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Laura

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Es ist fast Mitte August in Blankenese. Der magere Mann trägt wieder eine große Tasche nach draußen und lädt sie in den kleinen Smart. Der Raum hinter den beiden Sitzen ist bis zum Dach gefüllt. Es sind die Dinge, die er auf seine Reise ins Unbekannte mitnehmen will. Das Haus ist jetzt völlig leer, lediglich die Möbel sind nach Rücksprache mit den neuen Mietern verblieben. Unter den Sachen, die er ins Auto geladen hat, ist ein Sender-Empfänger für 70 Zentimeter-Wellen, die beim Verriegeln von Autos und Garagentoren verwendet werden. Das Gerät ist vor vielen Jahren bei einem seiner Einsätze mal wichtig gewesen. Seitdem schleppt er es von Wohnung zu Wohnung. Er war mitunter kurz davor, es zu entsorgen, auf der anderen Seite hat er den Code von seinem Garagentor darauf kopiert, falls er den Schlüssel mal verlieren sollte. Für sein neues Wohnmobil wäre so eine Verwendung auch denkbar.

Der letzte Gegenstand, den er einpackt, ist ein Buch, „Terror in Somalia“. Es ist sein erstes Buch, er hatte sofort einen Riesenerfolg damit, was ihn bewogen hat, es mit dem Schreiben zu versuchen. Es ist ein teilweise autobiografischer Roman, er beschreibt darin die Befreiung der Geiseln aus dem Lufthansa-Flugzeug Landshut. Er war damals erst neunundzwanzig Jahre alt, es ist sein erster großer Einsatz als Antiterrorkämpfer gewesen. Dieses Buch hat eine besondere Bedeutung für ihn, es wird einen Ehrenplatz in seinem neuen Wohnmobil erhalten.

Mit dem Wohnmobilhändler in Hollenstedt an der A1 hat er für heute Nachmittag die Übergabe verabredet. Er ist aufgeregt, schließlich beginnt heute der letzte Abschnitt seines Lebens. Endlich ist er fertig. Vergessen hat er sicher nichts, das Haus mit seinen Schränken und Abstellräumen ist praktisch leer. Auch seine Waffe hat er dabei, es ist eine Glock 26. Er besitzt, wie alle seine früheren Kollegen der Antiterroreinheit, einen lebenslang gültigen Waffenschein, für den Fall, dass sie reaktiviert werden müssen. Na, das bleibt ihm wahrscheinlich erspart. Die Waffe ruht in einer unauffälligen, kleinen Schatulle aus schwarzem Plastik, die unter dem Fahrersitz verstaut ist. Geld, Kreditkarten, Fahrzeugschein und Brief sowie die neuen Kennzeichen, er hat nichts vergessen. Den Haustürschlüssel wirft er in Rüdigers Briefkasten, fährt er los.

Der Autohändler in Hollenstedt hat sich auf exquisite Fahrzeuge spezialisiert. Neben Jaguar und Mercedes führt er die sündhaft teuren, aber edlen Wohnmobile der Firma Clipper. Alexander Finkel begrüßt Peter Reimer, den Inhaber der Firma, der es sich nicht nehmen lässt, seinen wohlhabenden Kunden selbst zu bedienen.

„Es ist mir eine besondere Freude, mit Ihnen Geschäfte zu machen, Herr Finkel.“ Herr Reimer ist der typische Geschäftsmann. Mitte fünfzig, gewellte, blonde Haare geben ihm ein legeres Äußeres, ohne die der Anzugträger bieder wirken würde.

„Danke.“ Die übertriebene Beflissenheit des Mannes geht Alexander gegen den Strich. Dieser Reimer denkt an das viele Geld, das er durch seinen solventen Kunden einnimmt.

„Lassen Sie uns in mein Büro gehen und den leidigen Papierkram erledigen.“ Er lächelt freundlich, wie bei allen seinen Kunden. „Anschließend erkläre ich Ihnen die Einzelheiten des Fahrzeugs und dann machen wir gemeinsam eine kurze Probefahrt. Ist das in Ihrem Sinne?“

Der Kaufvertrag ist bereits vor zwei Wochen per Post übermittelt worden, nun erhält Alexander den Fahrzeugbrief für das Mobil und die Bedienungsanleitungen für dessen Einrichtungen. Er holt aus einer Tasche die neuen Kennzeichen hervor und reicht sie Herrn Reimer.

„Sie haben an alles gedacht, entschuldigen Sie mich bitte einen Moment, ich gebe die Schilder in der Werkstatt ab, bin gleich wieder da!“

Als er zurückkommt, hat er einen dicken Atlas unter dem Arm. „Bitte, hier sind alle bekannten Stellplätze in Deutschland beschrieben – Standort, Ausstattung, Umgebung. Haben Sie schon ein Ziel für Ihre Reise gewählt?“

„Nein, erst mal Richtung Süden, habe ich gedacht.“

„Dann fahren Sie doch über Bremen. In der Weser befindet sich dort eine Flussinsel, auf der ist ein Wohnmobilstellplatz. Von meinen Kunden höre ich nur Gutes darüber. Mithilfe des Atlas’ kann ich Ihnen die Lage erklären. Sie können auch das Navigationssystem im Wohnmobil benutzen, damit ist das noch einfacher.“

Finkels Smart wird im Auftrag von der Firma Reimer verkauft, damit muss er sich nicht belasten. „Was machen wir, falls es einen Überschuss gibt? Angenommene 5 000 Euro habe ich bereits mit dem Kaufbetrag des Wohnmobils verrechnet.“

„Ich gebe Ihnen meine Kontonummer, würden Sie überschüssiges Geld bitte überweisen?“ Schließlich ist der Papierkram erledigt, nun soll er endlich das Wohnmobil in natura erleben.

Peter Reimer geht voraus. „Folgen Sie mir bitte.“

In einer großen Halle steht das Mobil, stolz präsentiert Reimer das edle Fahrzeug. „Hier haben wir das gute Stück. Die Firma Clipper baut Wohnmobile für besonders hohe Ansprüche, Sie haben bei der Wahl dieser Marke bestimmt keinen Fehler begangen.“

Alexander erhält eine detaillierte Einführung: Was ist beim Gastank zu beachten, wie wird die Heizung bedient, wie wird das Hubbett abgesenkt, die Einstellung der Satellitenantenne – es gibt viel zu beachten.

Peter Reimer schmunzelt. „Das ist ein bisschen viel auf einmal, oder? Keine Sorge, im Bordhandbuch können Sie alles nachlesen. Und dann heißt es: learning by doing. Ich schlage vor, ich zeige Ihnen noch das Fahrrad, das ich nach Ihren Vorgaben besorgt habe, anschließend führen wir eine Übungsfahrt durch.“

„Sehr gut, das Fahrrad würde ich auch gerne kurz Probe fahren.“

Herr Reimer nickt und öffnet die etwa einen Meter hohe Klappe im Heck des Wohnmobils. Ein großer Raum wird sichtbar, so tief wie das Wohnmobil breit ist. An einer Wand ist an einer Halterung mit einem Gurt ein Fahrrad befestigt. „Sehen Sie? Hier können Sie allerhand unterbringen. Die Auffahrböcke zum Beispiel, eine Kabeltrommel – was immer Ihnen einfällt. Auf der gegenüberliegenden Seite der Heckgarage ist auch eine Klappe, das ist bei großen Gegenständen sehr bequem.“

Finkel fährt mit dem neuen Rad ein paar Runden auf dem Platz und ist zufrieden, nur die Höhe des Sattels muss etwas korrigiert werden. Der nächste und letzte Schritt ist die Probefahrt des Mobils. Er klettert auf den Fahrersitz, der rührige Händler setzt sich daneben. „Es ist ganz einfach, fast wie beim Pkw. Das einzige Problem sind die ungewohnten Abmessungen und die kaum vorhandene Rundumsicht.“ Er zeigt auf einen kleinen Bildschirm oberhalb der Windschutzscheibe. „Dort sehen Sie entweder die Karte des Navigationssystems oder – sobald Sie den Rückwärtsgang einlegen – über die Heckkamera nach hinten. Legen Sie den ersten Gang ein und fahren Sie los, bleiben Sie vorerst auf dem Betriebsgelände.“

Alexander Finkel gibt Gas. Der Diesel brummt, langsam setzt sich das Mobil in Bewegung. Er fährt erst nur Schritttempo, führt ein paar Lenkversuche durch und bremst schließlich bis zum Stillstand. Die Rückwärtsfahrt ist wegen der Heckkamera auch kein Problem. Immer wieder kontrolliert er die Ecken des Fahrzeuges in den Rückspiegeln und die Position auf der Fahrbahn.

Eine halbe Stunde später steht das elegante Mobil mit dem roten Schriftzug „Clipper 680“ auf den Türen des Fahrerhauses vor den Büros. Seine persönlichen Gegenstände sind verstaut – für die Waffe hat er ein gutes Versteck im Fach für die Bedienungsanleitung gefunden. Die Anleitung wird er vorerst ständig brauchen, sodass das Fach ohnehin frei ist.

„So, Herr Finkel, das sieht schon gut aus. Ich kann Sie jetzt mit gutem Gewissen in die Wildnis entlassen.“ Er lacht. „Wenn Sie Fragen haben oder irgendetwas nicht in Ordnung ist, melden Sie sich gerne bei mir, ich stehe Ihnen jederzeit zur Verfügung. Ach ja – der Frischwassertank ist voll, ebenso der Gastank und der Diesel, der Abwassertank und die Kassette für die Fäkalien sind natürlich leer. Ich wünsche Ihnen alles Gute und eine unfallfreie Fahrt.“

Alexander Finkel fährt auf der Autobahn A1 Richtung Bremen. Vielleicht ist es ganz gut, wenn er am ersten Tag nicht so weit fährt, das Einfädeln auf die Autobahn hat ihm bereits Herzklopfen bereitet. Der Motor brummt sonor, mit gut 100 Stundenkilometern fährt ihn sein neues Fahrzeug Richtung Süden.


Loran Mirakuli sitzt in seinem mit tiefem Ton grollenden Ford Mustang und fährt auf dem Obstmarschenweg in Richtung Drochtersen. Seine Schwester hat ihm mitgeteilt, dass ihr Mann ab Mittag zu Hause sein wird. Es ist Freitag, der 12. August 2016.

Ferdinand Grossko, sein Schwager, wohnt in einem Einfamilienhaus in der Hüller Straße. Seine Frau Zola öffnet ihrem Bruder. „Hallo, Loran, komm doch rein.“ Sie bemüht sich um ein Lächeln.

Er gibt ihr einen Kuss auf die Wange. „Nett, dich zu sehen, Schwesterchen. Ist Ferdinand da?“

„Ja, er sitzt im Wohnzimmer … Sei bitte nicht so grob zu ihm, ja? Ich glaube, er ahnt, was du von ihm willst, nun fürchtet er Unannehmlichkeiten.“

„Er kann gerne Angst haben, hoffentlich ist er dann gesprächig!“

„Loran! Hör doch! Er ist mir ein guter Mann, ich möchte nicht, dass du ihn bedrohst, die Sache setzt ihm ohnehin schon zu!“

„Das hängt ganz von ihm ab, nun lass mich vorbei.“ Seine Schwester startet noch einen aussichtslosen Versuch, ihren Bruder am Betreten der Stube zu hindern, ungerührt quetscht er sich an ihr vorbei.

Sein Schwager sitzt auf dem Sofa und raucht mit zitternden Händen eine Zigarette. Es ist nicht die erste, der Aschenbecher ist voller Stummel. Loran lässt seinen massigen Körper in einen der Sessel fallen. „Du ahnst sicher, warum ich hier bin.“

„Das ist nicht schwer zu erraten.“ Der schmächtige Mann ist leichenblass. Seine wenigen schwarzen Haare sind glatt nach hinten gekämmt, auf der Nase thront eine übergroße Brille. „Es hängt sicher mit dem Banküberfall vor acht Tagen zusammen – ich habe nichts damit zu tun!“ Er hebt abwehrend die Hände.

„Ferdinand, du musst doch zugeben, dass es ein seltsamer Zufall ist, dass ausgerechnet deine kleine Bank in diesem verschlafenen Nest überfallen wird, ausgerechnet in dem Moment, als wir für ein paar Tage die Einkünfte des letzten halben Jahres bei dir zwischengelagert haben!“

„Ja, ich weiß.“ Sein Schwager windet sich, als wenn er große Schmerzen hat. „Es sieht tatsächlich verdächtig aus, es muss aber Zufall sein! Ich war auch gar nicht in der Bank, ich war beim Zahnarzt.“

„Das macht es nicht glaubwürdiger. Du könntest es als Banküberfall getarnt haben und hoffst nun, dass wir dir das abnehmen!“ Loran hat sich nach vorne gebeugt, was wegen seines dicken Bauches nicht so einfach ist. „Glaub nicht, dass wir das so hinnehmen!“ Seine Stimme wird lauter: „Wenn du nicht der Mann meiner Schwester wärst, würde ich hier nicht mehr so ruhig sitzen!“

Ferdinand Grossko leidet Höllenqualen. Er ist nicht der Mutigste, vor seinem Schwager hatte er schon immer Angst. „Es tut mir leid, Loran, wirklich.“

„Glaubst du, mit einer einfachen Entschuldigung ist es getan? ‚Tut mir leid‘? Nein, mein Lieber! Wir werden der Sache auf den Grund gehen, verlass dich drauf! Wenn du etwas mit dem Überfall zu tun hast, kriege ich das raus, und dann ist es vorbei mit dir – Schwager hin oder her.“ Ferdinand ist zu einer bejammernswerten Kreatur zusammengesunken, zitternd vor Angst. Warum seine Schwester ausgerechnet diesen Waschlappen geheiratet hat, hat Loran nie verstanden. Der Typ hat nicht die Eier, einen Bankraub zu planen, wahrscheinlich hat er tatsächlich nichts mit der Sache zu tun. „Gut, das war’s für heute, ich behalte dich im Auge. Du wirst uns über die Ermittlungsergebnisse der Polizei penibel auf dem Laufenden halten – ist das klar? Wenn du nicht dahinterstecken solltest, dann müssen wir die Bankräuber finden und ihnen das Geld wieder abnehmen.“ Er mustert seinen Schwager mit zusammengezogenen Augenbrauen. „Das ist nicht nur mein Geld, das könnte ich gerade noch verschmerzen. Es ist der Gewinn fast aller norddeutschen Clans, wobei der Hamburger – nämlich meiner – der größte ist. Wie stehe ich jetzt da? Meine Kollegen aus Bremen, Lübeck und Lüneburg werden mich nicht großzügig entlasten! Nein! Die wollen das Geld zurück! Eventuell über meine und vielleicht auch deine Leiche.“

Verdrießlich verlässt der Mafiaboss nach einer kurzen Unterredung mit seiner Schwester das Haus. Schon während der Rückfahrt nach Hamburg grübelt er über mögliche Lösungswege nach. Er kann sich ja schlecht selbst auf den Weg machen, um das Geld zu suchen, aber er kennt jemanden, noch aus dem Knast, der könnte der Richtige sein. Er wird noch heute versuchen, den Mann zu erreichen. Gregor Vanicek, ein Russe, der hatte im Knast das Sagen. Er war der Intelligenteste, aber auch der Skrupelloseste von allen. Der würde ganz sicher das Problem lösen können, er wird ihm einen Anteil des Geldes anbieten, dann wird er kaum widerstehen können.


Alexander Finkel trifft mit seinem Wohnmobil auf dem Stellplatz in Bremen ein. Er hält vor der Schranke und geht zum Häuschen des Platzwartes. Der Mann ist Ende fünfzig, sein kugelrunder Kopf ist mit wenigen, ehemals blonden Haaren bedeckt.

„Entschuldigen Sie, das ist mein erster Besuch auf einem Stellplatz. Sind Sie so nett und erklären mir bitte, worauf ich achten muss?“

„Schön, dass Sie sich unseren Platz als ersten ausgesucht haben“, sagt der Mann mit tiefer Stimme. „Warten Sie, ich komme gleich zu Ihnen, Sie können dann hinter mir herfahren.“

Im Schritttempo fährt er hinter dem Fahrrad des Platzwartes her. Der Platz ist fast vollständig belegt, aber der Mann kennt jeden Zentimeter seines Areals. Schließlich hält er und zeigt auf einen Schotterplatz, der etwa sechs mal zwölf Meter groß ist. Noch etwas ungeschickt rangiert Alexander Finkel rückwärts, er muss zweimal neu ansetzen, dann steht das Mobil, wo es stehen soll.

Der Platzwart steht draußen und mustert ihn neugierig. „Das klappt doch ganz gut, ist es wirklich das erste Mal?“ Er erklärt die Anschlüsse am Stellplatz. Frischwasser, Grauwasser und Strom sind an jedem Platz vorhanden. Ein Blick auf das Dach des Wohnmobils zeigt ihm, dass sein neuer Gast von dem zur Verfügung gestelltem Satellitensignal keinen Gebrauch machen wird. „Ein schönes Fahrzeug haben Sie da, das sieht man nicht alle Tage.“

Alexander Finkel erfährt, dass es einen Brötchenservice gibt. Außerdem bietet eine kleine Gaststätte einige Speisen an, sodass er sich vorerst nicht mit dem Kochen abplagen muss. Für den Zweck müsste er sich ohnehin erst mit ein paar Vorräten versorgen.

„Wie lange wollen Sie bleiben?“, unterbricht der tiefe Bass des Platzwartes seine Gedanken.

„Äh, ich habe noch keine Idee. Was ich bis jetzt sehe, gefällt mir gut – vielleicht ein paar Tage.“

„Sehr gut. Soll ich Sie für Brötchen vormerken?“

„Ja – das heißt nein. Ich müsste mir erst Lebensmittel besorgen.“

„Da kann ich Ihnen einen Tipp geben. Auf der anderen Seite des Werdersees ist direkt hinter der Brücke ein Lebensmittelhändler, den können Sie gut zu Fuß oder noch besser mit dem Fahrrad erreichen. Sonst können Sie im Lokal hier gegenüber auch ein Frühstück bekommen. Sagen Sie mir bis um sieben, wie Sie sich entschieden haben.“

Es ist jetzt kurz nach 16 Uhr, sodass sich Alexander entschließt, den Weg zum Lebensmittelhändler zu Fuß zurückzulegen. Wenn er zurück ist, wird er sich mit der Kapselmaschine für den Kaffee auseinandersetzen.

Der Händler erweist sich als echter Geheimtipp. Er ist türkischer Herkunft, aber in der Nähe von Bremen geboren, seine Sprache weist den schwachen Bremer Dialekt auf. Alexander hat festgestellt, dass er keine Lebensmittel hat. Das Wohnmobil ist zwar komplett ausgerüstet, aber das Einzige, was sich im Kühlschrank befindet, ist eine Flasche Sekt, ein Geschenk des Händlers. Er braucht praktisch alles: Margarine, Marmelade, Aufschnitt, Käse, ein bisschen Obst. Nicht zu vergessen Müllbeutel für den Abfalleimer. Die Kapseln für die Kaffeemaschine gehören ebenfalls dazu. So wird die Menge an Waren erheblich größer, als er es geplant hat. „Sagen Sie, ist es möglich, dass Sie mir den Einkauf zum Stellplatz bringen?“

Der Händler mit den tiefschwarzen Haaren nickt. „Klar, wohin Sie möchten. Für zehn Euro bringe ich Ihnen die Ware fast überall hin.“

„Danke, können Sie die Sachen im Büro des Wohnmobilstellplatzes auf dem Weser-Werder abgeben?“

Alexander ist der Fußweg wider Erwarten schwergefallen, einmal musste er sich setzen, weil ihn ein Schwächeanfall gepackt hat, sein Arzt hat ihm gesagt, dass so was passieren könnte. Er ist froh, dass er nicht auch noch den Einkauf tragen muss.

In der Nacht schläft er erstaunlich gut, am Morgen wird er von ein paar Stimmen aus der Nachbarschaft geweckt. Alexander steht auf und betritt die Waschkabine in seinem Mobil. Er hat fließend warmes Wasser und eine Dusche in einer kleinen Kabine, das ist sehr komfortabel. Am Außenspiegel hängt eine Tüte mit zwei Brötchen und auf seinen Wunsch eine Ausgabe des Weser Kuriers. Wenig später blubbert der Kapselautomat und braut einen wohlschmeckenden Kaffee. Die Brötchen sind frisch, was will man mehr? Er lehnt sich in die bequemen Polster zurück und denkt, wie gut er es hat. Wie so oft, wenn er sich wohlfühlt, fällt ihm jäh seine Krankheit ein. Angst überfällt ihn, er spürt sie fast körperlich. Er schließt die Augen und bemüht sich mit Autosuggestion, die Attacke einzudämmen: Einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen.

Allmählich geht es ihm besser. Die Sache mit der Ablenkung hat geklappt. Er war so beschäftigt mit dem Wohnmobil und dem Leben darin, dass er tatsächlich nicht über seine Situation nachgedacht hat. Aber ewig klappt das natürlich nicht. Alexander seufzt und macht Pläne für den heutigen Tag. In Bremen ist er noch nie gewesen. Er ist nur auf der Autobahn mitunter daran vorbeigefahren. Heute will er sich das Zentrum ansehen, unter anderem das Rathaus und die Plastik der Bremer Stadtmusikanten. Er wird es ohne Fahrrad versuchen, nur zu Fuß, auf das Fahrrad müsste er in der Stadt ständig aufpassen und es überall anschließen. Bis in die Innenstadt sind etwa zwei Kilometer, wenn er langsam geht, müsste er es schaffen. Von dem Werder, auf dem sich der Stellplatz befindet, führt die Sielwallfähre zum Osterdeich hinüber, von dort kann man entspannt an der Weser entlanggehen.

Die Besichtigung der Innenstadt war ein voller Erfolg. Alexander hat mit der Handykamera einige Fotos aufgenommen. Für den Rückweg will er eine andere Strecke wählen. Auf der Weser fahren Fahrgastschiffe, die einen Liniendienst abdecken. Er muss warten, die weißen Schiffe fahren nur stündlich.

In unmittelbarer Nähe zum Stellplatz gibt es ein Restaurant, den Kuhhirten. Da er keine Lust verspürt, zum Abend in seiner Küche zu werkeln, lässt er sich dort verwöhnen. Rundherum gesättigt und von zwei Gläsern Wein etwas beschwipst, fällt er in einen tiefen und traumlosen Schlaf.

Als er am nächsten Morgen erwacht, herrscht auf dem Stellplatz das typische, entspannte Treiben, die Wohnmobilfahrer stehen in Gruppen beisammen und unterhalten sich, auf dem Weg sieht er jemanden mit einer Toilettenkassette auf einer kleinen Sackkarre in Richtung Fäkalienentsorgung verschwinden. Jetzt fährt ein weißes Wohnmobil mit blauem Dekor leise brummend an seinem Platz vorbei der Ausfahrt zu, auf zu neuen Abenteuern.

Das Frühstück ist perfekt, die Brötchen schmecken. Anschließend richtet er sein Bett und nimmt sich dann die Zeitung vor.

Ein Blick aus dem Fenster neben dem Tisch zeigt ihm zwei Männer, die sein Gefährt offenbar fachmännisch begutachten. Er legt die Zeitung beiseite und tritt auf der kleinen, ausfahrbaren Treppe nach draußen.

„Ah, da ist ja endlich der Besitzer dieses schönen Fahrzeuges!“, tönt ihm eine tiefe Stimme entgegen. Es sind ein älterer Herr und ein ebenso alter Begleiter. Sie stellen sich als seine Nachbarn vor. „Es tut mir leid, wenn wir Sie gestört haben, aber so ein Mobil, wie Sie es haben, sieht man nicht alle Tage.“

„Ich freue mich, dass ich offenbar die richtige Wahl getroffen habe beziehungsweise gut beraten worden bin.“

„Dazu kann man Ihnen gratulieren. Es scheint auch ganz neu zu sein, oder?“

„Ja, ich habe es erst seit zwei Tagen.“

„Du meine Güte, zwei Tage! Das muss ja begossen werden.“

Alexander zuckt zusammen, diese Art Geselligkeiten sind nie sein Ding gewesen. Wäre er bloß nicht aus dem Wagen gekommen – dann erinnert er sich an seinen Vorsatz, sich mit seinen Mitbürgern zu vertragen und auch Kontakte zu suchen und zu pflegen. „Schön, ein sehr guter Vorschlag. Ich lade Sie jetzt zu einem Bier bei unserem Platzwart ein. Außerdem würde ich mich freuen, wenn Sie am Nachmittag meine Gäste bei Kaffee und Kuchen sein würden. An der Anlegestelle der Fähre befindet sich ein großes Café, bei dem man auch draußen am Weserstrand sitzen kann.“

„Ach nein, das ist doch nicht nötig, das war nur als Scherz gemeint.“

„Doch, es ist mir ernst. Bringen Sie doch Ihre Begleitung mit – aber nur, wenn Sie jetzt mit mir einen Blick in mein mobiles Heim werfen.“

Die beiden Herrschaften sind sehr beeindruckt. Die hervorragende Verarbeitung und die komplette Ausstattung finden uneingeschränkte Bewunderung. Obwohl Finkel weiß Gott andere Probleme hat, ist er nun doch ein bisschen stolz auf sein luxuriöses Wohnmobil. Als die Männer alles gesehen haben, schlendern sie zu dem kleinen Häuschen des Platzwartes, bei dem er sie auf ein Bier einlädt.

Am Nachmittag will Alexander sich in der Umgebung von Bremen noch verschiedene Ausrüstungsgegenstände kaufen, zum Beispiel einen Rucksack und eine Fahrradpacktasche. Heute will er zum ersten Mal sein neues Fahrrad ausprobieren. Er öffnet die Klappe zum Abstellraum im Heck seines Mobils. Er löst die Befestigung seines Rades und hebt es aus der Garage. Das Rad ist sehr leicht, so wie er es haben wollte. Es ist in Titangrau lackiert und wiegt vollausgestattet 15 Kilogramm. Er hat lange überlegt, ob es wohl ein „Pedelec“ sein müsste, ein Rad mit Motorunterstützung, wegen seiner mangelnden Fitness. Am Ende hat der Optimismus gesiegt und er hat – in der Hoffnung, es möge ihm bald besser gehen – ein normales Tourenrad gekauft.

In der Bremer Neustadt, gar nicht weit vom Stellplatz entfernt, wird er fündig. Er kauft sich eine Packtasche für das Rad. Jetzt fehlen ihm noch so manche Kleinigkeiten, wie zum Beispiel ein Salzstreuer, Dosenöffner, Küchenpapierrolle, Spülmittel und Geschirrhandtücher. In einem Wohnmobil kommt ein ganzer Hausstand zusammen, fast so, als würde man in eine neue Wohnung ziehen. Den gesamten Einkauf lädt er in die neue Packtasche, dann startet er zu einer Fahrradtour entlang der Weser in Richtung Norden. Am Lankenauer Höft benutzt er die Fähre, um auf die Ostseite der Weser überzusetzen. Alexander stellt fest, dass die Wege mit dem Rad bedeutend leichter zu bewältigen sind als zu Fuß. Als er an seinem Mobil ankommt, ist er zwar erschöpft, aber nicht so fix und fertig wie nach einem Fußmarsch.

Später, beim Kaffee mit seinen Nachbarn, fühlt er sich wie unter Freunden. Kaffee und Kuchen im Café Sand sind, wie zu erwarten, erstklassig. Alexander fragt seine Stellplatznachbarn nach Tipps für seine weitere Route. Seine neuen Freunde sind schon überall gewesen. Ein immer wieder genannter Vorschlag ist das „Südsee-Camp“ in der Lüneburger Heide.

„Wenn du in den Süden willst, liegt es auf der Strecke.“

Er erfährt, dass es ein großer Campingplatz mit jeder erdenklichen Ausstattung ist, seit einigen Jahren gibt es auch einen separaten Stellplatz für Wohnmobile.

„Warum heißt es denn ‚Südsee-Camp‘?“, möchte Alexander wissen.

„Auf dem Gelände befindet sich ein kleiner See mit einem tollen Ambiente. Palmen sind um ein Badeparadies mit Sandstrand gepflanzt, sodass man sich, mit etwas Fantasie, wie in der Südsee fühlen kann.“

Am Abend stellt Alexander fest, dass er seinen Wissensstand erweitern sollte. Die Nachbarn haben ihm einen speziellen Stellplatzführer für Norddeutschland empfohlen, den will er sich morgen besorgen, außerdem eine Badehose. Er hat schon ewig nicht mehr gebadet, aber der Werdersee und das gute Sommerwetter haben bei ihm die Lust zum Schwimmen geweckt.

Später ruht er sich auf seinem Bett aus, er ist ein bisschen erschöpft, fühlt sich aber gut. Das Treffen mit den fremden Menschen ist besser gelaufen, als er erwartet hat. Die Nachbarn haben sich zwar als redselig, aber auch ehrlich interessiert erwiesen. Das Zusammensein mit ihnen ist ihm nicht einmal schwergefallen. Trotz anfänglicher Skepsis muss er zugeben, dass er sich offenbar auf dem richtigen Weg befindet. Er muss und wird diesen Weg weiter beschreiten, schließlich will er den Rest seines Lebens in Harmonie mit seinen Mitmenschen verbringen. Ärger und Streit konnte er bisher nur mit eisernem Willen und einer stabilen Gesundheit ertragen, das muss ab jetzt anders werden.

Das Wochenende hat begonnen, für Alexander Finkel hat es keine Bedeutung mehr, er hat jeden Tag zur freien Verfügung. Nach intensivem Studium seiner Karten und des Stellplatzverzeichnisses entschließt er sich, erst im Laufe der nächsten Woche weiterzufahren. Das Wetter ist sonnig, der Platz und die Umgebung gefallen ihm, sodass er sich entschließt, noch zu bleiben.

Am Montagvormittag nimmt er sich wieder das Fahrrad vor. Er hat es bisher nur kurz benutzt, nun möchte er damit eine erste längere Tour unternehmen. Die Radwege an der Weser wirken sehr verlockend. Vom Platzwart hat er eine gefaltete Wanderkarte erhalten, damit will er es versuchen. Wegen seiner angeschlagenen Gesundheit lässt er es langsam angehen.

Mit leichter Bekleidung versehen, radelt er auf dem Weser-Radweg in Richtung Süden. Die Strecke führt oft direkt an der Weser entlang und ist landschaftlich reizvoll. Alle paar Kilometer legt er eine Pause ein, mehr zur Vorsicht, als dass es nötig gewesen wäre.

Bei Achim fährt er auf einer Brücke über die Weser, hier ist auch ein Hotel mit Restaurant, wunderhübsch an einer Bucht an dem Fluss gelegen.

Als er am späten Nachmittag wieder an seinem Wohnmobil eintrifft, hat er etwa 40 Kilometer zurückgelegt. Allerhand, so viel hat er sich gar nicht zugetraut. Sein körperlicher Zustand ist gut, das hat er nicht erwartet.

Später sitzt er in seinem Mobil und liest die Zeitung von heute. Es klopft an die Scheibe, es ist der Nachbar mit dem Mobil von Bürstner. „Hallo, Alex! Hast du Lust, nachher zum Grillen zu uns zu kommen? Meine Frau hat Geburtstag, wir wollen feiern.“

Früher hat er solche Einladungen abgelehnt. Er hat der gekünstelten Fröhlichkeit und den belanglosen Floskeln, die bei solchen Feierlichkeiten ausgetauscht werden, noch nie etwas abgewinnen können. Nun aber sollen diese Bedenken keine Rolle mehr spielen. Wenn er ehrlich ist, hat er auch nichts Besseres zu tun. Warum also nicht? „Soll ich deiner Frau etwas mitbringen, was meinst du?“

„Mach dir bloß keine Umstände, wir freuen uns, wenn du dabei bist.“

„Gut, ich komme. Bis nachher.“

Die Einladung klang sehr ehrlich, trotzdem sieht er wegen eines Mitbringsels in seine Ablagefächer. Im Kühlschrank steht immer noch die Flasche Sekt, das Geschenk von seinem Wohnmobilhändler. Das passt gut, für sich alleine würde er die Flasche kaum öffnen.

Das Treffen wird sehr gemütlich. Sein Geschenk, die Flasche Sekt, wird dankbar angenommen und schnell geleert. Die anderen Gäste sind zwei befreundete Paare, die gemeinsam mit ihren Wohnmobilen unterwegs sind, sowie ein weiterer Nachbar. Es ist ein Witwer, der mit einem alten Mobil unterwegs ist, seine vor Jahren verstorbene Frau hat ihn viele Jahre darin begleitet.

Die Gespräche sind ebenfalls tiefgründiger, als er erwartet hat, freundlich zeigen sie Interesse an ihm.

„Wir haben gesehen, dass du heute mit dem Fahrrad unterwegs warst. Wo bist du denn gewesen?“

Alexander berichtet von der Tour und die Nachbarn sind sehr interessiert an seiner Erzählung. Es gibt Bier und Rotwein zu trinken, je nach Geschmack.

Beiläufig werden die früheren Berufe seiner Nachbarn diskutiert. Er erfährt, dass der eine Ingenieur im Ruhestand ist, der andere war leitender Angestellter bei Volkswagen in Wolfsburg. Auch er wird nach seiner früheren Tätigkeit befragt.

„Ich war Polizist.“

„Na, na. Von einem Polizistengehalt kann man sich kaum so ein teures Wohnmobil leisten.“

„Okay“, Alexander hebt beschwichtigend die Hände, „ich habe geerbt.“

„Hee, da kann man glatt neidisch werden“, tönt ihm entgegen. „So eine Oma hätten wir auch gerne gehabt.“ Gelächter macht die Runde.

Er trinkt mehr als normalerweise und fällt später in einen tiefen Schlaf.

Es ist Dienstag, der 16. August. Alexander macht sich zu Fuß auf den Weg. Es ist nicht weit bis zur Innenstadt, außerdem gefällt ihm der Weg entlang der Weser sehr gut.

Die schöne Route hat er genossen und den Einkauf erledigt, jetzt soll ihn der Weg durch die Stadt führen, er sucht auch nach einer netten Gelegenheit zum Essen. Er findet sich im Ostertorviertel wieder, einem Stadtteil mit niedrigen Häusern, die dicht an dicht die kopfsteingepflasterten Straßen säumen. Viele Restaurants und Cafés haben ihre Sitzgelegenheiten bis auf die Bürgersteige erweitert. Es herrscht eine entspannte Atmosphäre, die ihn an die Straßencafés in München erinnert.

Er entdeckt eine Gaststätte, die direkt am Ostertorsteinweg liegt. Sonnenschirme sind neben den Tischen auf dem Bürgersteig aufgestellt, sodass er draußen sitzen und beim Essen das gute Wetter genießen kann. Die eigentlichen Räume der Gaststätte sind nicht so freundlich, wie die bunten Sonnenschirme vermuten lassen. Drinnen wirkt es düster und unordentlich, das Essen ist dagegen ohne Tadel.

Er kommt nicht umhin, die Toilette zu benutzen. Hier ist offenbar schon länger nicht richtig sauber gemacht worden, dicker Staub liegt auf dem Wasserkasten.

Aus der Kabine nebenan ertönt plötzlich Lärm, jemand stößt gegen die Trennwand, laut dringen Männerstimmen zu ihm herüber.

Jetzt schreit ein Mädchen. Ein Mädchen – auf dem Herrenklo? „Au, ihr Schweine! Lasst mich los!“

„Halt endlich still, du Schlampe!“

Das war ein Mann. Alexander Finkel beschließt, sich das näher anzusehen. Der schmerzhafte Schrei des Mädchens hat ihn aufgeschreckt. „Jeden Tag eine gute Tat“, der Satz von seinem Freund Rüdiger, fällt ihm wieder ein. Er verlässt seine Kabine und rüttelt an der Tür nebenan. „Was ist da los? Lassen Sie das Mädchen in Ruhe!“

Die Tür gibt nach, jemand drückt von innen, sie war nicht verschlossen und schwingt jetzt nach außen auf. Drei Personen sind in dem kleinen Raum. Es ist keine Toilette, sondern ein Abstellraum, hier werden Putzmittel, Besen, Schrubber und andere Geräte aufbewahrt. Auf dem Boden liegt ein Mädchen, ein junger Mann hält ihre Arme, der andere Mann hat dem sich heftig wehrenden Mädchen die kurze Hose ausgezogen. Sie strampelt mit den Beinen und windet sich mit aller Kraft, doch den beiden Männern ist sie nicht gewachsen.

„Hallo! Lassen Sie das Mädchen sofort los!“ Die beiden drehen sich kurz zu ihm um, grinsen frech und lassen sich nicht stören, das Mädchen weint und wehrt sich mit Händen und Füßen, aber gegen zwei Männer hat sie keine Chance. Alexander überlegt fieberhaft, was er tun kann, er ist geschwächt, auf ein Handgemenge mit den Männern kann er sich nicht einlassen. „Ich hole die Polizei!“, ruft er, fischt sein Handy aus der Hemdtasche und beginnt, den Vorgang zu filmen. Kurz blinkt das Einstelllicht und irritiert die Männer.

„Scheiße, Tobias, der Alte macht ernst!“, schreit einer der beiden, ein eher kleiner junger Mann mit schwarzem, sehr kurzem Haar.

„Nimm ihm doch das verdammte Handy weg!“, erwidert der andere, ein blonder Hüne mit tätowiertem Hals.

„Wieso ich?“

„Ach Scheiße!“

Sie lassen das Mädchen los, springen auf und drängeln sich an Alexander vorbei, sie rempeln ihn dabei so heftig an, dass er beinahe stürzt, sein Handy fällt auf den gefliesten Boden. Die Rüpel sind fort, er blickt zu dem Mädchen hinunter, die hockt auf den Knien und versucht sich aufzurichten.

„Hier bitte, halten Sie sich an meiner Hand fest.“

Sie greift danach, weicht jedoch seinem Blick aus, richtet sich auf und zieht den Schlüpfer und ihre schwarzen Hotpants hoch.

Als sie fertig ist, läuft sie wortlos an ihm vorbei. Etwas gekränkt blickt er ihr hinterher. Er hat keinen überschwänglichen Dank erwartet, aber wenigstens ein knappes Wort wäre doch wohl drin gewesen. Na gut, dann nicht. Er zuckt mit den Schultern und geht wieder nach draußen, sein Nachtisch wartet auf ihn.

Nur wenige Minuten später, er lehnt sich gerade entspannt zurück und beobachtet das Treiben auf der Straße und dem Bürgersteig, kommt das Mädchen aus dem Lokal heraus und setzt sich ein paar Tische entfernt auf einen Stuhl. Sie sieht die ganze Zeit auf ihr Handy, offenbar hat sie ihn nicht bemerkt. Jetzt legt sie ihr Telefon hin und sieht auf, kurz treffen sich ihre Blicke.

Er nippt an einem Espresso, als sie sich unerwartet an seinen Tisch setzt. „Ich bekomme noch Geld von dir.“

Alexander ist nicht wenig erstaunt. „Ich denke, ich sollte von Ihnen ein Dankeswort bekommen, und überhaupt: Warum duzen Sie mich?“

Sie blickt nervös auf die Tischdecke, dann sieht sie ihm ins Gesicht. „Ich sollte von den Jungs Geld kriegen, das hast du vermasselt.“

„Ich denke, ich habe Sie vor einer Vergewaltigung bewahrt, stimmt das etwa nicht?“

„Nicht ganz.“ Die Sache ist ihr offenbar peinlich. „Ich sollte von den beiden Typen hinterher bezahlt werden, zwanzig Euro pro Person waren abgemacht.“

Ihm fällt beinahe der Unterkiefer runter. Das Mädchen scheint demnach so etwas wie eine Prostituierte zu sein. „Aber wieso haben Sie geschrien und um Hilfe gerufen?“

„Ja, also – die Jungs waren schon fertig, beide nacheinander. Plötzlich wollten sie ein Sandwich mit mir machen. Also, das kommt für mich nicht infrage. Anal geht gar nicht, ich habe auch meine Prinzipien.“

Er muss grinsen, eine Nutte mit Prinzipien! „Wie alt sind Sie?“

„Warum willst du das wissen? Das kann dir doch scheißegal sein!“

„Warum sind Sie denn so unfreundlich zu mir?“ Beinahe bereut er es, dass er ihr vermeintlich geholfen hat.

Sie holt Luft. „Leute wie du sitzen auf dem hohen Ross, haben Kohle ohne Ende, keine Probleme und unsereiner muss sehen, wie er zurechtkommt! Dann bekommt man mal Hilfe, muss dafür aber bis ans Lebensende dankbar sein.“ Sie presst ihre Hände zusammen, stützt ihre Ellenbogen auf den Tisch und beginnt zu weinen, erst leise, dann immer heftiger.

Sie berührt ihn in ihrer Hilflosigkeit, wer weiß, was das Mädchen alles durchgemacht hat. Vielleicht sollte er doch versuchen, ihr zu helfen. Das ist die Gelegenheit, gut zu machen, was bei seinen eigenen Kindern falsch gelaufen ist. Früher hat es ihm an der nötigen Geduld und an Empathie gefehlt, er hatte kein Interesse daran, sich mit dem Seelenleben seiner Kinder auseinanderzusetzen. Gegenüber seiner Frau ist es auch nicht anders gewesen. Alexander sieht das Mädchen nachdenklich an. Jetzt ist alles anders, er hat jede Menge Zeit und es ist ihm ein Bedürfnis, die Fehler aus seinem früheren Leben zu korrigieren. Er legt eine Hand auf die des Mädchens. „Ich will Ihnen ehrlich helfen. Ich schlage vor, Sie erzählen mir, was Sie bedrückt. Dann können wir überlegen, ob und wie ich Ihnen helfen kann.“

Sie schnauft laut, dann beginnt sie leise, mit stockender Stimme zu erzählen. Ihre Mutter arbeitet als Prostituierte, ihren Vater hat sie nie kennengelernt. „Der ist mir auch scheißegal, was soll ich mit einem Vater, der nur zum Vögeln bei meiner Mutter war. Dass er dabei ein Kind gezeugt hat, war dem doch völlig egal.“ In der Schule stellte sie sich bald als sehr intelligent heraus, sie hat sogar ein paar Jahre das Gymnasium besucht. In der elften Klasse musste sie die Schule verlassen. Das Geld, das die Mutter verdiente, hat vorn und hinten nicht gereicht. „Sie hat vom Strich nicht mehr genug nach Hause gebracht, der Lack ist ab, jetzt reicht das Geld der Freier nicht mehr für uns beide“, erklärt das Mädchen. Mit sechzehn hat sie die ersten Erfahrungen auf dem Strich gemacht, zuerst nur gelegentlich. „Es müssen aber schon ein bis zwei Freier am Tag sein, sonst reicht es nicht fürs Essen und mein Zimmer, für etwas Speed hier und da muss auch noch was da sein.“ Sie sagt das, als spreche sie über den Einkauf von Kartoffeln.

„Nehmen Sie Rauschgift?“, fragt er irritiert.

Sie schüttelt heftig den Kopf, zu heftig für seinen Geschmack. „Nein, ich schniefe nur ab und zu etwas Speed, wenn ich mit Freunden am Wochenende mal abhänge. Ich kann jederzeit damit aufhören, wenn ich will.“

Na klar. Den Satz kennt Alexander. Das ist genau das Argument, mit dem Süchtige sich einreden, dass sie eben nicht abhängig sind. Alexander mustert sie nachdenklich. Sie sitzt zusammengesunken auf dem Stuhl, sie ist schlank, fast mager. Ihre schwarzen Haare sind kurz, fast wie ein Bürsten-Schnitt. Das Gesicht ist hübsch, wird aber durch zwei Piercings in der rechten Seite der Unterlippe entstellt.

„Sie wohnen also nicht mehr bei Ihrer Mutter?“

„Nee, wir brauchen beide unsere eigene Bude.“

„Wie alt sind Sie?“, fragt er erneut.

„Vor drei Monaten bin ich achtzehn geworden.“

Eine Idee reift in ihm, damit würde er mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen und sein selbst gestecktes Soll „Jeden Tag eine gute Tat“ übererfüllen.

„Ich fahre ohne Plan mit einem Wohnmobil durch die Gegend. Ich bin ganz alleine, was halten Sie davon, mir Gesellschaft zu leisten?“

Ihre Augen überzieht ein heller Schimmer, dann entsteht eine steile Falte zwischen ihren Augenbrauen. „Das hast du dir schön ausgedacht, und ich muss dann immer, wenn dir danach ist, die Beine breitmachen!“

Er hebt erschrocken die Hände, daran hat er tatsächlich überhaupt nicht gedacht. Die zwei Chemotherapien des vergangenen Jahres haben jegliches Interesse an Sex abgetötet. „Nein, um Gottes willen, nein! Ich habe nicht im Traum daran gedacht.“

Sie mustert ihn mit ihren großen, braunen Augen. „Ich nehm’ dir das ab. So unverschämt lügen würdest du nicht, bist nicht der Typ dafür.“ Dann lächelt sie. „Wenn dir doch danach ist, musst du es nur sagen. Ich hatte auch schon so alte Knacker wie dich, das macht mir nichts.“ Sie macht eine Pause. „Es wird Zeit, dass du mich duzt. Ich heiße Laura, Laura Peters. Und du?“

Einen Moment ist er sprachlos. Was hat die Kleine bloß für eine Kodderschnauze! Doch dann erwidert er ihr Lächeln, er kann ihr nicht böse sein. „Okay, ich heiße Alexander Finkel, du kannst Alex zu mir sagen.“

Sie holt eine Zigarettenschachtel aus der Handtasche und steckt sich eine an. Sie hält ihm die Schachtel hin. „Willst du auch eine?“

Alexander winkt ab. „Danke, nein. Das habe ich mir schon lange abgewöhnt.“ So lange auch wieder nicht, es war exakt an dem Tag, als er von seinem Krebs erfahren hat. „Wie machen wir jetzt weiter? Wie bald kannst du deine Wohnung verlassen? Musst du noch packen?“

Laura winkt ab. „Das ist kein Problem. Ich wohne in einem kleinen Zimmer in einer Wohngemeinschaft, dort kann ich sofort ausziehen. Es ist hier um die Ecke.“ Jetzt wird sie ganz hektisch, löscht die gerade angesteckte Zigarette und springt auf. „Ich hole meine Sachen, ich bin gleich wieder da, lauf nicht weg!“

Alexander sieht ihr hinterher, wie sie mit langen Beinen zwischen den Häusern verschwindet. Hoffentlich hat er sich mit seiner neu entdeckten Hilfsbereitschaft nicht übernommen. Ein Mädchen, das seine Enkelin sein könnte, dazu wahrscheinlich rauschgiftsüchtig. Er seufzt hörbar. Er will es auf jeden Fall versuchen, wenn es klappt, ist es für beide von Vorteil. Wenn nicht, hat er es wenigstens versucht.

Da ist sie wieder! Sie hat sich eine Tasche umgehängt und kommt freudestrahlend auf ihn zu.

Er sieht verblüfft auf die Tasche. „Ist das alles, was du hast?“

Sie zuckt gleichgültig mit den Schultern. „Das sind Unterwäsche, etwas Kleidung und Schminksachen, mehr habe ich nicht.“

„Gut, dann lass uns losgehen, mein Mobil steht auf dem Stellplatz auf dem Stadtwerder.“

Die beiden stapfen los, der Weg führt sie wieder an der Weser entlang. Das Mädchen blickt nachdenklich auf den Pfad, dann sieht sie ihren Begleiter an. „Warum machst du das eigentlich? Ausgerechnet mir helfen, einem Nichtsnutz, dazu einer Bordsteinschwalbe, ohne Ausbildung und ohne Perspektive für die Zukunft?“

„Mach dir darüber keine Gedanken. Wenn wir uns besser kennen, erkläre ich es dir. Bis dahin muss es dir genügen, dass ich so etwas wie ein Gelübde abgelegt habe.“ Alexander atmet schwer, der Weg strengt ihn nun doch an. „Wie es mit dir weitergehen soll, müssen wir uns noch überlegen.“ Innerhalb der nächsten Monate, fügt er in Gedanken hinzu. „Lass uns an der nächsten Bank halten, ich muss mich einen Moment hinsetzen.“

Sie sieht ihn prüfend von der Seite an. „Du machst schon schlapp? Wir sind doch noch lange nicht da.“

Alexander setzt sich keuchend auf die Bank und stützt seine Hände auf den Beinen ab. „Ja, da gibt es etwas, was ich dir erzählen muss, aber später.“

Sie steckt sich wieder eine Zigarette an und beobachtet, wie es ihrem Begleiter langsam besser geht. „Ich bin mal auf dein Wohnmobil gespant, ich bin noch nie in einem gewesen.“

„Du wirst staunen, meines ist ein ganz besonderes.“

Sie staunt tatsächlich und springt wie ein junges Lamm um das Mobil herum. „Ich darf da drin tatsächlich übernachten? In echt? Cool!“

Drinnen ist sie ganz aus dem Häuschen. Alexander zeigt ihr alle Einbauten, das kleine Badezimmer, die Küche mit der Spüle und dem zweiflammigen Herd, die Kaffeemaschine und die Mikrowelle. Das Hubbett beeindruckt sie sehr, auf Knopfdruck fährt es rauf und runter.

„Was für ein schönes Bett, da möchte ich mich sofort hineinlegen.“

Alexander freut sich über ihren Eifer. „Das muss noch ein wenig warten, wir werden erst essen gehen.“

Der erste Abend beginnt harmonisch. Er ist mit Laura im Kuhhirten gewesen, einem Lokal und Hotel auf der Halbinsel. Beide haben tüchtig zugelangt, Alexander hat einen so guten Appetit verspürt wie schon lange nicht mehr, Laura hat sich wie eine Verhungernde über das Essen hergemacht. Er sieht es mit Freude. „Iss nur, wenn es dir schmeckt. Du kannst auch noch Nachtisch haben, wenn du möchtest.“

„Ehrlich?“

„Natürlich, such’ dir etwas aus.“

Es dämmert bereits, als sie sich auf den Heimweg machen. „Das Essen kam genau zur richtigen Zeit. Die Wirkung der letzten Speed-Session ist seit ein paar Tagen vorbei, jetzt schmeckt das Essen wieder.“

„Wann hast du denn das Speed eingenommen?“

„Das ist vier Tage her, ich gehe mitunter mit Freunden am Wochenende auf Partys, dann ist es perfekt. Man schläft mehrere Tage nicht und fühlt sich furchtbar aufgedreht. Dafür ist es hinterher scheiße, man hat dauernd einen trockenen Mund, der Kopf schmerzt und das Herz rast.“

„Du hast mehrere Tage nicht geschlafen, wie hält man das aus?“

„Das ist voll krass. Am zweiten Tag ist der Körper bereits ausgelaugt und völlig erschöpft, aber der Kopf ist noch total wach.“

„Was ist denn das Positive daran?“

„Das kann so jemand wie du natürlich nicht nachvollziehen. Man ist gut drauf und kann die ganze Nacht durchtanzen, man hat ein gesteigertes Selbstbewusstsein – das alleine ist schon super. Man redet hemmungslos mit allen, lächelt die anderen immer an, das ist schon toll.“

„Hast du je an eventuelle Nachwirkungen und Spätfolgen gedacht?“

„Das sind natürlich immer die Argumente der Leute, die nie einen Kick gehabt haben. Was soll’s, ich finde es jetzt toll, später höre ich sowieso damit auf.“

Alexander mustert sie skeptisch, sie erfüllt jedes Klischee einer Süchtigen.

Der Weg vom Restaurant zum Stellplatz ist kurz, etwa 200 Meter. Gemütlich sieht es dort aus, aus einigen Fenstern der Wohnmobile scheint gelbliches Licht und beleuchtet die Bäume, die zwischen den Fahrzeugen stehen.

Später sehen sie noch etwas fern. Auch das ist alles noch neu und ungewohnt, aber schließlich hat er die Automatik-Antenne doch dazu bringen können, einen Satelliten zu finden.

„Hast du einen bestimmten Wunsch? Wir können fast alle Sender empfangen.“

Der Fernseher versteckt sich hinter einem Sitz und kann mithilfe eines Gewichtsausgleichs leicht nach oben gezogen werden, Laura flegelt sich auf den Fahrersitz und beobachtet Alexander bei der Sendersuche. „Ich möchte einen Liebesfilm sehen – wenn es geht.“

Es ist lange nach der Tagesschau, sodass sie überall den Anfang verpasst haben. Schließlich findet er einen netten Film, der sich später als „Eiskalte Engel“ herausstellt. Es ist ein amerikanischer Film, der auf einer Highschool spielt. Gebannt folgt Laura dem Film, empört sich über das Biest Kathryn und staunt über den unglaublichen Luxus, in dem die jungen Leute leben.

Alexander liegt noch eine Weile wach, sein Schützling im Hubbett ist fast sofort eingeschlafen, leise hört er ihre Atemzüge. Hoffentlich hat er sich mit dieser Aufgabe nicht übernommen. Sein Bedürfnis, zu helfen, ist ihm neu und ungewohnt. Jetzt erfordert es viel Überlegung. Das ist aber auch gut so, er bemerkt, dass er den ganzen Nachmittag nicht mehr an seine Erkrankung gedacht hat. Erst jetzt wieder, Ungewissheit und Angst dominieren erneut sein Denken. Stopp! Er versucht, sich abzulenken, und macht Pläne für morgen und die nächsten Tage. Wo könnte er den nächsten Halt einlegen? Wie wird Laura mit ihm, dem alten Sack und wenig geübten Gesellschafter, zurechtkommen? Oder er mit ihr? Für ihn bedeutet ihre Gesellschaft eine erhebliche Umstellung.

Ein Schrei gellt durch das Wohnmobil, ein Schrei voll Angst und Schrecken. Er fährt hoch und schaltet das Leselicht ein. Es ist Laura, die in ihrem Bett sitzt und zu ihm blickt. Er klettert aus seinem Heckbett und geht zu ihr hinüber. „Was ist mit dir? Warum hast du geschrien?“

Sie legt ihre Arme um ihn und drückt ihren Körper an ihn. Sie schnieft laut. „Das habe ich manchmal. Ich träume gruselige Dinge, die mir so erschreckend real vorkommen. Ich glaube, das sind die Nachwirkungen des Speeds.“

„Kann ich da irgendetwas tun? Möchtest du ein Schluck zu trinken?“

„Ja, etwas Wasser wäre gut, ich habe einen ganz trockenen Hals.“

Etwas später schläft Laura wieder tief und fest, er hört ihre langsamen Atemzüge von seinem Bett aus. Er grübelt über die Kleine nach. Vielleicht sollte er mit ihr die Drogenberatung in Bremen aufsuchen, er fühlt sich mit dieser Situation überfordert. Er kann sich noch an eine eigene, ganz furchtbare Panikattacke wegen der Morphium-Spritzen gegen seine Schmerzen erinnern. Er hat sich deshalb gegen die Spritzen entschieden und lieber die Schmerzen in Kauf genommen.

Während er über Lösungsmöglichkeiten nachdenkt, schläft er ein.

Als Alexander Laura beim Frühstück die Idee unterbreitet, die Drogenberatung aufzusuchen, ist sie entsetzt. „Scheiße! Was soll denn das? Ich bin nicht süchtig!“

„Das haben wir letzte Nacht gesehen. Mir ist es lieber, dass es jemand beurteilt, der mehr davon versteht als ich.“

„Du bist ein Blödmann. Die schwatzen dir irgendein Methadon-Programm auf oder eine monatelange Entziehungskur. So weit bin ich lange nicht.“

„Wenn das so ist, hast du ja nichts zu befürchten. Sperr dich doch nicht so dagegen, lass uns erst mal hingehen, dann überlegen wir beide, was wir davon umsetzen.“

Laura ist nicht begeistert, mit versteinertem Gesicht blickt sie auf den Tisch.

„Nun iss doch das Ei, ich habe es extra gekocht.“

„Hast du keine anderen Sorgen?“ Mit einer Handbewegung fegt sie das Ei mitsamt Eierbecher vom Tisch.

Alexander muss den Impuls unterdrücken, sie auf der Stelle vor die Wohnmobiltür zu setzen, dann besinnt er sich, er kann nicht gleich bei der ersten Schwierigkeit aufgeben. Wenn er ihr nicht hilft, wer dann? Er bückt sich und hebt das Ei und den Eierbecher auf.

Nun sitzt sie am Tisch und weint bitterlich. Er blickt ihr ins Gesicht. „Ich will dir doch nichts Böses, ich sorge mich nur. Lass es uns versuchen, ja?“

Sie weint immer noch, er versucht es mit einem Lockmittel. „Du hast doch kaum etwas zum Anziehen. Und das, was du hast, ist alles andere als – gesellschaftsfähig.“ Das stimmt, seine Nachbarn auf dem Stellplatz haben bereits neugierig zu ihm herübergesehen, was die sich wohl zusammenreimen? „Was hältst du davon, wenn wir nach dem Besuch bei der Drogenberatung einkaufen gehen und dich ganz neu einkleiden?“ Er reicht ihr ein Taschentuch. „Trockne deine Tränen, dann können wir losgehen. Wenigstens mir zuliebe, ja?“

Laura schnäuzt ihre Nase, dann nickt sie, ein schwaches Lächeln huscht über ihr Gesicht.

Die Drogenberatung der Caritas in Bremen ist im Sankt Joseph-Stift untergebracht. Das ungleiche Paar nimmt sich am Weserufer ein Taxi. Alexander hält Laura an der Hand, in der Nähe der Beratungsstelle zögert sie. „Ich hatte bisher nicht den Eindruck, dass du ängstlich bist“, bemerkt Finkel. „Was kann dir schon passieren? Wollen wir reingehen?“ Laura nickt zaghaft, dann betreten sie das gelbe Gebäude neben dem Krankenhaus. Sie müssen warten, neben ihnen sitzen noch zwei junge Männer, die mit grauem Gesicht aus dunkel umrandeten Augen an die Wand starren. Sie haben einen Mann dabei, der so etwas wie ein Sozialarbeiter zu sein scheint.

Jetzt ist Laura an der Reihe, es braucht einen kleinen Zug an ihrer schmalen Hand, um sie in das Büro zu bugsieren. Doch dann sitzen sie vor dem Schreibtisch der Caritas-Mitarbeiterin. Es ist eine Frau in den Vierzigern, freundlich blickt sie die beiden durch eine Brille an.

„Was kann ich für euch tun?“

Alexander erklärt das Problem. Er hält Laura für drogenabhängig oder auf jeden Fall für gefährdet. „Ich fühle mich überfordert und hoffe auf ein paar Ratschläge von Ihnen.“

Sie notiert etwas auf einen Zettel und sieht ihn dann an. „In welcher Beziehung stehen Sie zu dem Mädchen?“

„Wir sind nicht verwandt, ich fühle mich in einer Art Großvater-Rolle. Sie tut mir leid und ich möchte ihr helfen.“

„Das ist sehr lobenswert, ich werde sehen, was ich für Sie tun kann.“ Dann blickt sie Laura an. „Nur für die Unterlagen, kannst du mir deinen vollständigen Namen nennen?“

Laura druckst etwas herum, dann spricht sie leise, die Frau der Caritas macht sich wieder Notizen.

„So, jetzt erzähl mir bitte etwas über deine Erfahrungen mit Rauschgift. Was nimmst du, wann hast du zuletzt etwas genommen, wann davor? Ich möchte mir ein Bild über eine mögliche Abhängigkeit machen.“

Laura beginnt zu erzählen. Sie nimmt gelegentlich Speed, einmal hatte sie Koks ausprobiert, aber das ist vier Wochen her.

„Das letzte Mal habe ich Speed vor fünf Tagen genommen, davor ist es etwa eine Woche her. Meistens konsumiere ich etwas mit Freunden am Wochenende.“

„Das klingt nicht sooo schlecht. Kannst du mir etwas über deine Symptome erzählen? Wie schläfst du, wie lange schläfst du, wie ist dein Appetit?“

Laura berichtet jetzt etwas flüssiger, sie hat offenbar akzeptiert, dass man ihr nur helfen möchte. „Vor zwei Tagen hatte ich so ’n hässliches Stechen in der Herzgegend, das ist endlich vorbei. Appetit ist gut, ich träume nur gelegentlich schlecht.“ Sie sieht Alexander an, sie denken beide an die Panikattacke der letzten Nacht.

Die nette Frau von der Caritas lässt sich das Gehörte durch den Kopf gehen und sieht dann Alexander an. „Es war gut, dass sie hergekommen sind, je früher, desto besser. Ihr Schützling ist Gott sei Dank nur bedingt abhängig. Sie hat bisher offenbar nur in Gesellschaft, also beim Partymachen, wie das heute heißt, etwas eingeworfen, bedenklich wird es, wenn sie es nur für sich und heimlich konsumiert.“ Sie öffnet eine Schublade ihres Schreibtisches. „Ich gebe Ihnen ein Merkblatt über den Umgang mit Süchtigen mit. Es ist für Laura nur eingeschränkt gültig. Es ist natürlich wichtig, dass sie von jetzt an möglichst keine weiteren Drogen nimmt. Wirklich davon abhalten können Sie sie nicht, das ist Ihnen sicher klar. Sie muss selbst ohne Drogen leben wollen, sonst hat es keinen Sinn.“ Die Sozialarbeiterin blickt Laura an.

Die blinzelt. „Okay, ich will ohne Speed klarkommen, versprochen.“

„Versprechungen sind hier nichts wert, das sind wenigstens meine Erfahrungen in diesem Job. Ich wünsche dir, dass du es schaffst.“

Alexander erhebt sich. „Ich werde Laura ein paar Wochen mit meinem Wohnmobil mitnehmen – wenn sie möchte.“ Er blickt seinen Schützling an, der ein zufriedenes Gesicht zeigt. „Vielen Dank für Ihre Hilfe.“

Die Frau steht auf, um sich zu verabschieden, als vom Flur lautes Geschrei hereindringt. Die Tür wird aufgestoßen und ein Mann tritt ein, mit einem höchstens vierzehnjährigen Jungen an der Hand. Der sträubt sich heftig, dem Mann ist er jedoch nicht gewachsen.

„Du kommst jetzt mit, Freundchen! Wir werden ja sehen, wer den längeren Atem hat.“ Der Mann wirkt verzweifelt, sein Zorn dagegen aufgesetzt.

Laura blickt erschrocken auf die Szenerie, der verwahrloste Junge und der gewalttätig scheinende Mann haben sie offenbar entsetzt.

Die Frau der Caritas nickt nur kurz zu Alexander und Laura und wendet sich dann an ihre neuen Klienten.

Der Schriftsteller und seine Schutzbefohlene verlassen das Gebäude. „So, meine Liebe, wie wäre es nun mit einem Einkaufsbummel?“

Aber das junge Mädchen ist noch bei der Szene in der Drogenberatungsstelle. „Was der Junge wohl gemacht hat, dass der Vater so wütend war? Irgendwas mit Drogen, das ist klar, aber so schlimm?“

Alexander schüttelt den Kopf. „So wütend war der Vater nicht. Er war vor allem verzweifelt, hat aber wohl gedacht, er müsse durchgreifen, um den Jungen vor schlimmen Dingen zu bewahren. Das ist bestimmt ganz entsetzlich, wenn man erfährt, dass das eigene Kind in sein Unglück rennt.“

Laura lacht freudlos. „Na, meiner Mutter ist das eher egal, und was mein Vater dazu meint, werden wir wohl nie erfahren.“

Finkel grinst gequält. „Na komm, lass uns an was anderes denken, zum Beispiel an deine Klamotten, oder?“

Laura lächelt, es ist beinahe so, als hätte sie eine schwere Last von sich abgeschüttelt.

Alexander ruft ein Taxi, in wenigen Minuten sind sie im Zentrum von Bremen. Laura springt von Schaufenster zu Schaufenster, sie kann sich gar nicht sattsehen an den Auslagen. Schließlich landen sie im Kaufhaus Karstadt.

„Ich darf mir aussuchen, was ich möchte? Ohne auf das Geld zu schauen?“

„Ich habe es versprochen, mach dir keine Gedanken um mein Portemonnaie.“ Alexander nickt dazu, er hat wirklich genug Geld. Er erhält eine gute Miete für sein Haus, dazu fließen immer noch ordentlich Tantiemen aus dem Verkauf seiner Bücher.

Laura saust zwischen den Kleiderständern umher, mit einigen Stücken auf dem Arm verschwindet sie in eine der Umkleidekabinen. Minuten später kommt sie heraus, mit einer neuen Jeans und einer weißen, kurzärmeligen Bluse darüber. „Wie gefällt es dir?“

„Sehr hübsch. Ich glaube, dir steht einfach alles. Was hältst du denn von einem Rock oder einem Kleid?“

„Das würdest du mir auch schenken?“

„Warum nicht, ich habe es dir zugesagt.“

Am Ende hat sein Schützling noch einen mittellangen, roten Rock und einen Traum von einem Sommerkleid gefunden. Immer wieder dreht sie sich vor dem Spiegel.

„Was hältst du von Badezeug, vielleicht einem Bikini?“ Alexander denkt an das Badeparadies an der Flussinsel und daran, dass er sich letzte Woche eine Badehose gekauft hat, die er nun gemeinsam mit Laura einweihen könnte.

„Oh, ja. Du bist ein Schatz!“ Ganz unerwartet erhält er ein Küsschen auf die Wange.

Ein Taxi bringt sie später zurück zu der Fähre am Weserufer, Laura und ihr Gönner sind mit vielen Tüten bepackt.

Die nächste Gelegenheit zum Baden ergibt sich gleich am nächsten Tag, es ist Donnerstag, der 18. August. Es ist ein fantastischer Sommertag, Laura und Alexander gehen mit Badezeug unter ihrer Kleidung zu der Badestelle am Werdersee. Der Sandstrand ist trotz des Wochentages gut besucht, es sind Ferien. Etwas zögerlich traut er sich in das Wasser, er ist vor Jahren das letzte Mal geschwommen. Laura hat keine Scheu vorm Wasser, sie läuft mutig hinein und schwimmt. Aus sicherer Position bespritzt sie ihn mit Wasser. „Komm endlich, du wasserscheuer Sack! Lass uns um die Wette schwimmen!“

Sie ist eine gute Schwimmerin, das hat sie während ihrer Schulzeit gern getan. Alexander war einmal sehr gut darin, das war vor über vierzig Jahren fester Bestandteil seiner Ausbildung bei der GSG 9. Nur langsam erinnern sich seine Muskeln an die Abläufe, doch allmählich wird er schneller.

„Hallo, wer hätte das gedacht?“, wundert sich Laura, als es ihm unter Einsatz seiner letzten verbliebenen Reserven gelingt, sie einzuholen. Nach dem Baden landen sie – wie schon ein paar Mal in den vergangenen Tagen – in dem Café an der Anlegestelle der Fähre. Es gibt einen wunderbaren Kuchen, Laura nimmt noch einen Becher Eis dazu. Alexander sieht es mit Freude, sie ist doch recht abgemagert.

Er genießt diese Stunden mit dem Mädchen, er fühlt sich beinahe glücklich. Dann, wie immer, wenn er sich wohl fühlt, fällt ihm sein Dilemma ein, und er erschrickt. Immerhin gibt es Stunden, in denen er überhaupt nicht an seine verdammte Krankheit denken muss. Es gelingt ihm immer besser, die dunklen Wolken beiseitezuschieben und sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren.

„Wann wollen wir denn weiterfahren?“, fragt er sie.

Laura stellt den Latte Macchiato hin, an dem sie eben genippt hat. „Warum? Gefällt es dir hier nicht? Ist doch super hier.“

Alexander erzählt ihr, was er von seinem Nachbarn auf dem Stellplatz vom Südsee-Camp gehört hat. „Du musst dich mit jungen Leuten treffen, so ein alter Sack, wie ich es bin, ist doch auf Dauer nicht das Richtige für dich.“

„Bis jetzt gefällt es mir wunderbar!“ Sie lacht und trinkt mit einem langen Schluck ihr Glas leer.

Am Abend sitzen sie im Wohnmobil und sehen fern. Alexander hat eine Flasche Wein besorgt, dazu gibt es den Knabberkram, den sie gestern aus der Stadt mitgebracht haben. Es läuft ein Krimi, er verfolgt ihn mäßig interessiert, Laura sieht auf ihr Handy. Nun blickt sie auf und mustert ihn eine Weile.

„Warum tust du das alles für mich?“

„Mach dir darüber keine Gedanken. Ich freue mich, wenn ich dir helfen kann.“

Sie dreht ihren Sitz ein bisschen zu seinem hinüber und rückt dicht an ihn heran. „Kann ich nicht irgendetwas Angenehmes für dich tun?“ Sie hat die Augen halb geschlossen und legt ihre Hand auf seine Hose. „Soll ich dir vielleicht einen blasen?“

„Laura!“ Alexander ist einen Moment entsetzt, er hat fast vergessen, aus welchem Milieu er sie befreit hat. „Nein, bitte nicht.“ In seinem Hinterkopf entsteht ein seltsamer Gedanke, sollte er nicht vielleicht doch? Nein! Er würgt diesen Gedanken bereits im Embryostadium ab. Jeder Gedanke an Sex ist ihm durch die zerstörenden Therapien abhandengekommen. Wenn er das Mädchen nun gewähren lassen würde – und es stellt sich vielleicht heraus, dass er wirklich nicht mehr kann – er würde sich in Grund und Boden schämen. Aber das ist es nicht allein. Wenn er es zuließe, wäre es genau das: Ein alter Knacker, der sich ein junges Mädchen hält, weil er das nötige Geld hat. „Nein, bitte nicht“, wiederholt er leise.

Mord mit Absicht

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