Читать книгу Außer Gefecht gesetzt - Peter Beuthner - Страница 4
Mittwoch
ОглавлениеAm nächsten Tag, nach Erscheinen der Tageszeitung, meldeten sich mehrere Zeugen des Unfalls am Telefon, die zur fraglichen Zeit gerade an der Bushaltestelle „Neue Mitte“ gestanden und gesehen hatten, wie der Mann auf sie zu kam und dann plötzlich zusammenbrach. Fremdeinwirkung habe es nicht gegeben. Und eine Tasche oder ähnliches habe er nicht bei sich gehabt. Aber mehr konnten sie auch nicht berichten.
„Das ist mehr als dürftig“, sagte Walter zu seinem Chef. „Wenn da nicht vielleicht doch noch jemand mit weiteren Informationen kommt, dann haben wir ein Problem.“
„Na, so wie es aussieht, wollte er doch vermutlich zum Bus“, sagte Freigang nachdenklich. „Jedenfalls nach allem, was wir bisher wissen.“
„Das glaube ich nicht, Chef. Der Mann hatte doch überhaupt kein Geld dabei – und auch kein Handy, mit dem er hätte bezahlen können.“
„Hmm . . . ja, stimmt. .... Dann kann das doch eigentlich nur bedeuten, dass er entweder aus einem nahegelegenen Hotel oder aus einem der umliegenden Häuser kam“, kombinierte Freigang.
„Oder er ist beziehungsweise war geistig verwirrt, möglicherweise dement, und irrte vielleicht schon eine Weile in der Stadt herum und kam dann zufällig gerade dort entlang, wo er stürzte“, wand Walter ein.
„Ja, das können wir auch nicht ausschließen. So etwas kommt ja leider immer wieder vor, und wir müssen dann jedes Mal den Hubschrauber über der Stadt kreisen lassen, um den Verwirrten zu finden. Ein teurer Spaß. Aber wenn es so ist, dann bekommen wir wahrscheinlich bald eine Vermisstenmeldung, die uns weiterhilft. Vielleicht ist der ja auch einem Pflegeheim entlaufen? . . . Ach, sagen Sie mal, wie alt schätzen Sie den Mann eigentlich?“
„Der behandelnde Arzt, ein gewisser Doktor Lambrecht, schätzte ihn gestern als Ü50 ein. Kann sein, aber so alt ist der vielleicht doch nicht. Ich schätze ihn eher auf etwa 45, höchstens 50 Jahre. Und dann hätte er ja bis zur Demenz sicher noch ein paar Jahre Zeit.“
„Das kann sein, muss aber nicht! Also, ich sehe schon, wir tappen noch ziemlich im Dunkeln. Und solange wir keine weiterführenden Informationen haben, klappern Sie jetzt erstmal mit dem Foto die naheliegenden Hotels ab. Vielleicht werden wir ja doch da irgendwo fündig.“
„Okay! Dann mach‘ ich mich mal auf den Weg“, antwortete Walter und ging.
Er war noch gar nicht sehr lange weg, da rief ihn sein Chef an: „Also, Herr Walter, jetzt haben wir erste konkrete Hinweise. Der Mann ist tatsächlich hier im Hotel abgestiegen, und zwar im ‚Goldenen Rad‘. Die haben soeben hier angerufen. Da gehen Sie jetzt gleich mal hin und suchen in seinem Zimmer nach seinen Papieren und möglichen Auffälligkeiten. Außerdem hat sich hier gerade auch noch ein Herr Dr. Michael Forrester, ein Amerikaner, gemeldet und mitgeteilt, dass er derzeit zusammen mit unserem Patienten einen wissenschaftlichen Kongress an der Universität besucht. Unser Patient heißt demnach Dr. Steven McMorris, ist 48 Jahre alt und ebenfalls US-Bürger. Ich habe Mr. Forrester gebeten, möglichst bald bei uns vorbeizuschauen, um uns mehr über McMorris zu erzählen. Er schien sehr besorgt und hat mir zugesagt, nach dem nächsten Vortrag, etwa gegen 11.30 Uhr, herzukommen.“
„Okay, danke. Bis dahin werde ich sicher auch wieder zurücksein. Ich bin jetzt gleich im ‚Goldenen Rad‘.“
Im Hotel „Goldenes Rad“ ging Walter schnurstracks zur Rezeption, wies sich als Polizeibeamter aus und zeigte das Foto von McMorris vor. „Sie haben bei uns angerufen? Der Mann ist hier bei Ihnen abgestiegen?“
„Ja, richtig, er hat vor drei Tagen, also letzten Sonntagabend, bei uns eingecheckt. Ist was mit ihm passiert?“
„Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?“
„Gestern, denke ich. . . . Nein, warten Sie, es war vorgestern.“
„Also wann?“
„Ja, stimmt, es war vorgestern, also am Montag. Gestern habe ich ihn gar nicht gesehen, und heute habe ich ihn auch noch nicht gesehen. Er war, glaube ich, auch gar nicht beim Frühstück.“
„Sie haben ihn also gestern auch nicht weggehen sehen?“
„Hmm . . . nein, ich glaube nicht. Er ist mir jedenfalls nicht aufgefallen. Wissen Sie, hier gehen so viele Leute ein und aus. Und wenn ich gerade mit Ein- und Auschecken beschäftigt bin, dann kann ich nicht gleichzeitig auch noch jeden Vorbeigehenden registrieren.“
„Hmm, also vorgestern. Sagen Sie, bei Ihnen wohnt doch auch ein gewisser Mr. Forrester, ja?“
„Das ist richtig, ja. Soviel ich weiß, sind sie beide Kongressbesucher an der Uni. Vorgestern habe ich zufällig gesehen, wie sie nach dem Frühstück gemeinsam das Hotel verließen und vermutlich zur Uni hochgefahren sind. Und gestern, . . . ja richtig, wenn ich mich recht er-innere, gestern war Mr. Forrester allein beim Frühstück. Als er dann das Hotel verließ, kam er nämlich hier noch kurz vorbei und sagte . . . Moment, wie war das gleich. . . . Ja, er sagte, ich solle Mr. McMorris ausrichten, er sei schon gegangen. Mr. McMorris wolle wohl heute länger ausschlafen, nachdem sie am Abend zuvor reichlich Alkohol in der Bar genossen hatten. Ja, so war das.“
„Okay, das ist ja interessant. Ich würde jetzt gern sein Zimmer sehen.“
„Selbstverständlich, ich rufe den Zimmerservice.“
„Geben Sie mir den Schlüssel, ich gehe allein hinauf. Zimmernummer?“
„Es ist im dritten Stock, Zimmer 302. Da drüben ist der Fahrstuhl.“
„Danke, das finde ich schon.“ Dann ging er zum Fahrstuhl und fuhr nach oben.
Das Zimmer machte einen sehr gepflegten Eindruck. Der Zimmerservice hatte seine Arbeit gut gemacht. Herr Walter öffnete die Schranktüren und stellte fest: Auch der Gast, Mr. McMorris, hatte seine persönlichen Sachen sehr ordentlich, fast schon pedantisch korrekt, in die Schränke eingeräumt. Der Tresor im Schrank war verschlossen. Herr Walter kramte in den Taschen des Jacketts, fand aber weder eine Brieftasche noch eine Geldbörse und auch keine Ausweispapiere. Er durchsuchte die gesamte Garderobe von Mr. McMorris, fand aber nichts. Dann nahm er sich dessen Koffer vor. Der war verschlossen. Ein Nummerncode. Er rief seinen Chef an, schilderte die Situation und fragte Ihn, ob er den Koffer aufbrechen solle.
„Nein, bringen Sie den Koffer mit hierher, wir haben hier Spezialisten für sowas. Aber lassen sie sich den Tresor öffnen. Vermutlich liegen da die Papiere drin“, bekam er zur Antwort.
Herr Walter rief bei der Rezeption an und bat darum, jemanden hochzuschicken, der den Tresor öffnen könne. Kurz darauf erschien der Hoteldetektiv, lies sich erst einmal den Polizeiausweis zeigen und öffnete dann den Tresor. Tatsächlich, da lagen die Brieftasche mit den Ausweispapieren sowie Flugticket und Handy von Mr. McMorris. Er steckte sich die Sachen ein. Dann bat er den Hoteldetektiv, das diensthabende Mädchen vom Zimmerservice hoch zu beordern. Sie erschien auch gleich, und so befragte er sie, ob ihr beim Aufräumen und Reinigen des Zimmers irgendetwas aufgefallen sei. Das war nicht der Fall. Und so ließ er das Zimmer vom Hoteldetektiv verschließen, ging noch einmal bei der Rezeption vorbei, um anzuordnen, dass dieses Zimmer bis auf weiteres nicht betreten werden darf, und verließ das Hotel mit dem Koffer.
Mr. Forrester wurde gerade von einem Beamten des Polizeikommissariats zum Büro von Herrn Freigang geführt, als auch Herr Walter von seinem Hotelbesuch zurückkehrte. Freigang begrüßte den Gast: „Mr. Forrester?“ Der nickte zustimmend, während Freigang weitersprach: „Thank you for comming. My name is Freigang and this is my colleague Mr. Walter. Please take a seat, we’ve some questions concerning Mr. McMorris to clarify. Do you like a cope of coffee?“
Mr. Forrester setzte seine Brille auf und schaute Herrn Freigang an. Das Smart Glass zeigte ihm an: »Werner Freigang, Polizeihauptkommissar im Kriminaldauerdienst Ulm, Alter: 46 Jahre, verheiratet, zwei Kinder im Schulalter.« Danach schaute er Herrn Walter an und las: »Person unbekannt.« „Ja, gern“, antwortete er dann. „Wir können uns übrigens auch gern auf Deutsch unterhalten, dann habe ich gleich wieder etwas Übung im Sprechen.“
„Ausgezeichnet! Darf ich fragen, wo Sie das gelernt haben?“ wollte Freigang wissen, während Walter Kaffee bei der Sekretärin bestellte.
„Das habe ich meinem Großvater mütterlicherseits zu verdanken, der war deutscher Abstammung. Bei dem verbrachte ich in meiner Jugend häufig die Ferienzeit und lernte dabei von ihm deutsch“, erklärte Forrester.
„Interessant! . . . Ja, dann kommen wir bitte mal zu Mr. McMorris.“
Forrester wollte gerade nach seiner Kaffeetasse greifen, zuckte aber sofort zurück und zeigte sich sehr besorgt: „Sagen Sie, was ist mit Mr. McMorris? Ist ihm etwas zugestoßen? Wir haben ihn schon vermisst. Er hätte gestern Nachmittag einen Vortrag halten sollen, aber er war nicht da.“
„Bitte, Herr Forrester, immer eins nach dem anderen. Geben Sie uns bitte erst mal Auskunft auf unsere Fragen“, versuchte Polizeihauptkommissar Freigang den Gesprächsablauf zu ordnen. „Zunächst nehmen wir Ihre Personalien für das Protokoll auf.“
„Okay. Mein Name ist Michael Forrester, Alter: 40 Jahre, Beruf: Hirnforscher, Wohnort: Palo Alto im Silicon Valley, momentaner Aufenthalt in Ulm, Hotel ‚Goldenes Rad‘, dienstlich als Konferenzteilnehmer an der Universität Ulm“, beantwortete er freimütig ihre Fragen.
„Darf man fragen, was das für eine Konferenz ist, ich meine, mit welcher Thematik?“
„Selbstverständlich, das ist ja kein Geheimnis. Es geht dabei um KI . . .“
„KI?“
„Ja, also um ‚Künstliche Intelligenz‘, dafür steht die Abkürzung KI – oder AI, denn im Englischen sagen wir ‚Artificial Intelligence‘. Die Konferenz beschäftigt sich also mit dem neuesten Stand der Forschung auf diesem Gebiet einschließlich der dafür erforderlichen Technologien. Sie steht dieses Jahr unter dem Motto: BI + KI = I hoch x.“
„Hmm? Hört sich an wie eine Formel. Was bedeutet das denn?“
„Nun, das steht für: Biologische Intelligenz plus Künstliche Intelligenz gleich Intelligenz zur xten Potenz.“
„Ach du Schreck“, murmelte Freigang still vor sich hin.
„Ja, das mag für Laien etwas fragwürdig oder seltsam klingen. Aber eigentlich drückt es nur das genau aus, wovon wir tatsächlich überzeugt sind, dass nämlich die Kombination von biologischer und künstlicher Intelligenz mehr ergibt als lediglich die Summe von beidem. Diese Formel darf man allerdings nicht wörtlich nehmen, sie ist eher symbolisch zu verstehen. Aber wir erwarten dadurch in der Tat eine ganz erhebliche kognitive Leistungssteigerung!“
„Das vermag ich mir gar nicht vorzustellen“, sinnierte Herr Freigang. Und Herr Walter, der wesentlich jünger war als sein Chef, und der den neuen Technologien entsprechend offener gegenüberstand, bekam ganz große, glänzende Augen.
„Das nehme ich Ihnen unbesehen ab. Für Laien auf diesem Gebiet ist das auch kaum vorstellbar. Aber die Entwicklungen sind weit gediehen. Und Mr. McMorris zählt zu den führenden Köpfen auf dem Gebiet der KI. Sein Interesse und seine Arbeiten gelten insbesondere der Schaffung von Cyborgs.“
„Cy . . . was?“
„Cyborg, das ist ein Akronym für cybernetic organism. Man versteht darunter dauerhafte Verbindungen von biologischen, in diesem Fall menschlichen, mit technischen Elementen. Im Grunde sind Menschen mit technischen Implantaten wie Herzschrittmachern, künstlichen Gliedmaßen, komplexen Prothesen, Cochlea- oder Retina-Implantaten dem Begriff nach bereits Cyborgs. Allerdings wurde der Terminus in diesem Zusammenhang üblicherweise nicht angewendet. Erst seit es um ‚Kognitives Enhancement‘ in Verbindung mit Brain-Computer-Interfaces geht, hat sich der Begriff Cyborg durchgesetzt.“
„Kognitives Enhancement?“ schaute Freigang ihn fragend an.
„Ja, ja“, bestätigte Forrester, „die Menschen möchten doch gerne ihre kognitiven Leistungen verbessern, also sich mehr merken, schneller denken, schärfer schlussfolgern und weiser urteilen können. Mit dem Upgrade des Körpers zur Verbesserung seiner natürlichen Eigenschaften und kognitiven Fähigkeiten durch Künstliche Intelligenz über eine Gehirn-Computer-Schnittstelle entsteht ein neuer Typ Mensch, gewissermaßen ein hybrider Mensch, ein Mischwesen, das den natürlichen Menschen intellektuell deutlich überlegen ist.“
„Gott bewahre uns vor dem Übel“, stöhnte Freigang.
„Das ist doch interessant“, warf Walter begeistert ein. „Wie weit ist denn das Ganze heute schon gediehen? Könnte ich mir auch so ein Ding implantieren lassen?“
„Selbstverständlich“, entgegnete Forrester mit dem Brustton der Überzeugung. „Es laufen schon etliche Leute – zumindest und besonders in den USA – mit einem Chip im Kopf herum, das merken wir vielleicht nicht gleich so schnell, weil wir damit überhaupt nicht rechnen.“
„Ja – schön und gut“, unterbrach Freigang die sich anbahnende Diskussion. „Bleiben wir doch lieber bei unserem ganz konkreten Fall. Da stellt sich mir jetzt die Frage: Ist Mr. McMorris davon betroffen? Ich meine, ist der vielleicht so ein Cyborg?“
„Das weiß ich leider nicht. Ich kann lediglich bestätigen, dass diese Thematik zu seinem Arbeitsgebiet gehört. Aber jetzt sagen Sie mir doch bitte endlich, was mit ihm los ist. Was ist ihm passiert?“ drängte Forrester mit besorgter Miene.
„Gleich! Sie erfahren es gleich“, entgegnete Freigang betont ruhig. „Zunächst beantworten Sie bitte unsere Fragen: Also, könnte McMorris ein Cyborg sein?“
„Wie gesagt, ob er selbst einen implantierten Chip trägt, das weiß ich wirklich nicht. Jedenfalls hat er in meiner Gegenwart nie so etwas verlauten lassen. Und wir kennen uns schon länger – allerdings weniger privat, mehr geschäftlich wissenschaftlich, verstehen Sie?“
„Aber wenn Sie ihn doch immerhin schon länger kennen, dann könnte Ihnen ja vielleicht irgendetwas an ihm beziehungsweise an seinem Verhalten aufgefallen sein – wie soll ich sagen – etwas Cyborghaftes? Wie würde sich sowas eigentlich äußern?“
„Das lässt sich so allgemein nicht beantworten. Das wichtigste Kriterium habe ich schon erwähnt: Diese Cyborgs zeichnen sich durch sehr große Intelligenz und ein phänomenales Gedächtnis aus. Aber wie sie mit diesen Fähigkeiten umgehen, das heißt, wie sie sich gegenüber der Gesellschaft geben, ob sie zum Beispiel andere ihre geistige Überlegenheit in erniedrigender Weise spüren lassen, das hängt ganz von ihrem individuellen Charakter ab, verstehen Sie? Allerdings ist Arroganz kein Alleinstellungsmerkmal für Cyborgs. . . . Also, was ich sagen will, ist, man sieht nicht gleich auf den ersten Blick, ob man es mit einem Cyborg oder einem ganz natürlich intelligenten Menschen zu tun hat.“
„Hmm . . . es könnte also durchaus sein, dass Sie, der sich intensiv wissenschaftlich mit dieser Materie befasst, auch ein Cyborg sind, ohne dass ich das bemerken müsste?“ kombinierte Freigang.
„Selbstverständlich! Ich würde das auch nicht jedem auf die Nase binden, wie man hierzulande so schön sagt. Man kann ja seine Vorteile gegenüber gewöhnlichen Menschen auch ganz für sich still genießen.“
„Und wenn ich Sie ganz konkret danach fragte: Sind Sie ein Cyborg? Was würden Sie mir darauf antworten?“
„Ich schätze Sie nicht so ein, dass Sie mich auf eine so plumpe Art und Weise auszufragen versuchten, Herr Freigang. Aber es gibt natürlich auch Leute, die gar kein Geheimnis daraus zu machen versuchen. Um mal wieder auf McMorris zurückzukommen: Von ihm ist bekannt, dass er bekennender Transhumanist ist, und das lässt immerhin den Schluss zu, dass er zwar nicht mit Sicherheit, aber doch mit großer Wahrscheinlichkeit auch ein Cyborg ist.“
„Schon wieder eine Vokabel, die ich nicht kenne: Was zum Teufel ist ein Transhumanist?“
„Also, ich frage mich schon die ganze Zeit: In welcher Welt leben Sie eigentlich, Herr Freigang? Das sind doch alles keine Neuigkeiten. Das ist ‚state of the art‘, und das müsste sich doch auch schon bis nach Deutschland herumgesprochen haben.“
Freigang war irritiert angesichts dieser unverhohlenen abschätzigen Bemerkung. Er brauchte einen Moment, um seine Gedanken zu sortieren. Dann entgegnete er: „Ich stehe hier nicht für Deutschland, sondern für die Erledigung meines Jobs. Und dabei ist mir diese Materie, die Sie hier vertreten, bisher noch nicht untergekommen – also: ‚Neuland‘, wie unsere ehemalige Bundeskanzlerin zu sagen pflegte. Aber Sie könnten ja mit einer kurzen und verständlichen Beantwortung meiner Frage zur Behebung dieses Mankos beitragen.“
„Okay, okay! Es ist halt leider nicht so schnell erklärt. Darüber könnte man sehr lange diskutieren. Aber gut, um es kurz zu machen: Die Transhumanisten vertreten die Auffassung, dass durch die Verschmelzung des Menschen mit technischen Komponenten zu einem Cyborg eine neue Spezies – manche sagen auch: Rasse – entsteht, die den Homo sapiens ablösen und damit die nächste Evolutionsstufe der Menschheit einleiten wird. Dieser Schritt zum Hybridwesen vollzieht also den Übergang zur bewussten Selbst-Evolution in eine neue Spezies. Und der exponentiell wachsende technologische Fortschritt auf allen Gebieten eröffnet uns viele weitere Möglichkeiten. Soweit die Idee in aller Kürze.“
„Ja, um Himmels willen! Wer denkt sich denn sowas aus?“
„Es ist nicht mehr nur gedacht, wir sind bereits mitten auf dem Weg dahin.“
„Der Gedanke lässt mich erschauern.“
„Sie dürfen nicht übersehen, dass sich den Menschen damit ganz neue Perspektiven ergeben: Wir werden immer länger leben – ohne Krankheiten und Schmerzen. Das Leben wird leichter. Und wir werden immer intelligenter.“
„Ich weiß nicht, ob das wirklich wünschenswert ist. Aber es hört sich für mich so an, als seien auch Sie ein Befürworter des Transhumanismus?!“
„Sagen wir mal so: Ich finde die Idee sehr interessant.“
„Aber von McMorris wissen Sie, dass er Transhumanist ist?“
„Ja, daraus hat er eigentlich nie ein Geheimnis gemacht.“
„Okay. Dann hat er also vermutlich auch einen Chip im Kopf, ja?“
„Möglich! Wie gesagt: Kann sein, muss aber nicht. Man kann auch eine Idee befürworten, ohne sie zu praktizieren.“
„Gut. Aber nehmen wir mal an, er hätte einen Chip im Kopf: Was könnte möglicherweise passiert sein, wenn beispielsweise eine Bewusstlosigkeit darauf zurückzuführen wäre?“
„Was sagen Sie, er ist bewusstlos?“
„Ich habe zunächst nur eine hypothetische Frage gestellt und bitte Sie, diese zu beantworten.“
„Nun, . . . das hängt zum einen davon ab, wie der Chip mit dem Gehirn verschaltet ist, also auf welche Gehirnregionen er Einfluss ausübt. Zum anderen aber sind die Chips, wenn sie nicht sehr gut gekapselt sind, ganz schön störanfällig.“
„Das heißt?“
„Das heißt, sie könnten möglicherweise von außen in Ihrer Wirkung bis hin zum Betriebsausfall gestört werden, sie könnten gehackt werden. Die Stromversorgung könnte auch ausgefallen sein, oder der Chip ist kaputt. Alles möglich.“
„Na, unter diesen Umständen kann man doch nur allen davon abraten, sowas mitzumachen!“ resümierte Freigang.
„Das muss natürlich jeder für sich selbst entscheiden, sicher. Aber das Verlangen nach persönlicher Überlegenheit ist dem Menschen sehr wohl immanent. Wer will schon zurückstehen, wenn die Menschen um einen herum kognitiv aufgerüstet haben? Natürlich birgt die Implementation von Chips ins Gehirn ein gewisses Risiko. Aber es geht heutzutage gar nicht mehr primär um die Frage technischer Risiken, sondern viel mehr um ethische Bedenken. Und trotzdem steigt die Nachfrage deutlich an, wollen immer mehr Menschen kognitiv aufrüsten, um konkurrenzfähig mit den Protagonisten dieser Entwicklung zu werden. Darüber könnten wir einen ganzen Abend lang philosophieren. Das würde jetzt hier zu weit führen. Das technische Risiko ist heutzutage jedenfalls minimal, denn die Chips sind üblicherweise gut gekapselt und auf diese Weise abgeschirmt. Das kennen Sie ja auch vom Herzschrittmacher.“
„Ja, schön und gut. Aber sagten Sie nicht gerade, der Chip könnte vielleicht auch gehackt werden? Das wäre doch ein Eingriff in die Funktionalität von außen, wenn ich das richtig verstehe?“
„Das ist schon richtig, ja.“
„Und? Wie passt das zu Ihrer Aussage, die Dinger seien gekapselt?“
„Okay. Also, das ist so: Die Chips sind selbstverständlich gekapselt, und das bietet einen größtmöglichen Schutz für ihre Funktionalität. Aber, sie verfügen genauso selbstverständlich über eine Funkschnittstelle, über die Software-Updates geladen werden können. Das ist so wie bei jedem Computer. Es gibt ja immer wieder Verbesserungen und neue Features, und die will man natürlich gerne nutzen, ansonsten ist die einmal aufgespielte Software irgendwann obsolet. . . . So, und genau diese Schnittstelle könnte missbraucht werden, um die Chip-Funktionen zu stören. Wir sprechen dann von ‚Brainhacking‘. Das setzt allerdings voraus, dass der Hacker den spezifischen Code für das Eingangstor kennt, sonst hat er keine Chance.“
„Verstehe. Was wir jetzt allerdings noch nicht wissen, ist, ob Mr. McMorris so einen Chip hat oder nicht. Deshalb werden wir ihn zunächst einmal röntgen lassen. Das ist doch sicher ungefährlich für ihn. Oder könnte der Chip dadurch Schaden nehmen und auf diese Weise eine Gefahr für sein Leben bewirken?“
„Nein, das denke ich nicht.“
„Gut, dass Sie das sagen. Aber um noch einmal auf gestern zurückzukommen: Mr. McMorris wollte einen Vortrag halten, sagten Sie.“
„Richtig, er hatte laut Agenda einen Vortrag halten sollen, ist aber ohne Entschuldigung und sehr zur Verwunderung der Gesellschaft nicht erschienen. Ich machte mir Sorgen, weil wir am Abend zuvor lange in der Bar zusammensaßen, ausgiebig diskutierten und dabei auch reichlich Alkohol genossen. Vielleicht verträgt er nicht so viel, dachte ich mir. Abends bin ich dann gleich im Anschluss an die Konferenz mit verschiedenen anderen Konferenzteilnehmern zum Essen gegangen. Und das hat sich auch ziemlich lange hingezogen, weil wir interessante Diskussionen hatten. Als ich dann endlich wieder im Hotel war, wollte ich noch nach McMorris schauen, um mich nach seinem Befinden zu erkundigen. Seine Tür war jedoch verschlossen, und da es schon sehr spät war, dachte ich, er schläft schon, und wollte nicht stören. Aber als ich dann heute hörte, dass er per Zeitungsannonce gesucht wird, da habe ich schon einen heftigen Schreck bekommen. Und jetzt sagen Sie mir doch bitte endlich, was mit ihm los ist. Er ist doch nicht etwa gestorben? Ähh, nein, wie sagten Sie, ähh, bewusstlos?“
„Gestorben? Wie kommen Sie denn darauf?“
„Naja, . . . weiß nicht, aber die ganzen Umstände? Oder wird er vermisst? Wollen Sie nur wissen, wo er sein könnte? Da habe ich auch keine Ahnung.“
„Nein, er liegt im Krankenhaus und ist ohne Bewusstsein. Nach allem, was wir bisher wissen, ist er auf der Straße ohne ersichtlichen Grund zusammengebrochen und seither bewusstlos.“
„Zusammengebrochen? Bewusstlos? Das ist ja schrecklich. Wie kann denn das passieren?“
„Das versuchen wir ja gerade zu ergründen. Da er keinerlei Papiere bei sich trug, sahen wir uns genötigt, nach ihm per Zeitungsannonce zu fahnden. Wissen Sie zufällig etwas über seine Familienverhältnisse?“
„Hmm . . . er erwähnte, glaube ich, mal, dass er verheiratet ist. Aber Genaueres weiß ich auch nicht, wir haben privat nicht verkehrt, wie ich schon sagte. Es ist auch reiner Zufall, dass wir hier beide im selben Hotel abgestiegen sind. Es war schwierig genug, überhaupt noch ein Zimmer in Ulm zu bekommen. Da war schon fast alles belegt. Aber sagen Sie, wie ernst ist nun eigentlich sein Zustand?“
„Darüber kann ich leider keine Auskunft geben. Wir haben auch unsere Untersuchungen noch gar nicht abgeschlossen.“
„Könnte ich ihn mal besuchen?“
„Vorläufig nicht. Es macht auch keinen Sinn, denn er ist ja bewusstlos, und rein äußerlich ist ihm nichts anzumerken, außer einer Platzwunde am Kopf, die er sich bei dem Sturz zugezogen hat.“
„Ja, dann kann ich jetzt wohl gehen. Ich werde gleich nochmal zur Uni hochfahren, um mir die restlichen Vorträge anzuhören. Außerdem werde ich McMorris bei der Konferenzleitung entschuldigen beziehungsweise bekanntgeben, was passiert ist.“
„Ja, tun Sie das. Aber, sagen Sie bitte, wie können wir Sie erreichen, falls wir nochmal Fragen haben sollten?“
„Ich gebe Ihnen meine Handy-Nummer, einen Moment.“ Er gab Freigang seine Visitenkarte.
„Danke“, sagte Freigang. „Eine letzte Frage habe ich doch noch: Die Brille, die Sie da tragen, die hat anscheinend eine Verbindung zu Ihrem Ohr, jedenfalls sieht es so aus. Darf ich fragen, was das für eine Bewandtnis hat?“
„Selbstverständlich! Das ist ja kein Geheimnis. Die Dinger sind doch schon weitverbreitet. Es handelt sich hierbei um eine Smartphone-Brille, man sagt auch Smart Glass. Sie bietet mir eine ‚augmented reality‘, wenn Ihnen das was sagt.“
„Ja, gehört habe ich davon, aber selbst gesehen noch nicht. Und wie funktioniert sowas?“
„Haben Sie schon mal was von ‚Wearable Computing‘ gehört? Sie ist ein Teil davon, sie ist verbunden mit meinem Computer, den ich am Körper trage. Ich kann damit jederzeit Informationen aus dem Netz abrufen, ich kann darüber telefonieren, ich kann damit auch Fotos und Videos machen, ohne dass der Fotografierte das merkt und vieles andere mehr. Sie ist wirklich sehr hilfreich.“
„Hmmm . . . dann muss ich jetzt wohl davon ausgehen, dass Sie mich auch schon fotografiert oder sogar das ganze Gespräch aufgezeichnet haben?“
„Ähh . . . ja, . . . aber ich lösche es gleich wieder, versprochen.“
„Ja, darum möchte ich doch sehr bitten. Und wenn wir Sie hier noch einmal zum Fall sprechen müssen, dann lassen Sie das Gerät bitte gleich weg. Das ist eine Aufforderung!“
„Okay! Versprochen!“ Damit verabschiedete sich Mr. Forrester und verließ das Polizeipräsidium.
Kaum hatte Forrester den Raum verlassen, da trat der Leiter der Kriminalpolizeidirektion, Herr Henning, ein und erkundigte sich nach dem aktuellen Stand der Ermittlungen. Er war am Vorabend noch kurz über den Fall von Freigang informiert worden und wollte nun wissen, was bei der Suchanfrage per Regionalzeitung herausgekommen ist. Herr Freigang berichtete ihm, dass der Unbekannte inzwischen identifiziert sei, dass es sich bei ihm um einen angesehenen US-amerikanischen Wissenschaftler handele, der anlässlich einer internationalen Konferenz an der Universität Ulm gerade hier weile und der immer noch in offenbar bewusstlosem Zustand sei. Die Untersuchungen seien aber noch längst nicht abgeschlossen, um schon eine genauere Diagnose abgeben zu können. Polizeidirektor Henning ordnete daraufhin an, dass diese Erkenntnisse unmittelbar dem BKA mitzuteilen seien, damit die dortige Datenbank aktualisiert werden könne, vor allem aber, weil es sich hierbei um einen US-Bürger handele. Denn das BKA sei für die Koordination der nationalen und internationalen polizeilichen Zusammenarbeit, und damit eben auch mit dem FBI, zuständig. Unabhängig davon sollten wir aber auch schon mal das US-Konsulat in München in Kenntnis setzen.
Nachdem Henning gegangen war, teilten sich Freigang und Walter die gerade erhaltenen Aufgaben: Freigang telefonierte mit dem US-Konsulat und Walter gab die Identifikationsergebnisse online an das BKA durch. Danach nahmen sich beide den Koffer von McMorris vor. Sie ließen ihn von einem Spezialisten ihrer Abteilung öffnen und durchsuchten ihn. Es fanden sich aber nur ein paar Fachzeitschriften, etwas Unterwäsche und ein kleines Gerät darin. „Was kann das sein?“ fragte Freigang.
„Das hat Ähnlichkeit mit einem Handy, aber dafür sieht es doch ziemlich ungewöhnlich aus“, meinte Walter, während er das Gerät hin- und herwendete und von allen Seiten betrachtete.
„Und da ist ja noch ein Teil“, sagte Freigang und holte es aus dem Koffer.
„Das sieht aus wie ein Ladegerät mit Netzstecker“, meinte Walter.
„Richtig, wir haben überhaupt nicht über die Stromversorgung solcher Chips gesprochen!“ fiel Freigang plötzlich ein. „Wie verhält es sich denn damit?“
„Gute Frage“, bestätigte Walter. „Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, dass McMorris eine Steckdose am Hinterkopf hat, um seinen Akku darüber aufzuladen. Ich denke eher, er wird über Induktion aufgeladen. Und das hier ist wahrscheinlich das Ladegerät mit Induktionsspule dafür.“
„Okay, aber was ist das hier und welchem Zweck dient es?“ fragte Freigang, während er das einem Handy ähnelnde Gerät betrachtete. „Geben Sie das bitte gleich noch den Technikern, die sollen das mal gründlich überprüfen. Ich rufe derweil den Arzt an und erkundige mich nach dem Zustand unseres Patienten.“
Nachdem Herr Walter zurück war, unterrichtete Freigang ihn, was er mit dem Arzt, Dr. Bernauer, besprochen hatte: „Also, sein Zustand ist unverändert. Er liegt aber nicht mehr auf der Intensivstation. Das hat sich erübrigt, da seine basalen Lebensfunktionen einwandfrei arbeiten. Er ist jetzt in einem Einzelzimmer untergebracht. Ich habe Dr. Bernauer über die Aussagen von Forrester bezüglich eines möglichen Chips im Kopf von McMorris informiert und ihn gebeten, doch mal dessen Kopf auf mögliche Operationsnarben zu überprüfen.“
„Da bin ich wirklich sehr gespannt, was dabei herauskommt“, äußerte Walter erwartungsvoll. „Dass es tatsächlich Leute gibt, die sich solche Dinger ohne Notwendigkeit in den Kopf einbauen lassen, das hätte ich eigentlich nicht für möglich gehalten. So ein Eingriff in unseren ‚Bordcomputer‘ ist ja schließlich keine Kleinigkeit! Dabei kann viel kaputtgehen; das Risiko wäre mir viel zu groß.“
„Dem kann ich nur beipflichten“, bestätigte Freigang. „Wenn jemand an MS leidet, dann kann ich das verstehen. So ein Eingriff kann dann eine wirklich große Hilfe für den Betroffenen sein. Aber wenn du eigentlich kerngesund bist – also, ich verstehe solche Leute nicht.“
„Mich würde aber interessieren, was das tatsächlich bringt – ich meine, an kognitiver Leistungssteigerung. Wird man damit wirklich so viel schlauer? Lohnt sich der ganze Aufwand und das Risiko?“
„Das werden wir wohl nie erfahren, wenn wir es nicht selber ausprobieren“, entgegnete Freigang. „Und das werde ich ganz sicher nicht tun.“
„Nein, ich auch nicht. Ich hätte viel zu viel Schiss, dass bei der Implementation etwas schiefläuft und ich dann verblöde.“
„Ach, übrigens: Dr. Bernauer hat mir vorhin noch mitgeteilt, dass sie bei McMorris einen merkwürdigen Hautabdruck an der Brust entdeckt haben, für den sie aber bisher keine Erklärung haben. Er schickt uns ein Foto davon.“
„Was soll das denn nun wieder heißen? Hoffentlich kein Brandzeichen“, scherzte Walter.
„Machen Sie Witze? Wo leben wir denn?“
„War’n Scherz, natürlich. Allerdings traue ich den Amis auch so etwas glatt zu.“
„Ihre Scherze sind nicht unbedingt zum Lachen, Herr Walter. Warten wir mal auf das Foto, bevor wir hier irgendwelche wilden Spekulationen hegen. Haben Sie eigentlich zu dem kleinen Gerät schon etwas von den Technikern erfahren können?“
„Nein, die kommen erst morgen dazu, das Ding zu untersuchen. Wir werden uns wohl oder übel gedulden müssen.“
„Also gut. Dann machen wir an dem Punkt morgen weiter.“