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Der Banküberfall

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Peng! Zwei Amseln fliegen auf und flattern schimpfend davon.

„Mensch, Onkel Max! Wenn dein alter Kasten das noch mal macht, wecken wir die gesamte Nachbarschaft auf, dann ist es Essig mit dem Überfall.“

Der Angesprochene heißt Maximilian Krämer. Schweiß perlt auf seiner Stirn, nicht nur wegen des heißen Tages. Er dreht wieder am Zündschlüssel, jetzt springt der weiße Volkswagen T4 ohne zu mucken an.

Heute ist Donnerstag, Anfang August, kurz nach Mittag. Die Sonne scheint unbarmherzig von einem wolkenlosen, blauen Himmel. In Dornbusch an der Hauptstraße, dem Obstmarschenweg, befindet sich eine kleine Bank, die gerade aus ihrem Mittagsschlaf erwacht. Eben hat ein Mann, der hinter der Spiegelung im Glas der Eingangstür schemenhaft zu erkennen war, die Tür mit einem Schlüssel oben und unten entriegelt.

Der Transporter parkt in einer Nebenstraße. Der Fahrer, Onkel Max, ein untersetzter Mann in den Fünfzigern und damit deutlich älter als seine beiden Mitfahrer, gibt dem vielversprechenden Nachwuchs noch ein paar Tipps. „Denkt immer daran, was ihr bei mir gelernt habt: Nicht zögern, sondern entschlossen und aggressiv auftreten.“ Er fixiert den jungen, schlaksigen Mann mit dem braunen, strähnigen Haar auf dem Beifahrersitz. „Das gilt besonders für dich, Martin, du lässt dich immer noch zu leicht ins Bockshorn jagen.“

Der Angesprochene nickt. Sein Onkel hat recht, aber heute ist es einfach. Mit der Knarre in der Hand fühlt er sich ohnehin sicherer, das klappt schon.

„Ist das Funkgerät eingeschaltet?“, unterbricht Onkel Max dessen Grübeleien. Er klopft mit dem Finger auf ein Mikrofon. „Hörst du das?“

Martin zuckt zusammen. „Aua! Da wird man ja taub!“

Max Krämer nickt zufrieden. „Das funktioniert schon mal.“ Er war früher bei dem Flugzeugbauer Airbus in Finkenwerder zuständig für die Montage der Elektronik in den Flugzeugen, auf dem Gebiet ist er Profi. Dann war da diese leidige Diebstahlgeschichte und man hat ihn gefeuert. Seitdem hält er sich mit Gelegenheitsarbeiten und – zum Beispiel – diesem Überfall über Wasser. Er dreht sich nach hinten zu dem dritten Mann, jung wie Martin, aschblond und mit Brille. „Ist bei dir alles klar, Christoph?“

Der junge Mann nickt, ohne Max anzuschauen. „Sicher, das wird schon, mach dir keinen Kopf.“

„Das wird nicht, das muss klappen, hört ihr! Und noch einmal: Ihr müsst energisch auftreten! Es darf bei den Angestellten kein Zweifel an eurer Entschlossenheit aufkommen.“ Er dreht sich wieder nach vorne, startet den Motor und legt den ersten Gang ein. „Habt ihr alles? Beutel, Waffe, Sturmhaube?“

Die jungen Männer sind langsam genervt: „Ja doch, Max! Nun fahr schon.“

„So, dann los.“ Max Krämer kreuzt den Obstmarschenweg und kommt vor der kleinen Bank zum Stehen. Die Beifahrertür wird geöffnet, die jungen Männer steigen aus. Beide halten einen Leinenbeutel in der Hand. Jetzt stehen sie vor der Tür, greifen in ihre Beutel, holen schwarze Sturmhauben heraus und ziehen sie sich über den Kopf. Der mit der Brille stößt die Tür auf und geht mit schnellen Schritten in den Schalterraum, sein Kollege folgt ihm.

Aus seinem Beutel fördert der erste eine Waffe zutage und brüllt: „Dies ist ein Überfall!“ Er geht mit raschen Schritten auf den Bankangestellten hinter dem Schalter zu und hält ihm seine Waffe direkt vor das Gesicht. „Wenn Sie tun, was wir sagen, passiert Ihnen nichts!“

Seinem Kollegen gibt er einen Wink mit der Waffe. „Schnapp dir den Filialleiter, ich pass’ hier auf!“

Christoph Böhmer nickt, dann ruft er: „Wer ist hier der Chef?“

Die beiden Angestellten, eine Frau und ein Mann, schweigen.

Der junge Mann fuchtelt mit der Waffe vor den beiden herum. Die Frau, unscheinbar, etwa Mitte vierzig, mittelgroß, mit dauergewelltem, schwarzem Haar starrt den Bankräuber entsetzt an. Der Mann neben ihr ist nur wenig größer, er trägt einen braunen Anzug mit einer senfgelben Krawatte.

„Los jetzt, wer ist hier der Chef?“

Der Mann hebt zaghaft die Hand. „Unser Filialleiter, Herr Grossko, der ist aber nicht da. Er hat einen Zahnarzttermin.“

„Und wer öffnet jetzt den Safe?“, brüllt der junge Mann die beiden Angestellten an, die völlig eingeschüchtert vor ihm stehen.

„Ich kann das, ich vertrete den Chef, wenn er nicht da ist“, antwortet der Mann.

„Na also, warum nicht gleich? Dann gehen wir beide jetzt zum Safe und Sie öffnen ihn, klar?“

Der Mann nickt zaghaft und geht voraus in einen Nebenraum. Christoph Böhmer folgt ihm, die Pistole auf den Rücken des Mannes gerichtet. Durch eine Stahltür betreten sie den fensterlosen Raum. Die Wand zur Rechten ist von oben bis unten mit Schließfächern ausgestattet. Doch das interessiert den jungen Mann nicht. Onkel Max hat ihm eingeschärft, sich auf den Safe zu beschränken. Der steht am Ende des Raumes, ist etwa so hoch wie die Tür und einen Meter breit. Der junge Mann zeigt mit der Pistole darauf. „Aufmachen!“, herrscht er den Bankangestellten an.

Der zittert und hebt die Hände. „Die Kombination kennt nur der Chef.“ Er versucht, durch sein zaghaftes Zögern das Schlimmste zu verhindern.

„Spinnst du? Einer von euch muss doch an den Safe kommen, wenn der Boss nicht da ist! Vor ein paar Minuten hast du noch getönt, du könntest den Geldschrank öffnen! Komm mir bloß nicht so! Fang sofort an, oder du bist schneller tot, als du bis drei zählen kannst!“ Er hebt die Waffe und schlägt dem Mann mit dem Griff an den Kopf. „Los, mach den verdammten Safe auf!“

„Aua!“ Aus einer Platzwunde sickert Blut. Der Angestellte der Bank weiß, wann er verloren hat, aber er musste es auf jeden Fall versuchen. Mit einem leisen Seufzer wendet er sich zu dem Kombinationsschloss und beginnt, das Rad mit den Zahlen zu drehen. Als die schwere Tür aufschwingt, gleiten die Augen des jungen Verbrechers hektisch über den Inhalt. Mehrere Bündel Bargeld liegen darin, daneben ein paar kleine Kästen, vier Ordner stehen auf dem obersten Bord und ganz unten befindet sich ein brauner Pilotenkoffer.

„Was ist da drin?“, fragt der junge Mann und deutet mit der Pistole auf den Koffer.

„Weiß ich nicht, das ist Sache des Chefs“, klagt der Angestellte mit weinerlicher Stimme und zuckt mit den Schultern.

„Los, hol ihn raus!“, wird er angeherrscht. Der Mann bückt sich schwerfällig, zieht den Koffer heraus, lässt die Schlösser aufschnappen, dann hebt er den Deckel an.

„Verdammt!“, entfährt es dem jungen Mann. Der Koffer ist fast vollständig mit Geldscheinen gefüllt. Er reicht dem Angestellten der Bank seinen Leinenbeutel. „Los, pack die losen Scheine hier rein, ich nehme den Koffer!“

Widerstandslos ergreift dieser die Stapel Geldscheine und legt sie in den Beutel. Der Verbrecher schließt den Koffer, steckt sich die Pistole hinter den Gürtel, ergreift den Beutel und läuft zurück in den Kassenraum. „Wie weit bist du?“, ruft er seinem Kollegen zu.

Der nickt, hebt eine Hand zu der schwarzen Sturmhaube und drückt auf die Hörkapsel seines Funkgerätes. „Moment, der Boss will was.“

Maximilian Krämer hat den Lieferwagen inzwischen gewendet und parkt nun wieder am Anfang der Nebenstraße. Es muss nicht sein, dass er mehrere Minuten direkt vor der Bank hält und später der Wagen oder, schlimmer noch, er selbst genau beschrieben werden kann. Die Seitenscheibe ist geöffnet, er steckt sich eine Zigarette an, sein Arm hängt aus dem Fenster und er trommelt nervös mit den Fingern auf das Blech der Tür. Wenn nur alles gut geht! Immer wieder hat er mit seinen Jungs den Ablauf in seiner Scheune geprobt. Kisten und Bänke sollten die Einrichtung der Bank darstellen. Viel Zeit und Mühe hat er damit verbracht, die Bank auszukundschaften. Er hat ein Konto eingerichtet und ein Schließfach angemietet. Aus diesem Grund konnte er auch nicht mit den Jungs in die Bank. Die Bankangestellten würden ihn, trotz Sturmhaube, vielleicht wiedererkennen, und dann – doch was ist das? Er lässt vor Schreck die Zigarette fallen, panisch versucht er, die Glut vom Sitz zu wischen.

Ein silber-blauer Polizeiwagen hält direkt vor der Bank, ein Polizist öffnet die Fahrertür. Was wollen die hier?, fährt es Max durch den Kopf. Sofort stellt er sich schreckliche Szenarien vor, die alle mit ihrer Verhaftung enden.

Aufgeregt spricht er in das Mikrofon, am liebsten würde er laut rufen. „Martin, hörst du“, zischt er, „vor der Bank steht die Schmiere! Hast du verstanden? Die Po-li-zei! Lasst euch nicht am Fenster sehen und bleibt von der Tür weg!“ Ein kurzes Knacken und Rauschen, dann antwortet Martin etwas, das Max nicht versteht.

Der Fahrer des Polizeiautos stellt am Sitz herum, dann ein Blick in den Seitenspiegel. „Jedes Mal, wenn Thomas mit dem Auto gefahren ist, vergesse ich, den Sitz einzustellen. Ich werde dem Lulatsch mal klar machen, dass er den Sitz wenigstens annähernd in eine normale Position bringen könnte, wenn er den Wagen abstellt.“ Sein Kollege nickt wissend, das ist ihm auch schon ein paar Mal so gegangen. Der Kamerad von der anderen Schicht ist ein wahrer Hüne, man reicht kaum zu den Pedalen, so weit ist der Sitz von ihm nach hinten geschoben worden. Der Polizist lässt den Sitz auf seine Größe einrasten und schließt die Tür, dann fahren sie weiter. Sie sind zu einem Verkehrsunfall an der Elbfähre nach Glückstadt gerufen worden, dort wird man schon auf sie warten.

Max Krämer schluckt und wischt sich die Stirn mit dem Ärmel seines Hemdes ab. Verdammt, das war knapp! „Alles klar, sie sind fort“, spricht er ins Mikrofon. Wenige Sekunden später wird die Tür zur Bank aufgestoßen, seine Jungs kommen heraus. Er dreht den Zündschlüssel und startet den Wagen. Der Anlasser dreht sich zweimal, dann bleibt er stehen. Hat sich heute alles gegen ihn verschworen? Schweiß tropft ihm von der Stirn, seine Hände zittern. Er dreht den Zündschlüssel noch einmal, nach einer langsamen Umdrehung spuckt der Motor und beginnt stolpernd zu laufen. Vorsichtig betätigt er das Gaspedal. Jetzt nur nicht den Motor abwürgen! Doch es klappt, mit wenig Gas startet er den Wagen und fährt hinüber zu dem Parkplatz vor der Bank. Die jungen Männer ziehen sich die Sturmhauben vom Kopf, laufen zum Wagen und steigen ein, der Koffer landet auf der Ladefläche. Max gibt Gas und fährt unauffällig davon.

Martin und sein Freund Christoph sind fix und fertig, die Hitze und die Aufregung des heutigen Tages haben ihre Spuren hinterlassen. Schweiß läuft von den Gesichtern, die Wangen sind von der Hitze gerötet.

„Und? Wie ist es gelaufen?“, möchte Onkel Max wissen. Leise brummend fährt der schmutzig-weiße Lieferwagen durch das Dornbuschermoor.

„Gut, ich glaube – gut!“, antwortet Christoph atemlos, während er die Brille am Hemd trocken reibt. „Das lose Geld war nicht so reichlich, vielleicht einige Tausend. Dafür ist der Koffer, der unten im Safe stand, bis oben hin voller Scheine!“

„Hm, na gut, wir werden gleich einen Kassensturz machen.“ Maximilian Krämer ist jetzt wieder die Ruhe selbst. Kein Schuss ist gefallen, sie werden nicht verfolgt. Sein alter Lieferwagen kommt gleich wieder in die Scheune. Die Nummernschilder bringt er heute Abend wieder zurück, sobald es dunkel wird. Er hat sie in Oberndorf von einem Wagen abgebaut, dessen Besitzer im Urlaub zu sein scheinen und den sie hinter dem Haus zurückgelassen haben.

Max Krämers Haus befindet sich in einem kleinen Ort, dessen wenige Häuser weit verstreut liegen. Hinter einigen hohen Eschen und vielen Sträuchern versteckt sich ein baufälliges kleines Haus. Die ebenso schäbige Scheune erhebt sich dahinter. Ein dunkelblauer kleiner Wagen, sein Ford Fiesta, steht vor dem Haus. Er stoppt den Lieferwagen vor der Scheune, sein Neffe Martin springt aus dem Auto und zieht das schiefe Tor auf, Max gibt Gas und fährt hinein. Nur Augenblicke später ist nichts mehr zu sehen, der weiße Transporter steht unbemerkt, wie schon seit Jahren, in der dunklen Scheune.

„So, jetzt kommt zu mir ins Haus, lasst nichts im Auto zurück!“ Max geht vor, er tritt durch eine ehemals weiße Holztür in das schmutziggrau verputzte Haus. Durch die wenigen, kleinen Fenster dringt nur wenig Licht herein. Er schaltet das Licht in der Küche an, ein schauriges Durcheinander von schmutzigem Geschirr, eingetrockneten Lebensmitteln und Abfall wird von einer schwachen Glühbirne beleuchtet. „Geht schon mal in die Stube, ich setze Kaffee auf.“

Nach kurzer Zeit beginnt die Kaffeemaschine zu spucken und zu zischen, Max geht in die Stube zu seinen jungen Helfern. Die haben sich auf das schäbige Sofa gesetzt und rauchen eine Zigarette. Auf den Couchtisch haben sie ihre Beutel entleert, der braune Koffer steht auf dem Boden daneben.

Christoph sieht den Onkel seines Freundes erwartungsvoll an. „Ich lasse dir den Vortritt, schließlich bist du der geistige Kopf dieser Unternehmung.“ Sie lachen alle drei und sind sehr erleichtert, weil alles ohne Probleme geklappt hat. Jeder von ihnen hat sich vorher ausgemalt, wie sie in einer Zelle im Knast enden. Entspannt lehnen sie sich zurück und genießen die erste Zigarette seit heute Morgen.

„Nehmt mal eure Beute vom Tisch, wir brauchen jetzt Platz“, fordert Maximilian Krämer seine jungen Gehilfen auf. Er stellt den Koffer auf den Tisch, öffnet ihn, stutzt kurz und kippt den Inhalt auf die Tischplatte. Aus den frohen Gesichtern weicht für einen Moment jedes Lachen. Ein Strom aus Geldscheinen ergießt sich auf den Tisch. Sauber in Banderolen gebündelt liegen dort viele tausend Banknoten, sie erkennen nur 50-, 100- und 200-Euro-Scheine.

„Ich werde verrückt!“, spricht Christoph aus, was alle drei denken.

Martin beugt sich vor und schiebt die Geldbündel hin und her. „Heilige Scheiße, wie viel mag das wohl sein?“

Max’ Gesichtsausdruck dagegen wandelt sich von Freude zu Staunen, dann zu Sorge, je länger er auf den Haufen Geld blickt. „Da stimmt was nicht“, sagt er ernst. „Ich habe 50 000 erwartet, vielleicht 100 000, aber so viel? Da ist was faul.“

„Faul? Wieso faul? Freu dich doch, Onkel Max, wir sind reich!“ Er stellt sich hin und wirft ein paar Scheine in die Luft. „Wir sind Millionäre!“ Er lacht laut und hopst im Zimmer herum. Martin amüsiert sich über seinen Freund.

Doch sein Onkel mag sich nicht freuen, er hat ein mulmiges Gefühl bei dieser Menge Geld. „Da stimmt etwas nicht“, wiederholt er. „Lasst uns das Geld zählen, dann sehen wir weiter.“

„Ja! Wir wollen jetzt wissen, wie viel es ist!“, ruft Christoph.

„Gut, du zählst die Fünfziger. Martin, du die Hunderter und ich die Zweihunderter. Ich hole schon mal den Kaffee aus der Küche, ihr macht Platz auf dem Tisch.“

Vier Stunden später ist das Geld gezählt. Es sind etwa viertausend 50-Euro-Scheine, etwa achttausend 100-Euro-Scheine und etwa fünftausend 500-Euro-Scheine. Max hat auf einem Zettel Buch geführt und zählt es jetzt zusammen. „Es sind – wenn ihr euch nicht vertan habt – 3 498 200 Euro.“

Stille tritt ein. Dann springt Martin auf, reißt die Arme hoch und jubelt. „Das sind für jeden von uns über eine Million! Jaaa!“

„Ja!“, stimmt sein Freund ein. „Wir sind reich!“ Die beiden springen auf und führen einen Freudentanz in der kleinen Stube auf.

Nur Max sitzt versteinert da, erst recht, seitdem er die Summe kennt.

„Das ist viel zu viel, das ist oberfaul.“

„Spinnst du, das ist doch genau die richtige Menge, wir brauchen nie wieder zu arbeiten, nie wieder!“

„Sachte, sachte.“ Max versucht, die Freude seiner Jungs zu dämpfen. „Mit der Kohle stimmt was nicht. Warum ist in einer verschlafenen Bank so viel Geld?“

„Onkel Max, du bist eine alte Unke. Warum sollen wir nicht auch einmal Glück haben?“ Martin ist selig, vor seinem inneren Auge sieht er sich bereits mit einem Sportwagen umherfahren.

„Nein, nein, hört doch, wir müssen jetzt einen kühlen Kopf bewahren. Am besten ist, ich verwahre das Geld, bis wir wissen, ob es sauber ist.“

Die gute Laune der beiden Jungs bricht in sich zusammen. Christoph überlegt kurz, ob er protestieren soll, aber Onkel Max ist klar der Klügste von ihnen, sie sollten sich besser auf sein Gespür verlassen. Der hebt die Hände. „Ganz ruhig jetzt, Jungs. Ihr bekommt jeder 2 000 Euro, das muss so lange reichen, bis wir mehr wissen.“

Widerstrebend folgen die beiden dem Ratschlag des erfahrenen Gauners, 2 000 Euro sind besser als nichts. Auf jeden Fall mehr, als sie vor dem Überfall hatten.

In der Freitag-Ausgabe der lokalen Zeitung steht ein ausführlicher Bericht über den Banküberfall. Maximilian Krämer studiert sorgfältig jeden Satz. Ein Interview mit einem Bankangestellten ist auch dabei. Da steht es:

»Die Gauner erbeuteten eine Summe von 85 000 Euro.«

Max erstarrt, seine Befürchtungen haben sich bestätigt, er hat es doch gewusst! Die Bank hat den Verlust des Koffers nicht gemeldet. Es muss sich bei der Riesensumme um heißes Geld handeln. Er hält die albanische Mafia oder eine ähnliche Verbrecherorganisation für den Besitzer des Geldes, das wahrscheinlich aus Drogenhandel oder Prostitution stammt. Niemand sonst versteckt so viel Geld in einer kleinen Kehdinger Sparkasse.

Scheiße!

Er erhebt sich schwerfällig von seinem Sessel und geht ins Schlafzimmer. Hinter dem Bett steht der Pilotenkoffer mit dem Geld. Er zieht ihn hervor, öffnet den Deckel und sieht trübsinnig auf das viele Geld. Irgendwie kommt ihm der Koffer bekannt vor. Pilotenkoffer werden des Öfteren von Geldtransportunternehmen verwendet, vielleicht stammt dieser aus so einer Lieferung. Und die haben mitunter einen GPS-Sender in ihren Koffern versteckt. GPS-Sender!

Verdammt! Warum ist er nicht früher darauf gekommen? Hektisch schüttet er das Geld aufs Bett und durchsucht jeden Winkel des Koffers. Er hat je eine Außentasche an den Stirnseiten und eine große an einer Längsseite, die sind leer. Er dreht den Koffer auf den Kopf und sucht den Boden ab. Sein Gefühl hat ihn nicht getäuscht, im Boden ist eine Tasche eingearbeitet! Er holt ein Messer und öffnet mit zitternden Fingern das kleine Fach. Tatsächlich! Es befindet sich eine schwarze Schachtel darin, auf den ersten Blick sieht sie aus wie ein Handy. Es fehlt allerdings die Tastatur, stattdessen steht „GPS Monitoring System“ auf dem kleinen Deckel. An der Stirnseite sind zwei Schalter und eine langsam blinkende, grüne LED.

„Scheiße, Scheiße, Scheiße!“ Max springt auf und lässt das Gerät wie eine heiße Kartoffel fallen. Doch dann greift er wieder danach und fummelt daran herum. Er entdeckt ein paar Schrauben, hetzt zu der Schublade mit dem Werkzeug, schnappt sich einen Schraubendreher und dreht sie mit zitternden Fingern heraus. Unter einem Deckel kommt eine Batterie zum Vorschein. Er hebelt sie mit dem Schraubenzieher heraus und reißt das Kabel ab. Mit blassem Gesicht und flauem Gefühl im Magen sinkt er auf das Bett. Verdammt! Seine schlimmsten Befürchtungen haben sich bewahrheitet. Vielleicht sind die Killer eines Verbrecher syndikates schon auf der Suche nach ihnen, oder wissen bereits – dank des GPS Senders – wo sie suchen müssen!

Das Geld muss weg! Niemand darf irgendetwas finden! Sorgfältig verstaut er das Geld wieder im Koffer, jeden einzelnen Schein legt er zurück. Wohin damit? Hier kann es auf keinen Fall bleiben. Was macht man mit so viel Geld? Man kann damit nicht einfach zur Bank gehen und sagen: „Hier bitte, ich möchte etwas einzahlen.“ Dann kann er gleich zur Polizei gehen. Auf jeden Fall weit weg damit, nur weg. Vielleicht nach Hamburg? Dort könnte er später Teile des Geldes auf diverse Banken verteilen.

Er macht sich mit seinem Ford Fiesta auf den Weg, der hat zwar schon über fünfzehn Jahre auf dem Buckel, läuft aber noch ganz ordentlich. Er stellt die Tasche auf den Rücksitz und fährt los. Sein Ziel sind die Gepäckschließfächer im Hamburger Hauptbahnhof.

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Alexander Finkel sitzt im ICE von München nach Hamburg. Fast lautlos fliegt der weiße Zug dahin, eben hat er in Hannover gehalten, der nächste Halt wird in etwa einer Stunde in Hamburg-Harburg sein. Zum Hauptbahnhof sind es dann nur noch wenige Minuten.

Eine Stunde – das ist vielleicht ein Viertausendstel der Zeit, die er noch zu leben hat. Immer wieder muss er daran denken, er kann nicht anders. Es ist die Diagnose, die man ihm vor zwei Monaten im Universitätsklinikum Eppendorf mitgeteilt hat. Er hat es wortwörtlich im Ohr, ein boshafter Mechanismus hat es gespeichert und spielt es nun immer wieder ab.

„Herr Finkel, wir müssen Ihnen leider sagen, dass die Zeit, die Sie noch leben werden, begrenzt ist. Es könnten ein paar Monate sein, vielleicht ein halbes Jahr. Mit etwas Glück wird es vielleicht ein Jahr – aber Kopf hoch, die Medizin ist nicht allwissend, auch spontane, unerwartete Heilungen sind schon vorgekommen.“

Na, prima. Nun sitzt er hier im Zug nach Hamburg und die Zeit rinnt ihm durch die Finger. Er ist zwei Tage bei seinem Verleger in München gewesen und hat alle Verträge aufheben lassen, da er die Schriftstellerei nach vierzehn Jahren sehr erfolgreicher Arbeit beenden wird. Sein schleichender Lymphdrüsenkrebs – die Ärzte nennen es Hodgkin-Lymphom im Stadium 2B, das bedeutet mit Nebenwirkungen – lässt ihm zum Schreiben nicht die erforderliche Ruhe. Immer muss er an seinen Tod denken, da ist kein Platz für ausgefeilte Schreibarbeit. Wie wird sein Ende werden? Wird er mit Morphium die Schmerzen unterdrücken müssen? Bis jetzt ist es gut auszuhalten, die immer wieder auftretenden Schwächeanfälle sind bisher das einzige Problem. Gewicht hat er verloren. Bei einer Größe von 1,80 Meter wiegt er jetzt noch 65 Kilogramm, das ist eindeutig zu wenig. Wie an einer Vogelscheuche hängt die teure Kleidung an seiner klapperdürren Gestalt herab.

Ihm gegenüber sitzt ein Ehepaar mit einer Tochter, vielleicht acht Jahre alt. Immer wieder sieht die Kleine zu ihm herüber. Was belustigt sie an ihm? Sind es vielleicht die gerade nachgewachsenen Haare, die kaum mehr sind als ein dünner Flaum? Früher hätte er das Kind ignoriert, nun aber bemüht er sich, jedem Moment vom Rest seines Lebens etwas Positives abzuringen. Er lächelt das Mädchen an, eine an ihm selten gesehene Mimik. Sie lächelt zurück, ein unbeschwertes Lächeln eines kleinen Mädchens, das ihn angenehm berührt.

Mit seinen eigenen Kindern hat er sich immer schwergetan. Der Junge, Martin, lebt seit elf Jahren in Freiburg im Breisgau, er ist dort mit einer Französin verheiratet. Alexanders Tochter, Nicole, lebt seit mehreren Jahren in Köln. Sie ist dort Redakteurin bei einer Zeitung. Sie telefonieren nur selten miteinander, und wenn, haben sie sich nichts zu sagen. Mit seiner Frau hat er ebenfalls keinen Kontakt mehr. Im Laufe der Jahre hat er mit seinem abweisenden Wesen und den Launen jeden von sich gestoßen.

Gerade sieht das Mädchen wieder zu ihm her. Dessen Eltern sind in ein Gespräch vertieft, so nutzt er die Gelegenheit und streckt dem Mädchen die Zunge raus. Sie reißt die Augen auf und grinst ihn an. Warum hat er zu seinen Kindern keinen Zugang gefunden, ihn nicht einmal gesucht, als diese so alt waren wie die Kleine hier? Musste ihm erst der nahende Tod die Augen öffnen?

Vor vierzehn Jahren ist sein erstes Buch erschienen. „Terror in Somalia“, unter dem Pseudonym Frank Marschall. Er hat seine Erlebnisse bei der Befreiung der Geiseln aus dem Flugzeug „Landshut“ beschrieben. Das Buch war auf Anhieb ein Erfolg und hat ihn ermutigt, weiter zu schreiben. Seitdem hat er fast jedes Jahr einen Bestseller auf den Markt gebracht. Bestseller, die ihm ein Vermögen beschert haben. Aber Geld ist nicht alles, er war ein Ekel – jedenfalls meistens, das weiß er. 2008 hat er sich mit sechzig Jahren in den Ruhestand versetzen lassen, um sich ganz der Schreiberei widmen zu können. Nur ein Jahr später hat seine Frau seine Launen nicht mehr ausgehalten und ihn von einem auf den anderen Tag verlassen.

Neben ihm sitzt ein Mann und liest in einer Zeitung. Schon wieder stößt dieser ihn beim Umblättern an. Vor seiner ersten Chemotherapie hätte er ihn angeblasen, ob er nicht besser aufpassen könne. Mittlerweile hat er begonnen, umzudenken, umzudenken, er will die letzten Tage seines Lebens nicht mit Streitigkeiten vertun. So lässt er den Mann gewähren und ringt sich sogar ein Lächeln ab.

Einige Fahrgäste stehen auf und rollen ihre Koffer zur Tür, gleich wird der Zug in Harburg halten. Alexander hat noch etwas Zeit, am Hamburger Hauptbahnhof, eine Station weiter, wird der Zug ausgesetzt. Es ist kurz nach Mittag, am Abend will er zu Hause sein.

Endstation, es gibt viel Gedränge im Zug. Viele Reisende mit ihren Taschen stehen dicht gedrängt vor den Ausgängen. Finkel hat zwei Gepäckstücke bei sich: eine Reisetasche mit seinen persönlichen Siebensachen wie Kleidung, Rasierapparat, Notebook und allerlei Krimskrams. Das zweite Gepäckstück, ein brauner Pilotenkoffer, ist mit dem bepackt, was er in München von seinem Verleger erhalten hat: eingereichte Manuskripte, ein paar Sonderdrucke seiner Bücher und jede Menge alter Verträge. Er will in der Einkaufsstraße am Hauptbahnhof noch etwas einkaufen und beschließt daher, den Pilotenkoffer in der Zwischenzeit in einem der Schließfächer zu verwahren.


Max Krämer hat endlich den Hauptbahnhof erreicht. Schimpfend hat er sich durch die Straßen gekämpft, seine Nerven liegen blank. Er fühlt sich zu alt für den immer dichter werdenden Verkehr, vielleicht ist es auch eine Schnapsidee, das Geld hier in der Stadt vorläufig zu verstecken. Nein, es ist richtig so, korrigiert er sich. So weit weg wie möglich, auf ein Schließfach in Hamburg kommt so leicht niemand. Direkt am Hauptbahnhof findet er einen Parkplatz. Er flucht leise wegen der hohen Parkgebühr und sucht Münzen aus seinem Portemonnaie zusammen.

Mit dem Pilotenkoffer in der Hand betritt er den großen Bahnhof, der nach Paris-Nord der meist frequentierte Bahnhof Europas ist. Der Raum mit den Schließfächern befindet sich neben dem Eingang, ein großer Durchgang führt zu den vielen Fächern. Max Krämer drängt sich zwischen den Menschen durch, dann hat er ein freies Schließfach gefunden und stellt den Koffer hinein. Er schließt die Tür und zieht den Schlüssel ab. In dem Moment wird er unsanft umgerissen, er kommt zu Fall und rappelt sich mühsam wieder auf.

„Ein Dieb!“, ruft ein Mann neben ihm. „Haltet ihn!“ Ein junger Mann in einem dunklen Trainingsanzug mit Kapuze hält einen Diplomatenkoffer aus Aluminium in der Hand und drängt sich rücksichtslos durch die Menge der Menschen.

Auch Alexander Finkel erhält einen kräftigen Stoß. Der junge Mann mit dem glänzenden Koffer stößt ihn beiseite und hetzt mit langen Sprüngen davon. Der Schlüssel für das Gepäckfach, den Finkel eben noch in der Hand gehalten hat, liegt nun irgendwo auf dem Boden. Er bückt sich und sucht seine Umgebung ab. Dann hat er ihn entdeckt, er hebt ihn auf und steckt ihn in seine Jackentasche.

Max Krämer hat sich aufgerappelt, den Schließfachschlüssel hat er allerdings verloren. Mein Gott, das viele Geld!, denkt er erschrocken und sucht panisch den Boden ab. Doch er braucht nicht lange zu suchen, er liegt direkt neben ihm. Er greift hektisch danach, richtet sich auf und steckt den Schlüssel ein. Ein Mann steht neben ihm, er ist mager und gut gekleidet, er wirkt gepflegt. Der Mann hat sehr kurze schwarze Haare, die schon viel Grau enthalten. „Kann ich Ihnen helfen?“, fragt der höflich.

„Danke, es geht wieder. Hauptsache, er hat nicht meinen Koffer gestohlen“, antwortet Max Krämer. Nein, das wäre allerdings eine Katastrophe.

Der Angesprochene lächelt. „In meinen Fall wäre das bedeutungslos, er enthält nichts Wichtiges.“Dann geht jeder der Männer in eine andere Richtung, beide hängen ihren Gedanken nach. Max Krämer grübelt über das Geld nach, er denkt an die unglaubliche Summe.

Wie kann es jetzt weitergehen?

Alexander Finkel will noch etwas besorgen. Nachdenklich schlendert er die Mönckebergstraße entlang. Es soll ein Geschenk für seine Zugehfrau sein. Sie hat, seitdem er das Haus in Blankenese bewohnt, es immer sorgfältig und verlässlich in Ordnung gehalten. Nun wird sie, da er ausziehen wird und seine Doppelhaushälfte zur Vermietung freigegeben hat, ihre Stellung verlieren. Deshalb will er ihr als Trost und als Dank für die treue Arbeit ein Geschenk besorgen.

Er hat beschlossen, sein Leben vollständig umzukrempeln. Seine Haushälfte wird in wenigen Tagen vermietet werden, in etwa einer Woche wird er das neu erworbene Wohnmobil abholen und in die Ferne starten. Er hat kein bestimmtes Ziel, nur irgendwohin. Er hofft, durch den Neuanfang seinen Kopf freizubekommen und nicht immerzu an den Krebs denken zu müssen.

Er findet in einem Porzellangeschäft eine wunderhübsche Spieluhr, darüber wird sich seine Zugehfrau freuen, er weiß, dass sie so etwas sammelt. Es ist ein Karussell, nach dem Aufziehen dreht es sich und spielt ein englisches Kinderlied. Dazu ein Umschlag mit einem Geldschein, das ist angemessen.

Er lässt das Geschenk hübsch verpacken, dann steckt er es in seine Reisetasche. Langsam schlendert er zum Bahnhof zurück, holt den Pilotenkoffer aus dem Gepäckschließfach und begibt sich damit zum Taxistand.

„Nach Blankenese bitte, kennen Sie die Straße Am Kiekeberg?“

Der Taxifahrer nickt und stellt das Gepäck in den Kofferraum.

Seit sechs Jahren bewohnt Alexander Finkel das Haus im Hamburger Stadtteil Blankenese, genauer: ihm gehört die Hälfte eines Doppelhauses. Die andere Hälfte gehört einem Rechtsanwalt, mit dem er seit ein paar Jahren befreundet ist. Finkel schließt selten Freundschaften, aber sein Nachbarn hat sich von seinen Launen nicht beeindrucken lassen und das hat ihn wiederum beeindruckt. Dr. Rüdiger Miksche hat die Gabe, seine Mitmenschen schnell zu durchschauen und Stärken und Schwächen zu erkennen. Wahrscheinlich ist er deshalb ein erfolgreicher Rechtsanwalt.

Er sieht das Taxi davonfahren und öffnet die Tür zu seinem Haus. Licht scheint durch die Fenster herein, heute ist ein schöner Tag. Vom Obergeschoss aus kann man bis zur Elbe sehen, er hat oft auf der Dachterrasse gesessen und an seinen Büchern gearbeitet. Damit soll jetzt Schluss sein, mit dem Haus verbindet er zu viele unangenehme Erinnerungen. Er hat dort ein paar Jahre alleine gewohnt, seine Frau und Kinder hatten ihn bereits vor dem Kauf des Hauses verlassen – wenn auch aus unterschiedlichen Motiven. Auf eben dieser Dachterrasse hat er die ersten Symptome bemerkt, deren Ursache sich eineinhalb Jahre später als Krebs herausgestellt hat. Mit Grauen denkt er an die schmerzhafte Venenentzündung im linken Arm als Folge der ersten Chemotherapie, die dauernde Übelkeit, den Nachtschweiß. Nein, das ist jetzt – vorläufig – vorbei und nichts soll ihn den Rest seines Lebens daran erinnern.

Den Koffer stellt er in die Abstellkammer im Erdgeschoss. Dort stehen alle Dinge, die in den nächsten Tagen von einer Lagerfirma abgeholt werden sollen. Einen Meter hoch stapeln sich dort etwa dreißig Umzugskartons, gefüllt mit all dem Einerlei, mit dem sich ein Haus im Laufe von sechs Jahren füllt. Die Möbel werden bleiben, die Wohnung beziehungsweise das Teilhaus wird möbliert vermietet. Der Koffer enthält keine Dinge, die er jetzt oder später brauchen könnte, der kann die nächste Zeit mit den anderen Sachen im Lagerhaus überdauern. Er denkt einen Moment daran, was wohl nach seinem Tod mit den Habseligkeiten in der Lagerhalle passieren wird, ruft sich aber sofort zur Ordnung: Schluss damit! Das spielt für ihn keine Rolle mehr.

Sonnabends trifft Alexander mitunter seinen Freund und Nachbarn im Fitnesszentrum in der Nähe des Blankeneser Bahnhofs. Sollte er heute dorthin gehen? Er hat lange überlegt, ob es überhaupt sinnvoll ist, etwas für seine Kondition zu unternehmen. Muss man fit sterben? Brrr – er schüttelt sich. Er sollte vielleicht doch ein bisschen trainieren, sein Allgemeinzustand ist jämmerlich, er fühlt sich schlapp und ausgelaugt. Die beiden Chemotherapien haben ihm den Rest gegeben. Er gibt sich einen Ruck und steigt die Treppe zum Schlafzimmer im Obergeschoss hoch. Sein Sportzeug ist noch nicht verpackt, er zieht seinen Trainingsanzug an, schnappt sich die Tasche und geht damit zur Garage.

Sein kaffeebrauner Smart bringt ihn in wenigen Minuten zum Fitnesscenter. Bis vor einem Jahr hat er einen großen Mercedes gefahren. Aber wozu? Er fährt kaum Auto, wenn überhaupt, nur kurze Strecken in der Nähe. Deshalb hat er seinen Mercedes verkauft und sich diesen Smart angeschafft – er hat es nicht bereut.

Das Fitnesszentrum befindet sich in einem Neubau direkt am Blankeneser Bahnhof. Der Platz zum Parken ist knapp, er beglückwünscht sich einmal mehr zum Kauf des kleinen Autos. Im Center angekommen, sucht er im Trainingsraum nach seinem Freund. Und richtig, er hat sich nicht getäuscht, der Doktor der Rechtswissenschaften müht sich am Latissimus-Zugturm ab.

„Hallo, Roger, wie geht es dir?“

Rüdiger Miksche hält inne und dreht sich zu ihm um. „Hallo, Rambo, schön dich zu sehen.“

Alexander schüttelt leicht den Kopf. „Die Zeiten sind vorbei, ich bin schon lange kein Einzelkämpfer mehr.“

„Das sehe ich ganz anders. Du bist dein ganzes Leben ein Einzelkämpfer gewesen. Du hast gegen jeden gekämpft, wenn nicht mit Worten, dann eben unterschwellig. So hast du jeden bekämpft, die Mitglieder deiner Familie und auch dich selbst.“ Sein Freund ist gewohnt zu sagen, was er denkt.

„Ich habe mir vorgenommen, mich ab jetzt zu bessern.“

„So einfach ist das nicht, du musst ständig an dir arbeiten. Ich schlage vor, du machst das nach dem Motto der Pfadfinder, jeden Tag eine gute Tat. Du musst versuchen, das Gute in deinen Mitmenschen zu erkennen, mitunter ist das sehr verborgen.“

„Allerdings! So wie bei mir …“, setzt Alexander nachdenklich hinzu.

„Ja, so wie bei dir. Als die Empathie verteilt wurde, hast du weggeschaut.“ Rüdiger mustert ihn kritisch. „Wie geht es dir?“

Sein Freund ist einer der wenigen, die von Alexanders Erkrankung wissen. Er ringt sich ein Lächeln ab. „Danke, wie sich ein Todgeweihter so fühlt.“

„Mensch, Alex, du tust mir so leid. Was hältst du von folgendem Vorschlag? Ich will mich noch eine halbe Stunde hier quälen, du machst mit und anschließend gehen wir ins Rio Grande. Meine Frau ist heute bei ihrer Schwester, die kommt erst morgen zurück. Ich lade dich ein, du musst ordentlich was essen, damit du wieder zu Kräften kommst, du siehst ja schaurig aus.“

Alexander Finkel lächelt gequält. „Danke, dass du mich daran erinnerst.“

„Komm, verbeiß dich nicht in dein Schicksal, mach das Beste daraus – gutes Essen gehört dazu. Du kannst mir dabei von deinen Plänen für die nächste Zeit erzählen. Sag ja, dann werde ich uns gleich einen Tisch reservieren.“

Nach dem Sport duschen die beiden Männer und fahren anschließend ins Rio Grande, einem Nobelrestaurant. Das Lokal ist voll besetzt, gut, dass sie reserviert haben.

Die beiden Freunde studieren die Speisekarte. „Keine Hemmungen, ich zahle jede Wahl“, fordert Rüdiger seinen Freund mit einem Lächeln auf.

Der Kellner kommt und nimmt die Bestellung auf. „Erst mal ein Bier, der Wasserverlust des Trainings muss ausgeglichen werden“, sagt Rüdiger gut gelaunt. Der Kellner nickt und kommt bald mit dem gewünschten Getränk zurück. Nach einem langen Schluck setzt Rüdiger das Glas ab. „Ah, das war gut.“ Dann blickt er seinen Freund an. „So, nun erzähl mal, was hast du jetzt vor?“

Alexander Finkel berichtet, dass er sich vor einem Monat ein Wohnmobil gekauft hat. Seit einer Woche steht es bereit. „Der Händler hatte von mir den Auftrag, es komplett auszurüsten. Mit Geschirr, Fernseher, Fahrrad, mit allem, was dazu gehört. Nächste Woche geht es los!“

„Nur vom Feinsten, was? Na, es trifft ja keinen Armen. Hast du schon ein bestimmtes Ziel im Auge? Italien, Frankreich oder vielleicht Holland?“

Alexander zuckt mit den Schultern. „Das ist noch völlig offen. Auf jeden Fall südwärts, denke ich. Auf dem Weg dahin könnte ich meine Tochter in Köln sowie meinen Sohn in Freiburg besuchen.“

„Das hört sich gut an. Du willst also wieder Kontakt mit deinen Kindern aufnehmen?“

Er nickt. „Ja, ich habe da einiges gut zu machen. Ich will die letzten Monate meines Lebens in Harmonie mit meinen Mitmenschen und besonders mit meinen Kindern verbringen.“

„Bist du endlich dahintergekommen, dass du deine Energie an der falschen Stelle vergeudest, wenn du nur Streit mit jedem hast?“

„Ja, ich denke, dass ich es jetzt endlich begriffen habe. Du hast mir den Kopf oft gerade gerückt, ich danke dir nachträglich für deine Mühe mit mir. Es hat dir bestimmt keinen Spaß gemacht.“

Rüdiger Miksche schmunzelt. „Es war nicht immer einfach, es freut mich, dass du mein Engagement zu schätzen weißt. Das zeigt mir, dass ich mich nicht in dir getäuscht habe.“ Er nimmt noch einen Schluck von dem Bier. „Übrigens, ich habe eine Nachricht von der Hausverwaltung bekommen, der Mieter für deine Wohnung möchte schon Mitte des Monats – also übernächste Woche – kommen und tapezieren. Die wollen wissen, ob das in Ordnung ist.“

Finkel nickt. „Das kann er tun, ich will dann schon weit fort sein. Vielen Dank übrigens, dass du dich um diese Dinge kümmerst.“

„Das ist keine große Sache, als Anwalt ist das ein Teil meiner täglichen Arbeit. Überhaupt – was ist, falls irgendwelche Anfragen kommen oder Probleme auftauchen?“

„Entscheide bitte nach deinem Ermessen. Ich bin nicht zu erreichen, vielleicht melde ich mich gelegentlich bei dir. Für den schlimmsten Fall – du kennst mein Testament.“

„Mensch, Alex, nun rede doch nicht immer so.“

„Du bist gut! Ich muss oft daran denken, was wohl bald mit mir passieren wird, ich kann das leider nicht abstellen.“ Er lächelt gequält. „Denkst du nie an einen möglichen Tod?“

„Klar, ich denke auch daran, wie es wohl sein mag, wenn ich mal dran glauben muss. Aber das ist nicht der Punkt. Ich versuche nur, dich von all dem abzulenken, so gut es eben geht.“

„Ich weiß, das ist doch einer der Gründe für die Reise mit dem Wohnmobil. Ich hoffe, dass ich durch die Beschäftigung mit dem ungewohnten Fahrzeug, der Suche nach einem Stellplatz und der immer wechselnden Umgebung von der ständigen Angst abgelenkt werde.“

„Dabei wünsche ich dir viel Erfolg, ehrlich.“

Später brechen die beiden Männer auf. Sie haben den heutigen Abend genossen, vielleicht, weil es wohl der letzte dieser Art war.

Am Dienstag in der darauffolgenden Woche hält ein Möbelwagen vor dem schmucken Doppelhaus in der Straße Am Kiekeberg. Der Fahrer und zwei Gehilfen räumen das Zimmer leer, in dem Finkel seine Habseligkeiten aufbewahrt, um alles in das Lager zu bringen, das er angemietet hat. Ein brauner Pilotenkoffer ist auch dabei.

Das Haus ist, bis auf die Möbel und wenige persönliche Dinge, leer. Alexander Finkel verbringt die letzten Tage in dieser Umgebung, indem er noch alles packt, was er auf seine Reise mitnehmen will. Er fährt zum Verkehrsamt und besorgt sich Kennzeichen für das Wohnmobil. Der Kraftfahrzeugbrief kam am Montag von dem Autohändler per Einschreiben. Er hat Angst vor der Zukunft, wird es ihm bald schlechter gehen? Wird sein Plan mit der ungebundenen Reise so funktionieren, wie er es sich ausgemalt hat?


Loran Mirakuli sitzt auf dem Sofa in seinem Wohnzimmer im ersten Stock an der Ecke Davidstraße und Friedrichstraße. Er hat die Füße auf den Tisch gelegt und zieht genussvoll an einer Zigarre. Das weiße Hemd spannt über seinem Bauch.

„Möchtest du etwas trinken, Tarim?“, fragt er seinen Besucher. „Vielleicht ein Bier, einen Whisky oder einen Rakija?“

„Hast du keinen Kaffee?“, fragt der Angesprochene.

„Du bist ja langweilig. Aber bitte, der Gast ist König in meinem Haus.“ Er wendet sich an einen Mann auf dem Sessel neben ihm. „Milan, setz mal Kaffee auf.“ Der schlanke Mann mit dem ausdruckslosen Gesicht eilt in die Küche. Sein Chef wirkt gerade freundlich und scheint guter Laune zu sein. Aber das täuscht, er kennt ihn schon länger. Das Schlimmste sind dessen Wutanfälle, unberechenbar schlägt er mitunter mit großer Kraft zu. Eine Kraft, die man dem dicken Kerl nicht zutrauen würde.

„Was führt dich aus deinem Nest zu mir?“, fragt Loran seinen Gast. „Du wolltest mal sehen, wie es in einer richtigen Stadt aussieht, was?“ Er lacht dröhnend und bringt damit seinen Bauch zum Hüpfen.

„Drochtersen ist auch fast eine Stadt. Aber mit Hamburg verglichen, ist es natürlich ein Nest“, sagt der Gast zögernd und mustert die schwach glimmende Glut seiner Zigarette. „Es gibt bei uns sogar Verbrechen, vor einer Woche ist eine kleine Bank in einem noch kleineren Nest bei uns in der Nähe ausgeräumt worden.“

„Eine kleine Bank?“ Die Augen des Mafiabosses verengen sich zu schmalen Schlitzen. „Doch nicht etwa in Dornbusch?“

„Ja – wieso weißt du das? Und wieso kennst du dieses Nest?“

Loran Mirakuli wedelt ungeduldig mit der Hand, die die Zigarre hält, Asche fällt auf den Boden.

„Das ist jetzt unwichtig, erzähl mir mehr über den Überfall.“

„Na ja, viel weiß ich auch nicht. Das ist, glaube ich, fünf Tage her. Soweit ich weiß, sind die Gauner bisher nicht gefasst worden.“

„Wie viel Geld ist denn gestohlen worden?“

„In der Zeitung stand etwas von 85 000.“

„Sonst nichts?“

„Nein. Es sollen Profis gewesen sein, bisher fehlt jede Spur.“

Der Mafiaboss versinkt in finsteres Grübeln. 85 000 – das heißt gar nichts. Von dem Geld in dem Koffer kann und darf schließlich keiner etwas wissen. Er muss rauskriegen, was dort wirklich passiert ist, immerhin ist der Filialleiter der Mann seiner Schwester. Es ist zum Kotzen. Da denkt man, in so eine Bank am Ende der Welt wird nie eingebrochen – und dann das. Falls der Safe geleert wurde, dann haben die Gauner den Geldkoffer ganz sicher auch eingesackt. Sein schönes Geld! Das wäre eine Katastrophe! Er muss wissen, was da gelaufen ist, möglichst sofort.

Mühsam wuchtet er seinen massigen Körper hoch und schlurft zum Handy, das auf der Anrichte liegt. Er wählt eine Nummer.

„Hallo Zola, hier ist Loran. Sag mal, ist dein Mann in der Nähe?“

„Ja, mir geht es gut. Hör mal, das ist jetzt wichtig, wo ist Ferdinand?“

Wo ist der!? Kannst du ihn da irgendwie erreichen?“

„Scheiße! Gut. Ich komme dann am Freitag zu euch. Wenn er sich vorher meldet, sag ihm bitte, dass er mich unbedingt anrufen soll!“

Er beendet das Gespräch und pfeffert das Handy auf den Tisch. „So eine verdammte Scheiße! Mein Schwager ist auf Dienstreise – irgend so ein Lehrgang – und ist dort nicht zu erreichen. Am Freitag will er wieder zurück sein. Es ist zum Kotzen!

Tarim Drenica erhebt sich und verlässt leise die Wohnung. Er weiß, wann es Zeit ist, zu gehen.

Mord mit Absicht

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