Читать книгу Das Unbehagen im Frieden - Peter Fischer, Eva Lermer - Страница 6
Evidenz 1: Gute Zeiten erhöhen den menschlichen Selbstwert und somit die Aggressionsbereitschaft
ОглавлениеMenschen empfinden ihr Wissen über sich selbst, also über die eigene Person, als so etwas wie einen inneren psychischen Kern. Man spricht hier auch vom Selbstkonzept, das ein jeder von sich hat (Frey & Gaska, 1993). Dieses Selbstkonzept ist bei den meisten psychisch gesunden Menschen so angelegt, dass sie ihre eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie ihren eigenen Wert als Mensch systematisch überschätzen (Taylor & Brown, 1988). Wir haben das Gefühl, dass wir überdurchschnittlich attraktiv, sympathisch und begabt sind (Williams & Gilovich, 2012). Im Bereich des Autofahrens zeigt das beispielsweise eine Studie von Svenson (1981). Hierbei wurden 161 Studierende in Schweden und den USA hinsichtlich ihrer Fahrfertigkeiten befragt. Das Ergebnis war: 93 Prozent der US-amerikanischen und 69 Prozent der schwedischen Gruppe schätzten ihre Fahrfertigkeiten als überdurchschnittlich ein. Studienergebnisse wie dieses finden sich in der psychologischen Forschung zahlreich. Neben dem Überschätzen der eigenen Fähigkeiten haben wir außerdem oft das Gefühl, dass unsere Entscheidungen und Handlungen wichtiger sind als die der anderen Menschen (Taylor & Brown, 1988; Fischer, Greitemeyer, & Frey, 2007); darüber hinaus glauben die meisten von uns, dass sie selbst die Welt um sich herum realistischer sehen, als es die Mitmenschen tun (auch bekannt unter dem Begriff bias blind spot [auf Deutsch etwa Verzerrungsblindheit]; Kahneman, 2010). In anderen Worten: Menschen „leiden“ sozusagen „konstruktionsbedingt“ unter Selbstüberschätzung. Dies ist jedoch – sofern in adäquatem Rahmen – auch gut für das Individuum. Schon allein deshalb, weil es sich gut anfühlt, zumindest in der eigenen Wahrnehmung zu den Besten zu gehören oder aber wenigstens über dem Durchschnitt zu liegen. Lange Zeit jedoch wurde von verschiedenen Theoretikern angenommen, dass eine realistische Wahrnehmung der eigenen Person und der Welt entscheidend für eine gesunde psychische Konstitution und Entwicklung ist (Jahoda, 1958): „Die Wahrnehmung der Realität wird als geistig gesund bezeichnet, wenn das, was der Einzelne sieht, dem entspricht, was tatsächlich da ist“ (Jahoda, 1958, S. 6). Eine gesunde Wahrnehmung sei der Prozess, die Welt ohne Verzerrung so zu betrachten, wie sie ist, auch wenn man sie sich anders wünscht (1953, S. 349, nach Taylor & Brown, 1988, S. 194). Seit den 1980er-Jahren jedoch häufen sich Studien, die eben diese These widerlegen. Gerade eine etwas überhöhte, positive Selbstwahrnehmung, ein erhöhtes Maß an empfundener Kontrolle und unrealistischer Optimismus sind charakteristisch für das „normale“ menschliche Denken (Tayler & Brown, 1988). Wenn wir dieses Gefühl der Selbsterhöhung nicht erzeugen könnten, dann würden wir sehr wahrscheinlich über kurz oder lang depressiv werden und keinen oder nur wenig Fortschritt erzielen. Studien zeigen, dass Menschen, die an einer klinischen Depression leiden, diese positiven Illusionen der eigenen Selbstübersteigerung nicht mehr erzeugen können (Tabachnik, Crocker, & Alloy, 1983; Alicke & Govorun, 2005). Es ist daher wichtig festzuhalten, dass Verzerrungen auch Gutes haben. Wenn wir jedoch an kollektives Verhalten von Menschen denken, zum Beispiel kommerzielle und nicht kommerzielle Organisationen, Regierungen, oder das Verhalten von ganzen Nationen und Kulturen, dann ist dieses Gefühl der Selbsterhöhung häufig schädlich. Meist ist uns die Gruppe, der wir angehören, wichtiger und erscheint uns besser als andere Gruppen (ingroup-outgroup- Effekt; Haslam, 2004); wir haben dann das Gefühl, dass man andere Gruppen leiden lassen kann – und das vor allem, wenn es dazu dient, die eigene Gruppe zu verschonen.
Was hat das mit unserer Annahme zu tun, dass Menschen immer wieder Leid und Zerstörung suchen oder zumindest tolerieren? Es ist zu erwarten, dass der Selbstwert von Menschen steigt, wenn diese in ökonomisch- politisch guten und friedlichen Zeiten leben. Wir sehen in den letzten 20 Jahren eine starke Tendenz zur Individualisierung. Wir werden uns selbst immer wichtiger; wir versuchen immer gesünder und länger zu leben, weil ja gerade wir selbst es sind, die so wichtig sind – wichtiger als alle anderen. In Zeiten des Wohlstandes steigt auch der individuelle Selbstwert (Schmitt & Allik, 2005). Gerade dieser gesteigerte Selbstwert durch beispielsweise Wohlstand kann Menschen und ganze Gesellschaften anfällig für aggressive Reaktionen und Konflikte machen. Früher dachten die psychologischen Forscher, dass uns ein gefühlt hoher Selbstwert vor Aggression und Wut schützt. Es wurde gemeinhin angenommen, dass ein geringes Selbstwertgefühl als eine relevante Ursache für Gewalt angesehen werden kann (Baumeister, Smart, & Boden, 1996). Heute wissen wir, dass häufig genau das Gegenteil der Fall ist: Ein zu hoher Selbstwert und somit starke Selbstüberschätzung können dazu führen, dass wir Konflikte mit anderen Menschen als ganz besondere Frechheit empfinden. Beispielsweise zeigen Narzissmus-Studien, dass ein überhöhter Selbstwert positiv mit Aggression korreliert (Locke, 2009). Das heißt, Personen mit höheren Narzissmus-Werten weisen auch höhere Werte hinsichtlich ihrer Aggressionsbereitschaft auf. Allerdings scheint auch die Stabilität des Selbstwertgefühls hierbei eine entscheidende Rolle zu spielen. Kernis, Grannemann und Barclay konnten bereits 1989 zeigen, dass Menschen mit einem hohen, aber instabilen Selbstwertgefühl feindseliger sind als Menschen mit einem niedrigen Selbstwertgefühl, ganz gleich ob stabil oder instabil. Ein aufgeblasener und instabiler Glaube an die eigene Überlegenheit ist eine der wichtigsten Ursachen für Gewalt (Baumeister et al., 1996). Es lässt sich demnach festhalten, dass nicht nur die Höhe, sondern auch die Beständigkeit des Selbstwertgefühls von Bedeutung ist. Es finden sich eine Reihe von Studien, die den Schluss nahelegen, dass das Selbstwertgefühl mit ökonomischem Wohlstand steigt (Piff, 2014). Paul Piff bezieht sich beispielsweise in seiner Untersuchung auf eine Verschiebung der Werte in der US-amerikanischen Gesellschaft. Zahlreiche empirische Belege offenbaren die Entwicklung der Gesellschaft: weg von kommunalen, kollektiven Werten, hin zu Eigeninteresse und Egoismus (Twenge, 2006; Twenge & Foster, 2008; Foster, Campbell, & Twenge, 2003). Weitere Forschungsergebnisse zeigen, dass mit dem höheren sozioökonomischen Status auch höhere Narzissmus-Werte einhergehen.
Doch warum reagieren Menschen mit hohem Selbstwert emotionaler? Eine Erklärung hierfür mag in der potenziellen Fallhöhe liegen. Diese ist bei Menschen mit hohem Selbstwert viel größer als bei Menschen mit niedrigem Selbstwert. Menschen mit hohem Selbstwert nehmen einen argumentativen Angriff viel eher als Frechheit und Beleidigung wahr als solche mit niedrigem Selbstwert. Der psychologische Kontrast ist viel größer bei hohem als bei niedrigem Selbstwert. Dies gilt sogar für Autoaggression: Roy Baumeister – einer der einflussreichsten Psychologen unserer Zeit – konnte zeigen, dass Suizid viel häufiger bei Personen mit hohem als mit niedrigem Selbstwert vorkommt (Baumeister, 1990). Ganz einfach, weil die eigenen Ansprüche an sich selbst und damit die Fallhöhe bei hohem Selbstwert größer sind. Wenn ein/e Topmanager/in seinen/ihren Job verliert, dann stürzt er/sie in der eigenen Wahrnehmung aus viel größerer Höhe ab, als beispielsweise ein Angestellter/eine Angestellte in nicht leitender Funktion. Der Kontrast von vorher zu nachher ist hier viel größer in der Wahrnehmung des Managers mit hohem Selbstwert und löst einen wesentlich stärkeren negativen Affekt aus wie etwa Depression, Aggression, Wut, oder Ärger. Das zeigen auch Untersuchungen zu emotionalen Reaktionen auf positive und negative Informationen über die eigene Person. Rhodewalt und Morf (1998) konnten zeigen, dass die Reaktionen von narzisstischen Personen extremer waren als die der Personen mit einer geringeren narzisstischen Ausprägung. Zudem schrieben narzisstischere Personen Erfolge mehr ihren eigenen Fähigkeiten zu. Dies hatte jedoch zur Folge, dass Misserfolge zu extremeren Wutreaktionen führten und mit einem als massiver erlebten Angriff auf das Selbstwertgefühl einhergingen.
Wie immens und destruktiv der Einfluss von Narzissten sein kann, zeigt Mark Stein in seinem 2013 publizierten Artikel zu narzisstischer Führung am Beispiel von Richard „Dick“ Fuld, längster und letzter Bankchef der US-Bank Lehman Brothers. Da Narzissten von einem starken Bedürfnis nach Prestige und Macht getrieben sind, finden sich viele in verantwortungsreichen Führungspositionen. Ein weiterer Grund dafür wird darin vermutet, dass einige Eigenschaften von Narzissten für die Organisation, für die sie tätig sind, überaus hilfreich sein können. Andere ihrer Eigenschaften jedoch sind äußerst destruktiv, wie Stein am Lehman-Brothers-Beispiel zeigt. Dick Fuld spielte eine zentrale Rolle in der Geschichte des Bankhauses. Während seine Persönlichkeit in den Jahren zwischen 1993 und 2005 konstruktiv für Lehman war, wendete sich das Blatt ab 2005 und endete 2008 schließlich in der Katastrophe. Dick Fuld begann 1969 als Anleihenhändler bei Lehman. Im Jahr 1994 stieg er zum Vorstandsvorsitzenden der Investmentbank auf. In dieser Zeit befand sich die Bank, die sich gerade von American Express gelöst hatte, in einer internen Krise. Der Finanzprofessor Roy C. Smith von der Stern School of Business der New York University soll hierzu gesagt haben: Lehman Brothers sei wie „eine Katze mit 19 Leben und sie hat wohl ihr 17. erreicht“ (NY Times, 1996). Im Zeitraum von 1993 bis 2005 trug Fuld maßgeblich dazu bei, eine Kultur zu schaffen, in der er umgeben war von Bewunderern und oft kriecherischen Kollegen (Stein, 2015). Joseph Tibman, ein Lehman-Insider berichtet, „er hatte immer das letzte Wort“, und das Gefühl der Allmacht, das er ausstrahlte, wurde stets von einer sehr aggressiven, kämpferischen und kompromisslosen Art begleitet. Laut Stein waren die Mitarbeiter unter anderem deshalb bereit, Fulds autokratischen Führungsstil zu akzeptieren, da es ihm gelungen war, die Kämpfe innerhalb des Unternehmens in den Griff zu bekommen. Dafür waren sie ihm dankbar. Überheblichkeit, Allmacht und Allwissenheit waren in den Jahren von 1993 bis 2005 eindeutig Bestandteil von Fulds Führungsstil. Zu dieser Zeit gibt es wenige Belege dafür, dass diese Eigenschaften Lehmans Position in bedeutender Weise geschadet hätte. Im Gegenteil, berichtet Stein weiter, es scheint, dass er ab 1993 maßgeblich beteiligt war, Lehman aus den Schwierigkeiten zu holen. Sein konstruktiver, narzisstischer Stil half ihm dabei, die Firma zu einen (Stein, 2013). Lehman ging es zu dieser Zeit sehr gut, und viele Mitarbeiter profitierten enorm von diesem Erfolg. Bezeichnend ist jedoch, dass die Warnzeichen der ab 2005 aufziehenden Subprime-/Kreditkrise von Fuld konsequent ausgeblendet wurden. Anstatt auf Warnungen zu hören, reagierte Fuld auf Meinungen, die seiner widersprachen, mit Verachtung oder Kündigung. So trat 2007 die Geschäftsführerin Christine Daley zurück, und ihr Kollege Alex Kirk folgte ein Jahr später. Die Kündigung der Risikomanagerin Madelyn Antoncic wurde weltweit bekannt: Fuld entließ sie, nachdem sie ihm regelmäßig ihre Sorgen um den Markt und um das zu hohe Risiko der Bank kundtat (McDonald & Robinson, 2009). Spätestens ab hier werden die destruktiven Eigenschaften der narzisstischen Führung für die Organisation sowie die Gefahr, die von einer von ihr gestalteten Kultur ausgeht, offensichtlich. Der Held, der das Unternehmen aus der Krise und zum Erfolg geführt hatte, weigerte sich, die neue Krise zu sehen und den Gedanken an einen möglichen Verkauf von Lehman zu akzeptieren. Im Gegenteil, Fuld sagte 2007: „So lange ich lebe, wird diese Firma nicht verkauft … und sollte sie nach meinem Tod verkauft werden, komme ich zurück aus dem Grab und werde das verhindern“ (Sorkin, 2009, S. 194). Rückblickend betrachtet hätte es zahlreiche Möglichkeiten für Fuld gegeben, mit der Krise umzugehen (Story & White, 2008).
Welche Erkenntnisse lassen sich aus diesem Beispiel ableiten? Führungspersonen, welche meist über eine gewisse Anfälligkeit für Narzissmus verfügen, laufen Gefahr, die Realität verzerrt wahrzunehmen und den Fokus zu sehr auf ihre Machtposition und deren Erhalt zu richten. So lange die Gefolgschaft, seien es Mitarbeiter oder Parteianhänger, davon profitiert, werden negative Attribute verharmlost oder für einen höheren Zweck gerechtfertigt. In einer solchen Kultur, die keine kritischen Stimmen zulässt, sind eine pathologische Entwicklung und daraus erwachsende, negative Konsequenzen nahezu unvermeidlich. Es fehlt ein gesundes, natürliches regulierendes Element.
In diesem Beispiel lassen sich noch eine Reihe weiterer zentraler psychologischer Phänomene identifizieren, die ebenfalls die Hypothese eines Effekts des Wohlstandsübermutes stützen. Das Muster und die Art der Effekte lassen sich ferner in zahlreichen anderen autokratischen Systemen wiederfinden:
• Man will lieber das wahrnehmen, was dem eigenen Denken nicht entgegenläuft, denn es ist angenehmer.
• Man will sich auch nicht geirrt haben.
• Annahme: Es wird schon nicht schlecht ausgehen.
• Es ist schön, einen Helden zu haben, den man bewundern kann.
• Die eigene Gruppe und die Zugehörigkeit dazu fühlt sich wertvoller an mit einer charismatischen Führungsperson.
• Diese Führungsperson jedoch findet mehr Rechtfertigung für ihre Machtposition durch die Kommunikation vermeintlicher Außenfeinde.
Es ist davon auszugehen, dass sich dies auch auf die Angriffs- und Konfliktfreudigkeit eines ganzen menschlichen Kollektivs übertragen lässt. In ökonomisch und politisch sich gut entwickelnden bzw. friedlichen Zeiten steigt der Selbstwert der entsprechenden Kollektivmitglieder (Piff, 2014). Sie sind stolz darauf, was ihr Land erreicht hat; sie werden konservativ, da sie viel zu verlieren haben. Andere Weltsichten, Religionen, Lebensformen, etc. werden dann verstärkt als Frechheit und Angriff auf das eigene Weltbild, die eigene Lebensweise angesehen (siehe Kontrasteffekt; Kahneman, 2010). Je stärker diese Diskrepanz wahrgenommen wird, desto wahrscheinlicher ist es, dass Konflikte mit anderen Kulturen entstehen. Das außenpolitische Verhalten der USA in den letzten Jahrzehnten lässt sich gut mit dieser Theorie erklären. Zahlreiche Kriege sind erwachsen aus dem Grundverständnis, dass die eigene Kultur anderen Kulturen überlegen ist. Das aktuelle Säbelrasseln mit dem Iran und Nordkorea ist nur ein weiteres Beispiel, dass das Gefühl der eigenen moralischen und kulturellen Überlegenheit internationale Konflikte und Aggression fördern statt dämpfen kann. Dies ist die eine Sichtweise. Die andere ist, dass sich Menschen durch diese Staaten tatsächlich bedroht fühlen. Das ist nachvollziehbar; aber auch das Gefühl der Bedrohung kann bei einem hohen kollektiven Selbstwert stärker sein als bei einem niedrigen kollektiven Selbstwert.
FAZIT: Wirtschaftlich und gesellschaftlich prosperierende Zeiten erhöhen kontinuierlich den individuellen und kollektiven Selbstwert von Personen. Psychologische Studien zeigen, dass gerade ein hoher Selbstwert stärker mit extremen emotionalen Reaktionen wie Aggression verbunden ist als ein niedriger Selbstwert. Personen mit einem hohen Selbstwert fühlen sich überzeugter von der Richtigkeit ihrer eigenen Weltsicht und nehmen deshalb andere Weltsichten als besonders starken Affront wahr. Ein Konflikt ist in solchen Situationen mit erhöhter Wahrscheinlichkeit vorprogrammiert.