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Vorwort

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I

n den vergangenen beiden Jahrzehnten bin ich immer wieder aufgefordert worden, meine Erinnerungen an und Reflexionen über Willy Brandt zu Papier zu bringen. Vielleicht musste erst der 100. Geburtstag nahen, um meinen hinhaltenden Widerstand gegen ein solches Projekt zu überwinden. Selbstverständlich reicht zur Rechtfertigung dieses Buches nicht aus, dass andere mich gebeten haben, es zu schreiben.

Der Titel sagt es schon: Es geht um den spezifischen Blick des ältesten Sohnes, der in eine hochpolitisierte und trotzdem in vieler Hinsicht recht normale Familie hineingeboren wurde. Ich selbst war frühzeitig politisch engagiert; als Fachhistoriker bemühte ich mich später immer, einen professionell-distanzierten Blick gerade auf die Personen einzunehmen, die mir nahe sind beziehungsweise auf jene Ereignisse, an denen Angehörige der Familie Brandt beteiligt waren. Ohne diese Fähigkeit hätte ich auf zeitgeschichtliche Forschungen und Publikationen, die einen Teil meiner beruflichen Aktivitäten ausmachen, verzichten müssen. Dieses Buch lebt also aus der Spannung zweier in meinem Kopf nebeneinander und wechselseitig existierender Perspektiven. Ob dieser Balanceakt gelungen ist, wird der Leser zu entscheiden haben.

Mit allem Nachdruck sei betont: Ich erhebe nicht den Anspruch, endlich die wahren Geschichten über Willy Brandt zu erzählen und die richtigen Deutungen zu liefern. Die Skepsis des Historikers gegenüber dem Schleier der Erinnerung gilt auch für meine eigene Zeitzeugenschaft. An Interpretationen sind fast immer mehr als eine möglich, ohne die Quellen zu vergewaltigen. Insofern bitte ich alles Folgende als Angebot zu verstehen, die Person und Persönlichkeit Willy Brandts »mit anderen Augen« zu betrachten. Und obgleich innerlich von ihnen berührt, bin ich sine ira et studio aufrichtig um Erkenntnis bemüht. Hier und dort werden neue Akzente gesetzt und Details mitgeteilt, die weniger oder nicht bekannt sind. Dabei hatte ich im Entstehungsprozess des Buches stets im Hinterkopf, welche ungeheuren Projektionen auf Willy Brandt gerichtet waren. Man darf teilweise sogar von regelrechten Heilserwartungen sprechen.

Ich war bestrebt, der Versuchung zu widerstehen, das Objekt meiner Bemühungen nach eigenen Wünschen idealisierend zurechtzuhobeln. Dabei sind mir zwei Dinge zugutegekommen: Erstens, dass ich schon im Alter von achtzehn Jahren von zu Hause auszog, und zweitens, dass es eine beträchtliche Periode politischer Differenzen zwischen meinem Vater und mir gab, die ins Grundsätzliche gingen, ohne dass das persönliche Verhältnis ernsthaft beschädigt worden wäre. Ab Mitte der siebziger Jahre näherten Vater und Sohn sich auch politisch wieder an, allerdings ohne je ganz auf eine Linie zu kommen. In den bald vier Jahrzehnten seitdem habe ich mich niemals anheischig gemacht, die Autorität des Vaters Willy Brandt für eigene politische Anliegen ins Feld zu führen. Zuschreibungen von Dritten konnte ich nur zur Kenntnis nehmen. Der Beurteilungsmaßstab dieses Buches für Erfolge oder Fehler soll jedenfalls nicht mein eigener sein, sei er von damals oder heute, sondern die jeweiligen Überzeugungen und Ziele Willy Brandts selbst, sofern ich glaube, sie zu kennen. Das gilt vor allem für das Schlusskapitel.

Ich bin immer wieder gefragt worden, wie es denn sei, der Sohn von Willy Brandt zu sein. Was soll man dazu sagen? Jedem, der auch nur einen Moment darüber nachdenkt, wird sofort klar sein, dass die familiäre Konstellation strukturell problematisch und manche Situation nicht immer vergnüglich war, zumal, wenn man sich entschieden hatte, einen eigenen Weg zu gehen und eventuelle Vorteile, die sich aus dem Amt des Vaters ergeben könnten, bewusst nicht in Anspruch zu nehmen. Für meine Brüder und mich gehörte es zu den Herausforderungen des Lebens, damit zurechtzukommen. In dem Maß, wie man sein Schicksal selbst in die Hand nimmt und gerade beruflich etwas Eigenes zustande bringt (was mit zwanzig naturgemäß noch nicht möglich ist), wird die Last leichter und der Umgang mit der Familie im günstigen Falle souveräner.

Ich will die Klage auch nicht übertreiben. Es gibt wahrlich schlimmere Schicksale auf der Welt, als der Sohn eines deutschen Spitzenpolitikers zu sein – namentlich dieses Spitzenpolitikers. Für meine Kollegen, Mitarbeiter, Freunde pflegte die Verwandtschaft mit Willy Brandt nach meinem Eindruck bald nur noch eine untergeordnete Rolle zu spielen, abgesehen davon, dass nicht jeder oder jede automatisch darauf kam, dass die Namensgleichheit kein Zufall war. So ungewöhnlich ist der Name nicht, und in Hagen, wo ich seit 1989 als Hochschullehrer tätig bin, dachten die Leute bei »Brandt« zunächst an den bekannten Zwieback und den dazugehörigen Basketballverein, erst dann an den Staatsmann. Inzwischen ist die Zwiebackfabrik nach Thüringen verlagert worden und der Name der Hagener Basketballmannschaft futsch.

Frühzeitig mussten meine Brüder und ich lernen, dass der Vater und der Name des Vaters nicht der Familie gehören. Selbst da, wo es juristisch möglich wäre, läge es mir fern, die Verwendung des Namens Willy Brandt zu unterbinden. In aller Regel werde ich nicht vorher gefragt, wenn eine Straße, ein Platz, ein Haus oder ein Flughafen nach ihm benannt werden soll, und das ist auch gut so. Ein einziges Mal habe ich auf Bitten der SPD als Angehöriger geklagt, und zwar als die Deutsche Volksunion des Ver­legers der »Nationalzeitung« Dr. Gerhard Frey, der ein notorischer Brandt-Hasser war, im Brandenburger Landtagswahlkampf Friedrich Ebert, Kurt Schumacher und Willy Brandt auf einem Plakat als »Große Sozialisten« und Patrioten vereinnahmte. Tote Indianer sind bekanntlich gute Indianer. Persönlich hätte ich auch hier eher dazu geneigt, mit Spott oder Ironie zu reagieren, aber dass das den Wahlkampf der SPD, speziell unter ostdeutschen Bedingungen, schädigte und gestoppt gehörte, leuchtete mir ein.

Dieses Buch ist weniger eine Biografie, als ein »Versuch« im klassischen Sinne. Trotzdem ist die inzwischen recht umfängliche Forschungsliteratur zur Kenntnis genommen und indirekt berücksichtigt worden, ebenso die in der »Berliner Ausgabe« der Schriften Willy Brandts edierten Quellen und die umfangreiche Memoirenliteratur. Dem Charakter des Buches entsprechend ist auf einen Anmerkungsapparat verzichtet worden. Der Nachweis wörtlicher Zitate ist im Bedarfsfall auf der Internetseite des Verlags zu finden. Da es meine ganz persönlichen Erinnerungen und Wahrnehmungen sind, die den Grundstock des Buches bilden, wird unvermeidlicherweise häufig von mir die Rede sein. Das dient ausschließlich dem Zweck, das Verständnis meiner Äußerungen über Willy Brandt zu erleichtern, sie gewissermaßen durchschaubarer zu machen. Gleiches gilt für andere »Nebendarsteller« dieses Buches, ohne deren Beitrag die Hauptfigur nicht in der beschriebenen Weise hätte agieren können. Je nachdem, welche Rolle gerade im Mittelpunkt steht, wird deshalb mal von »(meinem) Vater« und mal von »(Willy) Brandt« die Rede sein.

Ich danke Alexander Behrens für das Lektorat, Bernd Rother für die kritische Durchsicht des Manuskripts, Andrea Buczek, Miriam Horn und Fiona Schmidt für technische Hilfen bei dessen Erstellung, Götz Schwarzrock außerdem für inhaltliche Ratschläge.

Mit anderen Augen

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