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DREI

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VIELLEICHT IST IHR VATER JA PERVERS. Und ihr Großvater auch. Denn wenn die Töne, die sie so schön finden, Ausdruck tiefster, dunkelster Verzweiflung sind – und vieles spricht dafür –, wenn diese Klänge Einsamkeit, Trauer und Todesangst widerspiegeln, wäre es doch pervers, sich daran zu erfreuen. Aber sie tun es. Seit Kweihwa Li ein Kind war, tun sie es. So wie viele Männer. Eigentlich wie alle älteren Männer, die sie kennt. Erst jetzt merkt sie, dass sie sich noch nie überlegt hat, wie sich die Grillen dabei fühlen. Nun singen sie wieder. Laut und schrill. Kweihwa Li tritt aus der Schlange, in die sie sich vor der kleinen Post in Qingtian eingereiht hat, und beugt ihren schlanken Körper ein wenig zu dem alten Mann hinunter, der auf der Straße hockt und vor sich zwei Dutzend Tontöpfe mit lebendem Inhalt aufgestellt hat.

In sechs darüber gestapelten kleinen Korbkäfigen, durch deren enges Geflecht man die Insekten mehr erahnen als sehen kann, zirpen Tiere vor sich hin. Sie symbolisieren das Frühjahr.

Das ist nun da. Ihr Großvater freut sich seit Jahren, wenn er diesen Klang der sprießenden Natur, der wärmer strahlenden Sonne über den Winter retten kann, wenn seine Grille überlebt. Aber sie muss ihre Tage in einem kleinen, engen, dunklen Gefängnis fristen. Und vielleicht ändert sich deshalb im Laufe der Zeit ihr Klang, vielleicht sind es bald nicht mehr die Töne des Frühjahrs, die sie zum Besten gibt, sondern die der Einsamkeit und der Todesangst.

Kweihwa Li hat sich noch nie Gedanken gemacht über Grillen, seit sie vor neunzehn Jahren auf die Welt gekommen ist. Aber nun steht sie da auf der staubigen Straße hinter den Müttern, die Post von ihren Söhnen erwarten, und den Männern, die sich Geschäftsbriefe erhoffen mit neuen Bestellungen für Schnitzereien.

Und Kweihwa Li? Sie hofft auf einen Brief ihrer Schwester. Sicher wird Lienhwa wieder von ihrem politischen Kampf gegen die Ungerechtigkeit schreiben, denkt sie, von ihren Diskussionen mit kommunistischen Studenten in Berlin und ihrem Streben danach, allen Frauen Zugang zur Bildung zu verschaffen. Sie schreibt das immer so ernst, als wolle sie eine Rede halten.

Kweihwa Li hat nie verstanden, warum sie ihr das schreibt, hat das doch mit ihrem Leben hier nichts zu tun, denkt sie. Die Kommunisten kämpfen in Peking oder Shanghai. Und Freiheit, Gleichberechtigung? Ihr Vater wird schon wissen, was gut für sie ist. Wenn man sich um etwas kümmern könnte, dann vielleicht um die Freiheit der Grillen.

Aber bald hat sie auch diese vergessen. Mit kleinen schnellen Schritten tippelt sie auf ihrem Rückweg aus der Post an den Tierchen vorbei, den Brief in den Händen. Sie will ihn erst zu Hause öffnen und alleine auf der Bank hinterm Haus lesen.

Liebe Kweihwa,

meinen Dank will ich Dir zuerst übermitteln für den schönen Anhänger und den feinen Tee. Das bringt mir ein Stück Heimat in der Ferne. Das ist lieb. Ich denke oft an Dich und hoffe, dass es Dir gut geht, Mama und Papa auch. Ich schreibe ihnen ja gleich noch einen eigenen Brief. Oft denke ich, wie schön es doch wäre, wenn Du mich hier besuchen könntest. Und wir könnten in Revuen gehen und in Clubs. Da wird getanzt. Manche Frauen, Du wirst es nicht glauben, tanzen hier ganz nackt. Ausdruckstanz nennen sie das. Aber es gibt auch Ausdruckstanz, bei dem die Frauen angezogen sind. Sicher, die Nackten, das ist eher was für Männer. Und manche der Frauen verkaufen sich auch. Eine hat mir mal erzählt, wenn man genug Kokain nimmt (das wird hier genommen und nicht so häufig Opium wie bei uns), dann mache es einem gar nichts mehr aus, mit verschiedenen Männern … Dann mache das sogar Spaß. Du siehst, man kommt hier sogar mit solchen Menschen in Kontakt. Aber nein, liebe Kweihwa, hab keine Angst! Deine Schwester macht so etwas nicht.

Aber ich muss zugeben, es ist hier schon offener. Also man küsst sich schneller als bei uns, und dass man einen Freund hat, bevor man heiratet, das ist auch normal. Ach, erst neulich traf ich einen sehr netten schüchternen Mann, einen älteren, bärtigen. Zugegeben, er ist verheiratet, und er ist wohl auch nichts für mich, aber es ist schön, dass es Männer gibt, die so ganz anders sind als unsere. Nicht so dem Patriarchat verhaftet. Ach, welch Wort verwende ich hier, Schwester –ich meine, einfach nicht so lautsprecherisch. Ganz im Gegenteil, er ist so zurückhaltend, so … Na ja, ich glaube jedenfalls, ich habe ihn sogar verlegen gemacht. Stell Dir das mal vor, ich mache einen ausgewachsenen deutschen Mann verlegen! Und dabei ist er sogar Polizist. Ach ja, das hab ich Dir noch gar nicht geschrieben: Ein Händler von Onkels Konkurrent wurde erschlagen. Schlimm! Ein Mord! Wir als Konkurrenz sind verdächtigt worden. Wie absurd! Noch hat die Polizei keinen Täter. Der Bärtige sucht nach ihm. Ein bisschen hab ich ja Angst, dass es ein Ausländerfeind gewesen sein könnte, der den Mann totschlug. Neuerdings liest man hier nämlich in Zeitungen nicht nur Nettes über Menschen aus fremden Ländern. Eine Zeitung, der «Lokal-Anzeiger», nennt Ausländer gelegentlich «Parasiten am deutschen Volkskörper». Er gibt ihnen die Schuld dafür, dass die Preise hier steigen. Dabei sind die wirklich niedrig. Viele studieren hier, weil es billiger ist als in Paris. Nur ein Drittel so teuer wie dort ist es hier.

Also, wie gesagt, ich fände es schön, wenn Du mich besuchen könntest. Es ist nur so, das las ich neulich, dass man es Ausländern schwerer machen will, nach Deutschland zu kommen. Man bekommt nur noch für vierzehn Tage einen Sichtvermerk und auch nur, wenn es einen zwingenden Grund dafür gibt. Aber ich denke, Onkel könnte da schon etwas machen. Ich werde mal bei der chinesischen Gesandtschaft nachfragen. Die ist ja nicht weit von hier entfernt, am Kudamm. Du brauchst auch keine Angst haben. Im Westen, wo wir wohnen, ist alles sicherer als im Osten, wo die Händler leben und die Arbeiter. Es leben zwar sehr viele Russen in der Gegend, aber das sind feine Leute. Auch die meisten meiner Mitstudenten wohnen hier. Dir wird es hier gefallen. Wir werden einkaufen gehen, ins Theater und, wenn Du magst, auch mal in Piscators proletarisches Theater. Nun, liebe Kweihwa, nachdem ich so wirr und so viel geschrieben habe, muss ich los. Wir wollen uns heute Abend im Verein der Chinesischen Studenten treffen. Wenn wir weiter so wachsen, haben wir bald dreihundert Mitglieder.

Du fehlst mir, Schwester!

Bis dahin alles Liebe,

Deine an Dich denkende und Dich nicht vergessende Lienhwa

Das schöne Fräulein Li

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