion. Der Puls war äußerst schwach. Aber immerhin, der Mann lebte noch.
„Der muss sofort ins Krankenhaus, Notaufnahme“, sagte er zu den Sanitätern. Diese hoben ihn auf eine Trage und bugsierten sie in den Krankenwagen.
„Kennt jemand von Ihnen diesen Mann?“ fragte der Arzt noch die Umstehenden. Doch er sah nur allgemeines Kopfschütteln. Dann fuhren sie in großer Eile mit Blaulicht und Horn davon.
In der Notaufnahme herrschte gerade reger Betrieb. Zwei Patienten, die sich bei einem Verkehrsunfall verletzt hatten, warteten bereits im Vorraum auf ärztliche Behandlung, und der diensthabende Oberarzt war im OP mit einem anderen Notfall beschäftigt. Ein junger, noch nicht sehr erfahrener Assistenzarzt, Doktor Lambrecht, wollte sich soeben den beiden Unfallopfern zuwenden, als der neue Patient eingeliefert wurde, von dem man bisher lediglich wusste, dass er auf der Straße zusammengebrochen und seitdem bewusstlos war. Deshalb musste dieser Fall selbstverständlich vorrangig behandelt werden.
Zwei Schwestern kümmerten sich bereits um ihn, halfen den Sanitätern beim Umbetten des Patienten und schoben das Bett in eine der Notaufnahmekabinen. Dort entkleideten sie ihn, zogen ihm ein Krankenhaushemd über und legten ihm eine Decke über Unterleib und Beine. Schwester Anne legte ihm die Blutdruckmessmanschette und die Kontakte für die Elektrokardiographie an, während die andere Schwester ihm ein Pulsoximeter zur Messung und Überwachung der Sauerstoffsättigung und des Pulses auf den Finger steckte, als Dr. Lambrecht eintrat.
Dr. Lambrecht schaute sich als erstes die Messwerte auf dem Monitor an, bevor er sich dem Patienten zuwendete. „Oh, das ist ja eine ziemlich große Platzwunde an der Stirn“, bemerkte er, während er der Schwester Anne dabei zusah, wie sie dem Patienten das Blut aus dem Gesicht wischte. „Der ist offenbar voll aufgeschlagen und hat jetzt garantiert auch eine Gehirnerschütterung“, kombinierte er.
Er schaute noch einmal auf den Überwachungsmonitor und vergewisserte sich, dass die dargestellten Messwerte keine Unregelmäßigkeiten aufwiesen. Dann untersuchte er den Patienten näher. Beiläufig fragte er Schwester Anne, die gerade die Wunde gesäubert und mit einem großen Pflaster versehen hatte: „Mit wem haben wir es denn hier eigentlich zu tun? Haben Sie schon einen Ausweis oder ähnliches gefunden?“
„Nein!“ antwortete die zweite Schwester, die gerade dessen Kleidung durchsuchte. „Er hat ja auch gar keine Jacke oder Tasche dabei. Das ist schon komisch, denn so warm ist es ja nun auch nicht gerade.“
„Das ist schlecht, sehr schlecht“, sagte Lambrecht nachdenklich und kratzte sich dabei am Kopf.
„Was soll ich denn da in unsere Dokumentation schreiben?“ fragte die Schwester.
„Schreiben Sie halt erst mal ‚Unbekannte männliche Person‘“, schlug Lambrecht vor und richtete seine Blicke wieder auf Schwester Anne, die dem Patienten gerade Blut entnahm. Anne hatte sehr wohl bemerkt, dass Lambrecht sie immer wieder anschaute und offenbar Gefallen an ihr zu haben schien. Aber sie mochte diese Blicke nicht, denn sie konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass er sie damit förmlich auszuziehen versuchte. Wortlos drehte sie sich um und brachte die Blutprobe ins Labor.
Lambrecht wendete sich wieder dem Patienten zu und leuchtete mit einer Taschenlampe in dessen weit geöffnete Augen. Der Patient zeigte keinerlei Reaktion. Komisch, dachte sich Lambrecht schließlich, Blutdruck und Puls sind zwar relativ niedrig, aber die Werte sind alle noch im grünen Bereich. Und auch die Herzstromkurve zeigt keine Rhythmusstörungen oder andere Unregelmäßigkeiten. Wieso taucht der aus seiner Bewusstlosigkeit nicht wieder auf? Er schien ratlos.
Als Schwester Anne wieder eintrat, sagte er zu ihr: „Schauen Sie mal, Anne, er hat die Augen weit geöffnet, aber sie zeigen keinerlei Regung. Haben Sie so etwas schon mal gesehen?“
Zögernd folgte Schwester Anne seiner Aufforderung und ging zu ihm, um die Augen des Patienten zu betrachten. Lambrecht nutzte die Gelegenheit, trat ganz dicht an sie heran, schaute ihr tief in die Augen und sagte: „Nicht mal so ein bildschönes Gesicht wie Ihres, Anne, bewirkt bei ihm eine Regung. Ganz anders als bei mir.“ Anne errötete leicht und trat einen Schritt zurück. Sie war unsicher, wie sie darauf reagieren sollte und wie sie sich am besten dieser Situation entziehen konnte, ohne unhöflich zu werden oder gar ihn zu verletzen. Sie mochte diesen Typ einfach nicht, und diese plumpe Anmache schon gar nicht. Aber sie musste ja auch weiterhin mit ihm zusammenarbeiten. „Ich hab´ noch etwas zu erledigen“, sagte sie schließlich und verließ den Raum. Er schaute ihr, sie von oben bis unten musternd, hinterher. Dann setzte er seine Untersuchungen fort, fand aber keine Möglichkeit, auch nur geringste Regungen des Patienten, selbst kleinste körperliche Reaktionen auf seine Maßnahmen zu provozieren.
„Heute haben wir Dienstag, den …“ Lambrecht trug gerade seine bisherigen Untersuchungsergebnisse in die Akte „Unbekannte männliche Person“ ein, als der Oberarzt, Doktor Bernauer, hereinkam – ein jovialer Herr mittleren Alters mit bereits leicht ergrautem, schütterem Haar und einem Schnurrbart. Er hatte zuvor eine Operation durchgeführt und hätte sich jetzt am liebsten eine Verschnaufpause gegönnt. Aber nun stand er schon wieder vor dem nächsten Fall, und ließ sich berichten, was vorliegt und welche Feststellungen bereits getroffen wurden. Dann wandte er sich dem Patienten zu.
„Also, was haben wir: Sein Kreislauf ist okay, die Atmung funktioniert. Die Augen sind geöffnet, aber der Patient zeigt keine äußerlich erkennbare Bewusstseinsregung, ist nicht ansprechbar. Die lebenswichtigen Funktionen scheinen in Ordnung zu sein, aber Bewegungen oder gar Anzeichen für Kommunikation waren bisher nicht festzustellen. So weit sind wir bisher mit der Diagnose, ja?“
„Ja, das ist korrekt. Und die Platzwunde am Kopf, die er sich beim Fallen zugezogen hat, haben wir inzwischen versorgt“, entgegnete Lambrecht.
„Gut. Wissen wir sonst schon was über den Patienten?“
„Nein, leider nicht. Er hat keinerlei Papiere bei sich gehabt.“
„Aha, wieder mal ein Fall von ‚Unbekannter männlichen Person‘.“
„Genau so haben wir ihn auch erst mal in die Dokumentation aufgenommen.“
„Hmm . . . Wir wissen also weder, wer er ist noch woher er kommt“, murmelte Bernauer.
„Nein, keine Ahnung“, entgegnete die Schwester, die dessen Sachen untersucht hatte, „aber das kann er uns ja vielleicht erzählen, wenn er wieder bei Bewusstsein ist.“
„W e n n!“ wiederholte Dr. Bernauer betont langgezogen. „Und wenn nicht? Wenn hier zum Beispiel eine symptomatische Hypotonie oder Herzinsuffizienz vorliegt, dann kommt es zu einer Minderversorgung des Gehirns mit sauerstoffreichem Blut und dadurch zur Bewusstlosigkeit, die dann möglicherweise eine längerdauernde Verwirrtheit nach Wiedererlangen des Bewusstseins nach sich zieht. Und im Ernstfall wacht er gar nicht wieder auf.“
„Oh!“ Die Schwester klang sichtlich erschrocken.
Bernauer hatte ihre Betroffenheit sofort bemerkt. Es war aber gar nicht seine Absicht gewesen, sie zu verängstigen, denn er pflegte eigentlich eine von Teamgeist geprägte Arbeitsatmosphäre. Deshalb sprach er in versöhnlicherem Ton weiter: „Naja, es muss ja nicht gleich der schlimmste Fall eintreten. Jedenfalls müssen wir schnellstmöglich wissen, mit wem wir es hier zu tun haben, um eine Anamnese aufnehmen zu können. Und da der Mann offenbar im Koma liegt, was unter Umständen lange dauern kann, müssen auch die Angehörigen umgehend informiert werden. Ich werde mich gleich mal mit der Polizei in Verbindung setzen, damit die sich um seine Identifikation kümmern. Das kann ja nicht unsere Aufgabe sein.“
Während er die Nummer wählte, beauftragte er Lambrecht, sich um die beiden verletzten Unfallopfer zu kümmern, die immer noch im Vorraum auf ihre Behandlung warteten. Dann wandte er sich wieder dem Unbekannten zu. Er übte verschiedene Schmerzreize auf den Patienten aus, um irgendeine Reaktion zu provozieren. Aber der Patient bewegte sich nicht, zeigte weder Schmerzreaktionen noch Schutzreflexe, auch keine Pupillenreaktion. Hier haben wir es offenbar schon mit einer Komatiefe vierten Grades zu tun, dachte er, eine schwere Hirnschädigung, das ist sehr bedenklich. Dann untersuchte er den ganzen Körper auf mögliche äußere Verletzungen oder besondere Merkmale, indem er den Kör-per des Mannes hin- und herwendete. Dabei entdeckte er schließlich eine merkwürdige kleine Stelle seitlich an dessen Brust, die er sich nicht erklären konnte. So etwas hatte er noch nicht gesehen. Was könnte das sein, fragte er sich. Es sah für ihn so aus wie ein verblichener Abdruck eines Stempels oder etwas ähnliches. Er berührte die Stelle mit seinem Finger, und sie schien ihm leicht klebrig. Merkwürdig, dachte er.
Während er noch so grübelte, kam Lambrecht herein und fragte ihn, ob es schon neue Erkenntnisse gebe. „Schauen Sie sich das mal an, Lambrecht“, antwortete er und zeigte dabei mit dem Finger auf die betreffende Stelle. „Haben Sie so etwas schon mal gesehen? Ich habe keine Erklärung dafür.“
Lambrecht kam zu ihm und schaute sich die bezeichnete Stelle an. Dann schüttelte er den Kopf: „Nein, damit kann ich auch nicht wirklich was anfangen. Ich meine, beim Disko-Besuch bekommt man ja manchmal eine Markierung auf die Hand gedrückt, aber eben auf die Hand beziehungsweise auf den Handrücken. Doch nicht auf die Brust. Und außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass dieser ältere Herr hier noch in Diskos geht.“
„Schade, ich hatte gehofft, Sie könnten aufgrund Ihres jugendlichen Alters vielleicht Dinge kennen, mit denen man in meinem Alter üblicherweise gar nicht mehr in Berührung kommt. Na, gut. Vielleicht finden wir noch jemanden, der uns dabei helfen kann. Auf jeden Fall sollten wir gleich mal ein Foto davon machen, denn solche Hautabdrücke halten nicht ewig.“
„Okay, das mache ich gleich“, antwortete Lambrecht. „Und haben Sie sonst noch etwas herausgefunden?“
„Apropos herausgefunden: „Was ist mit den beiden Unfallopfern?“
„Die sind gerade beim Röntgen. Ich gehe gleich wieder rüber und schaue mir die Aufnahmen an.“
„Gut“, antwortete Bernauer. „Der vorliegende Fall hier ist sicher ernsthafter und schwieriger zu diagnostizieren. Denn in Anbetracht der Symptome kommen mehrere Ursachen infrage.“
„Zum Beispiel?“
„Vorbehaltlich einer gründlicheren Untersuchung könnte es sich zum Beispiel um ein Apallisches Syndrom handeln, also um einen funktionellen Ausfall der gesamten Großhirnfunktion oder zumindest sehr großer Teile. Dafür sprechen eigentlich alle Anzeichen. Wir wissen allerdings noch nicht, ob hier ein persistent oder permanent vegetative state vorliegt, das lässt sich erst nach längerer Beobachtung sagen.“
„Also, Sie meinen, ob sein Zustand zumindest teilweise rückbildungsfähig ist oder ob er einen dauerhaften Schaden behält?“
„Ja, das meine ich; das lässt sich im Moment nicht beurteilen. Und leider kennen wir auch die Ursache dafür noch nicht. Es könnte sich aber auch um ein Locked-in-Syndrom handeln. Die Abgrenzung gegen äußerlich so ähnliche Krankheitsbilder wie Koma und Locked-in-Syndrom ist nicht ganz einfach. Da gab es schon des Öfteren nachgewiesenermaßen Fehldiagnosen ...“
Plötzlich wurde er durch die Ankündigung eines neuen Notfalls unterbrochen. Im Gehen sagte er noch zu Lambrecht: „Also, der Mann bleibt für heute sicherheitshalber in der Intensivstation unter Beobachtung. Die basalen Lebensfunktionen werden ja durch das autonome Nervensystem aufrechterhalten, und das funktioniert augenscheinlich einwandfrei. Darum brauchen wir uns vorerst keine Sorgen zu machen. Wir werden ihn dann morgen gründlich weiteruntersuchen.“
„EEG und Kernspintomographie?“
„Ja!“
Lambrecht beugte sich noch einmal über den Patienten und musterte dessen Gesicht und insbesondere dessen geöffnete Augen, während er mit seinen Händen heftige Bewegungen direkt vor dessen Gesicht vollführte, um vielleicht doch irgendwelche Reaktionen, und wenn auch nur Augenzuckungen, zu provozieren. Aber auch er konnte keinerlei Reaktion feststellen. „Okay. Dann fotografiere ich jetzt das Brust-Mal unseres Unbekannten“, sagte er schließlich, während die Krankenschwestern das Bett in den Beobachtungsraum schoben.
Zwei Stunden später war Oberkommissar Walter vom Kriminaldauerdienst, dem rund um die Uhr tätigen Bereitschaftsdienst der deutschen Kriminalpolizei, da, machte Fotos von dem Mann und ließ sich erzählen, was man über den Fall bisher wusste. „Das ist ja nicht viel“, sagte er nach einer Weile, „eigentlich gar nichts. Wo soll ich denn da zu suchen beginnen?“
„Ja, wenn’s einfach wäre, dann hätten wir das auch selber geschafft“, entgegnete Lambrecht.
„Ja, ja, ich weiß schon, dass es meine Aufgabe ist, den Mann zu identifizieren. Ich hoffe, die Fotos helfen uns weiter. ... Ähh ... Was hat er denn eigentlich angehabt?“
„Nur Hemd und Hose.“
„Kann ich die mal sehen?“
Die Schwester reichte ihm die Sachen.
„Hmm . . . das fühlt sich gut an. Scheint sehr gute Qualität zu sein.“ Dann wandte er sich noch einmal dem Patienten zu und sagte schließlich, nachdem er ihn eine Weile gemustert hatte: „Er macht auch einen gepflegten Eindruck. Im Obdachlosen-Milieu müssen wir ihn schon mal nicht suchen, wie es aussieht. Wie groß ist der eigentlich, haben Sie das schon gemessen?“
„Ja. Er misst 1,75 Meter.“
„Einmeterfünfundsiebzig“, wiederholte Walter langsam, „augenscheinlich gut trainiert und ziemlich schlank für sein Alter. Angegrautes, aber noch volles Haar. Wie alt wird der sein, was schätzen Sie?“
„Ich würde ihn als Ü50 einordnen“, antwortete Dr. Lambrecht.
„Hmm, das könnte hinkommen“, stimmte Walter zu. „Und seine Kleidungsgröße, wie ist die?“ Dabei untersuchte er die Kleidungsstücke, die er gerade in den Händen hielt. „Aha, da haben wir’s ja: Größe L fürs Hemd und auch für die Hose. Und die Schuhgröße? Die ist – Moment – da: die ist 44. Braune Schuhe und Strümpfe, dunkelblaue Hose mit braunem Gürtel, weißes Hemd – alles von guter Qualität. Okay, die Sachen braucht er ja vorläufig nicht. Ich nehme sie mal mit. Vielleicht kann man da irgendetwas herauslesen, über die Herkunft zum Beispiel, vielleicht auch mehr. Und wenn er sein Bewusstsein wiedererlangt, rufen Sie mich bitte umgehend an.“ Er gab Lambrecht seine Visitenkarte und verabschiedete sich. An der Tür drehte er sich plötzlich um und fragte: „Fast hätte ich das Wichtigste vergessen. Gibt es eigentlich Zeugen für den Sturz?“
„Keine Ahnung“, antwortete Lambrecht, und auch die Schwestern zuckten mit der Schulter. „Aber Sie können mal die Sanitäter und den Notarzt kontaktieren, die waren ja vor Ort“, schlug Lambrecht vor.
„Okay, mache ich, danke! Die Namen können sie mir bestimmt unten bei der Rezeption sagen, denke ich. Also dann.“ Damit verließ Herr Walter den Raum.
Nachdem er sich bei der Rezeption des Krankenhauses nach dem Notarzt und den Sanitätern, die den Patienten an der Unfallstelle aufgenommen und erstversorgt hatten, erkundigt hatte, suchte er diese auf und befragte sie nach Auffälligkeiten. Leider konnten sie ihm auch nichts darüber sagen, wie es zu dem Sturz des Mannes gekommen war. Denn als sie dort eintrafen, lag der Mann ja bereits längere Zeit am Boden. Und sein Zustand ist seither unverändert. Aber es gebe ja eine ganze Menge Zeugen des Unfalls, vielleicht könne sich noch jemand von denen daran erinnern und berichten, wie es zu dem Sturz kam. Doch wer waren die Zeugen? Es wurde ja niemand namentlich notiert.
Da hilft wohl nur eine Pressenotiz, dachte sich Walter, und ging zu seinem Vorgesetzten, Hauptkommissar Freigang, um sich mit ihm abzustimmen. Dieser äußerte allerdings Bedenken: „In diesem Fall müssen wir erst mal die Vermisstenstelle des Bundeskriminalamtes einschalten.“
Wieso muss man das gleich so „hochhängen“, hatte Walter gefragt. Man könne doch einfach mal eine Suchanfrage mit dem Foto des Mannes und der Bitte um sachdienliche Hinweise an die Redaktion der Regionalzeitung schicken. Im Übrigen gäbe es ja bisher gar keine Vermisstenmeldung. Vielmehr sei der Mann ja da, er müsse halt nur identifiziert werden.
Woher wissen Sie denn, dass der Mann nicht doch schon als vermisst gemeldet ist, ohne dass wir Kenntnis davon haben, hatte Freigang ihm geantwortet. Dann belehrte er seinen jungen, manchmal etwas zu forsch auftretenden Kollegen: „Zu den Aufgaben der beim BKA angesiedelten Vermisstenstelle gehört nicht nur die Fahndung nach vermissten Personen, sondern auch die Identifizierung von unbekannten Leichen und unbekannten hilflosen Personen. Und letzteres, nämlich unbekannte hilflose Person, ist der vorliegende Fall. Das BKA muss also auf jeden Fall informiert werden. Dort werden alle entsprechenden Fälle in die INPOL-Datenbank, das Informationssystem der Polizei, eingepflegt und stehen dann allen deutschen Polizeidienststellen für Anfragen zur Verfügung. Zuständig für die Sachbearbeitung einer Vermisstenangelegenheit, auch für die Erhebung von Identifizierungsmöglichkeiten, bleibt jedoch grundsätzlich die Polizeidienststelle, in deren Be-reich die vermisste Person ihren Wohnsitz oder letzten Aufenthaltsort hatte – also in diesem Fall wir. Das heißt, wir machen pflichtgemäß Meldung ans BKA, fragen dort an nach möglicherweise passenden Vermisstenmeldungen und bearbeiten dann den Fall in eigener Regie weiter. In der Reihenfolge. Also, dann fangen Sie mal an.“
„Aha! So läuft das. Wieder was gelernt“, murmelte Walter und machte sich an die Arbeit. Nachdem er von der Vermisstenstelle keinerlei Hinweise mit Bezug zum vorliegenden Fall erhalten hatte, schickte er eine Suchanfrage mit dem Foto des Mannes und der Bitte um sachdienliche Hinweise an die Redaktion der Regionalzeitung.
In der Uni-Klinik war zwischenzeitlich wieder ein schwerverletzter Mann in sehr kritischem Zustand eingeliefert worden, der die sofortige Aufmerksamkeit von Bernauer und Lambrecht erforderte. Bernauer sagte scherzhaft: „Das geht ja heute wieder zu wie im Bienenkasten.“ Beide machten sich auf den Weg zu dem Neuzugang und begannen mit dessen Untersuchung.