Читать книгу Das schöne Fräulein Li - Peter Brock - Страница 6

ZWEI

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EIN ABGERISSENER KNOPF DES WINTERMANTELS wird es sein, denkt Hermann Kappe. So genau hat er auch gar nicht hinschauen wollen. Schließlich hat er an diesem Abend schon genug gequirltes Blut gesehen. Es gab Tote Oma. Allein das kann einen erschaudern lassen. Immer, wenn seine Oma in Wendisch-Rietz solche Topfwurst servierte, hat er den Kasper gespielt, damit er vom Tisch verwiesen wurde. Aber inzwischen ist er fast 34 Jahre alt und isst so etwas ganz gern.

Klara kocht Tote Oma fast so gut wie damals seine Oma. Inzwischen weiß er, dass solche Qualitäten kittend für eine Beziehung wirken können, besonders nach dem zweiten Kind. Er versucht in jüngster Zeit immer öfter, sich das vorzusagen: Sie kocht gut, sie kümmert sich bestens um Margarete und Hartmut, sie ist eine Ordentliche, eine Zuverlässige, eine Liebe. Und das genügt, das reicht, das ist alles, was man will, und alles, was man braucht. Kappe redet sich das krampfhaft ein, morgens beim Zähneputzen und abends beim Gutenachtkuss. Denn etwas in seinem Körper signalisiert ihm, dass es eben nicht mehr so ist. Dass das nicht reicht – nicht mehr.

Früher gab es eine Zeit, da genügte ein Blick, eine Umarmung, und er wusste, Klara, die, nach der sich andere Männer umschauten, ist die Richtige für ihn, der Hauptgewinn.

Aber diese Zeiten sind vorbei. Und wenn das Sich-selbst-gut-Zureden nicht mehr hilft, so helfen doch wenigstens noch immer zwei, drei Flaschen Bötzow – Kappes Lieblingsbier. Schließlich muss es irgendwie weitergehen mit ihm und Klara. Doch an diesem Abend hat er nicht einmal die erste Flasche leeren können, da schellte es schon. Er musste mitkommen. Der Schutzpolizist hat ihm aufgeregt von dem Mord auf der Oberbaumbrücke berichtet. Der Einsatz dulde keinen Aufschub.

Es ist kalt, sehr kalt an diesem 4. Februar, und die Straßenbahn, mit der Kappe so gerne vom Mariannenplatz aus fährt, können sie nicht nehmen, weil sie stillsteht. Die städtischen Arbeiter streiken mal wieder für mehr Lohn. Immerhin verkehrt die Hochbahn noch. Und vom Görlitzer Bahnhof aus ist es ja nur eine Station.

Genau so hat er sich einen gemütlichen Samstagabend vorgestellt: in der Kälte stehen, in die aufgerissenen Augen eines zerbeulten Toten sehen, die Alkoholausdünstungen der umstehenden Zeugen und Schaulustigen einatmen und sich dann auch noch von seinem besserwisserischen Kollegen, diesem schlaksig-großen studierten Ingenieur Dr. Kniehase, das blutige Etwas, von dem er noch immer denkt, dass es ein Wintermantelknopf sei, unter die Nase halten lassen.

«Das könnte ein wichtiger Hinweis sein», mutmaßt Dr. Kniehase.

«Könnte», brummt Kappe. «Könnte aber auch nicht. Könnte auch bloß ein abgerissener Knopf sein.»

«Nein, es ist ein Anhänger aus Jade mit eingraviertem Namen. Sicher gehörte der Tote zu irgendeiner Geheimorganisation.»

«Na, dann lesen Sie mal vor!», entgegnet Kappe, während er Dr. Kniehase dabei beobachtet, wie dieser mit bloßen Fingern das Blut vom Anhänger wischt.

Aber Dr. Kniehase kann die Schrift nicht lesen. Es ist Chinesisch. Oder Japanisch. «Sicher lebte das Opfer im gelben Viertel und war auf dem Heimweg.»

Schlaues Kerlchen, dieser Kniehase, denkt Kappe. Wenn es zehn Uhr abends ist, die Brücke nach Friedrichshain zum Schlesischen Bahnhof führt, wo gut zweihundert chinesische Händler wohnen, und einer von ihnen darauf liegt, mausetot, dann könnte er tatsächlich recht haben. Dann wird der zu Tode Geprügelte seinen Bierdeckel nicht bezahlt haben, dann wird er am Tresen etwas zu frech gewesen oder den weiblichen Rundungen einer Kellnerin zu nah gekommen sein. So etwas passiert eben. Dazu braucht man keine Geheimorganisation.

Aber Dr. Kniehase gibt nicht auf. «Sicher ein Mord zwischen rivalisierenden Chinesen-Banden. Da steckt so was wie die Mafia dahinter.»

Kappe wäre froh, wenn hinter Dr. Kniehases Äußerungen öfter mal etwas stecken würde. Wenn auch einfach nur ein klitzekleines Fünkchen Bescheidenheit. Kappe tritt ein paar Schritte zur Seite, steigt über den Bordstein und geht zu den vier Zeugen, die auf der Fahrbahn vor einem Audi frösteln, der von zwei Schutzpolizisten zwecks Tatortsicherung am Weiterfahren gehindert wird. Wie es sich wohl fährt in so einem neuen 14/50 PS Typ K mit 3,5-Liter-Motor, Vierradbremsen, Kugelschaltung und allem Pipapo, fragt sich Kappe. Viel lieber würde er jetzt mit dem Fahrer plaudern, als sich noch mal von den vier Angetrunkenen anhören zu müssen, was geschehen war. Sie sind nämlich die Einzigen, die gesehen haben wollen, was geschah.

«Aba nur von janz weit weg und nich genau», fährt einer von ihnen Kappe sofort in die Parade.

Der Wortführer, ein großer, dicklicher Mann mit der Gesichtsfarbe eines zu kurz gebackenen Eierkuchens und ebendieser Konsistenz, wiederholt, dass sie gerade aus Heinz’ Schänke am Gröbenufer kamen, als sie sahen, wie ein Mann auf der Brücke auf den Chinesen erst einprügelte und dann, als dieser am Boden lag, auch noch auf ihn eintrat.

«Det dit so een Schlitzooge is, ham wa ja nich jewusst.» Dann habe der Täter sein Opfer vom Pflaster aufgehoben und über die Brüstung in die Spree werfen wollen.

«Aba nich mit uns! Det war denn doch ’n bisschen zu ville», erzählt der Eierkuchen, und die drei nebenstehenden Schiebermützenjungs vom Typ Hungerhaken nicken. «Als er uns jesehn hat, hatta die Beene inne Hände jenommen und is jeloofen.» Aber wie er aussah, der Täter, oder was er anhatte, das wüssten sie nicht mehr.

Kappe schreibt sich die Namen der vier auf, die gegenüber in einem Lagerhaus des Osthafens arbeiten.

Der Anführer heißt Brückmann.

«Klar, wenn der Mord auf ’ner Brücke passiert», murmelt Kappe in seinen wintergrauen Wollschal hinein. «Wir sehen uns morgen früh um zehn im Präsidium», sagt Kappe befehlsmäßig knapp. «Und bis dahin sollte Ihr Gedächtnis ausgeschlafen sein».

«Aber morjen is Sonntach! Da wollt ick mit meena Jrete …», empört sich Brückmann.

Kappe lässt den jungen Stückgutträger, Kistenstapler oder was immer er sein mag, gar nicht erst ausreden. «Jawohl, Sonntag! Hier geht es um Mord und nicht um eine Landpartie!»

Kappe selbst ist am nächsten Morgen auch nicht ausgeschlafen. Er war nämlich auf dem Heimweg noch in seiner Stammkneipe «Zum Löwen» am Heinrichplatz eingekehrt, um sich dort mit seinem Freund Trampe zu treffen.

Dieser führt das Wort am Tresen und lässt sich selbst von Kappes Bierbestellung nur ungern unterbrechen. Er muss agitieren, «Massen bewegen», wie er gerne sagt, schließlich bekommt er sein Geld als Funktionär von den Sozialdemokraten, und da kommt ihm natürlich ein Urteil wie das des Berliner Landgerichts gerade recht, um über Kriegsgewinnler herzuziehen.

Da hat doch tatsächlich einer von diesen Gewinnlern, der erst mit Mehlsäcken, dann mit Korbflaschen, Heeresgerät und zu guter Letzt mit Bouillonwürfeln handelte, Millionen gemacht, sich eine Zwanzigzimmervilla für acht Millionen Reichsmark am Wannsee geleistet und sich sogar die Türgriffe seines Benz-Automobils, so schreibt es das Tageblatt, vergolden lassen. Und nun klagt er vor Gericht, weil ihm ein Geldverleiher, aufs Jahr hochgerechnet, 225 Prozent Zinsen für läppische 37 000 Mark berechnete, die er sich geliehen hatte.

«Geschieht ihm recht, so einem Volksschmarotzer!», erregt sich Trampe. «Unsere Jugend wurde im Krieg verheizt. 2,7 Millionen sind als Krüppel zurückgekommen, beschädigt an Kopf und Körper. Und so einer verdient sich ’ne goldene Nase.»

Das Gericht hat, was Kappe kaum glauben kann, die Klage abgewiesen und die 225 Prozent Zinsen nicht als strafbaren Wucher angesehen. Schließlich sei das Opfer nicht in einer Notlage gewesen.

«Nassforsch», sagte sein Vater immer, wenn einer, von sich selbst überzeugt, ohne dass viel dahintersteckt, einem anderen großkotzig kommen will.

Nassforsch, das ist auch dieser Brückmann, denkt Kappe. Darum hat er ihn auch absichtlich warten lassen und als Letzten zu sich ins Bureau gerufen.

Die anderen drei haben nicht viel gesagt. Nicht einmal die schwarzen Wollhosen und das cremefarbene Oberhemd unterm abgewetzten braunen Sakko haben sie beschreiben können. Und wenn sie schon nicht wissen, wie der Tote aussah, der doch immerhin stundenlang zu ihren Füßen lag, wie sollen sie dann erst den Täter beschreiben können?

«Groß, kräftig, kantig», behauptet Brückmann. «Ein Deutscher, ganz klar!»

Die drei anderen waren sich da nicht so sicher.

Ansonsten nutzt Brückmann die Gelegenheit, um in der Amtsstube seiner Meinung über die schmarotzenden Ausländer, die Kriegsgefangenen aus dem Osten, die in der Stadt geblieben sind, und die marokkanischen Soldaten der französischen Armee freien Lauf zu lassen. «Die besetzen unsa Saarland und besudeln unsere Frauen.» Brückmann holt behäbig ein Stofftaschentuch aus der Hosentasche, spuckt abfällig hinein, steckt es wieder ein und fährt fort: «Schweine sind det – und det Versailles! Eene Schande!»

Kappe schaut ihn nicht einmal an, er ordnet seine Unterlagen. Er ist gern Deutscher – aber dieser Ausländerhass, dieser billige! Kappe findet das widerwärtig. «Würden Sie ihn wiedererkennen?», fragt Kappe.

«Sicha! Aber ick würd ihn nich verraten, nicht ausliefern an diesen Memmenstaat. Er hatte sicha seine Jründe, so wat zu tun, auf dies Jesocks einzuprügeln, meine ich.»

«Es wäre aber strafbar, den Täter nicht zu nennen», entgegnet Kappe angewidert. «Und außerdem, das Opfer war kein Gesocks, es war ein Chinese. Ein Mensch wie Sie und ich.»

«So? Meinen Sie? Die kommen hierher, verdienen sich mit gefälschtem Nippes dumm und dämlich und machen die Mietpreise kaputt, weil se zu viel zahlen für die letzten Absteigen, so dass unsere Leute keene Unterkunft mehr finden. Und wenn se jut aussehn, poussieren se auch noch mit unsere Mädels. Nee, da hab ick keen Mitleid nich!»

«Das alles wissen Sie so genau?», fragt Kappe.

«Jawoll ja! Einem Kollegen isses so jegangen. Der hat seine Kammer verloren inner Krautstraße, weil die Wirtin von’ nem Chinesen mehr bekommen hat. Und als ihm dann die Hand ausjerutscht is und er dem Schlitzauge mal Bescheid jestoßen hat, issa auch noch vorm Kadi jelandet.»

«Und Sie rechtfertigen diese Körperverletzung auch noch?», fragt Kappe.

«Körperverletzung? Das war Notwehr! Nationale Notwehr sozusagen. Wir sind doch hier in Deutschland!»

Kappe merkt, dass das Gespräch mit Brückmann nur als Belastungsprobe für die Nerven taugt, und beschließt, dass dafür in seinem Leben Klara eine ausreichende Trainingspartnerin ist. Wer aus Brückmanns Umfeld wann in eine Chinesen-Schlägerei verwickelt war, das wird er mal gesondert prüfen, oder er wird es gar nicht prüfen. Denn dass Brückmann nicht der Täter sein kann, ist klar. So, wie das Opfer durch die Tritte zugerichtet wurde, hätte der Täter Blut an Schuhen und Hose haben müssen. Brückmann darf also gehen.

Und auch Kappe geht. Dorthin, wo das Opfer lebte. In Berlin gibt es 38 Kabaretts und jeden Tag schönere, jüngere Nackttänzerinnen, die die neue Freiheit der Sitten nutzen. Näheres weiß Kappe freilich nur von seinem Freund Gottlieb Lubosch, auch Liepe genannt, dem Adlon-Kellner, der sich im Nachtleben auskennt.

Es gibt Menschen in der Stadt, die ordern in Revuetheatern den Champagner nur flaschenweise, die schicken ihren Chauffeur zum Kokainkauf in die Friedrichstraße, und manchmal bringt der dann auch gleich noch ein, zwei leichte Mädchen in Pelz und Hut auf dem Rücksitz der Duxschen Pullmann-Limousine mit. Wer kann und will, der lässt es sich gutgehen. Besser als je zuvor. Manche aber werden durch die viele Reklame, die nun auch an Laternenpfählen hängen darf, unzufrieden. Sie glauben, zu kurz gekommen zu sein, und wollen ein größeres Stück vom Kuchen abhaben. Natürlich ohne es sich leisten zu können.

Diese Diskrepanz kann, kriminalistisch gesehen, zum verbotenen Eigentumserwerb unter Zuhilfenahme von unrechtmäßigen Handlungen führen, erinnert sich Kappe an das einst auf der Polizeischule Gelernte, an das er gerade denken muss, als er am Schlesischen Bahnhof aussteigt. Kurz gesagt, mancher mordet, um an Geld zu kommen, andere, wie Klara, wollen einfach nur ein neues Kleid mit Fledermausärmeln. Auch das ist teuer. Man denke nur an die Stoffverschwendung dieser modischen Schnitte. Andererseits, nackt kann Kappe seine Klara auch nicht aus dem Haus gehen lassen, seit der zweiten Geburt sowieso nicht mehr. Dick ist sie geworden.

Er schämt sich für solche Gedanken, als er an Mietskasernen in den Farben Blassgrau, Hellgrau und Dunkelgrau vorbei zum gelben Viertel marschiert.

Das kennen nicht viele in Berlin. Nur selten liest man in der Zeitung davon. Zwar ist es, mit New York verglichen, nur ein klitzekleines Chinatown, aber immerhin wohnen hier viele Händler.

Auch Kappe hatte sich bislang nicht sonderlich um dieses Viertel gekümmert. Mit der Farbe Gelb, stellt er nun fest, hat es nur rudimentär zu tun. Schön wär’s, wenn’s so wäre, denkt er sich: sonnengelbe Vorderhäuser, zitronengelbe Seitenflügel und maisgelbe Hinterhäuser. Er verharrt noch für einen Moment in diesem Tagtraum. Dann ist er angekommen im Geviert der Markusstraße, der Langen Straße, der Kraut- und der Andreasstraße, wo die chinesischen Händler hausen.

Zu sagen, ihre Hautfarbe sei gelb, wäre vermessen. Sie ist eher ein ockerartiges Grau.

Die Häuser sind wie überall in den Armutsvierteln des neuen, seit 1921 dank der Eingemeindungen auf gut 3,8 Millionen Einwohner angewachsenen Groß-Berlin tristgrau. Und das ist weniger eine Farbe als vielmehr ein Zustand.

Notausgänge aus diesem Leben gibt es hier in dieser Gegend häufiger als sonst wo. In jedem zweiten, dritten Haus ist eine Budike oder ein Bouillonkeller untergebracht. Nichts glänzt wie in den großen Revuetheatern, allenfalls die Augen der Betrunkenen. Aber flüchten aus dem Alltagsdasein, das hier gleichbedeutend ist mit auf engstem Raum zur Untermiete Wohnen, oft ohne elektrisches Licht und Bad, das kann man in diesen Gaststätten. Dazu braucht man keine Glitzerwelt, nur Alkohol. Und den gibt es, viel und billig. Und wem das nicht genügt, der macht endgültig Schluss. Eine Flucht ohne Wiederkehr, ein Sprung aus dem vierten Stock oder ein Schuss mit einem der Revolver, die es ja an jeder Ecke zu kaufen gibt.

1200 Mal im Jahr gelingt so eine letzte, endgültige Flucht in Berlin. Diese Zahl aus der polizeilichen Statistik hat sich Kappe gemerkt. Also jede Woche 23 Selbstmörder.

Weiter kommt Kappe in seinen melancholischen Gedanken nicht. Das ist auch gut so. Er ist ja weder Reichsbedenkenträger noch Heilsarmee-Oberst. Und jetzt ist er erst einmal pitschepatschenass, stinkt und wird von drei kleinen Chinesen ausgelacht, von denen keiner älter ist als vier.

Sie tragen trotz des eisigen Windes Hosen mit einem Schlitz am Hintern. Das spart Windeln.

Aber Kappe ist nicht danach, sich über nackte Kinderpopos zu amüsieren. Er klaubt sich erst einmal die Pilzreste aus den Haaren, die zusammen mit dem brackbraunen Wasser über ihn kamen.

Jemand hatte getrocknete Holzohrpilze eingelegt und das Wasser auf die Straße gekippt. Freilich ohne zuvor zu schauen. Wer schaut hier auch schon gerne aus dem Fenster, sieht man doch eh nur armselige deutsche Arbeitslose, schwer an ihren achteckigen Kollektionskoffern tragende Chinesen, Falschspieler und Betrüger, die am nahen Schlesischen Bahnhof Ankömmlingen aus der Provinz einen passenden Empfang bereiten wollen.

Wenn das Wasser wenigstens warm gewesen wäre, denkt Kappe, oder nach Rosenblüten geduftet hätte. Und nun kommt auch noch jemand, der versichert, ihn nicht hauen zu wollen. Na immerhin!

Die kleine Frau, nicht älter als dreißig, mit den tiefschwarzen Augen, den hochgesteckten rabenschwarzen Haaren und dem engen kohlenschwarzen Kleid verbeugt sich vor Kappe nun schon zum dritten Mal und sagt etwas, das wie «Nie hau!» klingt, und fügt dann noch so etwas wie «Hinn bau tschienn!» hinzu.

Dass sie ihn nicht hauen will, was ihr angesichts seiner körperlichen Überlegenheit auch schwergefallen wäre, freut Kappe, und dass sie erkennt, dass etwas «hin» ist, nämlich seine Unversehrtheit, das weiß er zu schätzen. Nur ob diese mit Hilfe eines Herrn Tschienn wiederaufzubauen wäre, daran zweifelt Kappe. Eines jedenfalls wird ihm schlagartig bewusst: Es wird schwer werden, den Mord an einem Chinesen aufzuklären, wenn man dessen Sprache nicht spricht. Aber Chinesisch lernen, das weiß Kappe, das geht gar nicht.

Dass die Frau zu ihm nur «Guten Tag!» und «Entschuldigen Sie!» sagte, das wird er eines Tages noch erfahren. Bis jetzt aber weiß Kappe nur, dass er wie ein begossener Pudel dasteht.

Die Chinesin versucht, ihn mit einem gräulichen Küchenhandtuch, das sicher eine Waschbrettallergie hat, trockenzureiben. Sie reicht mit ihren Armen kaum an seinen Kopf heran. So gelingt es Kappe, die gut gemeinte Hilfe galant abzuwehren und den dreckigen Lappen von seinem Körper fernzuhalten.

Unterdessen ist er, beinahe unbemerkt, der Mittelpunkt einer kleinen Menschenansammlung geworden. Zu den drei Kindern, die Kappe mit Pilzwasser auf dem Kopf so lustig finden, sind weitere Chinesen und auch ein paar Deutsche gekommen.

Kappe gehört nicht hierher, das sieht man an seinem Straßenanzug. Er kauft seine Hemden und Hosen zwar meist auch nur bei C&A in der Königstraße, gleich in der Nähe des Polizeipräsidiums am Alexanderplatz, aber besseres Tuch als diese lichtscheuen Gestalten hier trägt er allemal.

«Da müssen Sie die Polizei rufen! Sofort!», rät ihm eine ältere Frau.

«Ach was, wer sich hier rumtreibt, ist selber schuld», sagt ein Handwerker, der seine Werkzeugtasche vorsichtshalber mit beiden Armen fest umschlossen hält.

Kappe nickt nur.

Und die Chinesen? Die lachen einfach. Auch die älteren. Kappe stimmt in dieses Knabenchorlachen als Bass mit ein.

Bloß jetzt den Dienstausweis nicht zücken, denkt er. Er versucht es lieber mit einem Scherz und meint, auch der Regen sei schon mal sauberer gewesen. Dann bahnt er sich einen Weg durch die Schaulustigen.

Die chinesische Stifterin all dieses Unheils schaut Kappe hinterher.

Beim Zurückblicken sieht er, dass sie ihm zuwinkt wie ein kleines Mädchen.

Als Kappe seinen Slalom um spielende Kinder, Bettler, Fahrräder, stehengelassene Ascheimer und Holzkisten mit chinesischen Schriftzeichen fortsetzt, muss er sich eingestehen, dass er eigentlich gar nicht weiß, wo er hinwill.

«Willste mitkommen?», wird er von einem Mädchen gefragt, das seine Tochter sein könnte. «Ick mach et uns jemütlich.»

Kappe schüttelt nur den Kopf. Eigentlich hätte er seinen Ausweis ziehen und sie fragen müssen, wie alt sie sei, wie ihr Lude heißt und in welcher Kalenderwoche des Vorjahres sie sich das letzte Mal gewaschen habe. Aber er lässt es. Vielleicht ist es wieder diese nie so ganz zweifelsfrei diagnostizierte Stoffwechselkrankheit, die ihn seit seiner Jugend plagt und die ihm ab und an eine Extraportion bleierne Müdigkeit beschert. Aber da sieht er auch schon das rettende Schild an der Ecke Kraut- und Lange Straße: Schultheiss. Jetzt ein Bier. Es ist zwar nicht erlaubt im Dienst, und es wird seine Müdigkeit sogar noch verschlimmern, aber der hopfigherbe Geschmack auf der Zunge hat ihm schon oft beim Nachdenken über knifflige Fälle geholfen. Und nachdenken, das muss er nun wahrlich.

Denn klar ist bislang nur, dass der Tote allem Anschein nach als Händler arbeitete und wie viele seiner Landsleute von Tür zu Tür ging, um Specksteinschnitzereien, Porzellanvasen oder Lackschächtelchen zu verkaufen. Ein paar geschnitzte Drachen, die man als Staubfänger auf die Kommode stellen kann, sowie einen nicht unbeträchtlichen Geldbetrag fand man in den Manteltaschen des Toten. Aber einen Ausweis hatte er nicht bei sich. Oder wurde er ihm gestohlen? Aber warum sollte der Räuber dann das Geld zurücklassen?

Kappe steuert weiter auf die Kneipe zu. Er geht so zielstrebig über die Kreuzung, dass er fast von einem abbiegenden NAG-Sportwagen C4b über den Haufen gefahren wird. Kappe kann gerade noch rechtzeitig einen Sprung zurück machen.

Der am Steuer in dem offenen Wagen sitzende Chinese hupt und schreit.

Kappe versteht kein Wort. In Gedanken ist er bei dem Autotyp, einem NAG, einem bordeauxroten, gebaut von der Neuen Automobil-Gesellschaft in Oberschöneweide, der Fabrik, die von dem Manne gegründet wurde, dessen Sohn, Walther Rathenau, vor wenigen Tagen erst zum deutschen Außenminister ernannt worden war. Und ein derartiges Auto wird gefahren von einem Chinesen! Was für eine verkehrte Welt! Dieser Geruch! Der ist es. Kappe braucht einen Moment, um zu merken, was an dieser Kneipe anders ist.

Gut, da sitzen zwei Dutzend Chinesen im Gastraum und nur fünf, sechs Deutsche. Aber sonst? Alles wie immer und überall: blankgescheuerte Holztische, ungepolsterte Stühle, deren Schrammen davon zeugen, dass sie schon manchen Flug durchs Lokal überlebt haben, und hinterm Tresen ein Wirt des Typs «Eckkneipe»: unschätzbares Alter zwischen vierzig und sechzig, Bierbauch, Blick eines gutmütigen Dackels, der genau weiß, wo der Hase lang läuft, Lederschürze überm altersgrauen weißen Hemd, aus dessen zu weit geöffnetem Kragen gelbliches Feinripp und graue Brusthaare lugen, die Ärmel hochgekrempelt, die Hände im Spülwasser, der Blick bei den Gästen.

Klar, so jemand sieht einem wie Kappe sofort an, dass er nicht aus freien Stücken hier ist, um sich mal billig einen auf die Lampe zu gießen. Außerdem weiß der Wirt längst, obwohl es noch in keiner Zeitung hat stehen können, dass einer seiner Gäste tot ist. Deshalb überlegt er bei Kappes Anblick gar nicht erst, ob es sich bei ihm um eine Amtsperson handelt, die zwecks Kontrolle von Küche und Toilette vorbeikommt, oder um einen Polizisten, der illegal hier lebende Chinesen oder solche ohne Genehmigung zum Haustürverkauf sucht. Der Wirt weiß gleich, der kann nur wegen des Mordes da sein.

Kappe steht derweil noch staunend vor den mit chinesischen Schriftzeichen versehenen Blättern, die an die holzvertäfelten Wände geheftet sind.

«Tach! Det sind Bekanntmachungen des Konsulats für unsre China-Männer», sagt der Wirt, der hinter Kappe getreten ist.

«Schön! Und ich bin Kappe, Hermann Kappe.»

«Und Sie kommen von der Polizei wegen des Toten.»

Kappe ist solch eine Direktheit nicht unangenehm. Gern lässt er sich vom Wirt auf ein Bier einladen und stellt sich zu ihm an den Tresen.

Von den Chinesen achten nur wenige auf ihn. Nichts zeugt von Unruhe, Ängstlichkeit oder schlechtem Gewissen, registriert Kappe enttäuscht. Die meisten haben irgendwelche Dominosteine vor sich aufgebaut, sitzen zu je vier Mann am Tisch und spielen.

Dass es sich dabei um Mahjong handelt, bekommt Kappe vom Wirt erklärt. Ein Spiel, das man freilich auch mit Karten spielen könnte, aber Schiffer auf dem Jangtse haben es erfunden, und damit die Karten nicht ins Wasser geweht wurden, nutzten sie Steine zum Spielen. Er erklärt ihm auch, dass der Getötete Herr Keung geheißen habe, noch bevor Kappe danach fragt. Er sagt ihm zudem, dass er den Vornamen nicht kenne, weil sich die Chinesen ohnehin kaum mit Vornamen anreden würden. Keung jedenfalls bedeute Kraft, das sei ihm gesagt worden, und kräftig sei der Tote ja tatsächlich gewesen. «Der hat für den Wong geschuftet, diesen Schuft!», fährt der Wirt fort, und ohne auf eine Nachfrage zu warten, fügt er hinzu: «Des is een übler Jeselle, kann ick Ihnen sagen. Der führt een härteres Rejiment als der Li, und ganz koscher is der ooch nich.»

Manchmal, denkt Kappe, genügt die Zeit, die man für zwei Schluck Bier braucht, und schon erhellt sich die mondlose Finsternis, die am Anfang jeden Mord umgibt. Beim zweiten Bier weiß er bereits, dass es sozusagen zwei Chefs der chinesischen Händler gibt oder vielleicht auch zwei Paten: Wong und Li.

Während Wong noch ganz in der Nähe seines Lagers in der Krautstraße wohnt und erst vor zwei Jahren den Großhandel für die an Haustüren feilgebotenen Waren von einem Onkel übernahm, hat sich Li, der mit seiner Familie schon 1908 aus der südchinesischen Küstenprovinz Zhejiang mit der Transsibirischen Eisenbahn über Moskau nach Berlin kam, längst im Handel mit Lackwaren, Porzellan und Steinschnitzereien etabliert, und zwar so gut, dass er nur noch sein Lager im gelben Viertel hat. Er selbst, der Chef, lebt mit seiner Familie dort, wo auch Klara gerne mit Kappe hinziehen würde: in der Kantstraße in Charlottenburg.

Als der Wirt unaufgefordert das dritte Bier hinstellt, überlegt Kappe kurz, bevor er trinkt, dann aber setzt er an zu einem so großen Schluck, dass er durch das sich schnell leerende Pilsglas hindurch leicht verzerrt sieht, wie sich eine Tür zum Nebenraum öffnet, der Geruch, den er noch immer nicht bestimmen kann, intensiver wird und ein Chinese mit einem vollen Tablett in den Gastraum trippelt. Kappe beobachtet, wie er behende Schüsselchen und Schälchen auf den Tischen verteilt. Unter dem heißen Dampf, so erkennt Kappe, ist die Hälfte der Schüsseln mit Reis gefüllt, die übrigen mit einem undefinierbaren, gulaschähnlichen, rostbraunen Etwas.

Früher wurde er von seinem Vater immer gerügt, wenn er heiße Suppe schlürfte, beim Essen schmatzte oder gar, was dann postwendend mit einer Ohrfeige quittiert wurde, am Tisch rülpste. Hier hätte sein Vater, der Fischer, sämtliche Kollegen mitbringen können, und alle wären damit beschäftigt gewesen, reihum die Gäste zu bestrafen.

Kappe schaut interessiert von einem zum anderen der sich mit Stäbchen den Reis und das Soßenfleischgemisch in den Mund schaufelnden Gäste, als wäre er mit Margarete und Hartmut im Zoo bei der Raubtierfütterung.

«Det Essen machen die schon selba, die ham von mir ’n Nebenzimmer bekommen, und was die da machen, is nich mein Bier, die zahlen ja ooch dafür», erklärt der Wirt.

Tatsächlich, am Ursprungsort des Geruches, den der Wirt dem neugierigen Kappe nun zeigt, stehen vier kleine kichernde Chinesinnen vor großen Blechtöpfen, in denen es noch immer brodelt und vollkommen ungewohnt riecht.

Wonach, will Kappe wissen, das kann doch nicht nur vom Maggi kommen, das neben den Töpfen steht und eifrig als Sojasoßenersatz benutzt wird.

Der Wirt zuckt mit den Schultern. «Chinesisch eben!» Und fragen kann er die Köchinnen nicht. «Die können nich sprechen, ick meene, nich richtich, also nich unsere Sprache.» Er erzählt Kappe, dass die anderen meist auch nicht viel besser sprechen. «Die können grade mal mit Händen und Füßen handeln und ’n paar Zahlen. Die können ‹Bier› und ‹Bitte› sagen, ‹Danke› und ‹Scheene Frau›. Dat war’s dann aber ooch schon.»

Das sind ja allerbeste Aussichten für erfolgreiche Vernehmungen, denkt Kappe.

Als könne er Gedanken lesen, meint der Wirt, es gebe einen, der für schmales Geld zuverlässige Dolmetscherdienste leiste, der werde sogar von der Ausländerpolizei in Anspruch genommen und manchmal auch vom Gericht. Mit einem Kopfnicken deutet der Wirt auf einen Tisch in der hinteren Ecke, wo zwei junge Männer gerade die letzten Reiskörner aus der mit der linken Hand angehobenen Schüssel mit Stäbchen in den Mund schieben.

Nach einer weiteren Kopfbewegung des Wirtes steht einer der beiden vor Kappe. «Ich bin Herr Tam. Guten Tag, mein Herr! Ich studierte Deutsch in Shanghai und bin Ihnen gern zu Diensten.»

«Na ja, nu mal nich so förmlich, mein Junge!», meint Kappe und klopft ihm auf die Schulter.

Damit ist Tam engagiert.

Tam ist klein und drahtig. Er hat die Figur derjenigen Akrobaten, die bei Menschenpyramiden immer ganz oben stehen. Nachdem er vor vier Jahren seine Tante in Berlin besuchte, blieb der in Shanghai Geborene in Berlin hängen. Er schlage sich so durch, sagt er. Das gehe schon. Er habe auch ein offizielles Papier, das ihm bescheinigt, als Dolmetscher arbeiten zu dürfen. Und er interessiere sich für Politik, dafür sei Berlin gut.

Es gebe hier einige der in der Kommunistischen Partei aktive junge Chinesen, erzählt er Kappe auf dem Weg durchs gelbe Viertel, während Kappe versucht, dem acht Jahre Jüngeren nach drei großen Bieren und einem Korn körperlich und geistig zu folgen.

«Bei uns in Shanghai ist alles noch schlimmer. Voller. Menschen wie Ameisen», sagt Tam und lacht. Er lacht so wie die Chinesen, die Kappe auslachten, als er die Dusche abbekam: laut, hoch und schrill.

Kappe schwitzt, als sie endlich am Ende der Andreasstraße vor einem armseligen, aber recht ordentlichen Mietshaus ankommen.

Neben der Einfahrt ist rechts und links je ein Torpfosten in hellem Grün gestrichen. Darauf hat jemand kunstvoll rote chinesische Zeichen gepinselt. Darunter steht klein und auf Deutsch: Wong, 2. Hinterhof.

Er wohne im Vorderhaus, erklärt Tam, aber sein Lager sei im Hof, und dort sei er sicher noch zu finden.

Kappe folgt Tam durch die Toreinfahrt.

Es ist inzwischen dunkel geworden. Tam zieht ihn am Ärmel und bedeutet ihm aufzupassen.

Und tatsächlich wuseln schon im ersten Hof kleine Chinesen mit Karren und Kisten, mit Säcken auf den Schultern und Kindern im Arm so flink umher, dass Kappe aufpassen muss, mit keinem zusammenzustoßen. Während der Deutsche am Sonntage ruht, der Chinese flink seine Pflichten tut, dichtet er in Gedanken.

Am Eingang zum zweiten Hof kommt es zu einem kurzen, heftigen, lautstarken Disput zwischen Tam und zwei stämmigen kleinen Chinesen, die einem Ringverein angehören könnten und augenscheinlich nicht vorhaben, ihren Landsmann und Kappe durchzulassen.

Zunächst hält Kappe sich aus dem Streit heraus, schaut sich im Hof um und sieht, dass neben den Kisten ein NAG parkt. Einer vom Typ C4b. Bordeauxrot. So wie der, der ihn fast umgefahren hätte.

Tam bittet Kappe, seinen Polizeiausweis vorzuzeigen.

Die beiden Türsteher begutachten ihn im Schein der Petroleumlampe und bedeuten den Besuchern zu warten.

Es dauert. Fünf Minuten bestimmt, bis ein in hellgrünem Baumwollkittel und hellgrünen weiten Hosen gewandeter Chinese kommt.

Ein schöner Schlafanzug, schießt es Kappe durch den Kopf. Der Diener lässt Tam übersetzen, dass Herr Wong bereit sei den Kommissar zu empfangen.

Der Gang, durch den sie sich schlängeln, ist nicht für Gegenverkehr ausgelegt. Links und rechts ist er von sich stapelnden Holzkisten mit chinesischer Aufschrift begrenzt. Als Kappe in einem Seitengang Kartons sieht, auf denen in deutscher Sprache geschrieben steht Vorsicht, zerbrechlich!, bleibt er stehen und will sie sich näher ansehen, doch Tam drängt zur Eile, und auch der Hellgrüne stößt bereits Laute aus, wie es sonst nur Galeerenantreiber tun. Kappe bleibt nichts anderes übrig, als zu folgen.

Schließlich, auf einer Empore des Lagerraums, sieben eiserne Stufen über dem Boden, residiert Herr Wong an einem alten eichenen Schreibtisch. Er erhebt sich, als Kappe und Tam kommen, wechselt erst ein paar Worte auf Chinesisch, bevor er, sich zu Kappe wendend, sagt: «Willkommen, mein Herr! Schauen Sie sich ruhig um! Hier arbeiten ehrliche kleine Leute. Einer von ihnen musste heute gehen. Für immer.»

«Ja, das tut mir leid! Deshalb bin ich hier. Wir werden den Mörder finden!», entgegnet Kappe.

«Das hoffe ich. Wir suchen auch.»

«Wer ist wir?», fragt Kappe.

Wong spricht auf einmal in Chinesisch weiter.

Tam übersetzt, dass er sich nicht so gut in der deutschen Sprache ausdrücken könne.

Wong redet und redet, er wird laut und leise, seine Stimme wird schrill und tief, mehrmals fasst er Tam am Arm.

Selbst wenn Kappe ganz nüchtern wäre, so einem Redeschwall könnte er auch auf Deutsch nicht folgen.

Kurz hält Wong inne, dreht sich zur Seite, spuckt auf den Boden, dann fährt er in unverminderter Geschwindigkeit und Lautstärke fort.

Kappe hat Gelegenheit, den Chinesen zu mustern. Obwohl er gepflegter ist als die anderen, die er in der Gaststätte sah, erscheint Wong grobschlächtig, nicht nur wegen der weit außen liegenden Backenknochen und der flachgedrückten Nase, auch wegen seiner brutal wirkenden Art zu sprechen. Wie eine knurrende Bulldogge bellt er die Worte seinem Gegenüber ins Gesicht. Kein Sympath. Mit lautem Husten und erneutem Auf-den-Boden-Spucken versiegt seine Rede. Er schaut Kappe an, als erwarte er eine Antwort. Dann lacht er, so wie die anderen Chinesen auch. Nicht tief, wie es zu seinem massigen Körper passen würde, nein, hoch, schrill und laut.

«Der Herr lacht, weil er dachte, Sie würden verstehen und könnten antworten. Aber ich muss ja übersetzen», erklärt Tam. «Der Herr sagt, dass er sehr traurig über den Tod von Herrn Keung ist und auch wütend auf die Täter. Aber er hat keinen Verdacht und auch keine Ahnung, wer es getan haben könnte. Herr Keung sei ein guter Händler gewesen, er habe keine Feinde gehabt, keinen Ärger, er stammte aus demselben Heimatort wie er, aus Wenzhou.» Etwas leiser fügt Tam hinzu: «Das ist nur etwa einhundert Kilometer entfernt von Qingtian, woher Herr Li, sein Konkurrent stammt.»

Als Wong den Namen Li hört, stimmt er einen kurzen lauten Schimpfakkord an.

Tam aber fährt ungeachtet dessen mit seiner Übersetzung fort:«Herr Keung habe hier im zweiten Stock gelebt, und der Herr werde nun den Angehörigen Geld für die Trauerfeier schicken. Aber mehr kann er nicht sagen.»

Kappe will wissen, ob Keung bei Wong angestellt gewesen war und ob man die Unterkunft des Toten sehen könne.

Nach erneutem Hin- und Zurückübersetzen erklärt Tam, dass Herr Keung, wie die anderen Händler auch, selbständig gewesen sei. Aber er habe von Wong die Waren bezogen, teilweise auch auf Kredit. Dafür durfte er nur Wong-Waren verkaufen und auch nur in dem Revier, das ihm Wong vorgab.

Kappe merkt, dass Tam nun Dinge erklärt, die Wong gar nicht gesagt hat.

Nervös drückt Wong mehrmals einen Steinstempel in bröckelige rote Farbe, bevor er damit irgendwelche Papiere markiert. Dann drückt er ihn wieder in das bröckelige Rot.

Der Jade-Stein, der als Stempel dient, und die arterienblutrote Masse, die von Wong immer wieder mit dem Stein traktiert wird, lässt Kappe an den Toten denken, an dessen Anhänger, der ihm mehrmals ins blutige Brustbein getreten worden war. «Der Herr weiß nicht mehr. Aber wir können uns das Zimmer des Toten ansehen», sagt Tam schließlich.

Als sie gehen wollen, dreht sich Kappe nochmals um und bittet Tam zu fragen, ob der schicke Flitzer im Hof Herrn Wong gehöre.

«Der Herr sagt ja, das ist sein Auto, ein deutsches Auto, ein gutes Auto. Er ist stolz auf diese Technik», übersetzt Tam.

«Nicht billig!», meint Kappe.

«Billig ist nicht gut! Teuer ist deutsch und gut! Wir arbeiten gut und viel und hart und verdienen Geld für gutes Auto», sagt nun wieder Wong, ohne dass Tam übersetzen muss. «Wenn Sie wollen, ich zeige Ihnen.»

«Nein danke! Sehr liebenswürdig!» Kaum hat Kappe das gesagt, ärgert er sich. Einmal in so einen Wagen zu schauen wäre ja noch keine Bestechlichkeit gewesen.

Im Gänseschritt marschieren Tam und Kappe hinter dem hellgrün gekleideten Diener in den zweiten Stock des linken Seitenflügels, vorbei an immer noch emsig stapelnden und auspackenden Chinesen.

Keung wohnte gemeinsam mit drei anderen Chinesen in zwei Zimmern, jedes etwas größer als Kappes Küche. Die Bewohner teilen sich mit den zwei gegenüberliegenden Zimmern eine Kochecke und ein Klo eine halbe Treppe tiefer. Von den Mitbewohnern sind nur zwei da, die kaum Deutsch sprechen.

«Gute Ware!» und «Billiger Preis!». Mit diesen Worten begrüßen sie Kappe. Allzu sehr scheinen sie nicht um Keung zu trauern. Erst als Tam erklärt, es gehe nicht ums Kaufen und Feilschen, und er nach Keung fragt, sagen sie, jeder hätte sein Revier gehabt. Keung sei seit Jahren im Kreuzberger Wrangelkiez unterwegs gewesen. Sie verkaufen in Wedding am Sparrplatz und in Moabit.

«Sie sagen, sie hätten sich nur mal zum Mahjong oder zum Essen getroffen und nicht viel gesprochen. Herr Keung sei ein liebenswerter Mensch gewesen. Er habe auch nicht geschnarcht.»

Ein nachvollziehbares Mordmotiv ist also auszuschließen, denkt sich Kappe. Mehr aus Routine als aus Wissbegierde lässt er Tam fragen, wo die beiden anderen Mitbewohner zur Tatzeit am gestrigen Abend gewesen seien.

«Beide sagen, sie seien hier gewesen», übersetzt Tam, «zu Hause! Hätten gekocht mit den Bewohnern von gegenüber. Diese könnten das bestätigen.»

Kappe verzichtet darauf. Ein solches Alibi ist es nicht einmal wert, verifiziert zu werden. Er hat genug. Genug gehört und genug gesehen in den heruntergekommenen Kammern, wo es für die Kleider nur Truhen gibt und wozwischen den großen Kollektionskoffern, dem Bett und den drei Stühlen kaum noch Platz auf dem Boden ist. Aber selbst dieser Platz wird genutzt: als Ablage für verschmutzte Wäsche, für halbvolle Teetassen und volle Aschenbecher. Es riecht ein bisschen nach Gewürzen wie in der Eckkneipe. Allerdings vermischt sich hier dieser Geruch mit körperlichen Ausdünstungen ungewaschener Männer. Kappe will weg. Schleunigst.

Vor der Tür verabschiedet er sich von Tam. Er sagt ihm, er möge morgen Vormittag aufs Polizeipräsidium kommen, damit man einen Vertrag fürs Dolmetschen machen könne, und er möge seine Papiere mitbringen.

Auf dem Weg zum Schlesischen Bahnhof sieht Kappe, wie junge Chinesen mit deutschen Mädchen flachsen, ein älterer Deutscher mit drei jungen Chinesinnen plaudert und ein deutsch-chinesisches Paar Arm in Arm flaniert, als seien das hier die Linden.

Watteweichwarm. So fühlt er sich. Das Federbett, das seine Klara vor der Hochzeit noch günstig im Kaufhaus Rudolph Hertzog erstanden hatte, liegt leicht über Kappes nacktem behaartem Oberkörper.

War doch recht spät geworden gestern Abend. Auf dem Heimweg hätte er besser nicht noch mal einkehren und noch ein Bier trinken sollen. Klara hatte schon geschlafen, und er hat sich nicht mehr komplett ausgezogen.

Nun schmiegt er seinen Kopf in den Zufluchtsraum aller Männer, die nicht denken, nicht reden und am liebsten im Boden versinken wollen: zwischen die Unterseite des Kinns der geliebten Frau – oder wenigstens derjenigen, mit der man das Bett teilt – und dem Beginn der Brustebene oberhalb des Busens. Wer Glück hat, und Kappe kann in dieser Beziehung nicht klagen, spürt mit seinem unrasierten Kinn noch die oberen Ausläufer warmer, weicher weiblicher Rundungen.

Bei Klara gibt es für Kappe stets etwas zu spüren, sie ist üppig gebaut. Nur leider nachts immer brav in dicke, baumwollene Nachthemden eingepackt.

Trotzdem! Kappe kuschelt sich an diesem Morgen ganz besonders gern in diesen vom weiblichen Körper geformten Zufluchtsraum, der einen Augenkontakt unmöglich macht. Auch dann, wenn es die Frau darauf anlegt – so wie jetzt Klara, die, nachdem der Wecker bereits heftig klingelte, ohne bei Kappe auch nur die geringste Reaktion hervorzurufen, wissen will, wo er denn so lange gewesen sei. Sie kneift ihn dorthin, wo er sich früher sportlich durchtrainiert anfühlte.

«Morgen», brummt Kappe, ohne mit seinem Kopf den sicheren Raum zu verlassen.

«Und?», fragt Klara.

Bei so einem spitzen «Und?» ist es taktisch sinnvoll, schnell und umfassend zu antworten, hat Kappe gelernt. «War noch ermitteln … im Chinesen-Viertel … Dieser Mord, du weißt schon … Alles knifflig … Von Canow will schnell Ergebnisse haben.»

«Aber nicht Sonntagnacht!»

«Doch!», entgegnet Kappe.

«Und die Vernehmungen finden dann bei Bier und Buletten statt – oder wie? Du hast geduftet wie ’ne ganze Eckkneipe, als du

kamst.»

«Ach, warst du noch wach? Wusst ich nicht. Ja, ich musste dahin.»

«War ich, ja, aber du hast ja nichts mitbekommen.» Kappe versucht, Klara einen Kuss auf den Mund zu geben. Aber er trifft nur ihre Wange. Zu schnell hat sie sich weggedreht.

Gut, er hat auch immer Kinder gewollt. Nun ja, eigentlich hat er sich nie so richtig Gedanken darüber gemacht. Es gehört einfach dazu, welche zu haben. Aber dieses frühmorgendliche Gequäke, dieses frühe Wach- und Fröhlichsein, das kann Kappe noch immer nicht verknusen. Nun aber freut er sich ausnahmsweise, als er das Rütteln an der Schlafzimmertür und die hohen Stimmen von Margarete und Hartmut hört. «Die Kinder!», sagt er. Eine effiziente Methode, um jedes Gespräch abzuwürgen.

«Ich geh schon! Die sollen dich nicht so sehen. Komm erst mal zu dir!» Mit diesen Worten springt Klara aus dem Bett, schlüpft in ihren Bademantel und ist auch schon zur Tür hinaus.

Gleich wird Klara wieder vor ihm stehen, denkt er, und ihm eine Predigt halten, dass er aufstehen müsse. Er wird dann sagen, er wolle nur noch einen kleinen Moment «nachdenken». So nennt er das immer, wenn er noch im Bett bleiben will. Klara wird, wenn sie gut gelaunt ist, darauf eingehen und sagen, er solle im Präsidium weiterdenken, denn dort werde er dafür bezahlt, oder sie wird einfach nur sagen: «Raus jetzt!»

Was sie an diesem Morgen sagt, bekommt er nicht so genau mit. Er weiß nur, dass sämtliche Informationen, die in seinem Kopf ankommen, langsamer verarbeitet werden als sonst. Deshalb braucht er auch am Küchentisch einen Moment länger, um die Tragweite des Satzes von Klara zu verstehen, die sagt: «Am Freitag beginnt im Graphischen Kabinett Neumann eine Ausstellung von Max Beckmann. Die könnten wir uns doch ansehen, und dann könnten wir uns gleich mal nach ’ner besseren Wohnung umsehen, dort im Westen. Du hast es mir ja versprochen.»

Eigentlich wollte er seit dem Eheversprechen kein weiteres Versprechen leichtfertig abgeben, aber er erinnert sich dunkel daran, mal gesagt zu haben, man könne über einen Umzug reden. Mehr aber nicht. Nur weil da diese Angeber wohnen, will Klara da auch hin. Ausgerechnet sie, eine ehemalige Verkäuferin aus dem Kaufhaus. Sie weiß, dass George Grosz mit seiner Frau Eva Peters an den Hohenzollerndamm 201 gezogen ist. Sie weiß, dass es vor zwei Jahren die erste internationale Dada-Messe in Berlin gab. Diese Reichswehr-Beleidiger, diese Klassenhass-Aufstachler mussten ja zahlen dafür: Verleger Herzfelde sechshundert und Grosz dreihundert Mark, wenn sich Kappe recht erinnert. Und ausgerechnet seine Frau muss solche hässlichen Gestalten auf Bildern gut finden, solche ätzenden Karikaturen kahlköpfiger Kriegsgewinnler und verstümmelter Kriegsheimkehrer, die blind und amputiert Streichhölzer feilbieten. Hätte sie nur vor zwei Jahren Hartmut nicht im Urban bekommen! Sie hätte Ruth, die andere Mutter im Krankenzimmer, nie kennengelernt, diese Kunst-Amsel, die im Malik-Verlag arbeitet. Naja, nun war es eben so.

Bevor er weiterdenken und an einer Antwort tüfteln kann, kommt der nächste Satz von Klara, kaum dass sie ihren Marmeladenbrotbissen hinuntergeschluckt hat: «Vielleicht ist ja auch Die Nacht von ihm zu sehen, ein schreckliches Bild, aber so authentisch. Findest du nicht auch? Oder was Neues. Ach, ich bin ja so gespannt!»

Kappe mag Max Beckmann eigentlich gar nicht. Verdrehte und abgetrennte Gliedmaßen kennt er aus der Gerichtsmedizin, hässliche Fratzen aus dem Vernehmungszimmer. «Ja, vielleicht …»

In diesem Moment wirft Hartmut die Tasse Milch vom Tisch. «Hartmut, pass doch auf! Ich hab zigmal gesagt, du sollst nichts an den Rand stellen.» Klara ist sauer. Sie räumt den Schlamassel weg. Als sie vor Kappe auf den Knien die Milch aufwischt, sagt sie trotzig: «Ich mag aber Beckmann, und ich will da hingehen!»

«Gut, wir reden noch mal drüber. Und versprochen, ich schau mich heute schon mal in deinem Kiez der Schönen und Reichen um. Vielleicht wird ja bald ’ne Wohnung frei, wenn ich den chinesischen Großhändler Li des Mordes überführen kann.»

«Mach dich nur lustig!», entgegnet sie.

«Nein, im Ernst! Der wohnt da, Kantstraße, und da muss ich wirklich hin, und vielleicht buchten wir ihn ja ein.» Mit diesen Worten und einem Klara auf die Stirn gehauchten Kuss ist Kappe weg.

Wenig später steht er verärgert an der Tramhaltestelle, als ihm einfällt, dass die Straßenbahnen noch immer nicht fahren. Nun muss er zum Alexanderplatz laufen.

«Na, zurück von der Reise ins Land der Schlitzaugen?» Mit diesen Worten begrüßt ihn Galgenberg.

Kappe erzählt vom Wochenende und erhofft sich ein wenig Anerkennung von dem älteren Kollegen.

Doch Galgenberg meint nur, solange man bloß zwei Kinder und nicht wie er fünf habe, könne man doch locker mal einen Sonntag dem Dienst opfern.

«Ja, einen Sonntag schon, aber nicht auch noch die Ehe.» Kaum hat er das gesagt, merkt Kappe auch schon, dass er zu viel preisgab von seinen Problemen, obwohl Galgenberg manches Mal schon als väterlicher Berater, auch in Liebesdingen, fungiert hat. So schnell und so direkt hat er ihm eigentlich nicht sagen wollen, dass bei ihm der Haussegen schief hängt. Schnell versucht Kappe, das Thema zu umgehen, und erzählt seinem Kollegen von seinem Besuch bei Wong und davon, dass bald der Dolmetscher Tam erscheinen müsse.

Galgenberg bemerkt diesen abrupten Themenwechsel sehr wohl und sagt nur: «Ach, Klara wird sich schon wieder einkriegen. Du darfst den Chinesen-Fall auch nicht zu ernst nehmen.»

Anders als die Kriegsheimkehrer auf den Grosz-Bildern hat Galgenberg, zumindest äußerlich, nichts an der Front verloren, weder einen Fuß noch einen Arm oder ein Bein. Und seine Schussverletzung ist auch verheilt.

Dennoch, stellt Kappe immer wieder fest, ist er durch den Krieg ein anderer geworden. Er ist zynisch geworden. Manchmal kommt er Kappe geradezu defätistisch vor. Es scheint, als habe Galgenberg seine schützende Soldatenuniform, die sicher auch seine Seele umschloss, nicht mehr abgelegt. Sie ist festgewachsen, hat sich eingebrannt oder ist sonst wie dageblieben. Jedenfalls geht Galgenberg offenbar nichts mehr wirklich nahe. Das Mitgefühl mit Opfern, der Eifer, einen Fall zu klären, die Erschrockenheit über eine blutige Tat – alles weg. Früher hätte Galgenberg niemals gesagt, dass es doch genug Chinesen gebe drüben in Asien und dass es daher nicht so schlimm sei, wenn es einer weniger wäre, zumal die hier sowieso nur mit der deutschen Industrie konkurrieren. Nun aber tut er es, und Kappe schaut entsetzt von Kaffee und Lokal-Anzeiger auf. Außerdem versteht er den Seitenhieb auf die Industriekonkurrenz nicht.

Galgenberg merkt das. «Aber mein Junge, was würde unsere chemische Industrie machen, wenn sie kein Kokain mehr verkaufen könnte? Was, wenn hier in der Friedrichstraße, am Potsdamer Platz, im Femina, an der Goldelse plötzlich alle dem aufputschenden Kokain abschwören und zum Opium der Chinesen greifen würden? Wär doch schade um die schönen Nackttänzerinnen, die schnellen Radrennfahrer und die einfallsreichen Künstler, wenn ihnen allen der Kokain-Kick fehlen würde.» Galgenbergs schwerer Körper bebt vor Lachen.

Kappe findet das nicht lustig. Natürlich weiß er, dass es Opiumhändler aus Asien gibt und dass ohne Kokain, das offiziell nur auf Rezept in kleinen Mengen abgegeben werden darf, vieles anders wäre im Nachtleben Berlins. Aber es gibt nun einmal Apotheker und Ärzte, die es mit den Rezepten nicht so genau nehmen, und Kollegen bei den Behörden, auch bei der Polizei, die eben nicht alle Kraft darauf verwenden, die illegale Nutzung zu unterbinden. «Klar, wer will, soll sein Kokain schnupfen. Is mir schnuppe! Aber unser Fall hat nichts mit Rauschgift zu tun. Ich hab das ärmliche Zimmer gesehen. Der hat Nippes an alte Mütterchen verscherbelt. Und außerdem, Mord ist Mord. Der muss aufgeklärt werden!», sagt Kappe aus Überzeugung.

«Nu mal janz langsam! Ich hab hier noch so viele Akten, fahr du mal zu dem Konkurrenten des Chinesen, für den das Opfer arbeitete.» Kappe ist froh, herauszukommen aus dem Präsidium. Mit der Hochbahn fährt er bis zum Savignyplatz und geht dann zur Kantstraße, in der Li wohnt.

Es sind hier schon feinere Herren und vornehmere Damen unterwegs als in seinem Kreuzberg.

Kappe genießt den kleinen Spaziergang, kauft sich unterwegs eine heiße Wurst und freut sich, dass er hier auf der Straße auch mal einen Mercedes oder gar einen Maybach sieht und nicht nur knattrige AGAs, also Wagen der Aktiengesellschaft für Automobilbau.

Herr Li ist das Gegenteil von Herrn Wong. Er ist klein, feingliedrig, schlank. Er wohnt nicht, nein, er residiert in der Beletage. Mit Stuck an den gut vier Meter hohen Decken, mit alten, ausgesuchten Möbeln auf dem Eichenparkett, mit Hausangestellten, die in anthrazitfarbene Uniformen westlichen Schnitts gekleidet sind und sich in vornehmer Zurückhaltung üben. Und das alles umgeben von einem exotischen Duft. Unaufdringlich, etwas süßlich, aber nicht zu schwer, leicht zedernhaft oder besser zitronenhaft, aber nicht sauer.

Herr Li, der tatsächlich, wie ihm Tam gesagt hatte, ausgezeichnet Deutsch spricht, bemerkt, dass sich Kappe umschaut und zu ergründen versucht, was in der Luft liegt. «Das ist unser Tee, grüner Tee! Ich bekomme ihn direkt von meinem Bruder aus China. Er ist rein, und so duftet er auch. Darf ich Ihnen eine Tasse

anbieten?»

«Gerne! Man muss Neuem aufgeschlossen sein.» Kappe ist stolz, statt «Ja, danke!» so einen dem Umfeld entsprechenden Satz zustande gebracht zu haben. Schließlich sitzt er Herrn Li in einem von vier mit schwarzem Kalbsleder überzogenen Sesseln gegenüber.

Eine junge Chinesin, deren dünne Arme Modell hätten stehen können für die feingliedrigen Henkel der Teetassen, schenkt ihm die heiße blassgrüne Flüssigkeit ein. Etwas, das Kappe noch nie getrunken hat. Nun, er ist sowieso kein begeisterter Teetrinker. Aber wenn, dachte er immer, dann trinkt man doch Kräutertee oder schwarzen Tee. Aber grünen? Kräftig sieht er jedenfalls nicht aus, findet Kappe. Und der Geschmack?

Herr Li, den Kappe auf Ende fünfzig schätzt, schaut mit seinen jugendlich-leuchtenden Augen interessiert durch seine Hornbrille, als sei es ein wissenschaftliches Experiment, einen untersetzten Berliner Kommissar grünen Tee trinken zu sehen.

Bitter, mein Gott, wie bitter, und das sieht man gar nicht, denkt Kappe, als er den ersten Schluck genommen hat. Aber er lässt sich nichts anmerken, lobt den Geschmack, trinkt – eigentlich nur, um die junge Chinesin noch zweimal ganz aus der Nähe sehen zu können – insgesamt drei Tassen und spürt hinterher, dass nicht nur Kaffee, sondern auch grüner Tee eine nicht zu unterschätzende aufputschende Wirkung hat.

Schließlich kommt Kappe zum Thema. Ob er oder jemand aus seiner Firma hinter dem Mord an Keung stehen könnte?

Absurd! Herr Li lacht darüber.

Er ist der erste Chinese, den Kappe kennenlernt, der anders lacht. Nicht so schrill, nicht so hoch und nicht so laut. Gesitteter, denkt Kappe. Er spuckt auch nicht auf den Boden. Schließlich liegen da teure Perserteppiche.

Li bemerkt Kappes Blick. «Das hier hat sich meine Familie alles erarbeitet. Wir sind die älteste hier ansässige Familie.»

«Sie verkaufen Tee?», will Kappe wissen.

«Nein, wir haben einen Großhandel für Steinschnitzereien, Porzellan und Lack.»

«Keinen Tee?», erkundigt sich Kappe erneut.

«Nein, denn anders als Ihnen schmeckt den meisten Deutschen unser gesunder grüner Tee offenbar nicht. Zudem ist es schwer, eine Genehmigung für den Lebensmittelverkauf von Haustür zu Haustür zu bekommen.»

«Und Sie vertreiben Ihre Waren über Händler?»

«Ja. Wie hier bei allen Großhändlern üblich, kümmern sich selbständige Händler um den Vertrieb.» Herr Li streicht sich durch die zurückgekämmten, pomadisierten Haare. «Aber nicht alle bieten wirklich chinesische Waren an. Manche verkaufen deutsches Porzellan, manche geben billige Steine als Jade aus, und wieder andere handeln gar mit Illegalem. Ich will dazu nicht mehr sagen. Ich sage Ihnen nur, wir sind eine honorige Familie.»

Der Satz klingt wie die Regierungserklärung eines Deutschnationalen, denkt Kappe. «Und wie ist Ihr Verhältnis zu Herrn Wong? Er ist doch der direkte Konkurrent von Ihnen.»

«Ach, Berlin ist groß. Da ist genug Platz für viele. Das Verhältnis ist gut. Was soll ich sagen?»

«Mit Wongs Vorgänger, hab ich gehört, haben Sie besser zusammengearbeitet. Er war noch ein Händler alten Stils. So wie Sie.» Kappe nutzt nun Informationen, die er von Tam erhalten hat. Aber wie er feststellt, nützen ihm diese bei einem so aalglatten Gesprächspartner wie Li nicht sonderlich viel.

«Ich kann Ihnen nicht folgen», entgegnet dieser.

«Na ja, früher war es ein Miteinander, wurde mir gesagt, zwischen Ihnen und dem anderen Großhandelshaus. Seit Wong es übernommen hat, wirbt er Ihnen Händler ab und macht Ihnen Gebiete streitig.»

«Nein, Herr Kommissar, so ist es nicht! Wenn Sie so was gehört haben, kann es sich nur um dummes Geschwätz handeln», wiegelt Li ab.

Nichts ist aus ihm herauszubringen, das spürt Kappe. Während er überlegt, wie er es anstellen soll, die 08/15-Frage, wo Li sich zur Tatzeit aufgehalten habe, zu stellen, wobei sich Kappe nicht vorstellen kann, dass dieser feine Herr des Nachts in Kreuzberg auf offener Straße einen Mann tottritt, sagt Li in die Gesprächspause mit einem offenen Lächeln: «Wenn Sie wissen wollen, und das wollen Sie sicher, wo ich zur Tatzeit war, kann ich Ihnen sagen, nachdem ich die Tatzeit aus der Zeitung erfahren habe, dass ich die Stunden des Abends mit einer reizenden jungen Dame verbrachte.» Li macht eine Pause und genießt den fragenden Blick im bärtigen Gesicht des durch den Tee etwas nervös gewordenen Kommissars Kappe. Dann sagt er jedoch: «Mit meiner Nichte.» Li greift zu einem kleinen silbernen Glöckchen und bittet die Chinesin mit den Teetassenarmen, seine Nichte zu holen.

Das hätte er nicht tun sollen. Herr Li hätte sie nicht rufen sollen, seine Nichte. Er, Kappe, hätte ihm das Alibi auch so geglaubt. Und hätte er Fräulein Li nicht gesehen, nie kennengelernt, sein Leben wäre ein anderes, ein ruhigeres gewesen.

Aber das kann er in dem Moment, in dem ein Flügel der großen, weiß lackierten Tür aufgeht, nicht ahnen. In diesem Moment spürt er nur, dass es ihn in der Magengegend zwickt. Ist es der Tee, ist es sein Herz, das tiefer rutscht, fragt er sich. Oder das Würstchen, dessen Zutaten vielleicht nicht ganz frisch waren oder womöglich nicht einmal von Tieren stammten? Aber der Frauenmörder und Fleischer Karl Großmann, die»Bestie vom Schlesischen Bahnhof«, sitzt ja schon in Untersuchungshaft, beruhigt sich Kappe. Verrückt, was ihm in diesem Moment alles durch den Kopf schießt. So viel, dass er sich nicht rechtzeitig erheben und vorstellen kann.

«Das ist Lienhwa Li, meine Nichte», sagt Herr Li. «Sie studiert hier an der Hochschule für Politik gemeinsam mit meinem Sohn.» Und dann zu seiner Nichte geneigt: «Und dies, liebe Lienhwa, ist Kommissar Hermann Kappe.»

Erst als er diesen Satz wiederholt bekommt, steht Kappe auf und gibt Fräulein Li artig und unsicher wie ein kleines Kind die Hand und verharrt mit auf sie gerichteten Augen.

Herr Li rettet die Situation, indem er seine Nichte bittet, sich zu ihnen zu setzen. Dann klingelt er erneut, damit die Teetassenarm-Chinesin auch der Nichte grünes heißes Wasser eingießen kann.

Aber Kappe achtet nicht darauf. Seine Augen und Gedanken haben ein neues Ziel gefunden. Die kleine Dienerin, an die denkt er längst nicht mehr, die Sorgen mit Klara, der Mord, all das scheint auf einmal weit weg zu sein. Kappe staunt nur noch. Über diese wunderschöne Erscheinung in weiblicher Gestalt und über sich, dass er sich als erfahrener Kommissar und Ehemann noch dermaßen aus den gut geschnürten Schuhen hauen lässt.

Freilich, vollkommen unverständlich ist es auch für einen Außenstehenden nicht. Fräulein Li ist hübsch, hübscher als alle Chinesinnen, die Kappe jemals gesehen hat. Aber mehr noch, und das macht es erst richtig problematisch, sie ist attraktiver als alle Frauen, denen Kappe jemals begegnet ist. Diese Grübchen beim Lächeln links und rechts der kleinen Stupsnase, diese kleinen Fältchen neben den mandelförmigen Augen, diese schon aus der Ferne pfirsichzart wirkende Haut, dieser jugendliche, schlanke Körper, den man unter dem ausgesucht eleganten, hellgrauen, schlichten Kleid gut erahnen kann.

Kappe stottert seine Fragen mehr, als dass er sie preußisch beamtenhaft vorträgt. Natürlich bestätigt Fräulein Li das Alibi ihres Onkels, aber Kappe hört es nicht. Er hört nur den Klang ihrer Stimme, der so jung und zart ist.

Ihr in chinesischer Sprache geschulter Singsang nimmt den deutschen Worten jegliche Härte und betont die Vokale anders, manchmal falsch, aber auf jeden Fall reizend. Sicher kommt sie auch aus Südchina, wie die meisten in Berlin lebenden Chinesen, spricht Kantonesisch und hat für jeden Vokal neun verschiedene Tonhöhen, während Hochchinesisch ja nur vier verschiedene Tonlagen kennt.

Tam hat ihm das erklärt.

Dass er ausgerechnet jetzt daran denken muss! Was hat sie gesagt? Kappe ist verwirrt.

Lienhwa Li schließt den Mund mit einem stillen, reinen Lächeln. Einen Moment lang schaut sie Kappe an, dann senken sich ihre Augen auf die über dem Schoß gefalteten Hände.

«Wenn Sie keine Fragen mehr haben, lassen wir Lienhwa wieder ans Studieren gehen, nicht wahr?»

Obwohl Kappe die Frage von Herrn Li hört, öffnet er den Mund nicht für eine Antwort. Er fürchtet, dass sich sonst seine Gedanken, denen er nachhängt, unbewusst einen Weg zur Zunge bahnen und als Worte für jeden hörbar werden könnten. Und nichts wäre peinlicher als das. Kappe nickt deshalb nur.

Fräulein Li verabschiedet sich.

Das schöne Fräulein Li

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